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Maßlose Bilder: Visuelle Ästhetik der Transgression

2009, Maßlose Bilder: Visuelle Ästhetik der Transgression

Bildern wird überraschend viel zugetraut. Hinter der vielfach erhobenen Rede von der Macht der Bilder steht eine noch wenig erforschte Faszination für die Kraft von Bildmedien, die sich kaum in den engen Grenzen eines Bilderrahmens, einer Kinoleinwand oder eines Bildschirms bändigen lässt. Die Beiträge dieses Bandes, die von der Kunstgeschichte bis zur Kulturwissenschaft, von der Astrophysik bis zur Philosophie und Medienwissenschaft reichen, erörtern die vielfältigen Phänomene einer Transgression solcher Rahmungen. Das gemeinsame Interesse richtet sich hierbei auf Formen der Überschreitung des Visuellen und deren ästhetische, epistemologische, soziale und medientheoretische Funktionen; kurz: auf maßlose Bilder.

Reichle, Siegel (Hg.) Maßlose Bilder Ingeborg Reichle, Steffen Siegel (Hg.) Maßlose Bilder Visuelle Ästhetik der Transgression Wilhelm Fink Eine Publikation der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Bildkulturen Gedruckt mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg. Gefördert durch die Schering Stiftung Berlin. Die Herausgeber danken den Leitern der Arbeitsgruppe Christoph Markschies, Peter Deuflhard und Jochen Brüning. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe, und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlagabbildung und Entwurf: Steffen Siegel (Berlin). Satzherstellung: Druckerei Paul GmbH & Co KG (Lindau) Lektorat: Julian Bauer (Konstanz), Petra Weigel (Jena) © 2009 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de ISBN 978-3-7705-4801-9 I NH ALT 1 I NGEBORG R EICHLE , S TEFFEN S IEGEL Gibt es ein Maß für das Maßlose? Anmerkungen zu einer transgressiven Bildästhetik . . . . . . . . . 9 S ICHTBAR / UNSICHTBAR 2 3 4 5 S YBILLE K RÄM ER Gibt es ›maßlose Bilder‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 M A RK A. H AL AWA Vom Freiheitsverlust des Betrachters. Einige kritische Bemerkungen zum »Willen zum Sehen« . . . . . . 37 W. J.T. M ITCHELL Der Schleier um Abu Ghraib: Errol Morris und die ›bad apples‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 A R NO S CHUBBACH Die maßlose Darstellung von Bildern . . . . . . . . . . . . . . . 67 B EG R E N Z T / U N BEG R E NZ T 6 7 8 9 S TEFFEN S IEGEL Das potenzielle photographische Bild . . . . . . . . . . . . . . . 87 U LRIK E H ANSTEIN Die Maßgabe der Einstellung, die Grenze des Films. Stanley Cavell betrachtet Gertrud . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 M ICHAEL F ÜRS T Emersive Bilder. Zum Zuschauer-Bild-Verhältnis in David Cronenbergs Videodrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 J ASMIN M ERS M ANN Minimalistischer Überschwang. Zur Verselbständigung der Form im Werk von Jan Dibbets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 P RÄZISE / UNPRÄZISE 10 I NGEBORG R EICHLE Taube Bilder und sehende Hände. Strategien visueller Transgression im Werk von Herwig Turk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 11 D ANIEL B ÜRK NER »Eine vollkommen neue Realität«. Transgression des Wahrnehmbaren in den Bildern Tschernobyls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 FARBTAFELN 12 R AINER G RU BER Astrophysikalische Bilder: das Maßlose des Maßhaltigen . . . . . . 209 13 B ORIS G OESL Die Welt als Bildpunkt: Pale Blue Dot. Voyagers Bild von der Erde (1990) als Visualisierung eines kosmologischen Maßstabskonzeptes . . . . . . . . . . . . . 227 E NDLICH / UNENDLICH 14 P HILIPP E K A RD T Maß und Umriss. Bilder als Regulative bei Winckelmann und Warburg . . . . . . . 247 15 M ARKUS R AUTZENBERG Exzessive Bildlichkeit. Das digitale Bild als Vomitiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 16 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR Architektur ohne Maßstab. Digitale Visualisierungen im Entwurfsprozess . . . . . . . . . . . 279 17 J AM ES E LK INS An den Grenzen des Darstellbaren. Bilder in der neueren astrophysikalischen Bildgebung . . . . . . . 295 G EORDNET / UNGEORDNET 18 M ARCEL F INK E Von maßlosem Wuchs. Grenzen der Wahrnehmung und Bilder, die Tumore zeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 19 M IR JAM B RU SIUS Unschärfe als frühe Fotokritik. Julia Margaret Camerons Frage nach dem Maß der Fotografie im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 20 M AT THIAS W EISS Vermessen – fotografische ›Menscheninventare‹ vor und aus der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . 359 21 S ILKE WALTHER Von der Fotografie als Weltsprache zum Theater der Realität. Anmerkungen zur »Family of Man« im Museum of Modern Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 I N N E N / AUSSEN 22 K A RIN L EONH A RD InsideOut. Inversionen des Sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A UTOREN Bildnachweise 401 UND QU ELLEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 1 Gibt es ein Maß für das Maßlose? Anmerkungen zu einer transgressiven Bildästhetik I NGEBORG R EICHLE, S TEFFEN S IEGEL I Bildern wird überraschend viel zugetraut. So sind etwa wissenschaftliche Erkenntnisse, ihre Kommunikation und Vermittlung ohne den Einsatz von Bildmedien längst undenkbar. Unsere Orientierung in der Welt, seien es ganz alltagspraktische oder aber sehr spezialistische Handlungen, wäre ohne diese Medien, mit denen wir mehr und genauer sehen können, äußerst umständlich. Alle politischen und ökonomischen Prozesse müssen, um überhaupt eine Chance auf Gelingen zu haben, von einer sorgfältig reflektierten Bilderpolitik begleitet werden. Bilder können, als Werke der bildenden Kunst, Ideale von Schönheit und Perfektion verkörpern. In gleicher Weise können sie aber auch verstören, aufrütteln und hinterfragen. In Bildern zeichnet sich auf prekäre Weise ein sehr schmaler Grad zwischen grundlegenden Fragen von Ästhetik und Ethik ab.1 Und Bilder gehören, dies gilt wohl nicht allein für die christlich geprägte Welt, zu den wichtigsten Agenten von Religion und Glauben. Nicht selten wurde und wird ihnen magische Kraft zugesprochen. Die kaum überschaubare Geschichte von Idolatrie und Ikonoklasmus ist daher eine wechselvolle und erbittert geführte Auseinandersetzung um das Für und Wider der Verehrung von Bildwerken. Selbst die Frage, ob Bilder töten können, ist bereits gestellt und debattiert worden.2 Natürlich können sich solche Fragen und Deutungen, Zuschreibungen und Annahmen über die Kraft, Aufgabe und Leistungsfähigkeit von Bildern unter Umständen als eine Überschätzung und haltlose Hypostasierung erweisen. Mindestens ebenso notwendig ist es aber auch, hierin den Ausdruck für ein Bewusstsein zu erkennen, dass Bilder weit mehr sind als bloße Repräsentationen einer ihnen vorgängigen Wirklichkeit. Bilder und die durch sie hergestellte Sichtbarkeit 1 Diarmuid Costello, Dominic Willsdon (Hg.): The Life and Death of Images. Ethics and Aesthetics, Ithaca, New York 2008. 2 Marie-José Mondzain: L’image peut-elle tuer?, Paris 2002. 10 I NGEBORG R EICHLE, S TEFFEN S IEGEL sind nicht allein Stellvertreter unseres Blicks auf die Welt. Sie besitzen vielmehr ein hohes Potential an formaler und medialer, semantischer und historischer Eigendynamik, das sie für die sehr unterschiedlichen Zwecke von Religion, Kunst, Politik oder Wissenschaft äußerst attraktiv erscheinen lässt. Doch gehen Bilder keinesfalls in diesen an sie gerichteten Erwartungen und Funktionen restlos auf. Gerade hierin kann einer der wesentlichen Gründe erblickt werden, dass Fragen einer sich systematisch wie historisch interessierenden Bildforschung3 in jüngerer Zeit eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt haben und, eine solche Prognose lässt sich treffen, erst recht zusehends erleben. Doch auch an skeptischen Stimmen herrscht kein Mangel. Wenn Paul Virilio etwa in einem resümierenden Rückblick auf die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts davon sprach, dass Bildmedien mehr und mehr einem ihnen impliziten »Hang zum Extremismus«4 nachgeben, dann rückt er diese nicht allein in überraschender Weise in die Nähe von »Terrorismus«, »totalem Krieg« und dem »Untergang der repräsentativen Demokratie«;5 zugleich mobilisiert Virilio mit diesen in die Sphäre des Politischen weisenden Überlegungen Vorbehalte, deren Tradition bis auf Platons Bildkritik zurückweist. Doch stehen Bilder gerade deshalb in derart energisch geführten Diskussionen, da die ihnen eigene Logik für vielfältige und sehr unterschiedliche Erwartungen attraktive Anschlüsse in Aussicht stellt. Eine Kritik an der Maßlosigkeit des Bildlichen, wie sie Virilio als einer von vielen angestimmt hat, wird daher nur dann angemessen diskutiert werden können, wenn zugleich das hohe und womöglich auch zu hoch angelegte Maß an Ansprüchen an das Bild zur Diskussion gestellt wird. Es war in diesem Zusammenhang Georges Didi-Huberman, der darauf aufmerksam machte, dass die Eigendynamik bildkritischer Diskurse zuletzt zu Ergebnissen führen wird, die mindestens ebenso viel über die Kritiker wie über die Bilder aussagen. Und gewiss kein Zufall ist es daher, dass Didi-Huberman für seine eindringliche Analyse von vier in Auschwitz entstandenen Photographien nur halb so viel publizistischen Raum benötigt wie für seine sich hieran anschließende und mit großer Intensität geführte Auseinandersetzung mit dem an ihn gerichteten Vorwurf des Bildfetischismus.6 3 Für dieses weit gefasste Spektrum von Fragestellungen siehe exemplarisch Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten (Hg.): Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, Berlin, 2., durchgesehene Auflage 2008. 4 Paul Virilio: Eine gnadenlose Kunst [1999]. In: ders.: Die Kunst des Schreckens [Paris 2000], übers. von Bernd Wilczek, Berlin 2001, S. 9–49; hier S. 17. 5 Ebd., S. 17–18. 6 Siehe hierfür die beiden Teile »Bilder trotz allem« und »Trotzdem kein Bild des Ganzen« in Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem [Paris 2003], übers. von Peter Geimer, München 2007. G IBT ES EIN M ASS FÜR DAS M ASSLOSE? 11 II Es gibt vielfältige Weisen, sich der Präsenz von Bildern zu versichern und sich damit zugleich, als ihr Betrachter, mit Bildern in Beziehung zu setzen. Kaum scheint es hierbei der Rede wert zu sein, dass Bilder nicht allein in der kunsthistorischen Praxis, sondern auch weit darüber hinaus hinsichtlich ihrer äußeren Maße bestimmt werden. Doch stellen die hiermit angesprochenen Fragen des Formats und der Rahmung zugleich wichtige Vorentscheidungen im Umgang mit Bildern dar. Denn in einem so verstandenen ›Maß‹ des Bildes als sein äußeres Maß muss nicht allein ein wesentlicher Parameter der Rezeptionsästhetik erblickt werden,7 darüber hinaus ist mit Fragen nach Höhe, Breite und gegebenenfalls Tiefe eines Bildes dieses zugleich als ein physisches, das heißt als ein je sehr konkretes Artefakt angesprochen. Die jüngere, an Hans Belting anschließende bildanthropologische Forschung hat diese Dimension einer »Physik des Bildes«8 als eine Frage nach der spezifischen Körperlichkeit von Bildern zu stellen versucht. Bilder, so die hinter dieser Frage stehende Beobachtung, benötigen immer ein Trägermedium, um für das Auge des Betrachters sichtbar werden zu können. Am Beginn eines solchen Nachdenkens steht daher gerade nicht die vielfach berufene Virtualität von Bildern im Allgemeinen, sondern vielmehr der je sehr konkrete Material- und Ortsbezug eines ganz bestimmten Bildes. Bilder auf diese Weise als physische Artefakte aufzufassen, macht es erforderlich, sich für eine Differenzierung und nähere analytische Bestimmung solcher Körperbezüge zu interessieren. Doch lässt sich angesichts der Vielfalt möglicher Antworten auf die Frage, von welchen Körpern im Einzelnen die Rede sei,9 noch voraussetzungslos von ›dem Bild‹ im Singular sprechen? Unverkennbar besitzen die in der zurückliegenden Zeit geführten Debatten um ›das Bildliche‹ sowie um eine ›Logik des Bildes‹ bereits selbst ein in hohem Maß transgressives Potential, das zuletzt auf eine Pluralisierung des Bild-Begriffs drängt. In der Tat: »Wer nach dem Bild fragt, fragt nach Bildern, einer unübersehbaren Vielzahl«10 – doch gehören zu dieser mit bildkritischer Absicht ins Auge gefassten Vielzahl und neben den klassischen künstlerischen Medien von Malerei und Zeichnung, Graphik und Photographie längst auch jene Domänen von Visualität, zu denen James Elkins unter anderem auch Kartographie und Diagrammatik, Modellbildung und Notation, 7 Thomas Puttfarken: Maßstabsfragen. Über die Unterschiede zwischen großen und kleinen Bildern, Hamburg 1971. 8 Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 12. 9 Hans Belting, Dietmar Kamper, Martin Schulz (Hg.): Quel corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002. 10 So lautet der Eröffnungssatz von Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38; hier S. 11. 12 I NGEBORG R EICHLE, S TEFFEN S IEGEL Schriftbildlichkeit und Schemata rechnete.11 Gottfried Boehms Beobachtung aufgreifend, lässt sich also reformulieren: Wer nach dem Bild fragt, fragt nach einer unübersehbaren Vielzahl visueller Medien. Die sich in einer solchen Behauptung abzeichnende Öffnung des Diskurses hat bedeutsame Vorläufer in jenen visuellen Strategien, die traditionell den bildenden Künsten zugerechnet worden sind. Denn zu den spezifischen ästhetischen Eigenheiten dieser Künste zählte es stets, mit denen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln visueller Referenzialität nicht allein bestimmte Formen von Fiktion zu stiften, sondern diese darüber hinaus auch reflektieren, kommentieren, zuletzt sogar brechen zu können. Im 35. Buch seiner Naturgeschichte berichtet Plinius der Ältere vom legendären Wettstreit der Künstler Zeuxis und Parrhasios, die sich gegenseitig in ihren malerischen Fertigkeiten zu übertreffen suchen. Während Zeuxis die Vögel mit seinen gemalten Trauben zu überlisten verstand, blieb es bekanntlich Parrhasios vorbehalten, Zeuxis selbst durch einen gemalten, also schwerlich vom Bild zu entfernenden Vorhang zu täuschen.12 Erzählt wird in dieser viel zitierten Anekdote nicht allein eine Sternstunde der Mimesis, sondern vielmehr zugleich die Geburtsstunde der Metamalerei und damit einer Kunst, die über sich selbst Auskunft zu geben in der Lage ist. Bilder sind theoriefähig. Dies ist eine entscheidende Pointe dieses Berichts, die sich nicht zuletzt gegen jene auf Platon zurückweisende Bildskepsis richtet. Das Angebot solcher Bilder, dies hat bereits Victor Stoichita ausführlich gezeigt,13 reicht von der Überraschung über die Neugier zur Methode. Stets aber handelt es sich hierbei um visuelle Angebote an das Auge des Betrachters, die den wenig herausfordernden Anspruch auf bloße Wiederholung der visuell wahrnehmbaren Wirklichkeit längst schon hinter sich gelassen haben. III Spätestens mit der Kunst der Moderne scheint diese den Künstlern zur Verfügung stehende Option der Metareflexivität zu einer ästhetischen Norm aufgestiegen zu sein. Von der Auflösung der homogenen Bildfläche bei Cézanne bis zu Martin Creeds Work No. 227, the lights going on and off, für das im Jahr 2001 mit denkbar kontroversem Echo der Turner Prize verliehen wurde – das sich hierin abzeichnende und denkbar weite Spektrum von der tache-Malerei bis zum white cube, 11 James Elkins: The Domain of Images, Ithaca, London 1999. Für eine exemplarische Analyse der Implikationen von Modell-Begriff und Modell-Bildung für Fragen der Bildforschung siehe die Beiträge in Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten (Hg.): Visuelle Modelle, München 2008. 12 Siehe hierzu Plinius der Ältere: Naturalis historiae libri XXXVII. Naturkunde, Buch 35, hg. und übers. von Roderich König, Düsseldorf, Zürich, 2., überarb. Auflage 1997, S. 59–61. 13 Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei [Paris 1993], übers. von Heinz Jatho, München 1998. G IBT ES EIN M ASS FÜR DAS M ASSLOSE? 13 dem die Beleuchtung und damit die Sichtbarkeit (temporär) entzogen ist, wird geeint in dem sich nirgends verlierenden Willen, die Bedingungen, Möglichkeiten und zuletzt auch Grenzen des Sehens in der Vielfalt visueller Medien zu reflektieren. Wenn daher Hans Jonas, mit aller philosophischen Emphase, von einem »Adel des Sehens«14 schrieb, so verbindet sich hiermit in den Bildkünsten spätestens seit der Moderne stets auch ein »Adel des Denkens«, der Wahrnehmung, Gebrauch und Reflexion visueller Medien als eine faszinierende und fortgesetzte Herausforderung des Bilder-Denkens erkennbar werden lässt.15 Vielleicht kann in diesen Formen ästhetischer Normierung einer der wesentlichen Gründe erblickt werden, dass die vielfältigen Figuren der Transgression zu den wirkmächtigsten Optionen einer auf das Bild bezogenen Medienpragmatik gehören. »Transgression«, schreibt Alois Hahn, »folgt der Norm wie ein Schatten. Ohne Normierung keine Übertretung.«16 Angesprochen ist hiermit eine fundamentale Dialektik von Grenzziehung und Grenzverletzung, von Ordnung und Unordnung, aber eben auch von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Denn, wie Creed dies tat, das Licht im Galerieraum zu löschen heißt ja eben auch, die Dunkelheit umso sichtbarer werden zu lassen. Die Intensität dieser Erfahrung verdankt der Betrachter seinen geöffneten, aber gerade nicht seinen geschlossenen Augen. Daher bedeutet jeder »Ausstieg aus dem Bild«,17 wie Laszlo Glozer solche Gesten summierend nannte, stets zugleich einen »Einstieg in neue Bilder«. Indem Normen hinterfragt, kritisiert, destabilisiert, gebrochen – kurz: transgrediert werden, können sie sich zuletzt umso nachdrücklicher bestätigt und damit erneut stabilisiert sehen. Die Beobachtung einer solchen Spannung von Norm und Transgression soll im Folgenden zum Anlass genommen werden, die Vielfalt von Maßen, die an Bilder angelegt werden, auf ihre produktive Kraft hin zu befragen. Denn, so lautet die gemeinsame Hypothese aller Beiträge dieses Bandes, jeder Versuch, ein herrschendes, anerkanntes und etabliertes Maß überschreiten zu wollen, wird nur dann von einem weiter reichenden Interesse sein können, wenn hieraus jenes Kapital an Dynamik und Entfaltung gezogen wird, das am Beginn jeder Mediengeschichte steht. Die auf diese Weise in den Blick genommenen Fragen eint das Interesse an jenen Aushandlungsprozessen, in deren Verlauf die bis dahin gezogenen Grenzen, seien sie ethischer, politischer oder ästhetischer Art, verhandelt und unter Umständen neu gezogen werden. Es sind nicht zuletzt Bilder, in denen diese Verhandlungen geführt werden; und zugleich sind es eben diese Bilder, in denen sie sicht- 14 Hans Jonas: Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne [1954]. In: Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 247–271. 15 Barbara Neumann, Edgar Pankow (Hg.): Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation, München 2004. 16 Alois Hahn: Transgression und Innovation. In: Werner Helmich, Helmut Meter, Astrid PoierBernhard (Hg.): Poetologische Umbrüche, München 2002, S. 452–465; hier S. 452. 17 Siehe hierzu Laszlo Glozer: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Köln 1981. 14 I NGEBORG R EICHLE, S TEFFEN S IEGEL bar gehalten werden. Sich nicht für das ›Maß der Bilder‹, sondern vielmehr für ›maßlose Bilder‹ zu interessieren, heißt zuletzt aber vor allem, die prinzipielle Vorläufigkeit und Kontingenz all dieser sich zwischen Norm und Transgression einstellenden Verhandlungsergebnisse anzuerkennen. S ICHTBAR / UNSICHTBAR 2 Gibt es ›maßlose Bilder‹? S YBILLE K RÄMER Bilder begegnen uns lebensweltlich stets ›abgezirkelt und eingegrenzt‹, überdies folgt ihre Produktion nahezu lückenlos technischen, regulativen Prinzipien. Betrachtet als raumzeitlich situiertes Gebilde, erscheint das maßlose Bild ein Unding zu sein. Allerdings ist eine andere Perspektive möglich: Bilder sind auf das Angeblicktwerden durch Betrachter angewiesen. Sartre hat den Blick und die Blickrelation als eine soziale Interaktion im Wechselspiel von Tun und Widerfahrnis ausgewiesen und betont, dass da, wo wir jemanden anblicken, wir ihn nicht zugleich sehen können. Didi-Huberman nun zeigt, dass Bilder, auf die der Blick fällt, zurückblicken können und dabei kein visuelles, vielmehr ein ›taktiles‹, das heißt spürbares Verhältnis zwischen Bild und Betrachter entsteht. Bilder sind also mehr und anderes als reine Sichtbarkeit. Und genau in dieser pathischen Dimension ihrer Nicht-Sichtbarkeit, die entsteht, wenn Betrachter sich auf das Angeblicktwerden durch das Bild einlassen, werden Bilder für Didi-Huberman zu etwas ›Maßlosem‹, das eine Erfahrung jenseits der Extension des Raumes eröffnet. 1. Eine Vermutung vorab Wo immer von ›Maß‹ die Rede ist, kann das zweierlei meinen. Einmal geht es um den Wert einer Größe, die durch Zählen, Messen und Berechnen gefunden werden kann und voraussetzt, dass eine Maßeinheit existiert, die den Maßstab und die Norm dieser Abmessung vorgibt. Es ist gerade der menschliche Körper selbst, der mit seinen Gliedmaßen ein elementares Instrument der Vermessung alles Körperlichen abgibt. Was in dieser Weise durch Maß bestimmbar ist, ist begrenzt und gehört der Domäne des (prinzipiell) Quantifizierbaren an. Zum anderen bezieht ›Maß‹ sich auf eine Mitte, die zwischen zwei Extremen eingehalten wird, auf ein ›rechtes Maß‹ im Handeln, das das Zuviel ebenso zu vermeiden weiß wie das Zuwenig. Aristoteles hat dieses rechte Maß als ethische Norm für die Qualität unseres Seelenlebens, für die Frage nach dem guten Leben also, entfaltet.1 Es geht 1 Aristoteles: Nikomachische Ethik, Jena 1909, S. 35–43. Dazu jedoch Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I und II [1878, 1886]. Kritische Studienausgabe Bd. 2, hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1988, S. 484: »Von zwei hohen Dingen: 18 S YBILLE K RÄMER darum, durch Mäßigung die Mitte einzuhalten zwischen zwei Extremen. Keine Frage, dass beide Bedeutungsdimensionen – auch – miteinander verwandt sind. Für uns ist interessant, dass im Horizont dieser Unterscheidung nun Kontur gewinnen kann, wie ›Maßlosigkeit‹ zu verstehen ist. Das Attribut ›maßlos‹ werden wir eher im letzteren, also im ethisch qualitativen und weniger im messend quantifizierbaren Sinne gebrauchen. Zwar können wir im Hinblick auf das Unbegrenzte, ja schier Unendliche auch von einem »maßlosen Sternenhimmel, der sich über uns wölbt« reden und zweifellos spielt etwa in Kants Überlegungen zum Erhabenen2 die Erfahrung eines Unermesslichen hinein. Doch aus dem Sprachgebrauch vertrauter ist uns das ›Maßlose‹, wenn wir damit das Übertriebene, Unmäßige, Exzessive charakterisieren wollen, den ›maßlosen Ehrgeiz‹ etwa oder eine ›maßlose Forderung‹. ›Maßlos‹ scheint vorrangig ein moralisches Prädikat, dessen Extension sich primär auf das Verhalten von Personen bezieht. Nun aber ist von ›maßlosen Bildern‹ die Rede. Das ergibt – sprachlich gesehen – eine merkwürdige Situation. Als Bilddinge kommen Bilder in unserer Lebenswelt vor und begegnen uns in dieser Eigenschaft zweifelsohne stets abgemessen, also mit dem Maß und der Begrenzung zutiefst verschwistert. Wenn unsere Diagnose zutrifft, dass ›maßlos‹ vor allem ein Attribut von menschlichen Handlungen ist, so ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten: (i) Die Verwendung von ›maßlos‹ im Zusammenhang mit Bildern macht wenig oder auch gar keinen Sinn. (ii) Wenn Bilder ›maßlos‹ sind, dann sprechen wir ihnen in Analogie zum menschlichen Handeln eine Kraft und ein Tätigsein zu, denen etwas Extremes eigen ist, insofern Bilder in ihrer Wirkkraft – extrem – überschreiten, wozu ›Dinge‹ gewöhnlich in der Lage beziehungsweise nicht in der Lage sind. Die folgenden Überlegungen versuchen, beide Möglichkeiten auszuloten. 2. Was ist ein Bild? Stellen wir uns eine ganz ›einfache Frage‹!3 Was ist ein Bild? Begriffsbestimmungen sind nicht wahr oder falsch, sondern – im Horizont bestimmter Erkenntnisabsichten – mehr oder weniger brauchbar. Wir wollen für unsere Überlegungen von einem engmaschigen, sagen wir ruhig: herkömmlichen Bildbegriff ausgehen. Maß und Mitte, redet man am besten nie.« Sowie auf die Gegenwart bezogen Peter Sloterdijk: »Mit großer Folgerichtigkeit hat die Mitte, das formloseste der Monstren, das Gesetz der Stunde erkannt und sich zur Hauptdarstellerin, ja zur Alleinunterhalterin auf der posthistorischen Bühne erklärt«. Beide zitiert bei Lutz Ellrich: Im Übermaß: Hybris, Ekel, Sucht. In: Doris Schuhmacher-Chilla, Julia Wirxel (Hg.): Maß oder Maßlosigkeit. Kunst und Kultur in der Gegenwart, Oberhausen 2007, S. 171–188; hier S. 174. 2 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790]. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 10, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 164ff. 3 Wir hoffen, die Ironie ist ›unüberhörbar‹. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 19 Im Unterschied zu allem, was wir überhaupt wahrnehmen können, seien unter ›Bildern‹ zumeist flächige, also zweidimensionale Artefakte (zum Beispiel Gemälde, Landkarten, Diagramme, Kalligramme, Textseiten, Bauzeichnungen, Fotos, Fernsehbilder, digitale Bilder, ...) verstanden, die durch Techniken der Sichtbarmachung hervorgebracht werden, auf das Gesehenwerden durch Betrachter zielen und ihren ›Sitz im Leben‹ haben. Auf fünf Attribute kommt es uns an – und das ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: (1) Dinghaftigkeit und Flächigkeit: Es geht um ein raum-zeitlich situiertes, meist unbewegtes Gebilde. Obwohl unsere Sprache es auch zulässt, von ›inneren Bildern‹ zu reden, beziehen sich unsere Überlegungen im Kontext maßloser Bilder zuerst einmal auf die externen, materialen Bilder, schließen also nicht die Einbildungskraft und die Imaginationen mit ein.4 Das Besondere eines Bilddings liegt darin, auf eine Fläche angewiesen und meist zweidimensional zu sein, und zwar ohne dass diese Fläche als eine bloße Oberfläche zu gelten hat, von der anzunehmen ist, dass sich ›unter‹ ihr materialiter (und unsichtbar) noch eine Tiefenstruktur verberge. Unabweisbar – wenn nicht trivial – ist also, dass die Fläche, die ein Bild einnimmt, begrenzt ist. (2) Artifizialität: Bilder sind intentional hergestellte Artefakte, die der Domäne unserer symbolischen Hervorbringungen angehören.5 Insofern lässt sich zwischen dem Bildmedium und dem, was jeweils in diesem Medium dargestellt wird, unterscheiden. Dabei ist das, was dargestellt wird, nicht als Sinn beziehungsweise Interpretationskonstrukt, sondern eher als ›artifizielle Präsenz‹ aufzufassen. 6 Bilder zeigen nicht einfach etwas, sondern zeigen zuerst einmal sich selbst. In den Schwierigkeiten einer semiotischen und/oder wahrnehmungstheoretischen Bildbestimmung wollen wir uns hier nicht verfangen, denn es kommt uns bei der Bestimmung von Bildern als intentionale Artefakte nur auf zweierlei an: Einmal sind Bild und Nichtbild und damit das Bild von seinem außerbildlichen Kontext unterscheidbar – gewöhnlich wird diese Demarkationslinie auch durch einen Rahmen 4 Zu den materialen Bildern zählen auch die digitalen Bilder, insofern Programmen eine ›semiotische‹ und der Hardware eine physische Materialität eigen ist. Unsere Orientierung an den externen Bildern folgt einer Maxime Wittgensteins, dass der Begriff des ›inneren Bildes‹ irreführend sei, da das Vorbild hierfür immer nur der Begriff des ›äußeren Bildes‹ sein könne. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1978, S. 523. Hans Belting hat jedoch immer wieder diesen Doppelaspekt von äußerem und innerem Bild hervorgehoben. Siehe Hans Belting: Blickwechsel mit Bildern. Die Bildfrage als Körperfrage. In: ders. (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, München 2007, S. 49–76. 5 »Bilder sind stets Artefakte.« Mark Ashraf Halawa: Wie sind Bilder möglich? Argumente für eine semiotische Fundierung des Bildbegriffs, Köln 2008, S. 141. 6 Dazu die aufschlussreichen Studien von Lambert Wiesing, der seinen Begriff der artifiziellen Präsenz auf Husserl zurückführt. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, S. 30ff. 20 S YBILLE K RÄMER markiert.7 Zum andern sind Phänomene wie Spuren, also nichtintendierte Markierungen, die etwa die Ameise im Sand hinterlässt oder Interpretationskonstrukte wie Wolkenbilder, keine Bilder.8 (3) Sichtbarkeitsgebilde:9 Bilder sind Dinge, deren Sein im Wahrgenommensein besteht. Sie zeigen sich im Modus der ›bloßen Sichtbarkeit‹, machen etwas präsent ausschließlich in der Perspektive seines visuellen Erscheinens, so dass zugleich gilt, dass das bildlich Gezeigte realiter – also in allen übrigen sein physisches Vorhandensein konstituierenden sinnlichen Dimensionen – nicht präsent ist. Das Bildersehen ist vom Bewusstsein dieser Differenz immer begleitet: Daher täuschen Bilder gewöhnlich nicht. Noch ein Weiteres ist an der bildlich evozierten Sichtbarkeit wichtig: Das, was sichtbar gemacht wird, ist oftmals etwas, das außerhalb von Bildern in keiner Weise zur Anschauung kommen kann; dazu können auch theoretische Gegenstände oder Partikel gehören, die prinzipiell (etwa im Nanobereich) der Visualität entzogen sind. Die wissenschaftliche Visualisierung lebt von dem Sachverhalt, das Unsichtbare der Matrix der Wahrnehmbarkeit zuzuführen.10 (4) Zweifache Bildproduktion: Bilder verdanken sich somit einer zweifältigen Art von Erzeugung. Sie werden einerseits als Artefakte hergestellt und sie müssen andererseits von Betrachtern angeschaut werden, damit überhaupt aus einem Gebilde ein Bild wird. Ohne betrachtenden Blick auch kein Bild. Damit ist klar, dass ein Verständnis für das, was ein Bild leistet, nicht auskommt ohne Bezugnahme auf den Blick, der das Bild erst ›ins Leben‹ ruft. Gleichwohl bleibt die Sekundärerschaffung des Bildes durch die Augen des Betrachters – gemäß unserem engeren Bildkonzept – angewiesen auf seine Primärerschaffung durch die ›Hand‹11 des Künstlers beziehungsweise die Techniken von Bildproduzenten. 7 Dazu Hilde Zaloscer: Versuch einer Phänomenologie des Rahmens. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 189–224. 8 Und wenn wir von ›Sternenbildern‹ sprechen, die wir am Himmel sehen beziehungsweise ›erkennen‹, so ist dies möglich, weil durch eine Fülle schematischer, diagrammatischer Zeichnungen, durch artifizielle Hervorbringungen also, eine Konstellation von Sternen überhaupt erst als ein bestimmtes Sternenbild konfiguriert und überliefert wurde. Gerade indem wir später den Blick fokussieren werden, der überhaupt erst etwas zum Bild werden lässt, ist es wichtig zu sehen, dass Bilder stets doppelt hervorgebracht sein müssen: durch die Hand des Künstlers beziehungsweise Produzenten wie auch durch die Augen der Betrachter. 9 Dieser Begriff bei Konrad Fiedler: Vom Ursprung der künstlerischen Tätigkeit [1887]. In: ders.: Schriften zur Kunst, Bd. 1, hg. von Gottfried Boehm, München 21991, S. 111–220; hier S. 192. 10 Exemplarisch dazu Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich, Wien 2001. Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.): Die Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, [im Druck]. 11 ... natürlich sind Auge und Geist an der künstlerischen Produktion nicht weniger beteiligt. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 21 (5) Lebensweltliche Situiertheit: Bilder haben einen ›Sitz im Leben‹.12 Sie sind eingebettet in Praktiken ihrer Nutzung, die mitnichten auf Akte des Anschauens zu beschränken sind. Bilder werden nicht nur ausgestellt, aufgehängt und betrachtet, sondern sie werden auch angebetet, zensiert und zerstört, sie erregen Begehren und Abscheu, sie wiegeln auf und sie führen zur Erkenntnis. Bilder können wie Waffen eingesetzt werden.13 Bilder haben eine nicht im Anschauen alleine sich erfüllende Funktion. 3. Bilder als Dinge oder: ist das ›maßlose Bild‹ nicht ein Unding? Unsere fünf Gesichtspunkte bilden ein dürftiges Gerüst; sie entwerfen weder eine Bildtheorie noch geben sie eine facettenreiche Bilddefinition. Doch sie sind Anhaltspunkte, von denen her jeweils ein Licht fallen kann auf die Annahme einer ›Maßlosigkeit von Bildern‹. Kein Zweifel: In ihrer Eigenschaft, raum-zeitlich situierte Gebilde zu sein, begegnen uns Bilder stets genau bemessen. Nur wenig andere Dinge in unserer Lebenswelt kommen in so klar akzentuierten, oftmals sogar standardisierten Formaten vor wie die Bilder. Ihre häufig anzutreffende Rahmung, ihr Angewiesensein auf Papierformate, Leinwände oder Bildschirme lässt in augenfälliger Weise hervortreten, dass Bilder sich selbst immer nur als abgegrenzte Dinge und als Ordnungsform zur Erscheinung bringen können. Ein Format zu haben, gehört zu den notwendigen Voraussetzungen ihrer Existenz. Loriots FernsehSketch, den Jens Schröter kongenial interpretiert als ein Kommentar zur »Frage der Relation des besonders geordneten Kunstschönen zur Welt der Dinge«14 legt davon ein humoristisches Zeugnis ab. Im Versuch, ein schief hängendes Bild wieder gerade zu richten, wird nach und nach die wohlgeordnete Form eines ganzen Zimmers ins Chaos gestürzt. Als Gebilde sind Bilder genuin geformt15 und sie sind stets 12 Auf diese Situiertheit in unserer Lebenswelt hat nachdrücklich David Freedberg aufmerksam gemacht: »... they are images integrated into life.« David Freedberg: Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1991, S. 434. 13 Zum »Bilderkrieg«, der die massenmedial inszenierte Destruktion der Buddha-Statuen von Bamiyan ebenso umfasst wie vor laufender Kamera getötete Geiseln, die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen und das Endlosband der einstürzenden Zwillingstürme in New York siehe Horst Bredekamp: BILD-AKT- GESCHICHTE. In: Clemens Wischermann et al. (Hg.): Geschichts-Bilder. 46. Deutscher Historikertag, Berichtsband, Konstanz 2007, S. 289– 309. Horst Bredekamp, Ulrich Raulff: Handeln im Symbolischen. Ermächtigungsstrategien, Körperpolitik und die Bildstrategie des Krieges. In: kritische berichte 33.1 (2005), S. 5–11. 14 Jens Schröter: Das Bild hängt schief. Ein experimenteller Essay zu Loriots ästhetischer (Neg-) Entropie. In: Doris Schuhmacher-Chilla, Julia Wirxel (Hg.): Maß oder Maßlosigkeit. Kunst und Kultur in der Gegenwart, Oberhausen 2007, S. 287–300; hier S. 288. 15 »Bilder sind Maße. Gemäße Formen, Ordnungen, Gebilde«. Hajo Eickhoff: Vermessene Kunst. Haus, Bild und Selbst. In: Doris Schuhmacher-Chilla, Julia Wirxel (Hg.): Maß oder 22 S YBILLE K RÄMER begrenzt. Und das schließt ein, dass wo immer ein Bild vorhanden ist, damit auch eine Demarkationslinie zwischen Bild und Nichtbild verläuft. Wir kommen zu einem ersten Resultat: Soweit Bilder als Bilddinge zu gelten haben, soweit sie materiale Entitäten sind, die in ihrer gestalteten Ausdehnung einen bestimmten Platz einnehmen im Raum-Zeit-Kontinuum körperlicher Dinge, ist das maßlose Bild ein Unding. Nun ist eine solche Einsicht von ziemlich begrenzter Reichweite. Denn Bilddinge sind zwar auch Dinge – jedenfalls entsprechend den Vorgaben unseres enger gewobenen Bildkonzeptes; aber das, worauf es ankommt bei Bildern, kann unmöglich in eben ihrem Dingcharakter gründen. Wir müssen uns vielmehr jenen Seiten zuwenden, in und an denen das genuin ›Bildliche‹ des Bildes überhaupt zum Tragen kommt. Und werden wir nicht genau in diesem genuin Bildlichen auf etwas treffen können, was das Bemessene und Begrenzte seiner Dingnatur außer Kraft setzt? In der Tat: Es gibt eine Dimension an der Bildlichkeit, die davon zehrt, dass das, was ein Bild zeigt einerseits sowie seine materiale, formatierte Flächigkeit andererseits in ein sublimes Wechsel- und Spannungsverhältnis treten. Indem Bilder allererst sich selber zeigen,16 bringen sie immer auch einen nur in ihnen verkörperten Maßstab zur Geltung, statuieren in ihrem Sosein ihre ureigene ikonische Norm. Und es kann durchaus ein Attribut dieser ›Eigenmaßstäblichkeit‹ sein, außer Kraft zu setzen, womit wir – gemessen an den Maßstäben und Maßen unserer natürlichen und lebensweltlichen Umwelt – vertraut sind und was auch für die Dimension des ›Dingcharakters‹ des Bildes in Geltung bleibt. Machen wir das konkreter. Es charakterisiert Bilder, dass sie – im Verhältnis zu den Vorgaben der uns umgebenden Realität – Kontradiktorisches und Inkongruentes zu integrieren vermögen. Michael Polanyi17 hat diese Verbindung des Unvereinbaren, die im Bild und eben nur im Bild möglich ist, am Beispiel der Qualität der »flachen Tiefe«18 erläutert, die dem zentralperspektivischen Bild eigen ist. »Die Flachheit der Leinwand wird mit einer perspektivischen Tiefe verbunden, die genau das Gegenteil von Flachheit ist.«19 Das Bemerkenswerte an zentralperspektivischen Bildern ist, dass sie dem Betrachter einen dreidimensionalen Raum zur Erscheinung bringen, aber einen solchen Raum nicht etwa – in der Manier einer 16 17 18 19 Maßlosigkeit. Kunst und Kultur in der Gegenwart, Oberhausen 2007, S. 59–81; hier S. 61. Zur Rolle, die das geordnete Maß und Proportionalität im Kunstschönen und in der europäischen Ästhetik spielt: Johannes Bilstein: Die Proportionalität des Lebendigen. In: ebd., S. 17–30. Schröter 2007 (wie Anm. 14). Zaloscer 1974 (wie Anm. 7). So hat Seel Kunstbilder als »Zeichen, die den Selbstbezug aller Bilder auffällig werden lassen« bestimmt. Deshalb bilden ungegenständliche Bilder auch kein Problem für eine Bildtheorie, Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München, Wien 2000, S. 269. Michael Polanyi: Was ist ein Bild? In: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 148–162; hier S. 154ff. Ebd., S. 155. Ebd. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 23 Sinnestäuschung – vortäuschen.20 Wir erwähnten bereits: Bilder täuschen (gewöhnlich) nicht. Im Trompe l’œil, das vermerkt Mark Ashraf Halawa zu Recht, fällt das Bild in sich zusammen, sieht der Betrachter doch jetzt ein Objekt, aber gerade kein Bild mehr.21 Die faktische Flachheit des zentralperspektivischen Bildes ist dem mit den Darstellungstechniken vertrauten Betrachter (natürlich) stets gegenwärtig. Eine solche Verbindung von Kontradiktorischem schaffen alleine Bilder. Die Flachheit des Bildes, so Polanyi, konterkariert seinen Anspruch auf Nachahmung der Realität und überschreitet diesen grundsätzlich. Und es ist kein Zufall, dass der Funktionsverlust der Nachahmung in der bildenden Kunst einhergeht mit einer gesteigerten Bedeutung, die der Fläche etwa in Kubismus und Expressionismus zukommt.22 Polanyi spricht auch vom ›Transnaturalismus‹,23 der nicht nur Bildern, sondern allen unseren künstlerischen Hervorbringungen, wie übrigens auch unseren Spielen eigen ist und stets auf ein »künstliches Rahmenwerk«24 angewiesen bleibt. Das Bild in seiner malerisches Eigenlogik bringt also etwas ›Unnachahmliches‹ hervor, beispielsweise indem es die Fläche nutzt, um Tiefe zu zeigen und bringt auf diese Weise etwas zur Erscheinung, was es zugleich nicht hat beziehungsweise nicht ist. Das darf nicht als Illusionismus missverstanden werden.25 Die Inkompatibilität, auf die wir am Beispiel von Polanyis ›flacher Tiefe‹ aufmerksam gemacht haben, ist verallgemeinerbar. Sie residiert im Herzen der bildlichen Eigenlogik und ist vielleicht »der Geburtsort jeglichen bildlichen Sinns«.26 Viele Bildtheoretiker haben sie in diesem Sinne – wenn auch mit unterschiedlichen Begriffen – reflektiert.27 Und immer geht es dabei um den Kontrast zwischen dem 20 »Ein Gemälde gehört so wenig in die Klasse der Sinnestäuschungen, wie die Wurzel einer negativen Zahl in die Reihe der natürlichen Zahlen.« Ebd., S. 161. 21 Halawa 2008 (wie Anm. 5), S. 131. 22 Polanyi 1994 (wie Anm. 17), S. 155. 23 Dieser ›Transnaturalismus‹ lässt sich sogar für (geografische) Karten zeigen, die immer noch als aussichtsreichste Vertreter einer naturalistischen Abbildung gelten. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008, S. 298ff. 24 Polanyi 1994 (wie Anm. 17), S. 156. 25 Daher greift Martin Seels Kritik – siehe hierfür Seel 2000 (wie Anm. 16), S. 272 – an Lambert Wiesing und Reinhart Brandt zu kurz, die beide davon ausgehen, dass Bilder zur Anschauung bringen, was sie selbst nicht sind. Siehe Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 160ff. Reinhart Brandt: Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen – Vom Spiegel zum Kunstbild, München 1999. 26 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38; hier S. 29–30. Gottfried Boehm bezieht sich damit auf den Grundkontrast der »ikonischen Differenz«. 27 Ebd., S. 29ff. Halawa 2008 (wie Anm. 5), S. 129ff. Eva Schürmann: Sehen als Praxis. Ethischästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt am Main 2008, S. 119ff. Martin Seel: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2002, S. 269ff. Richard Wollheim: Objekte der Kunst, übers. von Max Looser, Frankfurt am Main 1982, S. 192ff. 24 S YBILLE K RÄMER Bildding, das uns als »überschaubare Fläche« in all seiner Abgrenzung entgegentritt und den bildlichen »Binnenereignissen«, dem also, was wir in den auf der Fläche erfahrbaren Farben und Formen dann zu sehen bekommen. Es geht um eine »twofoldness« zwischen »tableau und image, Bildmedium und Bildsujet«.28 Gottfried Boehm hat dieses Spannungsverhältnis die ›ikonische Differenz‹ genannt. Diese Differenz birgt viele Facetten; in ihrer schlichten Form handelt sie davon, dass – sofern ein Bildobjekt überhaupt zum Vorschein kommt – dieses bildlich zwar anwesend, realiter aber abwesend ist.29 Gemalte Äpfel sind nicht essbar. Wir können das mit Cacciari aber auch anspruchsvoller ausdrücken: Jedes »wahre Bild« ist »eins mit seinem eigenen Fernsein – ist eins mit der Abwesenheit«.30 Halten wir fest: Die Bemessenheit, die dem Bild als bebilderte Fläche zukommt, wird zugleich von dem, was das Bild in dieser Fläche zeigt, überschritten. Das Bild ist Bild, insofern es sowohl die Begrenzungen seiner eigenen dinglichkörperlichen Faktizität wie aber auch die Bemessungen, die der ›bildexternen Realität‹ eigen sind, unterminiert beziehungsweise außer Kraft setzt. Mit den Worten Eva Schürmanns: »Unter den Bedingungen der endlichen Bildfläche wird ein unendlicher Bildraum ansichtig.«31. Können wir diese Grenzüberschreitung32 nun mit einer Art von Maßlosigkeit, die dem Bild eigen ist, in Zusammenhang bringen? Unsere Vermutung ist: nein. Denn diese Transgression der Maßstäbe, die seiner eigenen Dinghaftigkeit wie der bildexternen Realität zukommen, vollzieht das Bild gleichwohl in einer höchst abgemessenen Weise – und das nicht selten mit Hilfe ausgefeiltester Techniken des Messens und Berechnens, die für die bildgebenden Verfahren charakteristisch sind. ›Ars‹ und ›techné‹ sind zutiefst verwandt. Künstlerische Verfahren zehren (unter anderem) von Maß und Proportion; und selbst die Idee des Schönen – auch wenn sie als ästhetische Maxime ungeeignet ist 28 Schürmann 2008 (wie Anm. 27), S. 119 im Anschluss an Wollheim 1982 (wie Anm. 27). 29 Hans Jonas etwa drückt dies so aus: »Die Anwesenheit des Eidos wird unabhängig gemacht von der des Dinges«. Hans Jonas: Homo Pictor. Von der Freiheit des Bildens. In: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 105–124; hier S. 119. 30 Massimo Cacciari, Emilio Vedova: Vedovas Angeli, Klagenfurt 1989, S. 20. 31 Schürmann 2008 (wie Anm. 27), S. 120. 32 Davon unabhängig bleibt bezüglich des Verhältnisses von Kunst, Maß und Grenze zweierlei bedeutsam: (i) die Diagnose, dass avantgardistische Kunst sich immer auch im Bruch mit überkommenen Maßen realisiert, dabei aber eher »Verschiebungen von Maßen als Maßlosigkeiten« hervorbringt. Siehe Doris Schuhmacher-Chilla, Julia Wirxel: Vorwort. In: dies. (Hg.): Maß oder Maßlosigkeit. Kunst und Kultur in der Gegenwart, Oberhausen 2007, S. 7– 16; hier S. 9. Und (ii), dass gerade die Kunst der letzten 200 Jahre sich in Gestalt von »Materialentgrenzungen« entfaltet, wie Parmentier in einer Analyse von vier solcher Entgrenzungsvorgänge aufweist: dem ästhetischen Atomismus, der Verfransung von Gattungen, dem wechselseitigen Einbruch von Kunst und Alltag sowie der Auflösung der Trennung von Werk und Publikum. Michael Parmentier: Kants Kriterium. Oder: Gibt es einen Maßstab für die Beurteilung von Kunst nach Auflösung des Werkbegriffs? In: ebd., S. 31–58. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 25 – scheint mit dem Ebenmaß und der auch zahlenmäßig erfassbaren Verhältnismäßigkeit, wenn nicht gar mit dem Mathematischen selbst, durchaus im Bunde. Wieder kann hier die zentralperspektivische Darstellungstechnik ein Exempel abgeben, insofern in ihr sich die Liaison zwischen Kunst, Technik und Messbarkeit höchstmöglich verdichtet: Die zentralperspektivische Bildkonstruktion macht nicht nur von der Mathematisierbarkeit und Instrumentalisierbarkeit visueller Erscheinungen Gebrauch, sondern leistet ihrerseits einen entscheidenden Beitrag zur Vermessung der Welt.33 Denn in ihrem Horizont greifen die Rationalisierung des Sehens und die Visualisierung der Ratio ineinander.34 Der Umstand, dass das Bildermachen immer auch ein dem Maßvollen und Bemessenen nahestehendes Verfahren ist, kristallisiert sich auch darin aus, dass Bilder eben nicht nur produzierbar, vielmehr reproduzierbar sind. Wir wollen eine letzte Überlegung anführen zur bemerkenswerten Verbindung zwischen dem Bild und dem Maß. Sie hat zu tun mit der anthropologischen Situierung von Bildern. Als endliche Wesen sind wir mit einer unüberschaubaren, nicht selten chaotischen Mannigfaltigkeit der auf uns eindringenden Welteindrücke konfrontiert. Techniken der Reduktion der Unüberschaubarkeit und Komplexität der Welt in Form ihrer kulturtechnischen Zurichtung, symbolischen Gestaltung und rituellen Vergegenwärtigung sind als anthropologische Tatbestände wohlbekannt. Liegt es da nicht nahe, anlässlich unserer bildschaffenden Potenz anzunehmen, dass wir die »Andringlichkeit der Umwelt«35 mithilfe von Bildtechniken partiell bewältigen?36 Hans Jonas spricht dem Sehvorgang selbst eine grundständige Distanz- und damit auch Abstraktionsleistung zu gegenüber dem, was auf unsere Sinne eindringt.37 Dieses Vermögen zum Zurücktreten von dem, was uns überwältigt, kulminiert für ihn in der »transanimalischen Freiheit«.38 Diese geht mit dem Bildermachen einher, sobald also eine »Erscheinung als Erscheinung ergriffen« und »von der Wirklichkeit unterschieden« wird und wir dann über die 33 Sybille Krämer: Zentralperspektive, Kalkül, Virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikationen symbolischer Formen. In: Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch (Hg.): Medien – Welten – Wirklichkeiten, München 1998, S. 27–38. 34 Sybille Krämer: Die Rationalisierung der Visualität und die Visualisierung der Ratio. Zentralperspektive und Kalkül als Kulturtechniken des ›geistigen Auges‹. In: Helmar Schramm (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 50–67. 35 Jonas 1994 (wie Anm. 29), S. 119. 36 Dabei ist selbstverständlich klar, dass Bilder nicht nur eine Komplexitätsreduktion vollziehen, sondern – denken wir an die klassischen Kunstbilder – gerade unsere Wirklichkeitserfahrung subtiler und facettenreicher gestalten. Der komplexitätsreduzierende Aspekt darf also nicht verabsolutiert werden. Gleichwohl ist er signifikant – und zwar für alle Bilder in unterschiedlichen Graden. 37 Jonas 1994 (wie Anm. 29). Hans Jonas: Der Adel des Sehens. In: Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 247–271. 38 Jonas 1994 (wie Anm. 29), S. 124. 26 S YBILLE K RÄMER Anwesenheit dieser Erscheinung frei verfügen können.39 Die Bilder sind immer auch abgemessene Gestaltungen, in deren Schattenriss wir das Übermaß des auf uns Eindringenden ein Stück weit zu bannen vermögen, indem wir es begrenzen, bemessen, verkleinern, vereinfachen und eben dadurch das Unermessliche nicht nur besser verstehen, sondern das, was wesentlich ist an ihm, auch ›auf den Punkt bringen‹ können. Ist es Zufall, dass das ›Wesentliche an einer Sache‹ von Platon ›eidos‹ genannt wird, das heißt aber: Ansehen, Gestalt, Bild? Auch bei Maurice Blanchot40 treffen wir auf ähnliche Gedanken. Im Anschluss an ihn bemerkt Emmanuel Alloa: »Als endliches Wesen ist der Mensch darauf angewiesen, das, was seinen Horizont übersteigt, einzurahmen und zu begrenzen, um damit eine Umgangs- und Zugangsweise zu haben. Im Bild als begrenzte Vorstellung wird das Mannigfaltige stillgestellt und das Unverfügbare handhabbar.«41 Die Beschränkung des Unbeschränkten, die Verfügung über das, was überwältigt, die Vermessung des Unermesslichen erweist sich als eine wesentliche Triebkraft menschlicher Bildproduktion. 4. Ein Fazit und ein Perspektivenwechsel Ziehen wir ein Fazit. Auch nach unserem letzten Gedankenschritt sind wir wieder auf eine zuvor schon vermutete Einsicht gestoßen: Betrachtet in der Perspektive des Bildes als einem (i) raum-zeitlich situierten und begrenzten Gebilde, das (ii) durch künstlerisch-technische Verfahren hergestellt wird, (iii) auf der Wechselwirkung zwischen seiner Flächigkeit und dem, was in der Fläche sich zeigt, beruht und (iv) Funktionen in anthropologischer Hinsicht erfüllt, zu denen (auch) diejenige der Komplexitätsreduktion gehört – in all diesen Hinsichten betrachtet, ist und bleibt das ›maßlose Bild‹ ein Unding. Und doch sind wir immer noch nicht am Ende unserer Erörterungen. Vielleicht können wir sogar sagen: Erst jetzt wird es spannend. Wir haben am Anfang dieses Essays unterschieden zwischen einer quantifizierenden, auf alle körperlichen Gegenstände und Prozesse anwendbaren Dimension in unserem Sprachgebrauch von ›Maß‹ sowie einer eher ethisch motivierten, am Handeln von Subjekten beziehungsweise Personen orientierten Bedeutungsdimension. Wäre es möglich, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und zu fragen, ob nicht die zweite handlungsorientierte Ausrichtung die für die Idee maßloser Bilder aufschlussreichere sein könnte? 39 Ebd., S. 119. 40 Maurice Blanchot: Le livre à venir, Paris 1959. 41 Emmanuel Alloa: Berührung – Entblößung. Von der Pathik der Bilder bei Maurice Blanchot. In: Kathrin Busch, Iris Därmann (Hg.): pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007, S. 75–92; hier S. 76. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 27 Zuerst einmal scheint das abwegig. Bilder sind Gebilde und keine Personen. Sie sind überdies in ihrer materialen Unbeweglichkeit Texten vergleichbar42 und also keineswegs etwas, das tätig sein kann oder gar sich wie ein lebendes Wesen zu verhalten vermag. Allerdings hatten wir schon in unserem ›Brevier‹ relevanter Bildeigenschaften vermerkt, dass Bilder zweifach erzeugt werden, insofern es erst die Betrachter sind, unter deren Blick sich Gebilde letztlich in Bilder verwandeln (können). Und gerade die für das Gegebensein von Bildern grundständige ›ikonische Differenz‹ von Bildfläche und Bildinhalt ist etwas, das nicht einfach ›dem‹ Bild, sondern dem Bild, sofern es wahrgenommen wird, also in einer Relation zu Betrachtern steht, eigen ist. Dass Bilder angeschaut werden müssen, um Bilder zu sein, steht außer Frage. Nun hat Hans Belting dieses Anschauen als eine »Animation« des Bildes, als seine Verlebendigung beschrieben.43 Gottfried Boehm möchte die Kunstgeschichte als eine »Wissenschaft vom Lebendigen« zumindest in die Diskussion bringen.44 Dabei ist die ›Lebendigkeit des Bildes‹ eine Metapher, deren Anregungspotenzial sich genau dem Umstand verdankt, dass wir (natürlich) keinen Augenblick beim Bildbetrachten daran zweifeln, dass Bilder »starre Dinge« sind. Was aber bedeutet dann ›Lebendigkeit‹? Und vor allem: Wieso ist dies für die Frage nach ›maßlosen Bildern‹ relevant? Wir sind nun an einer Gelenkstelle unserer Überlegungen. Unsere Vermutung ist, dass die sich im Anblicken ereignende ›Verlebendigung des Bildes‹ darin besteht, dass das Bild zurückblickt und dass in diesem Zurückblicken, das dem Betrachter widerfährt, ihn betrifft, ergreift und ›ansteckt‹45, etwas liegt, worin eine ›Maßlosigkeit‹ im handlungsorientierten Sinne tatsächlich angelegt sein könnte. Das Paradoxon des Bildes, so Horst Bredekamp, besteht gerade darin, dass das Bild vom Menschen geschaffen ist, ihm jedoch als eine »eigenaktive Größe« entgegenkommt, mithin als etwas Lebendiges begegnet.46 Bredekamp möchte diese wirklichkeitshervorbringende Fähigkeit, dieses bildaktive Vermögen in den Begriffen von Bildakten ausarbeiten. Wir wollen demgegenüber die ›Eigenaktivität der Bilder‹ in Blickakten begründet sein lassen. 42 Christian Stetter: Bild, Diagramm, Schrift. In: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 115– 137. 43 Hans Belting: Zur Ikonologie des Blicks. In: Christoph Wulf, Jörg Zirfas (Hg.): Ikonologie des Performativen, München 2005, S. 50–58; hier S. 50. 44 Gottfried Boehm: Der Topos des Lebendigen. Bildgeschichte und ästhetische Erfahrung. In: Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main 2003, S. 95–112; hier S. 112. 45 Zur Ansteckung als ästhetische Kategorie siehe Mirjam Schaub, Erika Fischer-Lichte, Nicola Suthor (Hg.): Ansteckung – Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005. Siehe bezogen auf Bilder Kathrin Busch, Iris Därmann (Hg.): pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007. 46 Dies wird in vielen unterschiedlichen Konstellationen untersucht in Bredekamp 2007 (wie Anm. 13). 28 S YBILLE K RÄMER Die Idee, dass die Bilder uns anblicken, ist keineswegs neu. Georges DidiHuberman begründet in diesem Zurückblicken des Bildes seinen kunsttheoretischen Ansatz.47 Wir wollen aber – bevor wir auf Didi-Huberman als ›Gewährsmann‹ zurückkommen – noch einen Schritt weiter gehen, und zwar mit Sartre, der das Blicken kategorisch vom Sehen unterscheidet und es überdies als ein soziales Interaktionsverhältnis bestimmt, dessen Keimform gar nicht das Blicken, vielmehr das Angeblicktwerden bildet. Wir gehen davon aus, dass der Blickwechsel als ein zwischenmenschliches Interaktionsverhältnis überhaupt erst jenen Blickereignissen Pate steht, die sich zwischen Betrachter und Bild vollziehen48 und in denen sich dann eine spezifische – noch näher zu bestimmende – Form von Entgrenzung vollzieht. 5. Sehen – Blicken – Angeblicktwerden. Überlegungen im Anschluss an Jean-Paul Sartre Dass das Wahrnehmen eine Aktivität des Menschen ist, ein durch Kulturtechniken immer auch präformierter Wahrnehmungsakt, lässt nicht selten in den Hintergrund treten, dass jedwedes menschliche Handeln im Wechselspiel von Bestimmen und sich Bestimmenlassen,49 von Tun und Widerfahren begreifbar ist – und das gilt erst recht für die Responsivität im Sehen. Sartre nun unterscheidet zwischen Sehen und Blicken: Das Blicken stiftet eine zwischenmenschliche Beziehung. In ihm bleibt der Angeblickte nicht länger ein gesehener Gegenstand, sondern wird in seiner »leibhaftigen Anwesenheit«50 mithin als ein Subjekt in Geltung gesetzt. Es geht also um den Unterschied zwischen einem objektbezogenen, erkennenden Sehen und dem subjektbezogenen, leibhaftigen Blicken. Wichtig für Sartre nun ist die Disjunktivität beider: Wenn das Auge blickt, kann es nicht zugleich sehen. Ich höre auf, die Augen, die mich anblicken, auch wahrzunehmen.51 Der Blick des Anderen verbirgt seine Augen,52 er blendet.53 Indem ich den anderen sehe, objektiviere ich ihn. Indem ich ihn anblicke oder von ihm angeblickt werde, fühle ich 47 Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, [Paris 1992], übers. von Markus Sedlaczek, München 1999. 48 Dazu auch Sybille Krämer: Gibt es eine Performanz des Bildlichen? Reflexionen über Blickakte. In: Ludger Schwarte (Hg.): Bildperformanz, München 2009, [im Druck]. 49 Seel 2002 (wie Anm. 27). Schürmann 2008 (wie Anm. 27), S. 68. 50 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant, Paris 1949, S. 310. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, hg. von Traugott König, übers. von Hans Schöneberg, Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 457. 51 Sartre 1949 (wie Anm. 50), S. 316. Sartre 1993 (wie Anm. 50), S. 466. 52 In beiden Ausgaben ebd. 53 Reinhart Meyer-Kalkus: Blick und Stimme bei Jaques Lacan. In: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 217–236; hier S. 226. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 29 ihn. Die »unmittelbare und brennende Anwesenheit des Blicks des Anderen« ist etwas, das mich trifft und berührt.54 Etymologisch übrigens leitet sich ›Blick‹ von› Blitz‹ ab. Unsere Sozialität wurzelt für Sartre darin, dass wir von anderen angeschaut werden. »Das ›Vom-Anderen-gesehen-werden‹ ist die Wahrheit des ›Den-Anderensehens‹.«55 Das Angeblicktwerden ist dem Anblicken also vorgängig und es ist als ein durchaus somatisches, sogar pathisches Verhältnis zu begreifen. In der Blickrelation waltet eine körperliche Anziehungskraft, die Sartre mit der Anziehungskraft zweier Massen über Distanz vergleicht. Indem ich angeblickt werde, ist derjenige, der blickt, distanzlos bei mir anwesend durch seinen Blick, mit dem er mich zugleich jedoch in und auf Distanz hält.56 Infolge dieser Asymmetrie birgt die Blickrelation ein Machtverhältnis. »Mit dem Blick des Anderen [...] bin (ich) nicht mehr Herr der Situation.«57 Sofern der Andere mich anblickt, entwickeln sich Aspekte einer Situation, die »ich nicht gewollt habe«, die mich geradezu entmachten, und mit denen für mich Unvorhersehbares eintritt.58 Angeblickt zu werden birgt (auch) einen Kontrollverlust. Wir können Sartres umfängliche Reflexionen zum Blick hier nicht genauer verfolgen,59 doch vielleicht hat sich schon abzeichnen können, was ihn für die hier anstehenden Überlegungen anschlussfähig macht.60 Nehmen wir einmal an, dass das Sozialverhältnis des Blickens und Angeblicktwerdens – und damit vielleicht das Sehen von Gesichtern? – überhaupt erst das Fundament liefert für die genuin menschliche Weise, Bilder zu betrachten.61 Dann aber ist auch die Vermutung, dass Maß und Maßlosigkeit im ethischen, personen- und verhaltensorientierten Sinne Eingang finden könn(t)en in die Domäne des Bildes, nicht mehr von der Hand zu weisen, gesetzt der Fall, wir kön- 54 55 56 57 58 59 Sartre 1949 (wie Anm. 50), S. 328. Sartre 1993 (wie Anm. 50), S. 485. Sartre 1949 (wie Anm. 50), S. 315. Sartre 1993 (wie Anm. 50), S. 464. Sartre 1949 (wie Anm. 50), S. 328ff. Sartre 1993 (wie Anm. 50), S. 484ff. Sartre 1949 (wie Anm. 50), S. 323. Sartre 1993 (wie Anm. 50), S. 478. Sartre 1949 (wie Anm. 50), S. 324. Sartre 1993 (wie Anm. 50), S. 478. Und erst recht haben wir die Reflexionen über den Blick bei Helmuth Plessner: Zur Anthropologie der Nachahmung. In: Gunter Gebauer (Hg.): Anthropologie, Leipzig 1998, S. 176–184. Jacques Lacan: Linie und Licht. In: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 60–74. Jacques Lacan: Was ist ein Bild/Tableau. In: ebd., S. 75–89. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994. Jüngst bei Schürmann 2008 (wie Anm. 27), S. 190ff. hier nicht berücksichtigt. 60 Siehe zur auch kritischen Auseinandersetzung mit Sartres Blickreflexionen Norman Bryson: The Gaze in the Expanded Field. In: Hal Foster (Hg.): Vision and Visuality, Seattle 1988, S. 51–78. Hans-Dieter Gondek: Der Blick – zwischen Sartre und Lacan. Ein Kommentar zum VII. Kapitel des Seminar XI. In: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse 37/38 (1997), S. 175–198. 61 Dies allerdings ist hier nur eine Hypothese, die gleichwohl eine Gelenkstelle unserer weiteren Erörterung bildet und deren Fruchtbarkeit sich letztlich an dem erweisen muss, was aus der ›Arbeit‹ mit dieser Hypothese folgt. 30 S YBILLE K RÄMER nen dreierlei dabei voraussetzen: (i) Einmal muss das, was ein Bild ›ist‹, durch den Blickbezug von Betrachtern bestimmt werden können. (ii) Zum andern muss diesem Blickbezug eine Art von Reziprozität eigen sein, muss dieser sich als eine Weise der Interaktion zeigen, bei der das Bild seinerseits den Betrachter anblickt. (iii) Und schließlich muss dieser Blickwechsel etwas sein, was dem Betrachter widerfährt und seiner solitären Kontrolle nicht unterliegt, mithin ein Verhältnis instantiiert, das den Betrachter berührt und ergreift. Die Einsicht, (i) dass der Blick erst aus einem Gebilde das Bild hervorgehen lässt, ist gut sondiert und wird heute weitgehend geteilt. Dass dabei (ii) das Bild ›zurückblickt‹ und (iii) in diesem Blickwechselverhältnis sich eine pathische Dimension zeigt, ist nun noch genauer zu erörtern. 6. Die Bilder blicken zurück: Überlegungen mit Georges Didi-Huberman Die ›Übertragung‹ der sozialen Blickrelation auf das Verhältnis von Betrachter und Bild in der Weise, dass Bilder dabei zurückblicken, mag ein Unbehagen auslösen. Bilder haben keine Augen. Was im Feld der sozialen Interaktion eine konsistente Begrifflichkeit ist, scheint jetzt – bezogen auf die Relation zwischen Bild und Betrachter – allenfalls metaphorisch Sinn machen zu können. Doch auch bei Metaphern ist es interessant im Unähnlichen jenen gemeinsam geteilten Punkt zu finden, der die Übertragung eines Wortes von einem Phänomenbereich auf den anderen ›legitimiert‹.62 Erinnern wir uns: Sartre hat gezeigt, dass ›Sehen‹ und ›Blicken‹ sich gerade ausschließen, dass wir also – buchstäblich begriffen – gar nicht mit den Augen blicken (sondern mit unserer leibhaftigen Personalität beziehungsweise Subjektivität). Wenn wir jetzt Didi-Huberman ins Spiel bringen mit seinem Werk Was wir sehen blickt uns an,63 dann genau deshalb, weil bei ihm das ›Zurückblicken der Bilder‹ eben nicht visuell verstanden wird. Bilder sind mehr und sind anderes als reine Sichtbarkeit. Das ist der entscheidende Punkt seines Bildkonzeptes. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Während oftmals das Wahrnehmen von Bildern als eine Aktivität des Lesens und Interpretierens rekonstruiert wird, bei der – im besten Falle ikonologisch informiert – durch den Betrachter ›hervorgebracht‹ wird, was sich im Spannungsverhältnis von Form und Gehalt am Bild zeigt, schlägt Didi-Huberman einen anderen Weg ein: Das Bild, das wir betrachten, erwirbt dabei eine Art von 62 Wir vernachlässigen alle Spielarten der Metapherntheorie einschließlich der dekonstruktiven Frage im Anschluss an Derrida, ob die Trennung zwischen buchstäblicher und metaphorischer Bedeutung überhaupt zu treffen ist. 63 Didi-Huberman 1999 (wie Anm. 47). G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 31 »Öffnung«,64 die wir als »Verlust«,65 »Mangel«, »Leere«66 erfahren, als etwas am Bild, das dunkel und unklar bleibt und sich also der Anschaubarkeit gerade entzieht. Die Bilderfahrung produziert nicht einfach einen lesbaren, erkennbaren, verstehbaren Bildsinn, sondern konfrontiert uns mit einer Ungewissheit und einem Entzug. Der Sichtbarkeit des Bildes ist somit eine Unsichtbarkeit inkorporiert. »Genau dadurch aber«, betont Didi-Huberman, »ist das Bild in der Lage, uns anzublicken«.67 Diese Schlussfolgerung scheint überaus kryptisch. Was bedeutet diese ›Öffnung‹, die als ›Leere‹ und ›Abwesenheit‹68 sich zeigt und wie kann dies mit dem bildlichen Vermögen, »zurückzublicken«, zusammenhängen? Es sind Alltagsbeispiele, die hier ein Stück weit Klärung bringen. Wenn wir Dinge wie Höhlungen, Löcher, Lücken, Risse, aber auch geöffnete Türen sehen, so besteht deren Eigenart gerade darin, dass sich etwas an ihnen dem Gesehenwerden entzieht. Es sind Dinge, deren Sosein darin besteht, dass an ihnen etwas nicht da ist, dass ihre Erscheinung eine Leerstelle aufweist: Gegenstände, die also gezeichnet sind von einem Mangel, der sie gleichwohl erst in ihrer gegenständlichen Identität bestimmt. Wir müssen die Erscheinung des Bildes nun, in Analogie zu solchen Dingen charakterisiert, durch ihre Fehlstände begreifen. Die den Bildern eigene Visualität ist für Didi-Huberman mit einem negativen Vorzeichen versehen; keine Sichtbarkeit des Bildes, ohne dass nicht dabei eine unauflösliche Unsichtbarkeit zur Geltung kommt, etwas Unzugängliches, Unnahbares, auch Unheimliches. Worauf es jetzt ankommt, ist zu beachten, dass diese Struktur der Negativität, die Bildern eigen ist, diesen alleine in ihrer Visualität zukommt. Nun geht aber das Bild – wir haben das bereits konstatiert – für Didi-Huberman nicht auf in seiner Sichtbarkeit. Doch das, was sich der Anschauung am Bild entzieht, ist für den Betrachter gleichwohl erfahrbar, denn es ist spürbar. James Joyces Diktum: »Schließe deine Augen und schau« (»shut your eyes and see«) wandelt Didi-Huberman um in: »Öffne deine Augen, um zu spüren, was Du nicht siehst«.69 Indem der Betrachter die Bilder in der Betrachtung zugleich zu spüren bekommt, können sie ihn berühren, ergreifen, erschüttern. Die dem Bild zukommende ›Leere‹ markiert also deshalb die Dimension, in der das Bild kraft seiner ›Höhlungen‹ den Betrachter anblickt, weil es in dieser Dimension auf ihn in nahezu taktiler Weise einzuwirken vermag. Sartres Diagnose des Angeblicktwerdens, bei dem dasjenige, was blickt, distanzlos anwesend ist und das Angeblickte durch seinen Blick zugleich in Distanz hält, drängt sich hier auf. Dass die zurückblickenden Bilder in der Tat die Betrachter auf Distanz halten, indem 64 65 66 67 68 69 Ebd., S. 89. Ebd. Ebd., S. 19ff. Ebd., S. 89. Ebd., S. 101. Ebd., S. 16. 32 S YBILLE K RÄMER gerade ihre ›Öffnung‹ wie eine Schwelle wirkt, über die die Betrachter nicht hinübertreten können,70 entfaltet Didi-Huberman anhand von Kafkas »Türhüterparabel«:71 Dieser kommt zum Gesetz, das von einem Türhüter bewacht wird. Obwohl die Türe zum Gesetz weit offen steht, so dass der Mann vom Lande hineinblicken kann, der Türhüter auch beiseite tritt, verbietet er ihm gleichwohl den Eintritt, den er allerdings für eine ferner liegende Zukunft in Aussicht stellt. Der wartende und unterdessen alternde Mann verharrt bis zu seinem Tode vor der geöffneten Türe – und tritt nicht über deren Schwelle. Der Mann vom Lande liegt im Sterben und nun schließt der Türhüter den Eingang, dem Mann bei dessen letztem Atemzug mitteilend, dass dieser Eingang alleine für ihn bestimmt war. Diese Parabel verdichtet Didi-Huberman zum Sinnbild des Verhältnisses zwischen Betrachter und Bild: »vor dem Bild – wenn wir hier als Bild das Objekt des Sehens und des Blicks bezeichnen – stehen alle wie vor einer offenen Tür«, in die »man nicht gelangen, nicht eintreten kann«.72 Benjamins Idee der Aura kommt hier ins Spiel:73 »unzugänglich und auf Distanz haltend, so nah es auch sein mag«,74 denn die vom Bild ausgehende Verschwisterung von Anziehungskraft und Abwehr deutet Didi-Huberman als einen »unterbrochene[n] Kontakt«, als eine »unmögliche Beziehung von Körper zu Körper«.75 Wenn also das, was die Sichtbarkeit des Bildes auslässt, zugleich gespürt werden kann, ist dieses Spüren keine unmittelbare, ungebrochene Kontaktaufnahme, sondern gezeichnet von einer Hemmung. Denn das Bild bannt und hält auf Distanz. Wir sehen, wie komplex die das Sehen überschreitende Blickbeziehung zwischen Bild und Betrachtern angelegt ist. Doch nun ist es an der Zeit, den Faden unseres Themas der ›maßlosen Bilder‹ wieder aufzunehmen. An jener Stelle nämlich, an der Didi-Huberman konstatiert, dass es der im Bildbetrachten bewirkte »Verlust« ist, der »das Bild in die Lage (versetzt), uns anzublicken«, fährt er unmittelbar fort: »Das impliziert unter anderem, daß es nur jenseits des Prinzips des ausgedehnten, extensiven Raumes Bilder gibt, die radikal zu denken sind, jenseits der Maßvorstellungen von Groß und Klein, Nah und Fern, Innen und Außen.«76 Das Bild als ›dialektisches‹ beziehungsweise ›radikales‹ Bild ist – expliziter als bei Didi-Huberman ist das kaum auszudrücken – maßlos geworden: Kategorien quantifizierbarer Räumlichkeit werden obsolet; vorausgesetzt wir sind bereit, das Bild in seiner negativen Visualität und seiner körperlichen Taktilität zu erfahren. 70 71 72 73 74 75 76 »Das Bild (besitzt) die Struktur einer Schwelle«. Ebd., S. 235. Franz Kafka: Der Prozeß [1914–1916], Frankfurt am Main 1986, S. 182–183. Didi-Huberman 1999 (wie Anm. 47), S. 234. Ebd., S. 135ff. Ebd., S. 235. Ebd. Ebd., S. 89. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 33 Wir haben das ›maßlose Bild‹ als ein ›Unding‹ bezeichnet, insofern Formatierung und Begrenzung jedem Bild als Gebilde und Bildding zukommen. Und auf das Abgemessene sind wir selbst da noch gestoßen, wo das Wechselverhältnis von überschaubarer Fläche und unüberschaubarem Sujet eine wesentliche Facette der ›ikonischen Differenz‹ ist, die alles Bildersehen grundiert. Doch die Frage nach den ›maßlosen Bildern‹ trieb uns über diese Ebene des Bildersehens hinaus: Wir vermuteten, dass in dem sozialen Ursprung der Blickbeziehung angelegt sein könnte, dass im Angesicht des Betrachters das Bild selbst eine Metamorphose aus einem ›angeschauten Gebilde‹ in eine Art ›zurückblickendes Subjekt‹ durchmacht. Damit kommt dem Bild unter den Augen des Betrachters nicht länger der Status zu, ein ›Ding‹ zu sein, sondern in Analogie zu einer ›Person‹, die selber nicht von der ›Natur‹ eines Dings ist, zu ›etwas agierendem Lebendigen‹, zu einem ›Quasi-Subjekt‹ zu werden, das den Betrachter berührt. Nachdem wir nun soweit gekommen sind, müssen wir allerdings – ernüchtert? – feststellen: Dies ist eine Form des Anthropomorphismus.77 Übrigens sieht dies auch Didi-Huberman so.78 Indem das Bild aus den Leerstellen seiner Sichtbarkeit zurückblickt und damit uns distanzlos ergreift, verkörpert das ›dialektische Bild‹ etwas, das in einer anthropomorphen Dimension uns gleich einer Person begegnet. In Auseinandersetzung mit Tony Smiths Kuben, die für ihn Inkarnationen eines ›dialektischen Bildes‹ darstellen, zitiert Didi-Huberman Michael Fried, der selbst in Tony Smiths Plastiken einen Anthropomorphismus dechiffriert hat, diesen jedoch kritisch sieht. Fried schreibt: »Der Betrachter weiß, daß er als Subjekt in einer unbestimmten, offenen [...] Beziehung zu dem ausdruckslosen Objekt an der Wand oder auf dem Boden steht. Von einem solchen Objekt distanziert zu werden ist, wie ich meine, nicht grundlegend anders, als von der stummen Gegenwart einer anderen Person distanziert oder bedrängt zu werden«.79 Etwas mit menschlichen Eigenschaften auszustatten, das von seiner ›Natur‹ her nichtmenschlich ist, ist gemeinhin desavouiert oder wird als prärationales, magisches Stadium historisiert. Aber ist die Übertragung personaler Eigenschaften auf Artefakte nicht generell ein Schlüssel zum Verständnis unseres Bildermachens und Bilderbetrachtens? Ein Schlüssel, der uns dann auch verstehen lässt, warum Bildverehrung und Bilderstürmerei nahezu unvermeidbare Begleiterscheinungen unserer Bildgeschichte sind? Können wir soweit gehen zu sagen, dass Bildverehrung und Bildersturm nur die Symptome sind für jenes Zuviel in unserer Faszination und unserem Gefangensein durch die »Passion des Bildes«,80 deren ›rechtes Maß‹ dann wiederum genau in einem ästhetischen Verhältnis zu den Bildern verkörpert wäre? 77 So Didi-Huberman: »Kurzum, es wird ein Anthropomorphismus am Werk sein.« Ebd., S. 105. 78 Dazu das Kapitel ›Anthropomorphismus und Unähnlichkeit‹. Ebd., S. 103ff. 79 Michael Fried: Kunst und Objekthaftigkeit. In: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art, Basel, Dresden 1995, S. 334–374, hier S. 345–346. 80 Dies ist ein Ausdruck von Blanchot 1959 (wie Anm. 40), S. 114. 34 S YBILLE K RÄMER Wir haben anfangs betont, dass ›Maß‹ und ›Maßlosigkeit‹ sowohl quantifizierend wie auch moralisch zu verstehen sind und früh schon die Vermutung geäußert, dass eine Bildern attribuierte Maßlosigkeit letztlich nur in der moralischen Dimension verwurzelt sein kann. Ist die Ästhetisierung von Bildern eine Art von Bollwerk oder auch eine Art von Immunisierung gegenüber dem Maßlosen der Bilder, das als Widerfahrnis eines Ergriffenseins und einer Passion im Angesicht von Bildern sich ereignen kann? Restituiert die ästhetische Einstellung jene spielerische und interpretierende Distanziertheit der Betrachter, die durch die Passion der Bilder immer auch gefährdet ist oder gar annulliert wird? Ungefähr so hat es David Freedberg tatsächlich gesehen.81 7. Abschluss mit einem methodischen Kommentar Im Ergebnis dieser Rekonstruktion einiger Gedanken Didi-Hubermans können wir die Maßlosigkeit des Bildes als einen anderen Ausdruck dafür deuten, dass Bilder, sofern sie betrachtet werden, sich aus einem ›Gebilde‹ in ein ›zurückblikkendes Subjekt‹ verwandeln. Dies birgt unausweichlich eine Art von Anthropomorphismus. Kann uns jedoch ein solches Ergebnis genügen oder gar befriedigen? Verfehlen wir mit diesem Resultat nicht gerade das, was in der gegenwärtigen Phase des Bilderdenkens nottut? Die Bemühungen um eine kulturelle und epistemische Rehabilitierung der Bildlichkeit, in deren Konsequenz es liegt, dass die Beschäftigung mit Bildern kein Privileg der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaften mehr bleibt, sondern auch zu einem Kernbereich der Wissenschaftsgeschichte, Kulturgeschichte, Anthropologie und Philosophie avanciert, bedürfen doch gerade bildwissenschaftlicher und bildphilosophischer Ansätze, die das Bild in seiner genuinen Ikonizität und Wirkungskraft in konsistenten, klaren Begriffen begreifbar machen. Die Deutung der Wirkmacht von Bildern im Lichte eines Anthropomorphismus scheint solchem Anliegen wenig dienlich. Wir wollen und können diesen Sachverhalt nicht glätten. Denn uns ging es methodisch – oder sollten wir sagen: hypothetisch? – darum aufzuzeigen, dass, wenn wir Bildern eine Art von Maßlosigkeit zugestehen wollen und wenn wir diese im Blickbezug verorten, dann mit einer gewissen Konsequenz eine anthropomorphe Perspektive unausweichlich wird. Das sollte anhand einer der avanciertesten Theorien der Bild-Betrachter-Relation aufgewiesen werden. Doch zweifellos ließe sich das, was wir hier in dem Bemühen ausgeführt haben, der Maßlosigkeit von Bildern doch noch eine Bresche zu schlagen, auch anders, nämlich weniger verfänglich, weil nicht-anthropomorph beschreiben. Etwa – wie Kathrin Busch dies unternommen hat82 – indem die Macht und das ›Pathos‹ der 81 Freedberg 1991 (wie Anm. 12). 82 Kathrin Busch, Iris Därmann: Ansteckung und Widerfahrnis. Für eine Ästhetik des Pathischen. In: dies. (Hg.): pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007, S. 51–75; hier S. 51ff. G IBT ES ›M ASSLOSE B ILDER‹? 35 Bilder in den Termini der ›Ansteckung‹ entfaltet wird. Dann allerdings bleibt die ›Maßlosigkeit‹ kein Referenzpunkt mehr. Dies impliziert nicht, auch auf den Blickbezug zu verzichten und zwar gerade unter dem von Sartre analysierten Aspekt, eine Art ›Entmachtung‹ beziehungsweise Widerfahrnis seitens des Betrachters zu vollziehen.83 83 Dazu auch Krämer 2009 (wie Anm. 48). 3 Vom Freiheitsverlust des Betrachters Einige kritische Bemerkungen zum »Willen zum Sehen« MARK A. HALAWA Dieser Beitrag befasst sich mit den Bedingungen maßloser Bilder. Dabei knüpft er an Sartres Ausführungen zur Literatur an, wo die Seinsbedingungen des literarischen Objekts an den Blick des Lesers geknüpft werden. Indem Ähnliches für das Bild behauptet wird, wird für eine Besinnung auf die das Bild konstituierende »Freiheit« und »Schöpfermacht« des Betrachters sowie des Diskurses plädiert, in dem dieser beziehungsweise eine Betrachtergemeinschaft sich stets wiederfinden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die im Rahmen des iconic turn zu verzeichnenden Entgrenzungsund Ausgrenzungseffekte von Sag- und Sichtbarkeiten mit Blick auf die so wichtige Instanz des Betrachters thematisieren. Nicht alleine technologische Determinanten lassen Bilder im Rahmen des öffentlichen Diskurses zu einem »Maß der Dinge« werden, sondern, wie ein Exkurs über den Skandal von Abu Ghraib zeigen soll, ist es vorwiegend ein »Wille zum Sehen«, der über mediale Präsenz oder Absenz bestimmt. Wie sind maßlose Bilder möglich? Wollen wir untersuchen, ob Bilder notwendigerweise ein Moment der Maßlosigkeit besitzen, erscheint es sinnvoll, sich zunächst darüber zu verständigen, was unter etwas Maßlosem zu verstehen ist. Der Begriff der Maßlosigkeit umschreibt einen Ausdruck, der sich nie unter Absehung von moralischen Kategorien ausreichend fassen lässt. So spielt er im Katechismus der katholischen Kirche eine bedeutende Rolle. Dort wird die Maßlosigkeit als eine von sieben Todsünden ausgewiesen, deren Begehen für den vom rechten Weg abgekommenen Gläubigen neben der Erleidung ewiger Schmerzen die Verbannung in die Hölle zur Folge hat. Maßlos ist hier, wer sich seinen Lüsten hemmungslos hingibt und sich damit vom Lebensstil eines guten Christen immer weiter entfernt. Kennzeichnend für die Maßlosigkeit ist, dass Toleranzschwellen deutlich überschritten werden, indem sich in derart extremer Weise unmäßigem, gefräßigem, selbstsüchtigem, sprich: maßlosem Verhalten hingegeben wird, dass letztlich das Gefühl dafür verloren geht, wann das ›Maß‹ buchstäblich ›voll ist‹. Ein maßloser Mensch schießt deutlich ›übers Ziel hinaus‹, er übertritt in eklatanter Weise Grenzen und verletzt in erheblichem Maße Tabus. 38 M ARK A. H ALAWA All dies sind Konnotationen, die auch abseits eines religiösen Diskurses mit der Maßlosigkeit in Verbindung gebracht werden. Es sind dies Bedeutungsimplikationen, die zeigen, dass sich die Maßlosigkeit stets in einem Spannungsfeld wiederfindet, das zwischen zwei Polen oszilliert: Während auf der einen Seite ein bestimmtes Verhalten steht, treffen wir auf der anderen Seite auf einen spezifischen, historisch gewachsenen und moralisch untersetzten Werte- und Normenkomplex, mit dem eben jenes Verhalten in Konflikt gerät. Kein Verhalten ist aufgrund von intrinsischen Eigenschaften maßlos; es kann dies erst in Relation zu einem mit ihm in Widerstreit stehenden Geflecht aus Werten und Normen werden. In Hinblick auf die uns interessierende Fragestellung lassen sich an dieser Stelle neben einer ersten Erkenntnis einige weiterführende Fragen ableiten. Zunächst kann festgehalten werden, dass kein Bild aus sich selbst heraus etwas Maßloses sein oder darstellen kann. So muss auch das Bild – egal ob wir darunter den materiellen Träger eines Bildes oder die durch diesen Bildträger sichtbar gemachte Darstellung verstehen1 – mit bestimmten Werte- und Normenkomplexen kollidieren, um von einer Betrachtergemeinschaft als maßlos eingestuft werden zu können. Es erscheint daher als vorteilhaft, die Frage nach den maßlosen Bildern nicht in einem substantiellen Sinne zu stellen. Statt zu fragen, was maßlose Bilder sind, empfiehlt es sich zu untersuchen, wann beziehungsweise wie maßlose Bilder möglich sind. Der aufgeklärte, rationale Leser mag über derartige Fragen schmunzeln, kann er doch unter Umständen nur schwer nachvollziehen, wieso einem faktisch handlungsunfähigen Artefakt mit anthropomorphen Kategorien entgegengetreten wird. Doch vergisst dieser kritische Leser dabei, dass er Denk- und Deutungsschemata befolgt, die nicht nur unseren alltäglichen Erfahrungen mit Bildern zuwiderlaufen, sondern er darüber hinaus der Geschichte des Bildes in keiner Weise gerecht wird. Nicht nur würde er sich sehr wahrscheinlich weigern, eine Fotografie einer geliebten Person spontan zu zerstören,2 sondern er verlöre völlig aus den Augen, dass Bilder in der Vergangenheit oft exakt wie »echte Lebewesen« behandelt worden sind.3 In ihnen wurde folglich durchaus etwas Handlungsfähiges gesehen, 1 Auf die Unterscheidung zwischen dem materiellen Bildträger (dem Grund oder Medium, auf dem ein Bild erscheint) und dem immateriellen Bildobjekt (dem ›Etwas‹, das auf dem Bildträger sichtbar wird) legt Edmund Husserl großen Wert. Siehe Edmund Husserl: Phantasie und Bildbewußtsein, hg. und eingeleitet von Eduard Marbach, Hamburg 2006. In der zeitgenössischen bildtheoretischen Debatte greift auf diese Unterscheidung oft der Jenaer Philosoph Lambert Wiesing zurück. Siehe Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, S. 30–33. 2 W.J.T. Mitchell verwendet nach eigenen Angaben dieses Beispiel in seinen Lehrveranstaltungen, um seine Studierenden für die aus seiner Sicht nicht tot zu kriegenden animistischen Tendenzen im Umgang mit Bildern zu sensibilisieren. Siehe W.J.T. Mitchell: What Do Pictures Want? The Loves and Lifes of Images, Chicago, London 2005, S. 9. 3 Siehe Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004, S. 9. V OM F REIHEITSVERLUST D ES B ETRACHTERS 39 etwas, das für bestimmte Handlungen nicht nur gelobt, sondern auch getadelt werden kann.4 Dass Bilder tatsächlich Grenzen überschreiten und Tabus brechen können, wurde erst kürzlich wieder buchstäblich vor Augen geführt, als es durch die Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed zu Spannungen zwischen der westlichen und der islamischen Welt gekommen ist. Zu fragen, ob Bildern notwendig ein Moment der Maßlosigkeit innewohnt, erweist sich daher nicht als ein überflüssiges, irrationales Unterfangen, sondern umschreibt im Gegenteil eine Frage, der sich eine kritische Bildwissenschaft5 schlichtweg stellen muss. Gleichwohl laufen Reflexionen über eine eventuell vorhandene maßlose Natur der Bilder zumindest implizit auf eine Kritik des Bildes hinaus. Das soll nicht heißen, dass eine Erörterung über maßlose Bilder notwendig die Form einer »Kritikals-Ikonoklasmus« annehmen muss.6 Keinesfalls muss mit einer Bildkritik der Versuch zusammenlaufen, Bilder als etwas prinzipiell Scheinhaftes, Trügerisches oder Falsches zu entlarven. Gingen wir so vor, so würden wir nicht nur nichts Neues zur langen Tradition bildtheoretischen Denkens beitragen, sondern darüber hinaus an einem veralteten platonistischen Ikonoklasmus festhalten, der uns angesichts der Probleme, mit denen sich eine moderne, kritische Bildwissenschaft zu befassen hat, nicht sonderlich weiterhilft. Bilder sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Welt, und anstatt sie für immer aus unserem Blickfeld verbannen zu wollen, sollten wir uns darum bemühen, sie zu verstehen und ihrem Wesen auf den Grund zu kommen. Doch was ist ein Bild? Es handelt sich hier um die wohl schwierigste Frage, die sich eine allgemeine Bildwissenschaft stellen kann – eine Frage allerdings, die gestellt werden muss, hilft sie uns doch, die Möglichkeit von maßlosen Bildern nachvollziehen zu können. Sartre und die Freiheit des Lesers In seinem Essay »Was ist Literatur?« geht Jean-Paul Sartre davon aus, dass das Sein des literarischen Werkes insofern vom Leser abhängt, als er diejenige Instanz darstellt, die durch einen ›lesenden Blick‹ einen Gegenstand als literarisches Werk konstituiert. Das »literarische Objekt« beschreibt Sartre als »seltsame[n] Kreisel, der nur in der Bewegung existiert. Um es entstehen zu lassen, bedarf es eines konkreten Akts, der Lesen heißt, und es bleibt nur so lange am Leben, wie dieses Lesen 4 Siehe dazu Mitchell 2005 (wie Anm. 2), S. 125–144 sowie Bruno Latours Abhandlung: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin 2002, besonders S. 46–61. 5 Zu den Aufgaben einer kritischen Bildwissenschaft siehe Mark A. Halawa: Wie sind Bilder möglich? Argumente für eine semiotische Fundierung des Bildbegriffs, Köln 2008, S. 36–47. 6 Siehe Mitchell 2005 (wie Anm. 2), S. 8–9, wo eine Kritik der »Kritik-als-Ikonoklasmus« vorgenommen wird. 40 M ARK A. H ALAWA andauern kann. Darüber hinaus gibt es nur schwarze Striche auf dem Papier.«7 Das »Leben« des literarischen Objekts hängt wie ein dünner Faden am Blick des Lesers. Auch wenn der Autor die Prosa, das Gedicht, seine Theorie durch die Schreibtätigkeit buchstäblich zu Papier gebracht und damit verewigt hat, existiert sein Werk »nur für und durch den anderen«.8 Für Sartre folgt daraus, dass ein Autor dazu angehalten ist, an die »Freiheit« des Lesers zu appellieren, damit dieser »das Unternehmen, das ich [als Autor; M.A.H.] begonnen habe, zu einem guten Ende [führt]«.9 Literatur beginnt nicht schon mit dem Akt des Niederschreibens; ganz im Gegenteil steht das Niedergeschriebene am Anfang eines Prozesses, der von der »reine[n] Schöpfermacht«10 des Lesers abhängig ist. Ein Buch, so Sartre, »dient nicht meiner Freiheit [der Freiheit des Autors; M.A.H.]«, sondern: »es fordert sie [die Freiheit des Lesers; M.A.H.] heraus«.11 Literatur existiert erst dann, wenn der Leser sich auf das literarische Objekt einlässt, er sich dazu bereit erklärt, seine Gedanken durch die Worte des Autors lenken zu lassen. Sartres Ideen zu den Seinsbedingungen der Literatur sind insofern bemerkenswert, als sich Ähnliches auch über das Phänomen des Bildes sagen lässt. Wie das literarische Werk gründet es auf einem es als Bild erkennenden Blick. Dieser ist so beschaffen, dass er von einem Betrachter ausgeht, der mit spezifischen Wahrnehmungskompetenzen ausgestattet ist, die für die Wahrnehmung eines Bildes grundlegend sind.12 Bilder verdanken ihre Existenz ebenfalls nicht allein ihren Produzenten, sondern ihr Sein hängt, wie wir es mit Sartre über die Literatur gesagt haben, am dünnen Faden des sie anblickenden Betrachters. Wo es keinen Betrachter gibt, findet sich auch kein Bild. Ferner sind Bilder gleichfalls »nur durch und für den anderen« und sie sind ebenso sehr von der Freiheit eines Betrachters abhängig, wie dies für das Verhältnis zwischen literarischem Werk und Leser bei Sartre gilt. Eine solche Sichtweise widerspricht in gewissen Teilen dem, was W.J.T. Mitchell in seinen jüngeren Schriften behauptet hat.13 Darin fasst Mitchell Bilder als »Lebewesen« auf, die ebenso wie wir Menschen bestimmte Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche an den Tag legen. Ohne Zweifel hat Mitchell mit seiner bewusst provokanten Vermenschlichung des Bildes einen der interessantesten Beiträge zur aktuellen Bilddebatte beigesteuert. Doch wenn er bei der Beantwortung der Frage »What Do Pictures Want?« seinen Anthropomorphismus so stark ausweitet, dass er Bildern zugesteht, manchmal auch schlicht »nichts« zu wollen,14 ver7 Jean Paul Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay, übers. von Hans Georg Brenner, Reinbek bei Hamburg 81967, S. 26. 8 Ebd., S. 28. 9 Ebd., S. 31. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 30. 12 Siehe dazu Halawa 2008 (wie Anm. 5), S. 120–145. 13 Mitchell 2005 (wie Anm. 2). 14 Ebd., S. 48. V OM F REIHEITSVERLUST D ES B ETRACHTERS 41 kennt er das entscheidende bildkonstitutive Moment: Bilder mögen, wenn man Mitchells Anthropomorphismus zumindest als Gedankenexperiment akzeptiert,15 nicht wollen, dass man sie umgarnt; sie mögen nicht durch unablässiges Ausfragen seitens ihrer Betrachter belästigt werden wollen. Was sie jedoch niemals wollen können, ist, dass sie von niemandem betrachtet werden. Denn ein jedes Bild verlangt danach, gesehen zu werden. Um sein zu können, müssen (nicht bloß wollen) Bilder rezipiert werden. Das Verlangen, gesehen zu werden, umschreibt folglich den Grundappell, den jedes Bild an seine Umwelt richtet. Es ist dies ein Appell, der sich ebenfalls an eine Freiheit richtet: die Freiheit eines Betrachters, durch seinen Blick ein bestimmtes visuelles Artefakt – um erneut Sartre zu zitieren – »zu einem guten Ende zu führen«. So wie es bei Sartre ohne den Leser nur »schwarze Striche auf dem Papier« geben kann, gibt es im Falle des Bildes ohne den Betrachter nur »farbige Punkte und Flächen auf einer bestimmten Oberfläche«.16 Die Antwort auf Mitchells Frage lautet demzufolge: »Pictures want to be seen!« Oder schärfer ausgedrückt: »Pictures need to be seen!« Denn »[e]rst das gesehene Bild ist«, wie Gottfried Boehm bemerkt, »in Wahrheit ganz Bild geworden«.17 Wenden wir uns unserer Ausgangsfrage zu, so sind wir nun dazu in der Lage, folgenden Schluss zu ziehen: Hängt das Sein des Bildes von einem es als Bild erkennenden Blick des Betrachters ab, empfiehlt es sich, bei der Frage nach der Möglichkeit von maßlosen Bildern ebenfalls am Betrachter anzusetzen. Haben wir weiterhin Sartres Ausführungen zur Literatur im Auge, so fragt sich, ob sich Szenarien denken lassen, in denen der Betrachter dort getroffen werden kann, wo er an sich am stärksten zu sein scheint. Ist es vorstellbar, dass maßlose Bilder dort ihren 15 In der Tat schlägt Mitchell vor, die Frage »What Do Pictures Want?« als Gedankenexperiment zuzulassen: »teils, um [...] zu schauen, was dann passieren wird, teils aus der Überzeugung heraus, dass es sich dabei um eine Frage handelt, die wir selbst immer schon stellen, da wir nicht anders können, als diese Frage aufzuwerfen, und sie es daher verdient, untersucht zu werden.« Ebd., S. 30. (Meine Übersetzung; M.A.H.) 16 Bewusst verwende ich hier den recht vagen Begriff der »Oberfläche«. Denn sobald eine bestimmte Oberfläche von einem Betrachter als »Bildgrund« – oder noch allgemeiner ausgedrückt: als »Bildträger« (siehe zu diesem Begriff Anm. 1) – wahrgenommen wird, ist ein konkretes Bildbewusstsein im Spiel. Bilder weisen etwas auf, das über das Wesen einer bloßen Oberfläche hinausgeht. Zwar sind sie an einen materiellen Träger gebunden, der über eine bestimmte Oberfläche verfügt; allerdings darf diese mit dem Bild nicht gleichgesetzt werden. Bilderkenntnis setzt, wie Gottfried Boehm richtig feststellt, das Vermögen einer »ikonischen Differenz« (Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München 42006, S. 11–38; hier S. 29–30.) voraus. Diese beruht auf einem durch den Betrachter wahrgenommenen »Grundkontrast« (ebd., S. 30), der sich dadurch auszeichnet, dass der Betrachter – um nunmehr erneut Edmund Husserls Terminologie aufzugreifen – ein »Bildobjekt« von einem »Bildträger« abgrenzt und dadurch dazu in der Lage ist, das eine in beziehungsweise auf dem anderen zu sehen, ohne es als tatsächlich anwesend aufzufassen. Siehe dazu auch Wiesing 2005 (wie Anm. 1), S. 30–33. 17 Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 49. (Hervorhebungen im Original.) 42 M ARK A. H ALAWA Anfang haben, wo die Freiheit des sie konstituierenden Betrachters in Gefahr gerät? Oder noch ein wenig weiter spekuliert: Ist es denkbar – oder lässt sich gar zeigen –, dass dem Betrachter seine Freiheit, seine eigentümliche »Schöpfermacht«, abhanden kommen kann? Vom Freiheitsverlust des Betrachters In der Tat spricht einiges dafür, dass in weiten Teilen des öffentlichen Diskurses die eigentümliche Schöpfermacht des Betrachters geschwächt wird und damit die Gefahr eines Freiheitsverlustes des Betrachters besteht oder eine solche gar vollständig realisiert wird. Das soll nicht heißen, dass das Sein der Bilder nicht mehr von der Instanz des Betrachters abhinge. Das Grundpostulat des Gesehenwerdens besitzt nach wie vor Gültigkeit. Allerdings lassen sich Indizien dafür angeben, dass sich Wege und Mittel gefunden haben, um die Schnittstelle, die über Sein oder Nicht-Sein der Bilder entscheidet, nutzbar zu machen. Kurz: Es besteht Grund zu der Annahme, dass ein wesentlicher Effekt des so genannten iconic turn darin liegt, ein Milieu geschaffen zu haben, in dem der erfolgreiche Versuch unternommen worden ist, Macht über das zu erlangen, wovon die Bilder (was immer auch heißt: die Bildproduzenten und -systeme) selbst auf fundamentale Weise abhängen: die Freiheit des bildkonstituierenden Betrachters. Gefragt wird also nach einem Szenario, in dem ein von einem »Kampf ums Dasein« bestimmter Wille zum Gesehenwerden gemeinsam mit einem sich nutzbar gemachten Willen zum Sehen auftritt. In eine ähnliche Richtung scheinen die Thesen zu weisen, die Götz Großklaus aufwirft, wenn er von einem »Apriori des Medialen«18 spricht. Die Notwendigkeit des Gesehenwerdens sowie der Aufbau oder die Bedienung eines Willens zum Sehen ergeben sich für Großklaus aus dem Umstand, dass in unseren modernen Mediengesellschaften »[ü]ber Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit [...] allein das mediale System nach dem Prinzip von Einschluß und Ausschluß [entscheidet]«.19 Daraus ergeben sich für die Produzenten von Bildern vornehmlich zwei Herausforderungen – zum einen die, überhaupt Eintritt in das mediale System zu erhalten, sowie zum anderen, sich (vorausgesetzt, dass der »Einschluss« darin geglückt ist) innerhalb dieses Systems durchzusetzen und die Aufmerksamkeit einer möglichst großen Betrachtergemeinschaft zu erregen. Wenn ich in diesem Zusammenhang von einem Willen zum Sehen spreche, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass im Rahmen des öffentlichen Diskurses stets gewisse Bild-Erwartungen20 und Bild-Bedürfnisse im Spiel sind, die auf Seiten des Betrachters beziehungsweise der Betrachtergemeinschaft geweckt und angetroffen werden und den Prozess der Produktion, Zirkulation und Rezeption 18 Götz Großklaus: Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit, Frankfurt am Main 2004, S. 40. 19 Ebd., S. 53. 20 Zum Begriff der Bild-Erwartung siehe Martin Warnke: Bildwirklichkeiten, Göttingen 2005. V OM F REIHEITSVERLUST D ES B ETRACHTERS 43 von Bildern in einem entscheidenden Maße mitbestimmen. Innerhalb dieses Prozesses stellen die postulierte Freiheit wie auch die sich hinter dieser verbergende »Schöpfermacht« des Betrachters eine bedeutende Anlaufstelle dar. Um sich den wichtigen Stellenwert des Betrachters zu vergegenwärtigen, erweist sich ein Blick auf die Geschichte des Bildes als aufschlussreich. In zahlreichen Fällen zeigt sie auf, dass der Betrachter oft explizit zu einer Art ›Angriffsziel‹ erkoren worden ist. Nehmen wir etwa Leonardo da Vinci. Er verband mit der Malerei das Ziel, ein Werk zu schaffen, »[d]as den Betrachter so fesseln kann, daß er seine Freiheit verliert«.21 Der Betrachter soll in einen Zustand gebracht werden, der es ihm unmöglich macht, seinen Blick vom Bildwerk abzuwenden. Die Chance, dieses Ziel zu erreichen, sieht Leonardo darin, den Betrachter durch die Konfrontation mit etwas absolut Harmonischem regelrecht zu lähmen. Für Leonardo konnte dies nur gelingen, wenn die Darstellung die »göttliche [...] Proportion aller Teile« quasi simultan zusammenfasst (also nicht, wie Leonardo es seinem künstlerischen Widersacher, dem Dichter beziehungsweise der Dichtkunst, kritisch vorhält, »einen Teil nach dem anderen«),22 damit so das »zusammengesetzte […] Gebilde« in vollkommener »Harmonie« erstrahlen kann.23 So gesehen, bemüht sich Leonardo darum, den Betrachter durch eine Ästhetik ›Schachmatt‹ zu setzen, gegen die, wenn sie korrekt angewendet wird, jeglicher Widerstand zwecklos ist. Der Betrachter hat seine Freiheit, den Blick von einem Bild abzuwenden und es damit ›absterben‹ zu lassen, verloren. Er gibt sich dem Bild voll und ganz hin und übergibt diesem gewissermaßen seine eigentümliche »Schöpfermacht«. Leonardo ist nicht der einzige, der ein besonderes Augenmerk auf den Betrachter und dessen Freiheit gelegt hat. So kann eine Bemerkung von Michael Fried gewissermaßen als Motto für die zahllosen Maler, Fotografen, Zeichner etc. gelten, die uns mit ihren Werken begeistern, faszinieren, aber auch irritieren oder gar abstoßen: »Ein Bild sollte den Betrachter zuerst anziehen, ihn dann innehalten lassen und schließlich fesseln; das heißt, ein Gemälde sollte jemanden ansprechen, ihn veranlassen, sich vor ihm aufzustellen und ihn dann festhalten, als ob er gebannt und bewegungsunfähig wäre«.24 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht als ratsam, die bisher angestellten Ausführungen über die bildkonstitutive Rolle des Betrachters und dessen Freiheit lediglich als Metapher zu begreifen. Der Betrachter ist nicht nur Adressat, sondern 21 Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, [Paris 1987], aus dem Italienischen und dem Französischen übersetzt von Marianne Schneider, hg. von André Chastel, München 1990, S. 142–143. 22 Ebd., S. 142. 23 Ebd., S. 142–143. 24 Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley 1980, S. 92. Die Übersetzung der entsprechenden Stelle habe ich Heinz Jathos deutscher Fassung von Jonathan Crarys ›Suspensions of Perception‹ entnommen. Siehe Jonathan Crary: Aufmerksamkeit.Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002, S. 353. 44 M ARK A. H ALAWA zugleich Quellpunkt des Bildes. Als solcher ist er nicht nur mit einem Machtpotential ausgestattet, sondern zugleich dort am verwundbarsten, wo eben jenes Potential seinen Ausgangspunkt hat. Dies gilt sowohl für den Betrachter im lokalen, individuellen Bereich (siehe Leonardo oder Fried) als auch für eine Betrachtergemeinschaft im überindividuellen, öffentlichen Diskurs (siehe Großklaus). Gehen wir davon aus, dass Bilder heutzutage in vielerlei Hinsicht zu einem regelrechten »Maß der Dinge« geworden sind, dass sie unseren Blick auf die Wirklichkeit entscheidend prägen und beeinflussen, ja, dass wir mit dem Gebrauch von Bildern sekundären Erfahrungen den Vorzug vor primären Erfahrungen geben (beziehungsweise sie es oft unnötig machen, in bestimmten Bereichen überhaupt noch so genannte primäre Erfahrungen zu machen), so dürfen wir dabei nicht vergessen, dass sie all dies nur im Verhältnis zu einer diskursiv gewachsenen und fundierten, Bilder produzierenden und gebrauchenden Gemeinschaft leisten können. Aufgabe einer kritischen Bildwissenschaft ist es daher unter anderem, diese diskursiven Formationen zu beschreiben und nachzuvollziehen. Um in Erfahrung zu bringen, was einen bestimmten Willen zum Sehen begründet, rechtfertigt und legitimiert, genügt es nicht, sich allein mit materiellen Bildträgern zu beschäftigen, sondern es muss der Diskurs analysiert werden, in dem ein solcher Wille hat entstehen können. Daraus folgt, dass eine kritische Bildwissenschaft stets für kunst-, bild- und vor allem auch ideengeschichtliche Theoreme offen sein muss, um mittels eines unabdingbaren historischen Unterbaus zu fruchtbaren Antworten auf die Frage zu gelangen, inwieweit sich zum einen unsere Epoche berechtigterweise als ein »visuelles Zeitalter« beschreiben lässt und zum anderen ob (und wenn ja: in welchem Grade) sich eben jene Ära von anderen »visuellen Zeitaltern« unterscheidet. Es ist hier nicht genügend Raum vorhanden, um eine ausführliche Darstellung der Entstehungsbedingungen des zeitgenössischen Willens zum Sehen zu erörtern. Was hingegen geleistet werden kann, ist eine nähere Ausführung darüber, wie er sich äußert und welche Konsequenzen sich aus ihm ergeben beziehungsweise ergeben haben. Greifen wir dazu auf ein konkretes Bildbeispiel zurück, das sich weniger um eine inhaltliche Analyse dessen bemüht, was auf den im Folgenden besprochenen Bildern zu sehen ist, sondern den Blick auf die Bedingungen richtet, die die öffentliche Wahrnehmung eben jener Bilder überhaupt ermöglichten.25 25 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Gewalt, die sich in den Folter-Bildern aus Abu Ghraib manifestiert, von denen im Folgekapitel dieses Textes die Rede sein wird, siehe Mark A. Halawa: Betroffene Sichtbarkeiten. Abu Ghraib und die Gewalt des Blicks. In: Mauerschau 2/2008, S. 7–24 [www.uni-due.de/imperia/md/content/germanistik/mauerschau/ mauerschau_2_betroffene_sichtbarkeiten.pdf (Letzter Zugriff: 1. August 2008)]. V OM F REIHEITSVERLUST D ES B ETRACHTERS 45 Abu Ghraib und der Wille zum Sehen Am 28. April 2004 strahlte der TV-Sender CBS als erste Sendeanstalt überhaupt Folterbilder aus einem irakischen Gefängnis namens »Abu Ghraib« aus. Sie zeigten US-amerikanische Soldaten, die irakische Kriegsgefangene an Hundeleinen hielten oder dazu zwangen, sich nackt zu einem Haufen aufzutürmen. Auf dem wohl bekanntesten Bild ist ein Mann zu sehen, der, mit einem schwarzen Umhang bekleidet, auf einer Kiste steht. Über seinen Kopf haben seine Peiniger eine schwarze Kapuze gestülpt, beide Arme sind ausgebreitet, die Finger verkabelt. Geschossen wurden Aufnahmen wie diese ausgerechnet von den Soldaten, die eigentlich in den Nahen Osten aufbrachen, um, so ließ es Washington immer wieder verlauten, den Irakern Freiheit und Demokratie zu bringen. Die Bilder aus Abu Ghraib zeigten der Weltöffentlichkeit jedoch das genaue Gegenteil: Grausame Besatzer, die eben jene Werte mit Füßen treten und offensichtlich gegen die Genfer Konventionen verstoßen. Seitdem verbindet man mit dem Namen »Abu Ghraib« nicht nur den Verlust jeglicher moralischen Integrität der USA, er steht auch für einen enormen Rückschritt in der Verteidigung der Menschenrechte.26 Die Veröffentlichung der Fotografien aus Abu Ghraib brachte etliche Fakten ans Tageslicht. Dass die US-amerikanischen Besatzer es im Irak mit der Wahrung und Achtung der Menschenwürde ihrer Gefangenen nicht sonderlich ernst nahmen, ist ein erster – sicherlich der offensichtlichste – Tatbestand. Dass die Täter zudem durch ihre Demütigungen eine maßlose Freude am Leid anderer offenbarten, beschreibt ein weiteres Faktum. Stephen F. Eisenman hat darüber hinaus dargelegt, dass die US-Soldaten durch ihre Folterpraktiken und die mit ihnen einhergehende Herstellung von Bildern und Filmen einen imperialen Blick auf eine von ihnen als minderwertig angesehene islamische Kultur aufzeigen.27 Des Weiteren, so Eisenman, führen die Abu-Ghraib-Fotografien deutlich vor Augen, dass die schier omnipotenten Täter ihre wehrlosen Opfer auf ein Höchstmaß »verdinglichten« und sie damit zu bloßen »Objekten« degradierten, welche der reinen Willkür ihrer Peiniger ausgesetzt waren.28 Schließlich zeigt der Skandal von Abu Ghraib eine weitere Tatsache auf: Die Fotografien wurden keinesfalls beiläufig gemacht. Mitnichten handelte es sich bei ihrer Herstellung um eine Dummheit seitens der Gefängniswärter.29 Ganz im Gegenteil waren die Bilder für die Folter 26 Eine Rekonstruktion der Ereignisse, die sich in Abu Ghraib abspielten, findet sich in Philip Gourevitch, Errol Morris: Standard Operating Procedure. A War Story, New York 2008. 27 Siehe Stephen F. Eisenman: The Abu Ghraib Effect, London 2007, S. 29–30. 28 Eisenman spricht in diesem Zusammenhang von einer »totalen emotionalen Entfremdung zwischen Herrscher und Knecht« (Eisenman 2007 [wie Anm. 27], S. 34; Meine Überstzung; M.A.H.) 29 Eine solche Behauptung wird von Clemens Albrecht durch folgende Frage nahegelegt: »Wäre Abu Ghraib ein Skandal geworden ohne die Fotos, die die Soldaten in ihrer Dummheit schossen?« Clemens Albrecht: Wörter lügen manchmal, Bilder immer. Wissenschaft nach der Wende zum Bild. In: Wolf-Andreas Liebert, Thomas Metten (Hg.): Mit Bildern lügen, Köln 46 M ARK A. H ALAWA ein wesentlicher Faktor, um in den Gefangenen erhebliche Schamgefühle zu provozieren.30 Zurecht merkt daher Slavoj Žižek an, dass »die Aufzeichnung dieser Erniedrigung[en] durch eine Kamera [...] ein wesentlicher Bestandteil dieses Verfahrens« (sprich: das Verfahren der psychologischen Erniedrigung) gewesen ist.31 Doch gibt es, abgesehen von all den augenscheinlichen Faktoren, einen weiteren, weniger ins Auge springenden Tatbestand, der aus Abu Ghraib einen geradezu unheimlichen Skandal macht: Bekannt waren die menschenverachtenden Zustände in Abu Ghraib schon etwa ein Jahr vor dem 28. April 2004. Mit äußerst detaillierten und glaubwürdigen Berichten wandte sich die Menschenrechtsorganisation amnesty international bereits im Juni 2003 an sämtliche Leitmedien. Da die Menschenrechtler ihren Berichten keine Bild-Dokumente beifügen konnten, interessierte sich »fast ein Jahr lang kaum jemand [...] für die fundierten schriftlichen Aussagen der Geschundenen [...], auf die Bilder der Folterer stürzten sich alle – sofort.«32 Die Bilder aus Abu Ghraib verkörpern damit nicht nur die Aufkündigung einer auf Respekt basierenden Beziehung zwischen verschiedenen Subjekten und Kulturen. Sie verkörpern auch – oder gar vornehmlich, wenn auch weniger drastisch ins Auge fallend – die Maßlosigkeit eines Willens zum Sehen, der immer öfter besonders oder gar nur dem Eintritt ins Reich des öffentlich Sagbaren gewährt, was sich über Bilder sehen lässt. Skandalös ist an den Abu-Ghraib-Bildern nicht nur, dass sie scheußliche Schandtaten bezeugen, sondern auch der Umstand, dass Sagwürdiges – oder besser: Sagpflichtiges 33 – erst dann über eine lokale Sphäre hinaus 30 31 32 33 2007, S. 29– 49; hier S. 47. Was den ersten Teil der Frage betrifft, so kann sie guten Gewissens verneint werden. Hinsichtlich ihres letzteren Teils liegt die Unvorsichtigkeit jedoch viel eher bei demjenigen, der die Taten der Soldaten abschätzig als unüberlegte ›Schnitzer‹ abtut und sie damit unterbewertet. Wie Gourevitch und Morris zeigen, wurde die gezielte Produktion von Scham nicht nur durch das Anfertigen von Bildern gewährleistet. So wurden weibliche Aufseherinnen quasi als ›Demütigungsverstärker‹ eingesetzt, und zwar insofern, als sich männliche muslimische Gefangene in Anwesenheit von Frauen nackt ausziehen mussten. Aus Sicht des Militärs versprach man sich von Maßnahmen wie diesen, in den Insassen das Gefühl der Machtlosigkeit und Entmännlichung in erheblichem Maße zu steigern. Siehe Gourevitch, Morris 2008 (wie Anm. 26), S. 112–113. Slavoj Žižek: Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical Ali recht behalten hat: Einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur. In: Berliner Zeitung, 23.06.2004, S. 30. Horst Müller: Brauchen wir Bilder, um zu weinen? In: ders. et al. (Hg.): Folter frei. Abu Ghraib in den Medien, Mittweida 2004, S. 9–17; hier S. 11. Zu erwähnen ist darüber hinaus, dass das Internationale Rote Kreuz Monate vor der Veröffentlichung der Folter-Fotografien »die zuständigen Stellen der US-Armee im Irak mit Berichten über Misshandlungen in den dortigen Militärgefängnissen regelrecht bombardiert[e]« (Žižek 2004 [wie Anm. 31], S. 30). Das heißt: etwas, das dadurch zum Gegenstand öffentlicher Diskussion werden sollte oder gar muss, weil es offensichtlich dem Selbstverständnis einer demokratischen, aufgeklärten, offenen Gesellschaft widerspricht. V OM F REIHEITSVERLUST D ES B ETRACHTERS 47 sagbar zu werden vermochte, als entsprechende Bilder vorlagen. Abu Ghraib lässt sich ferner als Symptom für einen Wandel auffassen, der sich im Verhältnis zwischen Sagbarem und Sichtbarem zu vollziehen beginnt beziehungsweise zu Teilen vollzogen hat: Sagbar ist im öffentlichen Diskurs zunehmend nur noch das, was auch sichtbar ist. Diese Beobachtung lässt stark an Martin Heideggers klassischen Aufsatz »Die Zeit des Weltbildes« denken. Nicht nur machen wir uns mit Bildern ein Bild von der Welt, sondern die Welt selbst wird, wie Heidegger anmerkte, in zunehmendem Maße »als Bild begriffen«.34 Dabei lassen sich Bilder nicht nur als »Weisen der Welterzeugung«35 auffassen. Vielmehr sind sie zu Mitteln der »Vergegenständlichung des Seienden«36 geworden, so dass sich weiter sagen lässt: »Nur was dergestalt [als Bild; M.A.H.] Gegenstand wird, ist, gilt als seiend«.37 Gewiss, nach wie vor sind unsere modernen Gesellschaften in großem Ausmaß schriftlich fundiert. Max Webers Feststellung, dass sich bürokratisierte Gesellschaften in weiten Teilen auf das geschriebene Wort stützen, hat nach wie vor Gültigkeit.38 Es wird so viel wie nie zuvor geredet, geschrieben und gelesen – allerdings immer öfter nur noch über das, was sich durch Bilder sehen lässt. Von dieser Warte aus ließe sich die Maßlosigkeit der Bilder weiter fassen, als es die These nahe legt, derzufolge sie »in ein Netz des Messens, Normierens und Vergleichens eingebunden sind.«39 So gründet sie in dem Umstand, dass oftmals nur das Gegenstand des öffentlichen Diskurses werden kann, was buchstäblich ›im Bilde‹ ist. Damit kehren wir zurück zur These von Götz Großklaus, derzufolge sich unser modernes »mediales System« vornehmlich durch das »Prinzip von Ausschluß und Einschluß«40 charakterisiert, worauf ich abschließend eingehen möchte. Entgrenzungs- und Ausgrenzungseffekte des iconic turn An einer Stelle ihres Call for Papers stellen die Initiatoren dieses dritten Junges Forum Bildwissenschaft fest: »Die Frage nach den maßlosen Bildern zu stellen bedeutet, sich für Prozesse der Entgrenzung von Bildmedien zu interessieren.« In 34 Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. In: ders.: Holzwege, Frankfurt am Main 41963, S. 69–104; hier S. 82. 35 Siehe Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, [Indianapolis 1978], übers. von Max Looser, Frankfurt am Main 1990, auf den ich hier Bezug nehme. 36 Heidegger 1963 (wie Anm. 34), S. 79. 37 Ebd., S. 80. (Hervorhebung im Original.) 38 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt am Main 2005, S. 162. 39 So lautet eine der Thesen, die die Organisatoren der Tagung »Maßlose Bilder« zur Diskussion stellten. 40 Großklaus 2004 (wie Anm. 18), S. 53. 48 M ARK A. H ALAWA der Tat lässt besagte »Entgrenzung«41 der Bilder fast schon unweigerlich die Frage nach ihrer Maßlosigkeit aufkommen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es »[f ]ür uns heute [...] selbstverständlich [ist], dass die gesamte Oberfläche der Welt zum Bild wird: jeder beliebige Ausschnitt, und sei er noch so geringfügig. Alles, was sichtbar wird, kann auch Bild sein.«42 Doch auch wenn die Welt »bis in ihre Atome hinein zum Bild« wird und damit eine immer weiter fortschreitende »ikonische Durchdringung der Realität«43 mit sich bringt: Ebenso lässt sich nicht leugnen, dass, auch wenn faktisch alles zum Bild werden kann, vieles, das sagwürdig, sagpflichtig und bildwürdig ist,44 schlicht nicht zum Bild wird. Sicherlich hat Gottfried Boehm Recht, wenn er feststellt, dass die sich seit dem 19. Jahrhundert ausbreitende »Entgrenzung« und »Universalisierung« der Bilder sämtliche Grenzen des Darstellbaren und »Bildwürdigen« reformuliert hat.45 Erklären lässt sich dieser Prozess der Reformulierung jedoch nicht, wie oft zu lesen ist, allein durch den Hinweis auf die wissenschaftlichen und technologischen Umbrüche, die sich mit dem 19. Jahrhundert ereigneten. Oft wird vergessen, dass nicht nur der Prozess des Bilderschaffens von einem Willen zum Sehen begleitet wird, sondern dieser auch jegliche bildtechnologische Innovation regelrecht beschattet. Bilder sind nicht zu einem unverzichtbaren Teil unserer modernen Gesellschaften geworden, weil sie an sich einen verlässlicheren Blick auf die Realität versprechen; sie haben vielmehr diesen Status erlangt, weil eine Betrachtergemeinschaft in ihnen etwas sieht, das sie sehen wollen lässt, etwas, das sie glauben lässt, dass Bilder genauer und verlässlicher sind als alle anderen zur Verfügung stehenden Informationsmedien. Wir haben anhand von Leonardo gezeigt, dass die Freiheit des Betrachters durch die Konfrontation mit etwas absolut Harmonischem und Ästhetischem in Gefahr gerät. Das ist heute ein wenig anders. Sehen wollen heißt nicht mehr ausschließlich, am Schönen, an der Natur teilzuhaben, wie es bei Leonardo und seinen Zeitgenossen der Fall war. Sehen heißt heute zumeist, seinen Blick auf etwas zu richten, das (auch noch im vermeintlich post-fotografischen Zeitalter) eine Referenz auf eine Wirklichkeit herstellt, die sich oft nur durch das Bild überhaupt erst begreifen lässt (man denke an die bildgebenden Verfahren in den Naturwissenschaften, aber auch an die Bilder aus den Massenmedien, die uns eine Vorstellung von Welten geben, von denen wir ohne sie nichts wüssten). Bilder erzeugen nicht nur Bildwelten, sondern sie stiften ganze Makro- und Mikrowelten. Spätestens seit Galileis Griff zum Fernrohr paart sich der den Menschen so kennzeichnende Wille zum Wissen mit einem Willen zum Sehen.46 41 Der Begriff der »Entgrenzung« spielt in der Bildtheorie Gottfried Boehms eine große Rolle. Siehe Boehm 2007 (wie Anm. 17), S. 13. 42 Ebd., S. 11. (Hervorhebungen im Original.) 43 Ebd., S. 13. 44 Siehe diesbezüglich Anm. 33. 45 Boehm 2007 (wie Anm. 17), S. 12. 46 Siehe Hans Blumenberg: Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit. In: Galileo Galilei Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen, hg. und eingeleitet von Hans Blumenberg, Frankfurt am Main 22002, S. 7–75. V OM F REIHEITSVERLUST D ES B ETRACHTERS 49 Zwanzig Jahre vor Boehms Ausruf des iconic turn beschrieb der polnische Semiotiker Mieczysław Wallis das so genannte Medienzeitalter als eine Epoche, die sich »durch einen Hunger auf ikonische Zeichen, insbesondere visuelle ikonische Zeichen, auszeichnet«.47 Dieser Hunger scheint, obgleich er unentwegt genährt wird, nicht zu einem Zustand der Sättigung zu kommen. Nicht nur führt er zu einem schier endlosen Verlangen nach Bildern. Auch hat er für (vermeintlich) demokratische, aufgeklärte und rationale Gesellschaften zur Folge, dass er in seiner zunehmenden Abhängigkeit von Bildern die Grenzen des (im öffentlichen Diskurs) Sagbaren neu absteckt. Ohne Zweifel hat der technologische Fortschritt völlig neuartige Weisen des Produzierens und Gebrauchens von Bildern mit sich gebracht. Doch hatte er auch die Etablierung eines Diskurses zur Folge, in dem es neben einer prinzipiellen Entgrenzung der Bilder zu einer faktischen Ausgrenzung von Sagwürdigkeiten gekommen ist. Nicht maßlose Bilder alleine haben die Freiheit des bildkonstituierenden Betrachters in Gefahr gebracht. Er selbst hat mit seinem Willen zum Sehen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet. Die Umstände, die den Skandal von Abu Ghraib möglich gemacht haben – und nicht in erster Linie die Bilder allein –, führen dies nur allzu gut vor Augen. Zum Beleg dafür, dass ein solcher Wille zum Sehen existiert, der in zunehmendem Maße das bestimmt, was innerhalb des öffentlichen Diskurses gewusst und gesagt werden kann – dazu hätte es nicht erst Abu Ghraib gebraucht. Man denke etwa an Ereignisse oder Sachverhalte, die, obgleich sie sagwürdig oder gar sagpflichtig sind, abseits von Kameras vor sich gehen. Sie werden von uns nicht gesehen. Damit liegen sie vielleicht nicht unbedingt außerhalb unseres Interessebereiches. Doch befinden sie sich dafür allzu (oder treffender: viel zu) oft jenseits unseres Erkenntnisbereiches. Der mutmaßlichen Maß- oder Grenzenlosigkeit der Bilder entspricht daher ein ebenso maßloser Wille zum Sehen, der erhebliche Ausgrenzungseffekte mit sich bringen kann. Es ist dies ein Umstand, der – auch wenn er unsere Gesellschaft gewiss noch nicht in Gänze erfasst hat und Abu Ghraib sicherlich eine Art Extrembeispiel darstellt – im Rahmen einer kritischen Bildwissenschaft mindestens ebenso von Bedeutung sein sollte wie das Phänomen der Entgrenzung und der Universalisierung der Bilder. Keinesfalls sollte der hier postulierte Wille zum Sehen pauschal verurteilt und für an sich kritikwürdig dargestellt werden. Vielmehr ging es um den Versuch, innerhalb der aktuellen Debatten über die »Macht der Bilder« das Augenmerk wieder stärker auf die Instanz des Betrachters zu richten. Es ist die Freiheit des bildkonstituierenden Betrachters, an die zahllose Bilder im alltäglichen Kampf um mediale Aufmerksamkeit appellieren. Nirgendwo gibt sich diese Freiheit besser zu erkennen als in der Weigerung, bestimmten Bildern durch einen ›lebensspendenden‹ Blick die Grundlage für ihr weiteres Wirkungspotential zu geben. Unter anderem darauf machte Horst Bredekamp aufmerksam, als er im Zuge der vor einer lau47 Mieczysław Wallis: Arts and Signs, Bloomington 1975, S. 22. (Meine Übersetzung; M.A.H.) 50 M ARK A. H ALAWA fenden Kamera vor sich gehenden Enthauptung des US-Amerikaners Nicholas Berg dazu aufrief, keinen Bildern Aufmerksamkeit zu schenken, in denen durch das Töten eines Menschen ausschließlich der Zweck verfolgt wird, den »Tod zum Bild werden zu lassen«.48 Mit dem Betrachten eines Bildes geht immer auch eine gewisse Form von »Komplizenschaft«49 und Verantwortung einher. Aus diesem Grund erweist sich eine Besinnung auf den Stellenwert des Betrachters sowie auf dessen Freiheits- und Machtpotential als ebenso wichtig wie auf die Frage nach einem ›maßvollen‹ Gebrauch von Bildern. Es ist dies eine Frage (hinter der sich in gewissem Sinne auch eine Forderung beziehungsweise ein Anspruch verbirgt), die es vor dem Hintergrund der aktuellen bildtheoretischen Bemühungen um eine Stärkung der so genannten »Bildkompetenz«50 im Rahmen einer kritischen Bildwissenschaft noch näher zu analysieren gilt. Die Frage nach den maßlosen Bildern zu stellen, bedeutet demzufolge auch, einen wichtigen Schritt in diese Richtung zu gehen. 48 Horst Bredekamp: Wir sind befremdete Komplizen, Interview in: Süddeutsche Zeitung, 27.05.2004, http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/532/32500/ (Letzter Zugriff: 2. August 2008). 49 Ebd. 50 Siehe dazu Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Was ist Bildkompetenz? Studien zur Bildwissenschaft, Wiesbaden 2003. 4 Der Schleier um Abu Ghraib: Errol Morris und die ›bad apples‹ W. J.T. M ITCHELL Als in den Jahren 2004 bis 2006 mehrere hundert Fotografien in die Öffentlichkeit gelangten, die Folterszenen aus dem Militärgefängnis von Abu-Ghraib dokumentierten, war schnell klar, dass es sich hierbei nicht allein um einen politischen Skandal handeln würde, sondern zugleich um eine Zäsur in der jüngeren Bildgeschichte. Folgerichtig wurden die begangenen Verbrechen daher nicht allein juristisch, sondern auch mit filmischen Mitteln inzwischen intensiv aufgearbeitet. Der US-amerikanische Filmregisseur Errol Morris ging mit seinem 2008 anlässlich der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Dokumentarfilm »Standard Operating Procedure« einen ganz eigenen Weg: Gegenstand von Morris’ investigativem Interesse sind die Personen der Täter und insbesondere die von ihnen geschossenen Bilder. W.J.T. Mitchell, der die Entstehung von Errol Morris’ Film persönlich begleitete, fragt in seinem Artikel nach der politischen wie ästhetischen Rolle dieser Bilder – ihrer Funktion im Film und ihrer Wirkung in einer politischen Öffentlichkeit. I Zum heutigen Zeitpunkt, wenige Jahre nach ihrem Auftauchen, erscheint es geradezu unmöglich, noch irgendetwas Neues über die Abu-Ghraib-Fotografien zu sagen.1 Die Bilder wurden verbreitet, diskutiert und aus nahezu jedem Blickwinkel analysiert. Es wurden mehr als ein Dutzend militärische Ermittlungen durchgeführt, die Täter vor das Militärgericht gestellt, und ein Heer von Journalisten hat jedes einzelne Detail des Skandals genauestens unter die Lupe genommen. Der Fall scheint daher nun abgeschlossen, und weiteres Nachforschen wird wohl nichts Neues zu Tage bringen. Und doch scheinen diese Bilder immer noch einige Geheimnisse in sich zu bergen. So herrscht beispielsweise nach wie vor Unsicherheit hinsichtlich der wahren Identität des »Kapuzenmannes auf der Kiste«, dessen Fotografie zum Symbol des gesamten Skandals wurde. Ähnlich unklar ist nach 1 Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel »The fog of Abu Ghraib: Errol Morris and the ›bad apples‹«. In: Harper’s Magazine, Mai 2008, S. 81–86. © 2008 by Harper’s Magazine. All rights reserved. Reproduced from the May issue by special permission. 52 W. J.T. M ITCHELL wie vor die Identität der Personen, die im Hintergrund zu sehen sind. War da eine Art Inszenierung im Gang? Wie weit lässt sich die Geschichte bis unter die Oberfläche der Fotografien zurückverfolgen? Wo liegt die endgültige Verantwortung für die Existenz der Fotos, worin ihre letztendliche Bedeutung und Auswirkung? Warum tauchen sie immer wieder auf, um die Nation heimzusuchen, in deren Namen sie entstanden, und erscheinen gleichzeitig überholt, wie Schnee von gestern, der in einer Erinnerungslücke verschwindet? So wie der Vorstoß, der den Irak stabilisieren sollte, hat ein »abschließendes« Gerichtsverfahren den Abu-Ghraib-Skandal scheinbar unter Kontrolle gebracht und ihm ein Ende gesetzt. Am 28. August 2007 wurde Lieutenant Colonel Steven Jordan, der einzige Offizier, der für die in Abu Ghraib begangenen Misshandlungen vor ein Militärgericht gestellt wurde, von jeder Mitschuld freigesprochen, also auch davon, bei der Ausbildung und der Überwachung jener Soldaten versagt zu haben, die für die Misshandlung der Gefangenen verurteilt worden waren. Ein Artikel der New York Times aus dem Jahr 2008 zitiert John Sifton von Human Rights Watch, der beobachtete, dass »die Ankläger das Konzept der Befehlsverantwortung nicht als rechtliche Frage zu verstehen schienen«. Tatsächlich verstanden die Ankläger dieses Konzept aber nur allzu gut und vermieden peinlichst, selbiges anzuwenden. Dies hätte schließlich bedeutet, den Weg der Strafverfolgung bis ans Ende der Befehlskette gehen zu müssen. Diese Doktrin hätte konsequenterweise zur strafrechtlichen Verfolgung von General Geoffrey Miller (der die »Guantanamoisierung« von Abu Ghraib angeordnet hatte, einschließlich der speziellen Anweisung, »Gefangene wie Hunde zu behandeln«), zu der des Pentagons (wo Donald Rumsfeld die schriftliche Zustimmung zur Folter gab und sogar auf deren Anwendung beharrte) und der des Oval Office und seiner getreuen Anwälte (die die Genfer Konvention als »überholt« deklarierten) geführt. Auch wenn Colonel Jordan von jeglicher Verantwortung für die Folter der Gefangenen freigesprochen wurde, wurde er dennoch bestraft, da er darüber gesprochen hatte. Er wurde des geringeren Vergehens für schuldig befunden, den Befehl missachtet zu haben, Stillschweigen zu bewahren (wobei die Strafe im Januar 2008 aufgehoben und in einen verwaltungsrechtlichen Verweis abgewandelt wurde). Die Moral von der Geschichte scheint eindeutig: Das Verbrechen bestand nicht in den Taten, die so einprägsam auf den Abu-Ghraib-Fotografien dargestellt werden; das Verbrechen bestand vielmehr darin, darüber und über die Struktur des rechtswidrigen und durch und durch kriminellen Handelns zu reden, das erst zu den Ereignissen führte, die die Fotos darstellen. II Bisher wurde das Schweigegebot mit einigem Erfolg durchgesetzt. Die Rechtsgutachten, die die Folter zu einer nicht existenten erklären, bleiben als geheim eingestuft, und General Miller wurde von George W. Bush mit der Friedensmedaille D ER S CHLEIER UM A BU G HRAIB 53 Abb. 1: Die Brigadegeneralin Janis Kapinsky. ausgezeichnet. Doch die Personen, die in, um und hinter den Fotografien erscheinen, beginnen sich in Interviews und Dokumentarfilmen zu Wort zu melden. Rory Kennedys The Ghosts of Abu Ghraib, der im Winter 2007 von HBO ausgestrahlt wurde, und neuerdings Errol Morris’ Standard Operating Procedure geben den stummen Fotografien eine Stimme und nehmen uns bis zum Ursprung ihrer Entstehung mit. Kennedys Film ist eine klassische journalistische Reportage, die einen Gesamteindruck der historischen Begebenheit vermittelt, dabei beim 11. September 2001 beginnt und großzügig Interviewkostproben von »Outsidern« zu den Geschehnissen in Abu Ghraib beisteuert − von John Yoo, dem Autor der »Foltermemos«, über Mark Danner, einen führenden Journalisten zum Thema Folter in Abu Ghraib, bis hin zu Alfred McCoy, einem Experten auf dem Gebiet der Psychologie der Folter. Im Gegensatz dazu lässt Morris fast keine Außenperspektive zu. Sein Ziel besteht darin, dass sich die Zuschauer in die Zeugenaussagen der »schwarzen Schafe«2 vertiefen, die bei den Geschehnissen dabei waren. Die einzigen von außen stammenden Zeugenaussagen werden von Janis Kapinsky (Abb. 1) beigesteuert − der Brigadegeneralin, die im Irak für sämtliche Gefängnisse verantwortlich war, ihres Postens enthoben wurde und eine Rüge erhielt − sowie von dem ForensikExperten der Armee Brent Pack, der das Fotoarchiv von Abu Ghraib untersuchte und die maßgebliche Zeitabfolge der Ereignisse rekonstruierte (Abb. 2). Morris präsentiert uns außerdem auch einige Sekunden Aktenmaterial von Donald Rumsfelds Tour durch Abu Ghraib (die Rumsfeld nach der Besichtigung der Exekutionskammern abkürzte) sowie Filmmusik von Danny Elfman. Sowohl dieser Filmabschnitt als auch die melodramatische musikalische Untermalung erinnern uns daran, dass hier höhere Mächte am Werk sind. Hauptsächlich zeigt Morris’ Film 2 Im Originaltext steht »bad apples«, faule Äpfel. (Anmerkung der Übersetzerin.) 54 W. J.T. M ITCHELL Abb.2: Rekonstruktion des Fotoarchivs der Folterszenen. jedoch das, was Herman Melville in Billy Budd eine »interne Geschichte« nannte – eine Geschichte, die bis ins Innere des historischen Ereignisses vordringt und den externen Erzähler fast gänzlich ungenannt und unsichtbar lässt. Morris’ Ansatz in diesem und anderen Filmen verrät sein Talent zum Privatdetektiv, ein Beruf, den er ausübte, als seine Filmkarriere ins Stocken geriet. Als Privatdetektiv lernte er eine wichtige Lektion: Wenn du möchtest, dass die Leute mit dir reden, erzähle ihnen nicht, dass du ein Ermittler bist. Erzähle ihnen, du seiest ein Filmemacher. Morris’ Methode hat seinen Ruf gefestigt, der besessenste und unnachgiebigste forensische Dokumentarfilmer unserer Zeit zu sein. Er sieht sich selbst als Forscher, dessen Ziel es ist, jeden greifbaren Beweis in einem eng abgesteckten Fall aufzustöbern und einem Publikum zu präsentieren, das eingeladen wird, an der Detektivarbeit teilzuhaben. (Damit steht er in deutlichem Gegensatz zu dem polemischen Dokumentarfilmer Michael Moore.) Morris’ frühere Filme wie Fast, Cheap und Out of Control, The Thin Blue Line und The Fog of War suchen hinter den Schlagzeilen nach der Wahrheit, die von offizieller Seite verschleiert wird. So wie diese Filme geht auch Standard Operating Procedure weit über die berühmten Fotografien hinaus und in sie hinein, durch sie hindurch, wie beim Durchschlüpfen eines Schlüssellochs hinein in eine versteckte Welt, ein alltäglich existierendes mikrohistorisches Parallelreich, das hinter dem weltweiten Skandal der Abu-Ghraib-Bilder versteckt geblieben ist (Abb. 3). Morris’ Interviewstil könnte man als »passiv-aggressiv« bezeichnen – passiv auf der Ebene des verbalen Erzählstils, aggressiv auf der Ebene des visuell Dargestellten. Weder bedrängt er seine Zeugen noch führt er sie in eine bestimmte Richtung oder unterzieht sie einem Kreuzverhör. Vielmehr tendiert er dazu, seine Stimme möglichst wenig in die Tonspur zu integrieren und beschränkt seine Fragen auf das leise Erkunden von Details. (Bei The Fog of War wurde er dafür kritisiert, Robert McNamara nicht aggressiv genug ins Kreuzverhör genommen und ihm stattdessen zu viel Kontrolle über seinen Bericht überlassen zu haben.) Morris’ Interviews D ER S CHLEIER UM A BU G HRAIB 55 Abb. 3: Rekonstruktion gleichzeitig entstandener Fotografien einer Folterszene in Abu Ghraib. vermitteln den Eindruck, niemand würde überhaupt auch nur eine Frage stellen. Die Kamera läuft und läuft, während die Interviewten direkt hineinblicken und drauflos erzählen können − und zwar ohne dazu gedrängt zu werden, um schließlich zu dem Punkt zu kommen, auf den es der Filmemacher abgesehen hat. Die einzigen Zeichen der Anwesenheit des Filmemachers sind die abrupten Szenenwechsel, die den flüssigen Verlauf des Interviews zerschneiden und das redaktionelle Nachbearbeitungswerk der neuen Szenenzusammenstellung verraten, sowie die mitunter auftauchenden Nachstellungen von Ereignissen (reenactments), die von den Interviewten wegführen, um deren Aussagen zu illustrieren (Abb. 4). Das Gefühl der Transparenz und Direktheit, das die Interviews vermitteln, wird von einem von Morris selbst erfundenen Apparat, dem »Interrotron«, verstärkt. Dem Design nach − einem Teleprompter nachempfunden, der normalerweise TV-Moderatoren das Ablesen der Skripts ohne das Senken der Augen oder Wegblicken von der Kamera ermöglicht− ist der Interrotron eine Konstruktion aus zwei Kameras, die den Interviewten direkt in die vor die Kamera projizierten Augen des Interviewers blicken lässt. Auf diese Weise wird dem Zuschauer ein sehr intimer, direkter und scheinbar unvermittelter Kontakt zu den Interviewten ermöglicht, die allesamt vor einem weißen Betonhintergrund platziert sind, als ob sie von einer Gefängniszelle aus sprächen. In The Ghost of Abu Ghraib finden Rory Kennedys Interviews zumeist bei den Teilnehmern zu Hause statt und die Verwendung von mehreren Kameras vermittelt einen dreidimensionalen Kontext für die Interviewten und den Raum, den sie einnehmen. Morris’ Technik hingegen versetzt den Zuschauer, nicht den Interviewer, in die Position eines Gesprächspartners vis-à-vis, der vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Alles in Morris’ Filmen scheint im Dienste der Transparenz der Darstellung eingesetzt zu werden und gleichzeitig die Künstlichkeit der abrupten Schnitte, der Reenactments und des nackten Hintergrunds zu vermitteln. Tatsächlich stehen 56 W. J.T. M ITCHELL Abb. 4: Reenactment aus Errol Morris’ »Standard Operating Procedure«. die Reenactments exemplarisch für diese Kombination aus Kunstgriff und Transparenz: Sie illustrieren das vom Interviewten Gesagte, während verfremdende Effekte uns daran erinnern, dass wir selbst die Voyeure sind, die von einer äußeren Position aus nach innen blicken. Wenn von »Geistergefangenen« und »Geisterbefragten« in Abu Ghraib erzählt wird, versinnbildlicht das ehrwürdige filmische Instrument der doppelten Belichtung diese Metapher und zeigt geisterhafte Figuren, die über das Filmset wandeln; wenn wir von Saddam Hussein erfahren, wie er in eine irakische Wohnung eindrang, um sich dort ein Ei zu braten, sehen wir dem Ei – an sich unmöglich – von unten beim Brutzeln zu. Man kann dies mit den technischen Tricks in Steven Spielbergs Schindlers Liste vergleichen, bei denen die Szenen innerhalb der Gaskammern in Auschwitz darauf abzielen, die Zuschauer glauben zu lassen, sie seien direkt involviert. Morris scheint sich tatsächlich von der Methode, die er bei Thin Blue Line benutzte, entfernt zu haben, wo die Nachstellungen eines Mordes primär forensisch erfolgen und es dadurch möglich wird, verschiedene Strategien zum Nachweis objektiver Beweise am Tatort zu vergleichen. In seinem New York Times-Blog verwendet er eine ähnliche forensische Vorgehensweise, wie beispielsweise letzten Herbst, als er über das Mysterium der »Tal des Todes«-Fotografien vom Krimkrieg schrieb, von denen Susan Sontag behauptete, sie seien von dem Fotografen Roger Fenton gefälscht worden. In diesen Fällen gab es eine echte Debatte über die Fakten: Wer was wann und wie getan hatte. In Standard Operating Procedure ist der forensische Wert der Reenactments jedoch weniger nachvollziehbar. Morris erklärte mir, der Sinn läge darin, »uns in das Mysterium der dortigen Vorkommnisse einzuweihen«. Doch gerade das geschieht nicht – es wird wahrscheinlich nicht einmal definiert, ganz zu schweigen davon, dass eine Aufklärung darüber stattfände, was dort eigentlich geschah. D ER S CHLEIER UM A BU G HRAIB 57 III Es gibt in diesem Film eine sonderbare Mischung aus forensischen Vorgehensweisen, die einem Geheimnis dadurch auf die Spur kommen, dass sie die Fakten herausarbeiten, und einem Geheimnis, das in erster Linie gar nicht faktenbezogen ist, sondern bei dem es hauptsächlich um das Warum geht: die Gefühle, Beweggründe, Anlässe und Entscheidungen jener, die an den Folterungen in Abu Ghraib teilhatten. Der Film wird die Debatten über die moralische Verfassung dieser Einzelpersonen mit Sicherheit neu entfachen. Je nachdem zu welcher Seite man politisch neigt, wird man Abu Ghraib entweder sehr wahrscheinlich als Labor des berühmten »Luzifer-Effekts« sehen, einer Fallstudie, bei der gewöhnliche Menschen dazu überredet werden, andere Menschen zu foltern, und daran in manchen Fällen sogar Gefallen finden. Oder man fokussiert seine gesamte Aufmerksamkeit auf die moralische Verdorbenheit der »schwarzen Schafe« und glaubt, dies sei der Schlüssel zum Geheimnis. Wer trägt also die größte Schuld? Der Reservespezialist der Armee, Charles Graner, der von Grund auf böse Dramaturg, der viele der Missbrauchsbilder inszeniert und choreografiert hat und der, von der Armee für zehn Jahre weggesperrt, praktischerweise still bleibt? Oder General Sanchez, Oberbefehlshaber für alle militärischen Operationen im Irak, der eine Verdiensturkunde unterschrieb, die Graner für seine exzellente Arbeit verliehen wurde – während die Misshandlungen stattfanden? Die Soldaten präsentieren der Reihe nach ihre Alibis: Stress, Überarbeitung, ständige Gefahr, Wut über den Belagerungszustand, in dem sie sich befanden, der Wunsch zurückzuschlagen. Sie waren jung, wurden innerhalb einer autoritären Institution dazu ausgebildet, Befehle ohne Nachfragen auszuführen, und für ihre Arbeit als Gefängniswärter waren sie nicht geschult. Diese Alibis werden jedoch bei jenen nicht zählen, die immer wieder betonen, wie die Fotos als unleugbare Beweise zu zeigen scheinen, dass die amerikanischen Soldaten die Erniedrigung der irakischen Häftlinge genossen haben. Mehr als ihre eigentlichen Taten verurteilt sie ihre offensichtliche Freude daran: grinsen und Daumen hoch. Der Film konfrontiert uns daher mit einer Frage, die die vertraute Hierarchie der Sinne herausfordert: Glauben Sie Ihren Augen oder glauben Sie Ihren Ohren? Glauben Sie, dass die Bilder uns alles verraten, was wir wissen müssen oder glauben Sie, dass die Stimmen derer, die die Fotos schossen und darin vorkommen, mehr Licht ins Dunkel bringen können? Morris’ Passivität in der Rolle des Interviewers überlässt es dem Zuschauer, die Geschichte zu rekonstruieren. Nur ein paar »schwarze Schafe« oder doch »Standard Operating Procedure«, die gängige Verhörpraxis? Die Antwort besteht eindeutig aus beiden Annahmen, wie Morris’ eigenes Schwanken bei der Wahl seines Filmtitels zwischen beiden Formulierungen zeigte. (Meiner Meinung nach wäre »Schwarze Schafe« der passendere Titel gewesen, denn es dreht sich tatsächlich vordergründig um diese kleine Gruppe von Personen und nicht um das größere System, das dahinter steht, oder die Strukturen, die die Misshandlungen erst möglich machten.) Beide Titel sind höchst iro- 58 W. J.T. M ITCHELL Abb. 5: Der Forensik-Experte Brent Pack. nisch, allerdings in gegensätzlicher Art und Weise. »Schwarze Schafe« ist ein Schlüsselbegriff innerhalb der Bush-Regierung für die Taktik der Schadenskontrolle, mittels derer die Schuld auf jene abgewälzt wird, die in den Fotos erscheinen und damit zu tun hatten. »Standard Operating Procedure« hingegen ist das Prädikat, das man vielen dieser Fotos mit dem Ziel verpassen könnte, zu zeigen, dass hier durchaus ganz normale Verhörmaßnahmen abgebildet sind, die bei Terroristen angewendet werden. Aber auch wenn sich die Misshandlungen im Vergleich zu anderen dunklen Orten in Afghanistan und Guantánamo normal ausnähmen, so stächen sie immer noch wegen der Art und Weise hervor, wie sie fotografiert und veröffentlicht wurden. Morris, der seine normale Herangehensweise verfolgt, verzichtet darauf, mit seiner eigenen Stimme zu erzählen, und legt die Geschichte stattdessen um eine Vielzahl mitwirkender Erzähler an: General Janis Karpinsky, die ein klares Bild vom Versagen der Befehlsverantwortung abgibt, wodurch die Misshandlungen erst möglich, wenn nicht sogar unvermeidbar wurden; Brent Pack, der Special Agent der Criminal Investigation Division, der erklärt, die Moral der Geschichte bestünde einfach nur darin, dass es unglaublich dumm war, diese Bilder aufzunehmen oder darin aufgenommen zu werden (Abb. 5); Tim Dugan, der zivile Verhörbeauftragte, dessen Interview den ganzen Film einrahmt und für den die Vorkommnisse ein surrealer Alptraum der Verrohung professioneller Maßnahmen sind (Abb. 6); Lynndie England, die zwanzigjährige Gefreite, die daraus die Geschichte des naiven Mädchens vom Land macht, das von einem charmanten Schurken vom rechten Weg abgebracht wurde (Abb. 7); Javal Davis, der afroamerikanische Soldat, der lebhaft einen Abstieg in die Hölle beschreibt, bei dem Gefühle von Ekel, Angst bis hin zur Wut durchlebt werden (Abb. 8); Meghan Ambuhl, die ahnungslose junge Frau, die im Präsens von den Geschehnissen berichtet, als ob sie noch immer stattfänden (»Wir tun nur, was uns gesagt wird.«), D ER S CHLEIER UM A BU G HRAIB 59 Abb. 6: Der Verhörbeauftragte Tim Dugan. und die auf ihren Mann Charles Garner wartet, bis dieser seine Haftstrafe abgebüßt hat; und Sabrina Harman, für die dies eine Geschichte der Hilflosigkeit angesichts von Unmoral und illegalen Taten ist, gegen die man sich nur durch den Akt der bildlichen Dokumentation wehren konnte (Abb. 9). Harmans Version ist, für mich zumindest, diejenige, die dem Mysterium am weitesten auf den Grund geht, und dementsprechend schwer greifbar und mehrdeutig. Sie war eine der Fotografinnen, und sie ist – nicht zu vergessen – das »Daumen-hoch-Mädchen«, das grinsend über Leichen und nackten Körpern fotografiert wurde. Bis jetzt bestand die vorherrschende Erklärung für die Existenz der Fotografien in Seymour Hershs Interpretation, der zufolge die Gefangenen damit erpresst und gegen den Aufstand »gepolt« werden sollten. Oder die unautorisierten Fotos waren zu einem Teil Erniedrigung und zum anderen Teil Spaß – Trophäen und Souvenirs, die zur Schau gestellt werden sollten. (Es ist auch möglich, sogar wahrscheinlich, dass die CIA ihre eigenen Foltermaßnahmen aufgenommen hat. Ebenso wahrscheinlich ist allerdings auch, dass alle Beweise mittlerweile vernichtet wurden.) Abb.7: Lynndie England. 60 W. J.T. M ITCHELL Abb. 8: Javal Davis. Harman behauptet, ihr Beweggrund für das Aufnehmen der Bilder und das Posieren darin habe andere Gründe gehabt. Wenn wir ihr also glauben möchten, dann war ihr Lächeln und der gehobene Daumen lediglich eine automatische Geste, ein Reflex, etwas, was sie immer tut, wenn sie fotografiert wird: »Ich habe wahrscheinlich in jedem Foto den Daumen oben. Das passiert einfach automatisch. Naja, wenn von dir ein Foto geschossen wird, dann willst du halt lächeln.« Bei dem Foto, das sie lächelnd über einen in Eis gepackten Leichnam gebeugt zeigt, erklärt sie, habe sie die Bandagen vom Gesicht des toten Irakers entfernt, um seine Wunden zu zeigen und so die Lüge der Ermittler zu entlarven, er sei an einem Herzinfarkt gestorben. Hätten wir allein Harmans Zeugenaussage, wäre es schwierig, ihre Erklärungen für mehr als nur ein zweckdienliches Alibi zu halten, eine Ausrede für ein Verhalten, das selbsterklärend sadistisch ist. Im Film jedoch liest sie laut, mit flacher, emotionsloser Stimme, die außergewöhnlichen Briefe vor, die sie ihrer Frau Kelly Abb. 9: Sabrina Harman. D ER S CHLEIER UM A BU G HRAIB 61 im Herbst 2003 nach Hause schickte − in der Zeit, als die Geschehnisse in Abu Ghraib stattfanden. Harman legt nahe, ihre Motive für das Aufnehmen der Fotos hätten einen dokumentarischen, wenn nicht sogar forensischen Zweck verfolgt. »Ich habe jetzt mehr Fotos gemacht, um zu dokumentieren was hier los ist. Nicht wirklich viele Leute wissen, dass diese Scheiße hier läuft. Der einzige Grund für mich hier zu sein ist, diese Bilder zu machen und zu zeigen, dass die USA nicht das sind, was die Leute glauben.« Harmans lesbische Beziehung im »Frag nicht und sag nichts«-Kodex der USArmee mag sie wahrscheinlich etwas von dem Macho-Einfluss ferngehalten haben, dem Meghan Ambuhl und Lynndie England ausgesetzt waren. Sie war nicht, so wie England es von sich behauptet, anfällig dafür, »von einem Mann auf die falsche Bahn gebracht zu werden.« Harmans Aufnehmen der Bilder zeigt auch ein gewisses moralisches und ästhetisches Bewusstsein. Ihre Briefe identifizieren die sexuellen Demütigungen als »eine Form der Belästigung« und erkennen darin eine kriminelle Handlung. (An einem Ort, der durch die Knappheit aller notwendigen Dinge geprägt war – Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente –, gab es kistenweise Damenunterwäsche, die als Kapuzen verwendet wurden.) Harman schreibt, es würde einen Tag der Abrechnung für die Taten geben, und drückt ein Gefühl der Machtlosigkeit aus. Sehr bemerkenswert ist, dass sie die eigenartige ikonische Charakteristik der Haltungen der Opfer bemerkt, das Drängen des menschlichen Körpers in eine Position, die in quälender Reglosigkeit über eine elend lange Zeit ausgehalten werden muss. Harman berichtet in ihren Briefen, ein Gefangener »sei mit Handschellen, den Rücken Richtung Wand nackt an sein Fenster gekettet worden, mit seiner Unterwäsche über Kopf und Gesicht gezogen – er sah aus wie Jesus Christus. Zuerst musste ich lachen, also ging ich los, holte die Kamera und machte ein Foto.« Ist dies das Lachen einer triumphierenden Sadistin? Oder einer perplexen Augenzeugin? IV Sabrina Harmans Geschichte zeigt die Grenzen von dem auf, was man noch über Abu Ghraib erfahren kann, sei es beim eingehenden Hinterfragen der Fotos oder beim genauen Anhören der Zeugenaussagen. Die Bush-Regierung hat jede erdenkliche Anstrengung unternommen, um eigene symbolträchtige Bilder des Triumphes und des Sieges hervorzubringen: Sei es das Überdecken von Saddam Husseins Statue mit einer US-Flagge, das »Mission Accomplished«-Foto oder die Videoschleife von Saddams zahnärztlicher Untersuchung nach seiner Gefangennahme. Aber keines dieser Bilder setzte sich im Bewusstsein der Öffentlichkeit fest, außer vielleicht als peinliches Exempel missglückter Propaganda. Die unautorisierten, illegalen und erfolglos unterdrückten Amateurfotos, die von GIs im Abu-GhraibGefängnis aufgenommen wurden – das sind die Bilder, die als Ikonen der »Operation Irakische Freiheit« bleiben werden. 62 W. J.T. M ITCHELL Diese Tatsache kann nicht durch forensische Methoden erklärt werden – ein Manko, das durch Morris’ eigene Nachforschungen zum Fall des Kapuzenmannes offensichtlich wurde, der von der New York Times am 11. März 2006 fälschlicherweise als Ali Shalal Qaissi identifiziert und von den GIs »Klauenmann« genannt wurde. Morris nutzte am 15. August 2007 seinen New York Times-Blog »Möge der echte Kapuzenmann bitte aufstehen« zur Aufklärung der Sachlage. Bei den Vorbereitungen zu dem Film Standard Operating Procedure fand Morris heraus, dass der Kapuzenmann eigentlich Abdou Hussain Saad Faleh ist, Spitzname »Gilligan«. Morris zog daraus eine Lehre zum Thema Fotografie, nämlich über »die zentrale Rolle, die das Foto selbst bei der missglückten Identifikation spielte, und die Art und Weise, wie Fotografie sich selbst diesen Irrtümern ausliefert und diese vielleicht sogar erzeugen kann.« Es ist, als ob Fotografien kraft der Autorität, die wir ihnen verleihen und angespornt von unseren eigenen Vorurteilen und Vorannahmen, »falsche Überzeugungen anziehen – wie Licht die Motten«. Auf Morris’ skeptische Dekonstruktion folgten vierundsiebzig Antworten, die meisten davon sind von verständnisvoller Natur. Dutzende Hypothesen wurden aufgestellt und hinterfragt und von den puzzle-begeisterten schlaflosen Lesern der Times-Website in den folgenden Wochen diskutiert. Mit fortschreitender Diskussion begann diese Art der Suche nach der »tiefen Wahrheit« hinter den Fotos jedoch auch irgendwann gegen eine Mauer des Widerstands zu laufen. Einige der an der Diskussion Beteiligten betonten, die ganze Suche nach der Wahrheit hinter dem Foto liefe an dem wesentlich wichtigeren Punkt vorbei, dass die tatsächliche Identität des Kapuzenmannes irrelevant für die Wirkungskraft des Bildes sei. Tatsächlich könnte man es noch viel deutlicher ausdrücken und klar darauf hinweisen, dass gerade die Anonymität des Kapuzenmannes der Schlüssel zu der Wirkungskraft des Bildes ist. Der Referent eines Fotos, das reale Objekt oder Ereignis, das von ihm »festgehalten« wird, ist nicht dasselbe wie die Bedeutung, die es als kulturelles Zeichen erhalten kann. Diese Bedeutung kann nur durch ein genaues Betrachten des Bildes als formale und ikonografische Einheit entschlüsselt werden und indem die Rezeption durch seine Betrachter zurückverfolgt wird. Wäre das einzige Bild, das vom Kapuzenmann existierte, jenes gewesen, das Harman aus seitlicher Perspektive aufnahm, würde es heute nicht eines der bekanntesten Bilder der Welt sein. Die Frontalperspektive und die Symmetrie der Figur erzeugen die formalen Bedingungen für seine Wirkungskraft. Die Frage ist also nicht, »Wer ist der Kapuzenmann?«, sondern (um James Agee etwas umzuformulieren, als er über Walker Evans schrieb), »Wer bist du, der sich mit dieser Fotografie beschäftigt, worin besteht deine Verantwortung dafür und was willst du dagegen unternehmen?« Ich denke, Morris hat Recht, wenn er sagt, dass es dieses Bild ist, das vom Irakkrieg in Erinnerung bleiben wird. Man wird sich allerdings nicht aus dem Grund daran erinnern, weil »Gilligan« und nicht der »Klauenmann« darauf abgebildet ist. Es wird aus einem anderen Grund nicht vergessen werden, nämlich dem, der, wie sie selbst sagte, Sabrina Harman zuerst dazu brachte, ein Foto zu machen: Es erinnert D ER S CHLEIER UM A BU G HRAIB 63 uns an Jesus. Eine neue Art von Jesus, zugegeben, dessen gequältes Antlitz uns verborgen bleibt, und dessen Pose in jenem Moment durch die Fotografie in ein dauerhaftes Zeichen dessen verwandelt wurde, was die christliche Nation mit ihrem Kreuzzug zur Befreiung des Nahen Ostens erreicht hat. Denn den Nachhall piktografischer Abbildungen der Passion Christi in den Abu-Ghraib-Fotografien kann man nicht missverstehen. Alle Elemente finden sich wieder: Das Verhüllen des Kopfes erinnert an das Verbinden der Augen Jesu Christi und dessen Verhöhnung; die Kiste lässt an das Podest denken, auf das der Sohn Gottes als nachgeäffter König gestellt wird; die Position der Hände erinnert an die Verklärtheit, die Klage und die Bergpredigt sowie an Dutzende anderer Szenen; die verrenkten Gliedmaßen beschwören die schlimmste Form der Streckfolter herauf – die Kreuzigung. Dann gibt es da noch den Insassen, der als »Shit Boy« bekannt wurde, von Kopf bis Fuß mit seinen eigenen Exkrementen beschmiert, und der in einer ekstatischen kreuzförmigen Haltung vor der Kamera steht, ein Nachfolger von Andres Serranos Piss Christ. Was bedeuten diese Ähnlichkeiten? Vielleicht gar nichts, da die Abbildung eines gefolterten, gequälten Körpers sinngemäß ein begrenztes Repertoire an Posen bereithält. Hat man einen zerschundenen Körper gesehen, hat man alle gesehen, und wie in der Pornografie auch gibt es eine verzweifelte Suche nach Abwechslung und Innovation, die stets frustrierend verläuft. Dennoch, die Abu-Ghraib-Fotografien erhalten eine zusätzliche Brisanz, wenn wir von CIA-Methoden zur sexuellen Demütigung hören, um sich, in Tim Dugans Worten, das »arabische Kulturding« zunutze zu machen oder von der neokonservativen Tendenz, von einem Krieg mit missionarischem Eifer zu sprechen. Die Ikonografie der Abu-Ghraib-Fotografien ist kein Thema in Errol Morris’ Film, was nur folgerichtig ist, denn sein Fokus richtet sich auf die tatsächlichen Umstände ihrer Entstehung und nicht auf die symbolischen Assoziationen, die ihre Rezeption später auslöste. Morris’ Rekonstruktion dieser Umstände wird, das kann ich voraussagen, eine ganze Menge neuer Reflexionen mit einer gefestigteren Informationsbasis zu Abu Ghraib auslösen – besonders bezüglich der Verbildlichung surrealistischer Fantasien eines Krieges gegen den Terror und einer perversen Umdeutung von Franklin D. Roosevelts Warnung, »die Angst sei das einzige, was wir zu fürchten haben«. V Brian de Palma hat bei der Diskussion seines jüngsten Filmes zu den Gräueltaten im Irak Redacted erklärt, es seien »die Bilder, die den Krieg beenden werden.« Doch in jeder Diskussion über die Bilder, die ich miterlebt habe, wurde bisher immer unvermeidlich darauf hingewiesen, dass die Abu-Ghraib-Fotografien, unabhängig davon, wie aussagestark und einprägsam sie waren, diesen Krieg nicht beendet hätten. Es gibt natürlich viele Erklärungen für diese Tatsache: der (bisherige) Erfolg der Regierung, den Skandal einzudämmen, indem die Schuld jenen angelastet 64 W. J.T. M ITCHELL wurde, die entweder in den Fotografien auftauchen oder an deren Entstehung beteiligt waren; eine an Bildern übersättigte Kultur, die in der amerikanischen Öffentlichkeit eine Art der Amnesie zu bewirken scheint; die Komplizenschaft der amerikanischen Medien mittels der unterlassenen Beleuchtung des Skandals; und schließlich der überwältigende Skandal des Krieges selbst. Einige Wissenschaftler gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie behaupten, ein »Abu-Ghraib-Effekt« habe durch die Verbindung der Bilder mit einer langen ikonografischen Tradition in der westlichen Kunst deren politische Auswirkung neutralisiert, da auch hier Szenen des Leidens und der Folter eine ideologische Unterstützung für Imperialismus und militärische Herrschaft leisten. Eine Art des systematischen Sadismus sei, gemäß diesem Argument, dem gesamten Ethos der amerikanischen Einzigartigkeit mit seinem grenzenlosen Unschuldsverständnis, soweit es die Konsequenzen der eigenen Handlungen betrifft, und solange diese Handlungen in der Sprache der Freiheit und Demokratie beschrieben werden, inhärent. Das würde erklären, warum eine bedeutsame Minderheit von Amerikanern glaubt, was in Abu Ghraib passiert ist, sei eine Ausnahme, und ein zorniges Wohlgefallen an der Überzeugung zu finden scheint, wir würden »tun was auch immer getan werden muss«, um den verworrenen Kampf gegen den Terror auszufechten, sowie bekräftigt, dass dies von jetzt an das Standardvorgehen sein müsse. Diese Erklärungen für die Erfolglosigkeit der Bilder, den Krieg zu beenden, mögen, oberflächlich betrachtet, plausibel erscheinen, doch beziehen sie die Annahmen nicht genügend mit ein, die zum Entstehen der Bilder führten. Wieso sollten wir glauben, dass Bilder allein einen Krieg beenden könnten? De Palmas Äußerung ist symptomatisch für eine unverbesserliche Tendenz dazu, manchen Bildern magische Kräfte zuzuschreiben, wie auch für die Tendenz zu glauben, Bilder könnten die Geschichte der Menschheit beeinflussen. Die Bilder von Abu Ghraib mögen zu globalen Ikonen geworden sein: endlos reproduziert, verbreitet und in Protestplakate, Cartoons, Kunstwerke, Wandbilder, kontinuierlich übertragene Videosequenzen und sogar in eine Art Werbelogos umgewandelt, wie in den Arbeiten von Forkscrew Graphics, die iPod-Werbungen parodierten und Plakate mit dem »iRaqui« auf der Kiste entwarfen. Doch die Ähnlichkeit zwischen der Silhouette des Folteropfers und den in sich selbst vertieften, friedliebenden Tänzern mit ihren iPods bedeutet – was? Die Gleichsetzung der Folterbilder mit dem gleichförmigen Strom von Werbebildern? Oder eine Ironisierung des Bildes, eine Praxis die, auf diese Art, endemisch für Werbung als solche steht? Bilder sind mächtig, aber nicht allmächtig, und vor allem nicht in der Art und Weise, wie wir es voraussagen oder kontrollieren möchten. Sie funktionieren eher als Katalysator denn als Ursache menschlichen Verhaltens. Die Abu-GhraibFotografien mögen zu der Erkenntnis geführt haben, dass der Irakkrieg verloren war. Doch diese Erkenntnis wird nicht universell geteilt: Sie wird vielmehr kategorisch von jenen verleugnet, die die Zügel der amerikanischen Militärmacht in ihren Händen halten. Paradoxerweise hat die fast fetischistische Zurschaustellung D ER S CHLEIER UM A BU G HRAIB 65 der Bilder und der beschämenden Szenen, die sie darstellen, dabei geholfen, den Skandal einzudämmen, indem er auf die Personen begrenzt wurde, die direkt damit in Verbindung standen, und so abgelenkt wurde von den Verantwortlichen am oberen Ende der Befehlskette. Dieselben Bilder, die zu mächtigen und unvergesslichen erklärt wurden, sind am Ende ein wahrlich schwaches Mittel, wenn es darum geht, die Mächtigen zur Verantwortung zu ziehen. Die Bilder, denen man zuschrieb, den Vietnamkrieg beendet zu haben – Fotografien von flaggenbedeckten Särgen, das nackte Mädchen, das 1972 aus ihrem mit Napalm bebombten Dorf flieht –, wirkten sich nicht sofort aus. Es brauchte Zeit, bis ihre Bedeutung in der amerikanischen Öffentlichkeit sackte, und es brauchte noch mehr Zeit, bis auch der politische Prozess dieser Verarbeitung nachzog. Abgesehen davon werden alle diejenigen, die meinen, die USA hätten in Vietnam »auf Kurs bleiben« müssen, vermutlich ewig gegen die entsetzlichen Kriegsbilder immun bleiben. Was Abu Ghraib betrifft, werden sich die Amerikaner die Bedeutung der Fotografien wohl erst in der nächsten Zeit erschließen, so wie auch der niemals vollständig abzuschließende Prozess namens Gerechtigkeit noch Aufholzeit braucht. Übersetzung: Julia Augustin. 5 Die maßlose Darstellung von Bildern A RNO S CHUBBACH Inwieweit Bilder maßlos sein können, hängt von der Bestimmung des Bildlichen ab. Bilder begreifen wir meist als das, was uns sichtbar vor Augen steht, so dass ihre Maßlosigkeit im Dargestellten, in eingesetzten Mitteln oder im Spiel mit Konventionen zu suchen wäre. Da viele und vor allem epistemische Bilder etwas darzustellen beanspruchen, ist es jedoch erforderlich, die Verfahren der Bildherstellung einzubeziehen. Das bildliche Bedeuten muss nicht nur ausgehend von der Betrachtung, sondern auch in deren Bezug zur Herstellung des Bildes gefasst werden. An André Skupins Karte der »World of Geography« soll exemplarisch gezeigt werden, wie die Verfahren der Visualisierung mit der Form der Darstellung sichtbar in Widerstreit geraten können. Maßlosigkeit ist daher nicht allein im Sichtbaren, sondern ebenso in dessen Verhältnis zur Sichtbarmachung aufzusuchen. Sie hat ihren Ort zwischen der Darstellung von Bildern als solchen und der Darstellung von etwas durch Bilder. Neuere Arbeiten zur Ästhetik und das Vorhaben der Bildwissenschaft oder Bildkritik haben durch die Ausweitung ihrer Grundbegriffe von sich reden gemacht: Die Ästhetik löst sich zunehmend von ihrer engen Fassung als philosophische Lehre von der Kunst und dem Schönen, um sich neue Gebiete wie die Wissenschaften zu erschließen1 oder affektiv getönte Wahrnehmungen,2 besondere Aufmerksamkeit erheischende Erscheinungen3 oder ein Denken im engen Bezug zur sinnlichen Erfahrung zu konzipieren.4 Der Begriff des Bildes ist dagegen in erster Linie seitens der Kunstgeschichte als zentrale interdisziplinäre Konzeption vorgeschlagen worden, um das an Kunstwerken entfaltete Wissen in einen größeren Zusammenhang zu stellen und eine allgemeinere Erforschung von Bildern zum 1 Siehe exemplarisch Wolfgang Krohn (Hg.): Ästhetik in der Wissenschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, Hamburg 2006. 2 Siehe Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, insbesondere S. 73. 3 Siehe Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2003, insbesondere S. 49–69. 4 Siehe Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 41–78. 68 A RNO S CHUBBACH Programm zu machen.5 Das ›Ästhetische‹ und das ›Bild‹ scheinen somit an Aktualität zu gewinnen, insofern sie nicht auf die Kunst beschränkt werden und die an der Kunst geschulten Instrumentarien in einem erweiterten Umkreis fruchtbar machen können. In der Folge wird zu klären sein, wie die Begriffe des Ästhetischen und des Bildes neu zu fassen und ins Verhältnis zu setzen sind. Diese Frage wird anhand konkreter Beispiele zu verhandeln sein, weil Ästhetik und Bildkritik auf den wesentlichen Bezug des Denkens zur sinnlichen Konkretion setzen. Zugleich verbietet sich eine Verengung der Frage auf künstlerische Bilder, weil die Begriffe des Ästhetischen und des Bildes ihre Aktualität in erster Linie mit Hinblick auf Gegenstände und Themen jenseits der Kunst gewinnen. Die Herausforderung, diese Aktualität auch tatsächlich unter Beweis zu stellen, ist aber umso größer, je weiter man sich von der Kunst entfernt. Dennoch ist sie beispielsweise mit Blick auf wissenschaftliche Bilder angenommen worden und hat zu ebenso vielfältigen wie produktiven Beiträgen zum Verständnis der Wissenschaften Anlass gegeben. Die Rolle von Bildern für die heutige Forschungspraxis und in den angewandten Wissenschaften wurde ebenso herausgearbeitet wie die ästhetische Dimension von Visualisierungen.6 Als produktiv haben sich dabei vor allem Untersuchungen erwiesen, die die Begriffe der Ästhetik und des Bildes nicht einfach vorausgesetzt und auf die Wissenschaften angewendet, sondern zugleich kritisch hinterfragt und konzeptionellen Revisionen unterworfen haben. Die Frage nach der Maßlosigkeit von Bildern und einer Ästhetik der Transgression kann vor diesem Hintergrund als eine besondere Herausforderung gesehen werden. Denn es liegt zunächst nah, bei diesen Formulierungen an künstlerische Bilder zu denken, die vielleicht etwas Schockierendes zeigen oder Drastisches 5 Siehe stellvertretend Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. Horst Bredekamp: Artikel ›Bildwissenschaft‹. In: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart, Weimar 2003, S. 56–58. James Elkins: The Domain of Images, Ithaca, London 1999. 6 Es wäre hier eine Vielzahl von Arbeiten zu nennen. Ich möchte aber wiederum nur exemplarisch verweisen auf die einschlägigen Aufsätze in Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001. Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002 sowie in Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge et al. 1990. Siehe darüber hinaus Michael Lynch, Samuel Y. Edgerton Jr.: Aesthetics and Digital Image Processing: Representational Craft in Contemporary Astronomy. In: Gordon Fyfe, John Law (Hg.): Picturing Power: Visual Depiction and Social Relations, London, New York 1988, S. 184–220 und Michael Lynch: Discipline and the Material Form of Images: An Analysis of Scientific Visibility. In: Social Studies of Science 15 (1985), S. 37–66 sowie Lorraine Daston, Peter Galison: Objectivity, New York 2007. Peter Galison: Image & Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago, London 1997. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 69 darstellen, die anstößige Materialien einsetzen und Konventionen angreifen, sich ihrer Deutung in einer reflexiven Wendung oder in einem aufdringlichen Hyperrealismus verweigern. Die meisten Leser mögen auch an eine ›Ästhetik‹ der Gewalt von besonders grausamen oder gar gewalttätigen Filmen oder der seit einigen Jahren populär diskutierten ›Killerspiele‹ denken. Im Hinblick auf die Diskussionen um die erweiterten Begriffe des Bildes und des Ästhetischen verengen solche Assoziationen den Blick auf das konzeptionelle wie heuristische Potential der beiden Begriffe. Es lohnt sich daher, einmal von den Rändern aus zu fragen: Können beispielsweise wissenschaftliche Bilder und ihre Ästhetik als maßlos begriffen werden? Diese Frage möchte ich im Folgenden erörtern, um sie schärfer zu konturieren. Maßlose Projektionen zwischen Kugelfläche und Kartenblatt Betrachten wir als einleitendes Beispiel zwei Weltkarten (Abb. 1 und Abb. 2). Auf den ersten Blick dürften sie wohl kaum jemandem als maßlos erscheinen, zumal Karten auch dem praktischen Zweck dienen, die Welt, von der wir umgeben sind und in der wir uns orientieren müssen, überschauen zu können. Ein Vergleich der beiden Karten wirft jedoch durchaus Fragen auf. Eine Karte wirkt auf uns vertraut, die zweite aber scheint vor allem an den Polen auf irritierende Weise länglich gestreckt. Dieser Unterschied begründet sich in den voneinander abweichenden Herstellungsweisen: In der Kartografie spielte seit langem die Mercator-Projektion eine zentrale Rolle, weil sie aufgrund ihrer Winkeltreue vor allem für die Navigation praktische Vorteile hat (Abb. 1).7 Der Preis für diesen Vorzug sind enorme Verzerrungen der Flächenverhältnisse, da alle Flächen um den Äquator verkleinert und zu den Polen hin vergrößert werden. Dieser Umstand erregte aufgrund der praktischen Bedeutung der Mercator-Karte und ihrer weiten Verbreitung immer wieder Kritik,8 auch wenn bereits seit Mercators Zeiten ebenso Projektionen bekannt waren, die die Flächenverhältnisse erhalten.9 In den 1960er Jahren wurde diese Diskussion durch Arno Peters schließlich in die breitere Öffentlichkeit getragen, als er mit politischer Verve die fälschliche Verkleinerung der DritteWelt-Länder angriff und dagegen eine flächentreue Projektion vorschlug, die stattdessen die Winkeltreue aufgibt (Abb. 2).10 Die vorgebrachte Projektion war allerdings seit dem 19. Jahrhundert bekannt.11 7 Siehe John P. Snyder: Flattening the Earth. Two Thousand Years of Map Projections, Chicago, London 1993, S. 43–49. 8 Siehe ebd., S. 156 –157. 9 Siehe zur Sinusoidal-Projektion ebd., S. 49–51. 10 Siehe Arno Peters: Die neue Kartographie – The new Cartography, Klagenfurt, New York 1983, S. 50 –129. 11 Siehe zu Arno Peters’ Intervention und James Galls Projektion Snyder 1993 (wie Anm. 7), S. 164 –166. 70 A RNO S CHUBBACH Abb. 1: Weltkarte nach Gerhard Mercator (1512–1594) aus Arno Peters: Die perspektivische Verzerrung von Raum und Zeit im historisch-geographischen Weltbilde der Gegenwart und ihre Überwindung durch neue Darstellungsweisen, München-Solln 1967. Diese Beschreibung geht von der Herstellung der Karten aus und stellt mit dem Begriff der Projektion die Abbildung ins Zentrum, die geografische Größenverhältnisse in sichtbare Relationen im Bild transformieren soll. Diese Abbildung ist indes allzu ungesichert, weil im Bild ›reale‹ Verhältnisse verloren gehen und zugleich neue, in diesem Fall täuschende grafische Verhältnisse entstehen. Diese Beobachtung beschreibt ein prinzipielles Problem von geografischen Karten, wie bereits Leonhard Euler gezeigt hat: Keine Projektion der gekrümmten Erdoberfläche auf das ebene Kartenbild erlaubt es, gleichzeitig Längen, Flächen und Winkel zu erhalten. Da die berechnete Karte aber notwendigerweise Längen, Flächen und Winkel darstellen muss, wird sie zumindest in einer Hinsicht in die Irre führen.12 Der Übergang von den Größenverhältnissen in der Welt zu den Proportionen auf der Bildfläche erfordert daher kartografische Entscheidungen und impliziert im entstehenden Bild die Möglichkeit täuschender Effekte: Damit bestimmte grafische Beziehungen ›reale‹ Verhältnisse in der Welt darstellen können, muss in Kauf genommen werden, dass andere Beziehungen im Bild nicht 12 Siehe ebd., S. 73–74 und Leonhard Euler: Drei Abhandlungen über Kartenprojection, hg. von A. Wangerin, Leipzig 1898, S. 8–10. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 71 Abb.2: Weltkarte nach Arno Peters: Die perspektivische Verzerrung von Raum und Zeit historischgeographischen Weltbilde der Gegenwart und ihre Überwindung durch neue Darstellungsweisen, München-Solln 1967. zutreffend darstellen. Durch Herstellungsverfahren wie die Projektion wird zwar versucht, darstellende und dargestellte Bezüge eins zu eins aufeinander abzubilden, im Allgemeinen kann aber ebenso wenig wie in der Kartografie vorausgesetzt werden, dass dies überhaupt möglich ist. Infolgedessen lässt sich die Vermutung wagen, dass Bilder nicht nur wegen des Dargestellten oder der eingesetzten Mittel maßlos genannt werden können. An den beiden Weltkarten zeigt sich nämlich, dass die Maßlosigkeit ihren Ort nicht ausschließlich im Sichtbaren, sondern auch im Bezug des Bildes auf seine Herstellung haben kann. Diese Karten wären demnach insofern maßlos zu nennen, als das sichtbare Bild in seinen grafischen Konstellationen etwas darstellt, ohne dass durch das Bild selbst gegeben wäre, welche grafischen Relationen tatsächlich etwas darstellen und welche nicht. An den vorangehenden Beispielen wird dies deutlicher: Die Mercator-Projektion ist nicht flächentreu, muss aber doch Größenverhältnisse der Kontinente, Meere und Nationalstaaten zeigen; im Falle der Peters-Projektion gilt ähnliches für die Winkel auf der Kugeloberfläche und im Kartenbild. Beide Projektionen sind daher insofern maßlos, als die Karte unter anderem auch Beziehungen darstellt, denen keine tatsächlichen Größenverhältnisse im dargestellten Raum entsprechen. Manches in den Daten kann nicht ins Bild gesetzt werden, zugleich werden im Bild grafische Beziehungen geschaffen, die dann etwas 72 A RNO S CHUBBACH darzustellen scheinen, was aufgrund der vorhandenen Daten anders zu bestimmen wäre oder unbestimmt bleiben müsste.13 In dieser Hinsicht von maßlosen Bildern zu reden, impliziert natürlich keine prinzipielle, vollkommene Maßlosigkeit eines Bildes oder gar von Bildern im Allgemeinen. Vielmehr akzentuiert diese Beschreibung das spezifische Problem von Darstellungen, einen Bezug zwischen dem vor Augen stehenden, sichtbaren Bild und dem im Bild sichtbar gemachten Gegenstand zu eröffnen, diesen Bezug aber nicht selbst transparent machen zu können. Zwar zielen die methodischen Diskussionen in den Wissenschaften stets darauf ab, die Verfahren der Bildgebung und den Übergang von den diversen Daten zum Bild zu standardisieren und dadurch zu kontrollieren, was im Bild als belastbare Information gelten kann. Jedoch steht in Frage, ob dies zu gewährleisten ist, wo Erkenntnisse auf visuellem Wege erlangt werden sollen und vom Bild ihren Ausgang nehmen. Zudem werden wir uns dem visuellen Eindruck und seinen Evidenzen kaum vollständig entziehen können, auch wenn wir wissen mögen, dass der Darstellung in mancher Hinsicht nicht zu trauen ist.14 Diese systematischen Probleme wurden in erster Linie von Studien zu wissenschaftlichen Visualisierungen herausgearbeitet. Sie haben die Verfahren zur Sichtbarmachung in den Vordergrund gerückt und in die Diskussion des Bildes eingeführt, weil diese Verfahren für die Gültigkeit von visuell gewonnener Erkenntnis entscheidend sind.15 Damit tritt aber ein Aspekt hervor, der von allgemeinerer Bedeutung ist: Die Herstellung ist kein vernachlässigbarer Faktor für die Betrachtung eines Bildes. Bilder müssen nicht zeigen, wie sie gemacht wurden, dennoch 13 Es ist dabei nicht entscheidend, ob das Bild ein Abbild in dem Sinne zu sein scheint, dass das Dargestellte unabhängig und vorgängig zu seiner Darstellung existiert. Das Dargestellte mag in der Darstellung entstehen oder vielleicht auch fingiert sein – solange sich in den grafischen Konfigurationen des Bildes ein inhärentes Gefüge dessen zeigen soll, was das Bild darstellt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von darstellenden und dargestellten Zügen. 14 Jochen Hennig zeigt an der Entwicklung der Rastertunnelmikroskopie in den 1980er Jahren beispielhaft, wie die Erwartung, Atome müssten sich über die Oberfläche erheben, zur Etablierung der Konvention beitrug, sie als Erhebungen darzustellen, obwohl die Messwerte sie als elektrische Maxima oder Minima ausweisen. Siehe Jochen Hennig: Changes in the Design of Scanning Tunneling Microscopic Images from 1980 to 1990. In: Techné 8 (2004), S. 36– 55; hier S. 44–48. Die Darstellung wurde damit als ein vermeintlich realistisches Bild etabliert und evoziert wiederum die entsprechenden Erwartungen des Blicks, auch wenn den Physikern der Messprozess und seine Gesetzlichkeiten bekannt sein mögen. 15 Der Begriff der Sichtbarmachung wurde bekanntermaßen von Hans-Jörg Rheinberger geprägt. Siehe zum Beispiel Hans-Jörg Rheinberger: Objekt und Repräsentation. In: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001, S. 55–61 und ders.: Spurenlesen im Experimentalsystem. In: Sybille Krämer, Werner Kogge, Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 293–308; insbesondere S. 298–307. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 73 betrachten wir sie als gemachte. Ihr Bedeuten ist niemals unabhängig von der Dimension ihrer Herstellung und des Anscheins der eingesetzten Verfahren und Mittel im Bild. Dieser Ansatz umreißt eine Topologie des Bildlichen, in der Bilder zugleich als hergestellte Artefakte und als betrachtete Darstellungen zu begreifen sind und deshalb eine Behandlung erfordern, die sie weder auf die Herstellung von Artefakten noch auf die Betrachtung des bloß sichtbaren Resultats reduziert.16 Die Herstellung spielt in der Frage des Bildes allerdings eine doppelte Rolle. Zum einen kann sie wie bei jedem beliebigen Artefakt als bloße Herstellung thematisiert werden. Sie ist in diesem Fall zwar auf das Bild und seine Darstellung ausgerichtet, charakterisiert aber nicht auf spezifischere Weise seine Betrachtung. Zum anderen kann untersucht werden, wie die Herstellung in die Wahrnehmung des Bildes und in den bildlichen Sinn hineinspielt. Ausgehend von der Betrachtung ist einerseits entscheidend, wie ein Bild tatsächlich entstanden ist und wie sich dieser Prozess sichtbar in das Bild eingeschrieben hat. Andererseits kann die Herstellung auch insofern eine Rolle spielen, als uns das Bild in seiner grafischen Gestaltung eine spezifische Herstellung nahe legt, damit wir es als eine bestimmte Darstellung betrachten und unser visueller Bezug auf den dargestellten Gegenstand eine konkrete Form annimmt. Viele Bilder stellen etwas dar, indem sie uns glauben lassen, dass die grafischen Konfigurationen und Konstellationen auf bestimmte Weise entstanden sind und sie uns deshalb etwas in einer spezifischen Hinsicht zeigen. Insbesondere die Kartendarstellung kann so genutzt werden, um alle möglichen Daten ins Bild zu setzen, was sich in den vielfältigen Formen von thematischen Karten bereits andeutet, in denen eine geografische Karte zusätzlich Daten zu bestimmten Themen visualisiert. Kartendarstellungen können aber auch ganz unabhängig von geografischen Karten erstellt werden. Wenn eine Darstellung aber tatsächlich auf andere Weise entsteht, als sie in ihrer grafischen Gestalt glauben macht, dann kann sie mit ihrer Herstellung sichtbar in Konflikt geraten. Es zeichnet sich in solch kritischen Momenten im Bild eine Maßlosigkeit ab, die nicht allein im ungesicherten Verhältnis der darstellenden Relationen im Bild und der durch das Bild dargestellten Relationen gründet. Sie hat ihren Ort vielmehr im sichtbaren Rückbezug auf die Herstellung des Bildes, die bei bildgebenden Verfahren den Gegenstandsbezug absichern soll, in Konflikten mit der Form der Darstellung aber auch sichtbar fragwürdig werden kann. An einer abstrakten Karte von Texten möchte ich daher zu zeigen versuchen, dass im Bezug der Herstellungsweisen zum sichtbaren Bild eine eigene Quelle der Maßlosigkeit ausgemacht werden kann. Aus diesem Befund wären nicht nur bildtheoretische Konsequenzen zu ziehen, sondern auch Anforderungen für eine Ästhetik zu folgern, die über den Bereich der Kunst hinausgreift, aber am Phänomen des Bildlichen 16 Siehe dazu ausführlicher Arno Schubbach: Gezogene Linien sehen. Sichtbarmachung und Sichtbarkeit von Bildern. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 53 (2008), S. 217–230. 74 A RNO S CHUBBACH festhält: Ein Bild ist kein Gegenstand wie jeder andere und ist daher durch eine allgemeine Theorie des Ästhetischen nicht bereits hinreichend behandelt. Vielmehr bringt das Bild eigene Bedingungen mit sich, die in die Bildwahrnehmung eingehen und insbesondere die Dimension der Herstellung beziehungsweise der Sichtbarmachung einschließen. Jede Ästhetik, die den Bereich des Ästhetischen ausweitet, im künstlerischen Bild aber zumindest noch einen paradigmatischen Fall sieht, kann nicht darauf verzichten, sich der unterschiedlichen Spezifik ihrer Gegenstände zu versichern. Eine maßlose Karte der Geografie Die Visualisierung »The World of Geography« (siehe Abb. 3) erinnert in ihrer grafischen Gestaltung an eine Karte, stellt aber keine reale Geografie dar.17 Sie basiert vielmehr auf der Auswertung von allen 2.220 verfügbaren Abstracts der Vorträge, die anlässlich des jährlichen Treffens der Association of American Geographers im Jahr 1999 gehalten wurden. André Skupin, selbst ein ausgebildeter Geograf, hat diese Visualisierung als ein Ergebnis seiner laufenden Forschungen präsentiert und seine Vorgehensweise in einer Reihe von Artikeln ausgeführt.18 Es geht ihm um zweierlei. Skupin will uns mit dieser Karte einen »snapshot of the geographic discipline, from established, well-publicized research fields to those only recently emerging«19 vor Augen halten. Zugleich versucht er damit, den Nutzen von kartografischen Methoden zur Visualisierung von Informationen im Allgemeinen unter Beweis zu stellen, womit er seine Arbeit im Zusammenhang der Informatik und deren Forschungen zur so genannten knowledge domain visualization und information visualization situiert.20 Die Geografie spielt in Skupins Arbeit folglich eine doppelte 17 An dieser Stelle möchte ich André Skupin für die Erlaubnis zum Abdruck der Visualisierung danken sowie für seine wertvollen inhaltlichen Hinweise. 18 Siehe André Skupin: A Cartographic Approach to Visualizing Conference Abstracts. In: IEEE Computer Graphics and Applications 22 (2002), S. 50–58. Ders.: The World of Geography. Visualizing a Knowledge Domain with Cartographic Means. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 101 (2004), Supplement 1, S. 5274–5278 und ders.: A Picture from a Thousand Words. In: Computing in Science and Engineering 6 (2004), S. 84–88. Diese Artikel sind neben anderen auf der Homepage des Autors verfügbar, http://geography.sdsu. edu/People/Pages/skupin/index.htm (Letzter Zugriff: 10. Oktober 2008). 19 Skupin 2004 (wie Anm. 18), S. 5274. 20 Siehe für einen Überblick die drei Standardwerke Chaomei Chen: Information Visualization. Beyond the Horizon, London et al. 22004. Robert Spence: Information Visualization. Design for Interaction, Harlow et al. 22007. Colin Ware: Information Visualization. Perception for Design, Amsterdam et al. 2004. Siehe für das engere Feld der knowledge domain visualization vor allem Katy Börner, Chaomei Chen, Kevin W. Boyack: Visualizing Knowledge Domains. In: Annual Review of Information Science and Technology 37 (2003), S. 179–255. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 75 Abb. 3: Visualisierung von 2220 Abstracts der Vorträge am jährlichen Treffen der ›Association of American Geographers‹ im Jahr 1999, vorgestellt in André Skupin: The World of Geography: Visualizing a Knowledge Domain with Cartographic Means. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 101 (2004), Supplement 1, S. 5274–5278. Siehe auch Farbtafel VI. 76 A RNO S CHUBBACH Rolle, als Gegenstand der Darstellung und als Repertoire von Methoden zur Darstellung.21 Skupins Karte wird in einem komplexen technischen Prozess berechnet, der Schritt für Schritt abläuft, jedoch in einem komplexen Verhältnis zur Form der Karte steht. Das algorithmische Verfahren kann an dieser Stelle nur in seinen wesentlichen Schritten und sehr vereinfacht skizziert werden. Jede Visualisierung von Texten muss in einem ersten Schritt die Texte in numerische Daten verwandeln, die als Grundlage für die weiteren Berechnungen dienen. Skupin benutzt eine bibliometrische Methode zur Auswertung von Texten: Die Menge der von den Autoren angegebenen Schlagworte wurde zur Grundlage für eine Indexierung genommen.22 Abstrakt gesehen werden die Texte dadurch entsprechend der in ihnen vorfindlichen Schlagworte als Punkte in dem hochdimensionalen Raum lokalisiert, der durch die Schlagworte aufgespannt wird und genauso viele Dimensionen hat, wie es Schlagworte gibt. Auch wenn Texte mit einem ähnlichen Vorkommen an Schlagwörtern dabei relativ nahe zueinander zu liegen kommen, hat diese räumliche Repräsentation der Texte mit einer Karte indes noch kaum etwas gemein. Um ein Kartenbild darzustellen, muss die hochdimensionale Punktemenge in einem nächsten Schritt auf die zwei Dimensionen des Papiers oder eines Displays gebracht werden, wobei die Lage der Punkte zueinander möglichst weitgehend erhalten bleiben sollte. Da die Punktemenge der Abstracts aber eine hohe Dimension hat und zudem irregulärer im Raum verteilt sein dürfte als Punkte auf einer Kugeloberfläche, kommen geometrische Projektionen dafür nicht in Frage. Skupin setzt stattdessen einen sehr allgemeinen und komplexen Algorithmus ein, der von Teuvo Kohonen entwickelt wurde.23 Dieser Algorithmus soll in der Künstlichen Intelligenz einen unüberwachten Lernprozess simulieren, indem ein zweidimensionales, so genanntes neuronales Netz daraufhin trainiert wird, eine möglichst getreue Repräsentation der hochdimensionalen Ausgangsdaten darzustellen, ohne dass ein Ergebnis im vorhinein gegeben wäre und in Form eines Feedbacks in den Prozess eingespeist würde. Das wiederholte Training des Netzes konver- 21 Siehe dazu auch den programmatischen Artikel André Skupin: From Metaphor to Method: Cartographic Perspectives on Information Visualization. In: S. F. Roth, D. A. Keim (Hg.): Proceedings IEEE Symposium on Information Visualization (InfoVis2000), 9–10 October, 2000, Salt Lake City, Utah, Los Alamitos et al., 2000, S. 91–97. Siehe zudem zur Übersicht möglicher interdisziplinärer Schnittpunkte André Skupin und Sara Irina Fabrikant: Spatialization Methods: A Cartographic Research Agenda for Non-geographic Information Visualization. In: Cartography and Geographic Information Science 30 (2003), S. 95–115. 22 Siehe für die Details dieser Indexierung Skupin 2002 (wie Anm. 18), S. 51. 23 Siehe Teuvo Kohonen: Self-Organizing Maps, Berlin, Heidelberg 1995, insbesondere S. 77– 130 sowie einleitend André Skupin und Pragya Agarwal: Introduction: What is a Self-Organizing Map?. In: dies. (Hg.): Self-Organising Maps: Applications in Information Science, Chichester et al. 2008, S. 1–20; hier S. 2–14. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 77 giert ohne jeden externen Eingriff und hat eine zweidimensionale Repräsentation der Ausgangsdaten zum Ergebnis, da jeder Text schließlich einem so genannten Neuron zugeordnet ist. Ein solches zweidimensionales Resultat von Kohonens Algorithmus scheint einer Karte näher als die Ausgangsdaten und wird meist auch als mehr oder minder abstrakte Karte dargestellt. Dennoch sollte nicht vernachlässigt werden, dass eine solche, auch so genannte Kohonen map wenig mit einer Karte im konventionellen Sinne zu tun hat. Geografische Karten entstehen durch eine geometrische Projektion, durch die die Kugeloberfläche eins zu eins auf die ebene Fläche abgebildet wird. Die grafischen Konstellationen im Bild sind daher recht eng verknüpft mit den Relationen im geografischen Datenmaterial und den Verhältnissen auf der Erdoberfläche.24 Dagegen wird durch den Algorithmus Kohonens zunächst jeder Text einem Neuron zugeordnet, dem eine umgrenzte Fläche, aber kein Punkt entspricht. Die Lokalisierung bleibt somit unscharf, weshalb sich Skupin damit behilft, dem Text innerhalb der Fläche eine zufällige Position zuzuweisen.25 Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass kartografische Projektionen Kugelfläche und Kartenbild in einem Schritt aufeinander abbilden, während sich die zweidimensionale Kohonen map durch die Konvergenz eines iterativen Prozesses ergibt und deshalb terminologisch präziser auch self organizing map genannt wird. In der Konsequenz ist das Verhältnis zwischen den darstellenden Konstellationen im Bild und den dargestellten Bezügen schwerer zu fassen. Skupins Visualisierung sieht eher wie eine Karte aus, als dass sie wie eine Karte entstünde. Die Bezeichnung ›Karte‹ begründet sich daher im Hinblick auf die Konvention der Darstellung und nicht in deren Herstellungsweise. Sie stellt eine der ›visual metaphors‹ dar, deren sich Visualisierungen von Informationen des Öfteren bedienen, um abstrakte Daten unterschiedlichsten Charakters informativ ins Bild zu setzen.26 Wie Skupin in jüngeren Arbeiten zeigt, stehen die Eigenschaften von Kohonens Algorithmus jedoch in einer spezifischen Spannung zur konventionellen Darstellung von Karten. Die self organizing map einer hochdimensionalen Punktemenge erhält in der zweidimensionalen Repräsentation nicht – wie andere Algorithmen – in erster Linie die Distanzen zwischen den Punkten. Vielmehr gibt sie eher die topologische Struktur wieder und nutzt dazu die vorgegebene Fläche nahezu gänzlich, was erhebliche Verzerrungen der räumlichen Distanzen zur Folge 24 Siehe Skupin, Fabrikant 2003 (wie Anm. 21), S. 97–101. 25 Siehe Skupin 2002 (wie Anm. 18), S. 53. 26 Siehe für einen Überblick zur ›map metaphor‹ zum Beispiel Skupin 2000 (wie Anm. 21), S. 91. Zahlreiche, eher einfache Beispiele finden sich bei Edward R. Tufte: The Visual Display of Quantitative Information, Cheshire 22001, S. 16–26 sowie bei Jacques Bertin: Graphische Semiologie. Diagramme Netze Karten, Berlin, New York 1974, S. 364–385. 78 A RNO S CHUBBACH hat.27 Diese Eigenschaft steht aber in Kontrast zur gewohnten Darstellung von Karten. Sobald Punkte in einer Karte lokalisiert werden, sind deren Beziehungen gerade durch die Distanzen im flächigen Kartenbild augenfällig gegeben: Lokalisierte Punkte sind notwendigerweise einander nah oder fern und stehen schon durch ihre Entfernung miteinander in Beziehung. Skupin zitiert selbst das »first law of geography«, das der Geograf und Kartograf Waldo R. Tobler in einem Text von 1970 wie folgt formuliert hat: »everything is related to everything else, but near things are more related than distant things.«28 Durch die Darstellung der Punkte in der Form einer Karte entstehen folglich nicht nur Beziehungen, die weder durch die Punktemenge noch in den Texten oder ihrer Verschlagwortung ohne weiteres gegeben sind. Die Karte bringt auf der grafischen Ebene zudem Beziehungen hervor, die wegen der Eigenschaften einer self organizing map kaum als Verhältnisse im Dargestellten betrachtet werden können. Doch die ›visuelle Metapher‹ der Karte legt das Gegenteil nah. Die Kartendarstellung wird nämlich nicht zuletzt deshalb benutzt, weil wir gewohnt sind, mit Karten umzugehen,29 so dass es ebenso gewollt wie unvermeidlich scheint, dass wir im Kartenbild trotz allem dargestellte Distanzen erblicken. Sie erweist sich damit als entscheidend für die konkrete Form des eröffneten visuellen Bezugs auf die dargestellten Verhältnisse. Die grafische Darstellung und die algorithmische Berechnung arbeiten in dieser Karte der Geografie somit einander entgegen, mag dieser Widerstreit zwischen Darstellung und Herstellung zunächst auch nicht sichtbar werden. Die Form der Karte motiviert darüber hinaus weitere Elemente von Skupins Visualisierung. In Anlehnung an die politische Ordnung der Geografie in Form von Ländern und Regionen werden auf der Grundlage der bisherigen Ergebnisse Gruppen beziehungsweise so genannte cluster von Texten berechnet, die ein ähnliches Vorkommen von Schlagwörtern aufweisen (siehe Abb. 4).30 Skupin diskutiert die Ergebnisse unterschiedlicher Algorithmen und Parametrisierungen, um letztlich in der Karte Grenzen zu ziehen und damit weitere Beziehungen in das Bild einzuschreiben. Mit dieser Grenzziehung verlieren die Relationen in der Fläche ihre Homogenität. Der kontinuierlichen Distanz zwischen den Texten wird eine zweite, diskrete Ordnung der Zugehörigkeit zu einem begrenzten Territorium überlagert. 27 Ausgehend vom Problem der kartografischen Projektion zeigt dies Skupin, indem er eine Weltkarte durch den Kohonen Algorithmus in eine self-organizing map transformiert, die zuallererst die – erheblichen – Verzerrungen durch den Algorithmus darstellt. Siehe André Skupin: A Novel Map Projection Using an Artificial Neutral Network. In: Proceedings of 21st International Cartographic Conference, Durban, South Africa, August 10–16, 2003, S. 1165–1172 (verfügbar auf der Homepage des Autors). 28 Siehe Skupin 2000 (wie Anm. 21), S. 92 und W. R. Tobler: A Computer Movie Simulating Urban Growth in the Detroit Region. In: Economic Geography 46 (1970), Supplement, S. 234–240; hier S. 236. 29 Siehe Skupin 2002 (wie Anm. 18), S. 50 und 58. 30 Siehe ebd., S. 53–55. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 79 Abb. 4: Detail aus Abbildung 3. Da das clustering hierarchisch ist und die cluster bis in eine bestimmte Tiefe nochmals unterteilt sind, wird zugleich eine Art diskreter Distanz eingeführt: Um diese Distanz zwischen zwei Texten zu bestimmen, geht man vom ersten Text zum nächsten größeren cluster hinauf, der beide Texte enthält, und steigt bis zur niedrigsten Ebene zum zweiten Text wieder hinab. Die ganzzahlige Länge des Wegs entspricht der baumartigen Struktur der ineinander geschachtelten Gruppen und Untergruppen sowie der inhärenten Unterteilung des ebenen Kartenbilds. Sie kann als diskrete Bestimmung von Distanz verstanden werden und überlagert sich der kontinuierlichen Ferne oder Nähe in der Fläche. Diese Überlagerung ist in der Visualisierung von Texten anders beschaffen als bei der üblichen geografischen Karte mit ihren Nationalstaaten. In diesem Fall wird der Geografie im Grunde nämlich eine zweite politische Ordnung schlicht überblendet, ohne irgendwelche Interferenzen oder Konflikte zur Folge zu haben: Dass ein Dorf einen genauen Ort und geografische Beziehungen zu anderen Dörfern hat, wird in keiner Weise davon tangiert, welchen politischen Körperschaften die Ortschaften angehören. Auf ähnlich unproblematische Weise können vielerlei Daten in thematischen Karten dargestellt werden, sofern diese Daten auf einen geografischen Ort bezogen werden können. Im Falle von Skupins Visualisierung ist die Sachlage komplizierter, weil hier nicht einfach eine zweite Ordnung ins Spiel kommt. Vielmehr ist es ein und derselbe Raum von Texten, der zweimal gegliedert wird, so dass unter Umständen verschiedene, miteinander konfligierende Beziehungen entstehen. Zwei Texte können beispielsweise nahe beieinander liegen, aber zugleich unterschiedlichen clustern angehören. Ist einer der beiden Texte nun enger verwandt mit einem anderen Text, der zwar in größerer Entfernung zu liegen kam, aber demselben cluster angehört? Die Überlagerung zweier 80 A RNO S CHUBBACH Ordnungen in einem Raum schafft hier Interferenzen und Zweideutigkeiten, die letztlich die Frage zuspitzen, in welcher Weise die möglicherweise interferierenden Beziehungen im Bild überhaupt auf die darzustellenden Beziehungen zwischen den Texten bezogen werden können. Ein genauerer Blick auf Skupins Karte zeigt folglich, dass der zunächst vertraut wirkende Umgang mit der Bildfläche innere Konflikte zeitigt, die im Hinblick auf die Funktion der Darstellung in zweierlei, miteinander verschränkten Dimensionen als maßlos begriffen werden können: Wegen der iterativen Berechnung der Lokalisierung der Punkte, aber auch aufgrund der vielen Möglichkeiten eines clustering ist zum einen der Übergang von den Daten zum Bild und den darstellenden Konstellationen fraglich; zum anderen ist aber auch im Hinblick auf die im Bild entstehenden und unter Umständen konfligierenden Beziehungen unklar, wie überhaupt der im Visuellen eröffnete Bezug auf das Dargestellte eindeutig zu bestimmen sein soll. Im Übergang von den Daten zur Darstellung, aber auch ausgehend von der Darstellung und mit Hinblick auf das Dargestellte scheint das Bild insofern maßlos, als die Übergänge ungesichert sind und kein Maß etwaige Abweichungen abzuschätzen hilft. Diese Maßlosigkeit beruht nicht allein in der Gestalt der Visualisierung, die durchaus nicht maßlos ist, sieht man einmal davon ab, dass sie wie jede Karte in der Übersicht überladen wirkt. Die Maßlosigkeit hat ihren Ort im Scharnier zwischen Herstellung und Gestaltung, zwischen Sichtbarmachung und Sichtbarkeit des Bildes. Die Komplexität von Skupins Visualisierung zeigt sich noch deutlicher, wenn man einen weiteren Schritt ihrer Entstehung verfolgt. Aus den charakteristischen Wortprofilen der Texte wurden Schlagworte berechnet, um die cluster und ihre Untergliederungen zu beschriften. Während geografische Karten Länder benennen und damit die territorialen Einteilungen nochmals bestätigen, erweist sich die Beschriftung von Skupins Karte der Welt der Geografie als recht zwiespältig, weil die errechneten Schlagwörter einander widerstrebenden Anforderungen genügen müssen: Sie sollten zugleich hinreichend unscharf sein, um innere Gemeinsamkeiten zu erhalten, und genügend scharf, um Differenzen zu den benachbarten Gebieten zu markieren.31 Eine genauere Betrachtung der Beschriftungen führt diese Schwierigkeit vor Augen: Es fällt sofort auf, dass die Bezeichnungen wiederholt, ja häufig vorkommen, auf den verschiedenen Ebenen der Hierarchie ebenso wie auf unterschiedlichen Seiten der Grenzen (siehe Abb. 5). Skupin selbst weist auf diese auffälligen Wiederholungen hin, die er durch die bereits angerissene Überlagerung der kontinuierlichen self organizing map und der diskreten Teilung des hierarchischen clusterings erklärt.32 Die angewandten Algorithmen geraten in 31 Dieser Grenzgang schlägt sich in einer Formel mit heuristischen Gewichtungen nieder, die letztlich rein pragmatischen Charakters ist. Siehe Skupin 2002 (wie Anm. 18), S. 55. 32 »For example, notice the appearance of similar labels near the peripheries of neighboring clusters [...], indicative of the tension between a strict partitioning mechanism and the continuous nature of the self-organizing map.« Skupin 2004 (wie Anm. 18), S. 5276. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 81 Abb.5: Detail aus Abbildung 3. Konflikt miteinander – und in diesem Fall kommt der Konflikt im Bild zum Ausdruck. Dadurch gibt die Karte aber einen sichtbaren Anlass dazu, die grafische Suggestion der räumlichen Trennung und eindeutigen Zuordnung von Texten in Frage zu stellen, also eine Annahme zu bezweifeln, die für eine Visualisierung von Texten, Themen und Begriffen alles andere als selbstverständlich scheint. Die ›visuelle Metapher‹ der Karte gerät in Konflikt mit der Herstellung, so dass der visuelle Bezug der Darstellung sichtbar fragwürdig wird. Skupin versucht in jüngeren Arbeiten dieses Problem der inkohärenten Beschriftungen wiederum mit kartografischen Mitteln in den Griff zu bekommen. Er lässt zusätzlich die interne thematische Kohärenz der cluster berechnen und visualisiert sie als topografische Struktur: Hohe Kohärenzen bilden Berge, mangelnde Kohärenzen dagegen Täler und Seen.33 Auf diese Weise stellt die Karte nun auch die lokale Inkohärenz oder Kohärenz der Regionen dar. Durch diese figurative Darstellung sollen die der Visualisierung inhärenten Spannungen und Konflikte eingeholt werden. Sie sind indes in der Herstellung und Darstellung dieser Sichtbarmachung angelegt und schreiben sich in das Bild sichtbar ein. Sie durchziehen den Bildraum und lassen ihn problematisch erscheinen. In der Konsequenz konfligieren die grafischen Beziehungen im Bild, und ihre sichtbare Ordnung widerstreitet sich selbst, so dass der visuelle Bezug auf die dargestellten Verhältnisse ungewiss ist. Indem Inkohärenzen auf Orte im Raum beschränkt und figurativ dargestellt werden, wird die Maßlosigkeit dieser Visualisierung, die auf den ersten Blick so gar nicht ins Auge fallen mag, nur scheinbar gebändigt. 33 Siehe ebd., S. 5277 sowie Skupin, Fabrikant 2003 (wie Anm. 21), S. 110 –111. 82 A RNO S CHUBBACH Folgerungen Die Annahme, dass Bilder, die etwas darstellen sollen, kaum maßlos sein können, dürfte weit verbreitet sein. Und tatsächlich stößt insbesondere bei wissenschaftlichen Visualisierungen der erste Blick kaum auf etwas Maßloses. Diese Auffassung setzt allerdings voraus, dass das Bild schlicht dasjenige ist, was ich vor mir sehe. Es scheint, als wäre dem wenig entgegenzusetzen. Jedoch spielt die Entstehung des Bildes in den Sinn und die Wahrnehmung des Bildes hinein, so dass der Ort des Bildes und seiner Maßlosigkeit komplexer gefasst werden muss. Insbesondere bei darstellenden Bildern sind die Mittel der Sichtbarmachung zentral, weil sie allein den Bezug auf das Dargestellte absichern könnten. Sie stoßen in der Darstellung allerdings auf ein kritisches Moment, da Bezüge verloren gehen können und je nach grafischer Form zugleich neue Beziehungen geschaffen werden. Ausgehend vom resultierenden Bild ist der Bezug auf den dargestellten Gegenstand deshalb insofern ein visueller Bezug, als er stets von den Konstellationen im Bild ausgeht, also sowohl in der Herstellung als auch in der Darstellung, in der Sichtbarmachung wie in der Sichtbarkeit des Bildes gründet. Eine Charakterisierung der Sichtbarmachung, die die Sichtbarkeit des Bildes einschließt, kann daher die Darstellung im Hinblick auf das Dargestellte durchaus als maßlos begreifen.34 Diese Maßlosigkeit hat ihren Ort aber nicht allein im sichtbaren Bild, sondern auch in dessen Herstellung. Anhand von Skupins Visualisierung hat sich darüber hinaus eine spezifischere und komplexere Maßlosigkeit gezeigt. In dieser Karte überlagern sich verschiedene Ordnungen des Raumes und seiner inhärenten Beziehungen. Es ergeben sich sichtbar Konflikte, die das Verhältnis der darstellenden grafischen Konstellationen zu den darzustellenden Strukturen fragwürdig werden lassen und damit den visuellen Bezug der Darstellung auf das Dargestellte im Sichtbaren selbst aushöhlen. Ähnliche Phänomene sind der Kunstwissenschaft aus der Geschichte der Perspektivkonstruktion bekannt. Auch die Zentralperspektive charakterisiert sich durch ein Verhältnis von dargestellten und darstellenden Relationen, das insofern maßlos zu nennen ist, als es keinen gesicherten wechselseitigen Übergang gibt. Sie soll zwar zum einen Relationen in einer dreidimensionalen Welt derart ins Bild setzen, dass der Betrachter den Eindruck hat, in einen Raum zu schauen, der sich in Kontinuität zur visuellen Wahrnehmung seiner Umwelt befände. Zugleich kann die Perspektive jedoch wie die kartografische Projektion prinzipiell nicht alle Relationen im Raum bewahren, weshalb Positionen von Gegenständen oder Personen unter Umständen nicht mehr genau zu bestimmen sind. Was in dieser Formulierung einen Verlust an Information anklingen lässt oder im Falle der Karte eine 34 In einer solchen Maßlosigkeit wäre ein zentrales methodisches Problem der Informationsvisualisierung zu sehen, da die Entsprechung der im Bild sichtbaren Strukturen zu den sichtbar zu machenden Strukturen der Daten nicht ihrerseits gemessen und damit jedenfalls im technischen Sinne nicht gewährleistet werden kann. D IE M ASSLOSE D ARSTELLUNG VON B ILDERN 83 mögliche Täuschung mit sich bringen mag, birgt durchaus ein eigenes bildliches und darstellerisches Potential, wie die kunstgeschichtliche Diskussion der Perspektive gezeigt hat. Die Zentralprojektion lässt zum anderen nämlich Beziehungen im flächigen Bild entstehen, die sich für Momente von der Darstellung lösen und selbst in den Vordergrund treten können. Dadurch gerät die darstellende Funktion des Bildes in unauflöslichen Widerstreit mit dessen eigener Sichtbarkeit. Dieser reflexive Grundzug des Bildes kann zum Gegenstand der künstlerischen Gestaltung werden. Wie sich exemplarisch an Masaccios Trinitätsfresko zeigen lässt, kann durch die geschickte Wahl eines Standpunkts und entsprechende Unklarheiten über die Platzierungen von Personen und Gegenständen etwas ›dargestellt‹ werden, das seinen Ort nicht im dreidimensionalen Raum hat.35 Die Kunst befolgt in einer solchen Komposition die Perspektivkonstruktion und wendet sie zugleich gegen sich selbst, um zeigen zu können, was kein gemeinsames Maß hat mit dem dargestellten Raum und dem Raum des Betrachters, die scheinbar kontinuierlich ineinander übergehen. Der visuelle Bezug des Bildes, der zunächst durch die ebenso kunstvolle wie strenge Wendung der Perspektive auf ein Unbestimmtes hin geöffnet wurde, wird dadurch im selben Moment auf Transzendentes umgelenkt und in eine höhere Darstellung überführt. Was künstlerisch genutzt wird, kann sich aber auch unwillkürlich einstellen. Skupins Karte der Geografie führt vor Augen, wie sich in der Überlagerung verschiedener Ordnungen der Bildfläche kaum auflösbare Konflikte zwischen Sichtbarmachung und Sichtbarkeit zeigen. Ungewollt lässt sie deutlich werden, wie die im Bild sichtbaren darstellenden Konstellationen in Widerstreit geraten zur Darstellung derjenigen Relationen, die sichtbar gemacht werden sollten. In diesem Moment hat die Darstellung kein Maß mehr gemein mit dem Dargestellten, das den visuellen Bezug zum Gegenstand kontrollieren könnte. Diese Maßlosigkeit hat ihren Ort folglich zwischen der Sichtbarmachung und der Sichtbarkeit des Bildes. Anders gesagt verdankt sie sich dem doppelten Sinn der Darstellung von Bildern, die nur etwas darstellen, wenn sie selbst hergestellt oder dargestellt werden.36 Diese beiden Seiten des Darstellens sind in einem komplexen Prozess untrennbar aufeinander bezogen und interferieren unvermeidbar miteinander, wobei sich der resultierende maßlose Charakter der Darstellung im Bild nicht aufdrängen muss, aber doch zeigen kann. Eine Ästhetik, die diese Maßlosigkeit einfangen wollte, dürfte sich deshalb nicht mit dem sichtbaren Bild begnügen. Sie müsste auch des- 35 Siehe stellvertretend Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001, S. 34–37 sowie zur »Inkommensurabilität« des Dargestellten Johannes Grave: Brunelleschi’s Perspective Panels. Rupture and Continuity in the History of the Image. In: Harry Schnitker, Pierre Péporte, Alexander C. Lee (Hg.): Renaissance? Perceptions of Continuity and Discontinuity in Europe, Leiden 2009 (im Druck). 36 Siehe dazu auch Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt am Main 2006, S. 127–128. 84 A RNO S CHUBBACH sen Herstellungsweise einbeziehen, ohne allerdings den Begriff des Ästhetischen darauf zu reduzieren, dass Bilder hergestellt und daher auch gestaltet sind.37 Vielmehr muss eine Ästhetik am bildlichen Erscheinen festhalten, dabei allerdings die Herstellung des Bildes und im Falle von Darstellungen die Prozesse der Sichtbarmachung einbeziehen. Eine Ästhetik des Bildes wird es deshalb nicht nur mit den Bedingungen unserer Wahrnehmung, sondern auch mit den Bedingungen des Bildlichen und ihren spezifischen Unterschieden zu tun haben. 37 Nach dieser eher oberflächlichen Auffassung hätte das Bild eine ästhetische Dimension, weil die Herstellung ästhetische Entscheidungen wie die Farbwahl und ähnliches impliziert, seien sie nun bewusst getroffen oder durch technische Gegebenheiten nahe gelegt oder schon gefallen. Ausgehend von der Frage nach der Maßlosigkeit wird deutlich, dass der Begriff des Ästhetischen auch keineswegs hinauslaufen muss auf »the very fabric of realism: the work of composing visible coherences, discriminating differences, consolidating entities, and establishing evident relations«, wie es einst Lynch und Edgerton 1988 (wie Anm. 6), S. 212 vorgeschlagen haben. B EGRENZT / UNBEGRENZT 6 Das potenzielle photographische Bild S TEFFEN S IEGEL In den medientheoretischen Debatten um die Referenzialität der Photographie stand vorderhand das im Bild Sichtbare als ein »Bruchstück der Wirklichkeit« im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die hierbei gestellten Fragen nach den Optionen von Einschluss und Ausschluss, von Detail und Ganzem lassen sich, wie in diesem Artikel gezeigt werden soll, jedoch nur dann sinnvoll diskutieren, wenn als dritte Kategorie Bildtechniken des visuellen Anschlusses in den Blick genommen werden. Denn von entscheidender Bedeutung für eine Ästhetik des photographischen Bildes ist sein Jenseits, das durch Rahmen und Ränder nicht abgeschnitten, sondern potenziell sichtbar gehalten wird. Anhand jüngerer photographischer Arbeiten der Künstler David Hockney, Jan Wenzel und Peter Hendricks wird dieses latente Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Präsenz und Absenz betrachtet und als eine Ästhetik potenzieller photographischer Bildlichkeit näher bestimmt. Für Julia Staffel, nicht nur, aber auch wegen des Pearblossom Highway. I Photographien besitzen ein besonderes Verhältnis zu der sie umgebenden Wirklichkeit. Diese These gehört zum basalen Repertoire der Theoriegeschichte des photographischen Bildes und ist bereits in jenen Jahren erstmals formuliert worden, als diese Technik selbst gerade eben erst erfunden worden war. Denn bereits William Henry Fox Talbot dachte in seinem Pencil of Nature nicht allein über die verblüffende Präzision der neuen Darstellungsmöglichkeiten nach; vielmehr verband er mit der Photographie »eine neue Art von Beweis, wenn die stumme Zeugenschaft des Bildes vor Gericht«1 etwa gegen einen hypothetischen Dieb der von Talbot photographierten wertvollen Porzellan- und Glaswaren aussagen würde. Das photographische Bild, heißt dies, kann den Beweis für eine Existenz führen, 1 William Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur [1844–1846]. In: Wilfried Wiegand (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt am Main 1981, S. 45–89; hier S. 62. 88 S TEFFEN S IEGEL die außerhalb von ihm liegt. Es ist diese Idee einer spezifischen ›Zeugenschaft des Bildes‹ (›testimony of the picture‹), die für jedes weitere Nachdenken über den juridischen, den ethischen und insbesondere den ontologischen Status des photographischen Bildes eine der leitenden Metaphern bleiben wird.2 Doch selbst wenn Michelangelo Antonioni in geradezu emblematischer Weise mit seinem Film Blow Up unterstrichen hat, wie flüchtig, unzuverlässig und prekär das Verhältnis zwischen photographischem Bild und Wirklichkeit bei – ganz wörtlich verstanden – näherem Hinsehen ist, so wird, selbst im Kontext eines Nachdenkens über postmoderne Konzeptkunst, die Verpflichtung der Photographie auf eine Abbildfunktion noch immer mit ihrer besonderen »physischen Natur«3 begründet. Der Akzent dieser Fragestellung nach dem besonderen Wirklichkeitsbezug des photographischen Bildes lässt sich indes auch anders setzen. Denn abseits des – ohnehin voraussetzungsreichen – Begriffs ›Wirklichkeit‹ ist es die an das photographische Bild gerichtete Idee einer ›Bezugnahme‹, die nähere Betrachtung verdient. In welcher Weise sich Photographien mit dem auf ihnen Gezeigten überhaupt auf etwas beziehen, das ist weit weniger selbstverständlich, als die kurrente Formel ›Ça a été‹ glauben machen will. Es steht nicht allein in Frage, was dieses ›ça‹, von dem Roland Barthes so emphatisch schrieb, eigentlich ist, sondern auch, wie es durch das im Bild Sichtbare überhaupt erreicht werden kann. Bereits früh wurde mit der Rede vom »Silberspiegel«4 jedenfalls ein Leitmotiv photographischer Referenzialität intoniert, das, wie es scheint, unter den sich verändernden technischen Bedingungen des Mediums einzig umformuliert, jedoch nie grundsätzlich in Frage gestellt werden musste. Vollends zu seinem Recht scheint der von Barthes gewählte Indikativ (›a été‹) aber spätestens dann zu kommen, wenn der Wirklichkeitsbezug des Bildes nicht allein als eine Referenz, sondern vielmehr als Präsenz gedacht wird, die sich im Bild einnistet. Selbst wenn dieses in der Tat höchst »untote Paradigma«5 der Indexikalität längst und mit mehr als einem guten 2 Bernd Stiegler: Zeuge. In: ders.: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt am Main 2006, S. 264–268. 3 Jeff Wall: Zeichen der Indifferenz: Aspekte der Photographie in der, oder als, Konzeptkunst [1995]. In: ders.: Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews, hg. von Gregor Stemmrich, Amsterdam, Dresden 1997, S. 375–434; hier S. 377. 4 Stiegler 2006 (wie Anm. 2), S. 201–203. Siehe hierzu insbesondere aber auch Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, [Paris 1990], übers. von Dieter Hornig, Amsterdam, Dresden 1998, S. 31–40. In vergleichbarer Weise betont überdies die ältere, schon für die (Bildnis-)Malerei kurrente Formel ›Nach dem Leben‹ diesen Aspekt der Referenzialität. Mit Blick auf die Photographie siehe hierzu Wolfgang Brückle: Nach dem Leben. In: Ute Eskildsen (Hg.): Ein Bilderbuch. Fotografische Sammlung im Museum Folkwang, Göttingen 2003, S. 11–17. 5 Peter Geimer: Das Bild als Spur. Mutmaßungen über ein untotes Paradigma. In: Sybille Krämer, Werner Kogge, Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 95–120. Siehe außerdem Dubois 1998 (wie Anm. 4), S. 49–57. Stiegler 2006 (wie Anm. 2), S. 216–219. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 89 Grund nachdrücklich kritisiert worden ist, die mit seiner Formulierung sich abzeichnende und seit dem Pencil of Nature in vielfachen Variationen an das photographische Bild gerichtete Erwartung eines besonderen Verhältnisses zwischen Medium und Wirklichkeit kann als theoretische Modellierung einer Beziehung von Nähe und Authentizität ernst genommen werden. Gewiss kein Zufall ist es daher, wenn bereits im Titel der ersten eingehenden Auseinandersetzung mit der digitalen Photographie die Frage der Wahrheitsfähigkeit dieses Mediums reformuliert worden ist und – durch die Ausrufung einer ›post-photographischen Ära‹ – als erledigt und abgeschlossen angesehen wurde.6 Tatsächlich scheint es einer Rhetorik des Neuen geschuldet, dass der aufziehenden »digitalen Weltordnung« zugestanden wird, »unter sich die analogen Verhältnisse [zu] begraben«.7 Doch ist hierbei weniger die Frage nach der Richtigkeit einer solchen Prognose von Interesse, als vielmehr die Tatsache, dass ›Wahrheit‹ und photographische Bildlichkeit überhaupt, und sei es auch nur spekulativ, in einen so engen Zusammenhang gerückt werden. In einem kurzen Nachsatz zu seinemPencil of Nature hatte Talbot versichert, dass alle Tafeln »allein durch die Einwirkung des Lichtes hervorgerufen worden [sind], ohne irgendeine Mithilfe von Künstlerhand.«8 Dieser Satz ist gewiss auch deshalb seither so oft zitiert worden, da er einen erstaunlichen, wenn nicht sogar paradoxen Akt der Selbstverleugnung durch einen der ersten Photographen-Künstler darstellt. Gewonnen war mit der Idee des autopoietischen Bildes, für das die Photographie ein besonders prominentes Beispiel darstellen sollte,9 jedenfalls ein entscheidendes Argument für die Verpflichtung des Mediums auf die sichtbare Wirklichkeit, die sich unberührt von jeder künstlerischen Intention im photographischen Bild selbst zur Anschauung bringe. Die alte Metapher des Silberspiegels gibt mit ihrer der Katoptrik verpflichteten Semantik einen deutlichen Hinweis auf die nicht geringen, an das photographische Bild gerichteten Erwartungen. Zwar ist den hinter dieser Metapher wirksamen repräsentationstheoretischen Stilisierungen vielfach und zu Recht widersprochen worden, dennoch scheinen sich auch die ästhetischen Prämissen des Photographischen in jene »Situation des ›Gegenüber‹«10 einrücken zu lassen, von der Hans Jonas im Zusammenhang seiner Diskussion einer Phänomenologie der 6 William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge (Mass.), London 1992. 7 Andreas Müller-Pohle: Analogisieren, Digitalisieren, Projizieren. In: Silke Helmerdig, Martin Scholz (Hg.): Ein Pixel, Zwei Korn. Grundlagen analoger und digitaler Fotografien und ihre Gestaltung, Frankfurt am Main 2006, S. 98–109; hier S. 100. 8 Talbot 1844–1846 (wie Anm. 1), S. 89. 9 Und zwar seit der Pionierzeit des Photographischen. Siehe hierfür Kelley Wilder: William Henry Fox Talbot und »the Picture which makes ITSELF«. In: Friedrich Weltzien (Hg.): von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 189– 197. 10 Hans Jonas: Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne [1954]. In: Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 247–271; hier S. 268. 90 S TEFFEN S IEGEL Sinne sprach. »Das Sehen«, so kennzeichnete Jonas den für die Wahrnehmung des photographischen Bildes gewiss wesentlichsten Sinn, »enthält in jedem gegebenen Augenblick eine unendliche Mannigfaltigkeit zugleich, und seine eigenen qualitativen Bedingungen öffnen den Weg in das, was jenseits liegt. Die Entfaltung des Raums vor dem Auge, unter dem Zauber des Lichts, trägt in sich den Keim der Unendlichkeit – als einen Aspekt des Sinnlichen selbst.«11 Dieser »Keim der Unendlichkeit« ist es, der als ein bedeutsames Potenzial nicht allein des Sehens im Allgemeinen ausgemacht werden kann, sondern auch des Sehens unter den spezifischen medialen Bedingungen des photographischen Bildes. Denn für die Wahrnehmung der Photographie ist nicht allein jenes wesentlich, was sich im Bild als Sichtbares konstituiert, sondern stets zugleich der hierin angelegte Verweis auf jenes, »was jenseits liegt«. Die Bedeutung eines solchen Moments der Entgrenzung auf ein potenzielles ›Jenseits‹ hat Jonas mit Bezug auf eine Phänomenologie des Sehens näher gekennzeichnet: »Dies indefinite ›Undsoweiter‹, mit dem die visuelle Wahrnehmung durchtränkt ist, ein stets bereites Potential für Aktualisierung, und besonders das ›Undsoweiter‹ in die Tiefe des Raums, ist der Geburtsort der Idee von Unendlichkeit, für die kein anderer Sinn die empirische Basis liefern könnte.«12 Im photographischen Bild ereignet sich dieses Zusammenspiel von Aktualität und Potenzialität unter medienästhetischen Bedingungen. Gewiss liegt einer der stärksten Gründe für die anhaltende Diskussion um die Wahrheitsfähigkeit des Photographischen in diesem engen Anschluss des Mediums an das von Jonas formulierte »indefinite ›Undsoweiter‹« visueller Wahrnehmung. Eine Identifikation von Sichtbarkeit im photographischen Bild und ihm vorgängiger Wirklichkeit – wie sie etwa in Barthes’ Formel ›Ça a été‹ anklingt – wird jedoch stets zu kurz greifen müssen. Denn eine Photographie, die tatsächlich den »Keim der Unendlichkeit« in sich tragen soll, kann dies stets allein unter den Bedingungen ihrer spezifischen medialen Faktur leisten. Wahrnehmung von Unendlichkeit bleibt im photographischen Bild grundsätzlich an Fragen einer Poetik dieses Bildes gebunden. Anhand von drei verschiedenen künstlerischen Experimenten mit dem potenziellen photographischen Bild soll eine solche Poetik näher betrachtet werden. II Noch vor Zeichnung, Druckgraphik und Malerei, die allesamt bedeutenden Raum in David Hockneys künstlerischem Werk einnehmen, ist es die Photographie, die zum wesentlichen Gegenstand von Hockneys Auseinandersetzung um die Darstellungsmöglichkeiten des Bildes geworden ist. Die Rede vom ›Bruchstück der Wirklichkeit‹ gewinnt in diesen fortgesetzten Dekonstruktionen der visuellen 11 Ebd., S. 269–270. (Hervorhebung im Original.) 12 Ebd., S. 269. (Hervorhebung im Original.) DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 91 Wahrnehmung und ihrer bildmedialen Repräsentation in reizvoller Weise ihren Sinn. Denn wenn in Hockneys photographischen Arbeiten der Akt des Sehens konsequent auf die Probe gestellt werden soll, so ist das wesentliche Mittel dieser Experimente eine sich bereits auf der Bildoberfläche überdeutlich abzeichnende Ästhetik der Fragmentierung. Der Riss zwischen Bild und Wirklichkeit wird bei Hockney in das Bild selbst hineinverlegt. Anhand der großformatigen Photocollage »Pearblossom Highway« (Abb. 1) lassen sich solche Auseinandersetzungen mit der ästhetischen Grenze exemplarisch beobachten.13 Bereits einem flüchtigen Blick wird der brüchige Charakter der Bildoberfläche auffallen; erst recht aber begünstigt das große Format dieses Bildes eine genaue Untersuchung seiner Faktur. Hockneys Schilderung des kalifornischen Hinterlandes ist das Ergebnis einer Collage aus mehreren hundert Einzelphotographien, die zu einem umfassenden Tableau des Pearblossom Highway ausgelegt worden sind. Insbesondere im oberen Bilddrittel, das einen wolkenlosen Himmel zeigt, gibt sich dieses Verfahren visueller Addition ohne weiteres zu erkennen: Einem unregelmäßigen Schuppenkleid gleich sind hier Dutzende kleinformatige, beinahe monochrome Photographien an- und übereinander geschoben, so dass sich ein irisierender Wechsel zwischen Blau- und Weißtönen ergibt. Im unteren Teil des Bildes steht dieser nervösen Überlagerung einzelner Bildfelder eine in ihrem Effekt etwas glatter erscheinende Kombinatorik entgegen. Zwar ist auch hier die Ansicht von Steppe und Straßenbelag, Palmen und Straßenschildern brüchig, dennoch ist es mühelos möglich, die in der rechten Bildhälfte konzentrierten Schriftzüge allesamt zu lesen. Hockneys Photocollage wahrt die klassischen Konventionen der Landschaftsdarstellung: Hierzu zählen die zentralperspektivische Einrichtung der Ansicht,14 die hoch im Bild liegende Horizontlinie und ein weit in die Tiefe gestaffelter Bildraum, zu denen nicht zuletzt die Straßenschilder als Repoussoirfiguren beitragen. Und insbesondere ist der Riss zwischen Bild und Wirklichkeit, das heißt der äußere, diese Photocollage im Ganzen umschließende Rahmen konventioneller Natur: Das Tableau ist zu einem gleichmäßigen Längsrechteck abgeschnitten. Das Moment der Zersplitterung wird demgegenüber an den ungenauen Anschlüssen, an den Überlappungen und Aussparungen zwischen den einzelnen Photographien, das heißt an der Oberflächenstruktur der Collage kenntlich. Als würde der Bildraum implodieren, wird das Bild durch Widersprüche auf mikrostruktureller Ebene fragmentiert. Zudem lassen Differenzen in der Tonalität der Farben auf verschiedene Lichtverhältnisse schließen, die einer Entstehungszeit von beinahe 13 Mit Recht kann sie als Höhepunkt und Abschluss von Hockneys photographischen CollageExperimenten gelten. Siehe hierzu Anne Hoy: Hockneys Fotocollagen. In: Maurice Tuchman, Stephanie Barron (Hg.): David Hockney. Eine Retrospektive, Köln 1988, S. 54–65; hier insbesondere S. 55. 14 Zur Rolle der Perspektive in Hockneys Werk siehe Didier Ottinger: Éros perspectiviste. In: ders. (Hg.): David Hockney. Espace/Paysage, Paris 1999, S. 15–28. 92 S TEFFEN S IEGEL Abb.1: David Hockney: Pearblossom Highway, 11–18th, April, 1986, #1. Photocollage, 1986. 163,8 × 119,4 cm. einer ganzen Woche geschuldet sind. So deutlich im Titel des Bildes Ort und Zeit markiert sind, so sehr verlieren sich in Hockneys Sammlung von Perspektiven und Augenblicken gerade diese Koordinaten eines klassischen Tafelbildes. Denn in der Tat geht es darum, »aus zerbrochenen Repräsentationsstücken etwas Neues zu gewinnen.«15 In einer zweiten umfänglichen photographischen Werkgruppe löst Hockney die Stringenz dieser Koordinaten von Raum und Zeit vollends auf. Nicht mehr die Zusammenfügung vieler einzelner Bilder zu einem übergreifenden Bild, sondern vielmehr die Zergliederung eines solchen umfassenden Bildes in viele einzelne Bilder scheint die leitende Idee zu sein. Als überaus sinnfällig erweist sich eine solche analytische Operation insbesondere in der Collage »The Scrabble Game« (Abb. 2), hat es doch den Anschein, als solle hier mit photographischen Mitteln nachvollzogen werden, was auch Gegenstand des Spiels ist. Den einzelnen zum Kreuzworträtsel auszulegenden Buchstaben entsprechen die einzelnen kleinformatigen Bildfelder, denen sich erst durch sinnvolle Addition eine weiter reichende Semantik abgewinnen lässt. Darüber hinaus wird anhand der Mitspieler ein Moment der zeitlichen Dehnung kenntlich: Indem die Kopräsenz verschiedener Gesichts15 Merlin Carpenter: David Hockney, 1971. In: Texte zur Kunst Nr. 67 (September 2007), S. 270 –279; hier S. 279. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 93 Abb. 2: David Hockney: The Scrabble Game, Jan. 1, 1983. Photocollage, 1983. Äußere Maße: 147,3 × 99,1 cm. ausdrücke der jeweils selben Person auf verschiedene Phasen des Spiels verweist, wird die Collage als ein Zeit-Bild lesbar.16 Zum einen betrifft dies die im Bild präsentierte Handlung, zum anderen aber auch den Akt des Sehens und damit den Betrachter. Denn als könne sich die Sichtbarkeit eines Bildes überhaupt erst durch die Blickbewegungen des Rezipienten manifestieren, gibt die vollkommen unregelmäßige äußere Form dieses Bildes nur dort etwas zu erkennen, wo zuvor der Blick des Betrachters hinreichte. Ganz wesentlich bestehen diese Collagen daher nicht allein aus einer Vielzahl einzelner Photographien, sie gewinnen ihre Struktur zugleich durch den Einsatz von blinden, keiner näheren Bestimmung unterworfenen Feldern. In Hockneys photographischen Collagen werden die rhetorischen Operationen von Pleonasmus und Ellipse kunstvoll miteinander verschränkt. Die sich in diesen Bilder ereignende Sichtbarkeit ist überreich und lückenhaft zugleich. Häufung und Verknappung sind ihnen gleichermaßen vorausgesetzt. Wenn damit jedes lineare Bildmaß gestaucht, gedehnt, gebrochen oder auch vervielfacht wird, so erinnert dies an die visuellen Strategien kubistischer Malerei und nicht zuletzt an 16 Siehe zu einer solchen Deutung auch Hoy 1988 (wie Anm. 13). Stefan Hesper: Kristalle der Zeit. Zur Anachronie der Wahrnehmung bei David Hockney und Gilles Deleuze. In: Jürgen Stöhr (Hg.): Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, S. 126–147. Clive Scott: The Spoken Image. Photography and Language, London 1999, S. 219–228. 94 S TEFFEN S IEGEL die Versuche einer kubistischen Photographie.17 Wird der blinde Fleck als Bedingung des Sehens in Bildern üblicherweise nicht selbst thematisch, so ist er hier der wesentliche Gegenstand aller Darstellungsabsicht. Gerade indem diese Bildcollagen genauso viel verbergen wie sie zugleich zeigen, entfremden sie das photographische Bild nachdrücklich von der Idee einer mimetischen Reproduktion von Wirklichkeit. Und jene Idee des prägnanten Augenblicks, wie sie in der klassischen photographischen Ästhetik formuliert worden ist, wird in Hockneys kubistischen Tableaus in eine nicht mehr auszählbare Vielzahl von Perspektiven multipliziert. Sichtbarkeit im Bild wird auf diese Weise als ein Konstrukt kenntlich, das stets an latente Unsichtbarkeit grenzt.18 Wahrnehmung lässt sich daher nicht anders als ein Prozess fortgesetzter Neuorientierung im erkennbar unebenen Bildgelände auffassen.19 Folgerichtig verlieren sich in einer Vielzahl von Hockneys photographischen Collagen die sicheren Grenzen des rahmenden Rechtecks. Jedes in diesen Tableaus präsentierte Bildelement gibt sich dem Betrachter einzig in unregelmäßig geformten, scheinbar arbiträren Zonen von Sichtbarkeit zu erkennen. Die sich hierbei abzeichnende Idee von Transgression ist einem Effekt visueller Vorläufigkeit verpflichtet, gehört doch zu den Herausforderungen an den Betrachter, diese unmittelbar benachbarten Zonen der Unsichtbarkeit imaginativ in Sichtbarkeit zu übersetzen. Schließlich lässt sich eine solche nachdrücklich ästhetische Funktionalisierung des Rahmens in Hockneys photographischem Werk aber immer dann in genau entgegengesetzter Weise beobachten, wenn an Stelle des Kleinbildfilms Polaroidfilme zum Einsatz gelangen. Die für diese photographische Technik unverzichtbaren weißen Papierstege werden, wie etwa das Portrait »Gregory, Los Angeles, 31. März 1982« (Abb. 3) demonstriert, nicht beschnitten und damit also kaschiert, sondern als ein ubiquitäres Passepartout selbst zum Teil des Bildfeldes. Das Rechteck des Bildausschnitts verliert sich hier nicht in einem unregelmäßigen Äußeren, sondern verstärkt vielmehr ostentativ die quadratische Grundform des Polaroids. Zunächst gibt jede einzelne der sechzehn Aufnahmen einen nahsichtigen Ausschnitt des nach links gewendeten Kopfes zu erkennen. Zum übergreifenden Bildquadrat ausgelegt, wird diese Collage sodann aber in doppelter Weise lesbar: als ein kubistisches Bildnis und zugleich als ein regelmäßiges Raster weißer Rahmenstege. Und gerade dieses Raster ist es, das zwischen Werk und Beiwerk, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit changierend über die Prämissen von Hockneys photographischer Komposit-Ästhetik beredte Auskunft gibt. 17 Für ein Resümee dieses schon vielfach unternommenen Vergleichs siehe Christophe Blaser, Daniel Girardin: Der kubistische Raum in Hockneys Photocollagen. In: Reinhold Mißelbeck (Hg.): David Hockney. Retrospektive Photoworks, Heidelberg [1997], S. 33–40. 18 Zu diesem Zusammenhang von Darstellung und Undarstellbarkeit siehe Gottfried Boehm: Sehen. Hermeneutische Reflexionen. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1992), S. 50–67; insbesondere S. 61– 67. 19 Siehe hierzu auch Hesper 1996 (wie Anm. 16). Alexandra Schumacher: David Hockney. Zitate als Bildstrategie, Berlin 2003, S. 97–115. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 95 Abb. 3: David Hockney: Gregory, Los Angeles, 31. März 1982. Polaroid-Collage, 1982. 33,7 × 36,8 cm. III Mit der Sichtbarkeit des Rahmens als Bild eines Rasters werden die apparativen Bedingungen des photographischen Mediums zum Gegenstand der Darstellung. Das selbstreflexive Moment, das sich hierin anzeigt, übersteigt jedoch gerade durch die Thematisierung des Rahmens als einem in das Bild hineinverlegten Element die klassische Ästhetik der Metaphotographie.20 Es ist die Latenz des Unsichtbaren, 20 Siehe hierzu Karlheinz Lüdeking: Vierzehn Beispiele fotografischer Selbstreflexion [2005]. In: ders.: Grenzen des Sichtbaren, München 2006, S. 19–38. 96 S TEFFEN S IEGEL Abb. 4: Jan Wenzel: Fahrrad. Leipzig, Hauptbahnhof. Fotofix-Collage, 1996. 21,3 × 20 cm. die sich in dieser Durchrasterung eines aus einzelnen Bildern collagierten Bildfeldes abzeichnet. Hockneys Vielfalt photographischer Verfahren macht es zuletzt jedoch unmöglich, diese mit einem umfassenden Begriff zu bezeichnen. Deutlich einfacher scheint dies demgegenüber möglich für die seit den frühen 1990er Jahren entstehenden Photo-Collagen des Leipzigers Künstlers Jan Wenzel. Eine Komposition aus zwanzig kleinen Bildfeldern wie in »Fahrrad. Leipzig, Hauptbahnhof« (Abb. 4) legt es nahe, von visueller Addition zu sprechen, die sich in ihrer Summe zu einem Bild mit einer überaus klaren, streng orthogonalen Struktur fügt. Bei genauerem Hinsehen wird sich jedoch erweisen, dass es sich bei Wenzels Bildern stets um Additionen mit außerordentlich ungleichen Größen handelt, zu denen nicht selten überdies visuelle Unbekannte treten, die zu entschlüsseln keine geringe, an den Betrachter gerichtete Aufgabe ist. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 97 Nur fünf der insgesamt zwanzig hochrechteckigen Bildfelder genügen Wenzel, um das Fahrrad abzubilden; die übrigen fünfzehn Felder hingegen geben nicht mehr als einen gleich bleibenden, warmen Hintergrundton zu erkennen, der zwischen Karminrot und Orange changiert. Wenzel selbst hat darauf hingewiesen, dass sich die von ihm photographierten Objekte und Kulissen als objets trouvés des mit den Jahren 1989/1990 untergegangenen DDR-Alltags auffassen lassen.21 Und dementsprechend handelt es sich bei diesem Fahrrad um das sichtlich desolate Modell eines MIFA-Klapprades. Bei näherer Betrachtung der Konstruktion wird jedoch deutlich, dass dieses Fahrrad nicht allein ramponiert, sondern längst vollkommen unbrauchbar geworden ist. Lenker und Sattel wurden ganz offenbar mit sauberen Schnitten vom Rahmen getrennt, und es besteht aller Grund zur Annahme, dass auch dort, wo dies nicht anhand der einzelnen Bildfelder sichtbar wird, nur noch Einzelteile auf ein ehemals intaktes Fahrrad verweisen. Zuallererst handelt es sich bei dieser Komposition aus zwanzig Bildfeldern nicht um das übergreifende Bild eines Fahrrads vor einem orange-roten Dekor, sondern um isolierte Einzelbilder monochromer Farbflächen sowie separierter Teile eines Fahrrads. Wenzels Kompositionen sind das Ergebnis eines präzise geplanten und außerordentlich aufwändig eingerichteten visuellen Spiels mit den technischen Möglichkeiten des Fotofix-Apparates, wie er sich etwa in Bahnhöfen, Behörden oder Fußgängerpassagen finden lässt.22 Und es ist die prinzipiell auf die Zahl 4 zählende Syntax dieser Sofortbilder, die sich in Wenzels Photographien nachdrücklich niederschlägt: Denn stets werden diese Bilder aus vertikal ausgerichteten Streifen von je vier Fotofix-Bildern zusammengesetzt, so dass in der horizontalen Ordnung zwischen den einzelnen Streifen zwar schmale Lücken stehen bleiben, in der vertikalen Ordnung hingegen eine lückenlose und unbeschnittene Folge von Bildfeldern sichtbar wird. Ein solcher Verweis auf die Lückenlosigkeit ist wichtig, da gerade hierdurch diese Bilder eine ganz wesentlich zeitliche Dimension erhalten: Im Unterschied zu David Hockneys einzelnen Kleinbildphotographien und Polaroids, die stets erst nachträglich zu großen Landschaftstableaus oder auch intimen Bildnissen ausgelegt worden sind, folgen Wenzels vertikale Sequenzen den apparativen Bedingungen des Fotofix-Automaten, der in einem nur nach Sekunden getakteten Rhythmus eine Gruppe von je vier Bildern produziert. Die sich in den 21 Jan Wenzel: From the Garbage into the Booth – oder: Sofortbilder eines umgestülpten Alltags. In: Klaus Kleinschmidt (Hg.): Fotofix. Jan Wenzel, Heidelberg 2005, S. 8–11. Wieder abgedruckt in Meike Kröncke, Barbara Lauterbach, Rolf F. Nohr (Hg.): Polaroid als Geste – über die Gebrauchsweisen einer fotografischen Praxis, Ostfildern-Ruit 2005, S. 74–79. 22 Zu Prinzip und Geschichte dieses photographischen Dispositivs siehe Rolf Behme: Foto-Fix. Es blitzt viermal, Dortmund 1996, insbesondere S. 7–15. Rolf Nohr: A Dime – A Minute – A Picture. Polaroid & Fotofix. In: Petra Löffler, Leander Scholz (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln 2004, S. 160–180. Roland Meyer: Aufnahmebedingungen. Versuchsanordnung Fotoautomat. In: Inge Hinterwaldner et al. (Hg.): Topologien der Bilder, München 2008, S. 99–116. 98 S TEFFEN S IEGEL Abb. 5: Jan Wenzel: Interieur XIII. Leipzig, Prager Straße. Fotofix-Collage, 1998. 16 × 21,3 cm. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 99 vertikalen Achsen abzeichnenden Differenzen müssen daher als das Ergebnis einer außerordentlich raschen (oder eben »fixen«), der unerbittlichen Folge von Belichtungen gehorchenden Verwandung des photographischen Objekts interpretiert werden.23 Wie kunstvoll sich Wenzels experimenteller Ludismus steigern lässt, wird anhand des Bildes »Interieur XIII« (Abb. 5) augenfällig: Zur Darstellung scheint hier – wie die hellen Fliesen, die farbigen Kolben, die Waage und andere Apparaturen anzeigen – ein chemisches Labor zu gelangen. Und insbesondere ist in den mittleren Feldern dieser Bilder-Komposition ein Chemiker zu erkennen, der gerade eine rote Flüssigkeit in einen Erlenmeyerkolben füllt. Jedes dieser einzelnen, ihrem eigentlichen Zweck nach nur passbildgroßen Felder ist hier Gegenstand einer intensiven Ausstattung mit Kulissen und Requisiten. Der Kasten des Automaten wird auf diese Weise von Wenzel zu einer Bühne umgedeutet, auf der sich im Halbminutentakt und in vier Akten24 je neue Szenen aufführen lassen. Sind diese einzelnen photographischen Szenen für sich genommen nur wenig oder zumeist überhaupt nicht aussagekräftig, so laden sich diese visuellen Einzelheiten in ihrer Gesamtheit zu einem kohärenten Ganzen auf. Gerade dieses Zusammenspiel führt zu einer Summe, die sich mit größerem Gewinn deuten lässt. Umso augenfälliger nimmt sich daher in diesen additiven Tableaus die Ausnahme von der Regel aus: Für den Fall des »Interieur XIII« handelt es sich um das zweite Bild in der unteren Zeile, das vollkommen unvermittelt in die semantische Logik dieses Labors einbricht und einem Fremdkörper gleich wie aus einer anderen Bildordnung aufzutauchen scheint. Anschlüsse sind in Jan Wenzels photographischen Kompositionen die wesentlichen Agenten der Bildlogik. In den Vertikalen folgen sie einer durch die Apparatur des Fotofix-Automaten definierten iterativen Ordnung. Es ist diese kaum mehr als zwei Minuten umfassende zeitliche Abfolge, die von Wenzel in eine räumliche Iteration übersetzt wird. Die horizontale Orientierung indes kann, was in den Bildern kunstvoll überspielt wird, weit größere Abstände umspannen. Soll die räumliche Logik der inszenierten Szenen gewahrt bleiben, so muss der Ausführung im Automaten eine äußerst präzise Reflexion über die später zu addierenden Elemente vorausgehen. Wenn anhand dieser Folgen von Sofort-Bildern eine Miniaturwelt zusammengesetzt werden soll, so ist ihr das Konzept eines gesamten Tableaus vorausgesetzt, das zunächst einzig imaginär existiert. Wenzels Bild-Kompositionen sind daher stets das Ergebnis einer dreifachen Fertigkeit: genaue Planung der Szenen, handwerkliche Perfektion bei der Anfertigung der Kulissen und 23 Siehe hierzu auch Klaus Kleinschmidt: Jan Wenzel – Fotofix. In: ders. (Hg.): Fotofix. Jan Wenzel, Heidelberg 2005, S. 4–5. Zu älteren künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Dispositiv der Automatenphotographie siehe Behme 1996 (wie Anm. 22), insbesondere S. 17–30. 24 Einen solchen Vergleich zog bereits Klaus Kleinschmidt.Siehe Kleinschmidt 2005(wie Anm. 23), S.5. 100 S TEFFEN S IEGEL Abb. 6: Jan Wenzel: Bastler V. Leipzig, Prager Straße. Fotofix-Collage, 1999. 16 × 21,3 cm. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 101 Requisiten und präzise Aufführung vor der Kameralinse. Alles andere als ein Zufall scheint es daher zu sein, dass eine der Serien einen Bastler in seiner Werkstatt zum Gegenstand hat. Wenn Wenzel selbst in dieser Selbstthematisierung eine Anspielung auf Claude Lévi-Strauss’ Konzept der ›bricolage‹ sieht,25 so verbindet sich mit dieser der Produktionsästhetik geltenden Bezugnahme in »Bastler V« (Abb. 6) zugleich ein unauffälliger Hinweis auf das bildmediale Prinzip dieser Kompositionen: Das zweite Bild in der zweiten Reihe zeigt, auf einem Regalbrett an die Wand gelehnt, eine Reproduktion von Antonello da Messinas »Hieronymus im Gehäuse«. Antonellos Gemälde ist eine Meditation über das Verhältnis von innen und außen; in der kunstvollen Verschränkung mehrerer Interieurs, die in einer sukzessiven Verschachtelung einander umschließen, wird der Raum, in dem Hieronymus sitzt, als eine iterative Staffel von Räumen sichtbar. In ihrem Kern gibt sie dem Kirchenvater, der über seiner Bibelübersetzung sitzt, Schutz gegenüber der Außenwelt. Bei Wenzels Bild einer Werkstatt hingegen wird dieses Prinzip der Einhüllung gegen sich selbst gekehrt: So logisch sich die Anschlüsse von Bildfeld zu Bildfeld ausnehmen mögen, faktisch steht keines der Bilder mit seinem nächsten in Verbindung. Ihre übergreifende Ordnung bleibt eine imaginäre Konstruktion. Als ein Trompe l’œil ist sie dem Auge des Betrachters zugänglich. Den Blick auf das Raster von weißen Randstegen und Lücken zu richten, wird indes heißen, der Abgründigkeit dieser trügerischen Bildsummen gewahr zu werden.26 IV Den apparativen Bedingungen des Fotofix-Automaten geschuldet, ereignen sich Jan Wenzels Akte einer methodischen Zergliederung sowie Zusammenfügung der photographischen Bildfläche im Passbildformat. Von gänzlich anderem Maß nimmt sich demgegenüber das durch den Hamburger Künstler Peter Hendricks im Jahr 2003 angestoßene Ravensburgprojekt aus.27 Denn beinahe stets zu Gruppen von drei oder auch mehr großformatigen Tafeln kombiniert, fügen sich Hendricks’ Photographien zu raumgreifenden Arbeiten von mitunter mehr als vier Metern Breite. Mit dieser eindrucksvollen physischen Präsenz geht zudem, wie ein Blick auf »Marienplatz im Mai 2003, I.1–I.5« (Abb. 7) zeigt, eine inhaltliche Fülle dieser Bilder einher, die ganz darauf angelegt zu sein scheint, einen bloß flüchtigen Blick auf diese Tableaus schnell zu überfordern. Als wolle Hendricks mit 25 Wenzel 2005 (wie Anm. 21), S. 11 beziehungsweise S. 79. 26 Für den Versuch einer literarischen Adaption dieses kompositorischen Prinzips siehe Friederike Mayröcker: vom Winterschreiben [1998]. In: dies.: Magische Blätter V, Frankfurt am Main 1999, S. 10–12. 27 Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt, hg. von Claudio Hils und Thomas Knubben, Köln 2004. 102 S TEFFEN S IEGEL Abb. 7: Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt: Marienplatz im Mai 2003, I.1–I.5. LambdaPrints, 5 Tafeln, insgesamt 440 × 166 cm. Siehe auch Farbtafel XVI. dem Bild der Menge ein traditionsreiches Motiv der bildenden Künste wieder aufgreifen,28 wimmelt auf den insgesamt fünf hochformatigen Tafeln eine nur schwerlich bestimmbare Zahl von Schülern, die, wie der Titel zu erkennen gibt, sich im Mai des Jahres 2003 auf dem Marienplatz in Ravensburg aufgehalten haben müssen. Der durch den Photographen gewählte Standpunkt ist eine doppelbödige Einladung an den Betrachter. Denn aus einer deutlich erhöhten Position photographiert, kann sich der hier inszenierte Blick auf den Marienplatz und insbesondere auf seine Besucher vor jedem Zurückblicken sicher fühlen. Photograph und Betrachter teilen die Perspektive eines Voyeurs, der, wohl von einem Turm schauend, sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Scheint dieses Moment der ›Okulartyrannis‹29 ohnehin ein Signum der photographischen Praxis zu sein, so wird es bei Hendricks zum ästhetischen Prinzip gewendet. Denn es ist erkennbar, dass in dieser photographischen Beschreibung einer »demoskopischen Landschaft«30 gerade der allmächtige, sich entrückt gebende Blick auf eine arglose und gerade dadurch sich spontan verhaltende Menschenmenge im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses steht. Ganz im Sinn der Street Photography ist Hendricks Ravensburgprojekt eine soziologische Feldforschung, die sich gegenüber ihrem Untersuchungsobjekt deutlich auf Abstand hält.31 Zum fünffachen Tableau ausgebreitet, wird es Photograph wie Betrachter möglich, Verhalten und Habitus jener (pubertierenden) Jugendlichen eingehend zu studieren, die im Bewusstsein, beobachtet zu werden, vermutlich kaum ihre interesselose Teilnahmslosigkeit gewahrt hätten. 28 Zu den vielfältigen Voraussetzungen eines solchen Bildtyps siehe insbesondere Wolfgang Kemp: Das Bild der Menge (1789–1830). In: Städel-Jahrbuch N.F. 4 (1973), S. 249–270. 29 Astrit Schmidt-Burkhardt: Okulartyrannis. Vom Foto-Auge zum Kamera-Auge. In: Fotogeschichte Heft 100 (2006), S. 37–49. 30 Ulf Erdmann Ziegler: Conditio humana Ravensburg. In: Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt, hg. von Claudio Hils und Thomas Knubben, Köln 2004, S. 10–19; hier S. 10. 31 Ute Eskildsen (Hg.): Street & Studio. An Urban History of Photography, London 2008. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 103 Hat man einmal einen solchen studierenden, insbesondere den Details geltenden Blick gegenüber diesen Bildern eingenommen, so wird jedoch schnell ersichtlich, dass die hier inszenierte Beobachtungssituation unzuverlässig ist. Das von Hendricks gesammelte und in Großformaten präsentierte Datenmaterial ist redundant und lückenhaft zugleich: Ein blondes Mädchen etwa, das einen leuchtend roten Anorak trägt, ist in identischer Haltung am rechten Rand der zweiten Tafel und in der linken Bildhälfte der vierten Tafel zu sehen; auf der mittleren Tafel schließlich ist sie im oberen rechten Viertel ein drittes Mal, nun jedoch vom Betrachter abgewendet, sichtbar. Angesichts dieser Wiederholungen und Variationen drängt sich die Frage auf, ob diese Menge von Jugendlichen tatsächlich so groß gewesen ist, wie das mächtige, aus fünf Bildern gefügte Tableau nahe legen will. Ganz scheint es jedenfalls so, als seien die schmalen Lücken zwischen den einzelnen Bildtafeln, durch die die Komposition rhythmisiert wird, als Unterbrechungen eines übergreifenden Kontinuums grundsätzlich nicht angemessen gedeutet; selbst wenn, wie dies zwischen der ersten und der zweiten Tafel (und dort am unteren Ende vor allem anhand des Schnitts durch den Kopf eines Jungen) zu beobachten ist, eine solche einfache Trennung mitunter dennoch der Fall sein kann. Innen und Außen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit stehen in Hendricks photographischen Kompositionen in einem prekären Verhältnis zu einander. Die Verwirrung, die sich bei einer näheren Beobachtung dieser großformatigen Felder einstellen wird, ist jedoch nicht allein Teil des künstlerischen Spiels mit Rezeptionserwartungen; es greift vielmehr auch auf die Produktion dieser Bildfolgen aus. Das indexikalische Moment, das diese Bilder in ihrem Gestus scheinbar objektiver, in jedem Fall aber unbeteiligter Beobachtung evozieren, ist längst selbst Gegenstand der Beobachtung geworden. Der von Hendricks einmal gesammelten, photographisch sicher gestellten Datenmenge lässt sich nur dann gerecht werden, wenn sie in immer neuen Variationen einer visuellen Untersuchung unterzogen wird. Ein Beleg hierfür ist etwa die Bildfolge »Marienplatz im Mai 2003, III.1– III.5« (Abb. 8), die deutlich nahsichtiger und daher einzig in Ausschnitten einige wenige Jugendliche präsentiert. Einmal mit Hendricks ästhetischem Prinzip der Zergliederung vertraut, wird auch hier die Suche nach richtigen und falschen Anschlüssen, nach Lücken und Wiederholungen rasch einsetzen. Und es handelt sich, wie ein Vergleich mit »Marienplatz im Mai 2003, I.1–I.5« erweist, wenigstens in Teilen um Ausschnitte aus der rechten oberen Ecke im ersten Bildfeld dieses größeren, fernsichtigen Tableaus. Die ins Profil gewendeten Köpfe zweier Jugendlicher ließen sich bereits dort inmitten der Menge mühelos ausmachen. So wie sich der Betrachter auf diese Weise mit immer neuen Beobachtungsversuchen diesen Tafeln nähern kann, so scheint auch der Photograph selbst ein Beobachter seiner eigenen Bilder, deutlicher noch: ein »Voyeur am eigenen Material«32 gewesen zu sein. Es ist das in Antonionis Film präludierte Verfahren des 32 Ziegler 2004 (wie Anm. 30), S. 13. 104 S TEFFEN S IEGEL Abb. 8: Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt: Marienplatz im Mai 2003, III.1–III.5. LambdaPrints, 5 Tafeln. ›blow up‹, also der immer weiter in das Bildmaterial dringenden Ausvergrößerung einzelner Szenen, das Hendricks Ravensburgprojekt in seiner Gesamtheit überspannt. Sichtbar wird hierbei jedoch nicht, wie dies noch in Antonionis Film aus dem Jahr 1966 der Fall war, die Körnung des Analogfilms; zur Erscheinung kommen vielmehr die diskreten Pixel des digitalen Bildes.33 Doch steht das dubitative, sich mikrostrukturell manifestierende Moment,34 das sich mit einer solchen Technik sukzessiver Immersion in das photographische Material verbindet, bei Hendricks gegenüber einem makrostrukturellen Interesse an einem Dementi der Erwartung von Referenzialität deutlich zurück. Es ist, wie die Bildfolge »Marienplatz im Mai 2003, III.1–III.5« vor Augen stellt, das Zusammenspiel sich erfüllender und sich entziehender Bildanschlüsse, die hier mit größerem Nachdruck den Betrachter an der visuellen Logik dieser photographischen Kombinatoriken zweifeln lassen. Das zweite und das dritte Bildfeld etwa oder auch das vierte und das fünfte Bildfeld sind, insbesondere durch die jeweils rücksichtslos zerschnittenen Köpfe, problemlos miteinander verknüpfbar. Auch zwischen dem zweiten und dem dritten Bildfeld stellt sich ein solcher Anschluss flüchtig ein, obwohl rasch deutlich wird, dass Hinterkopf und Schirmkappe zwei vollkommen unterschiedlichen Personen angehören. Lässt man sich auf diese Suche weiter ein, so kann man schließlich enträtseln, dass der linke Rand des ersten Bildfeldes an den rechten Rand des dritten Bildfeldes anschließen müsste, die kombinatorische Bildsyntax also auf einem Tausch beruht. Ein solcher Eingriff betrifft nicht allein die Logik der einzelnen Bildfelder sowie die unter diesen gestifteten Beziehungen. Gerade die Zwischenräume, das heißt die Lücken zwischen den Bildern sind es vielmehr, die sich hier als wesentliche Agenten visueller Transgression interpretieren lassen. Mitunter kann jenes unsichtbare Jenseits, von dem Hans Jonas schrieb, anhand von Hen33 An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Arbeiten von Peter Hendricks zunächst auf analogem Bildmaterial basieren, das erst anschließend digital weiterverarbeitet wird. 34 Siehe zu einer solchen Deutung digitaler Photographie Peter Lunenfeld: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild [2000]. In: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2002, S. 158–177. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 105 Abb. 9: Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt: Marienplatz im September 2003, IV.1–IV.4. Lambda-Prints, 4 Tafeln, insgesamt 155 × 80 cm. dricks’ Bild-Kombinatoriken in Sichtbarkeit übersetzt werden, mitunter scheint es sich aufgrund eines solchen umfassenden Spiels von Einsetzungen wie von selbst abzuzeichnen. Vollends gesteigert wird ein solcher Effekt potenzieller visueller Anschlüsse schließlich in einer Bildfolge wie »Marienplatz im September 2003, IV.1–IV.4« (Abb. 9), die mit verschiedenen Stufen der Vergrößerung und damit der Nahsichtigkeit arbeitet, um die – Bild für Bild genommen – kaum noch verständlichen Einzelmotive in einer Komposition zusammenzurücken, die in sich äußerst brüchig bleibt. Umso nachdrücklicher jedoch werden gerade hierdurch die Valenzen einer zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit operierenden potenziellen Photographie erkennbar. V Ausgangspunkt jeder photographischen Ästhetik, so schrieb Rosalind Krauss, ist »die Anerkennung des Ausschnitts, des Abschneidens, die Tatsache, daß Photographie, wenn sie die Welt verdoppelt, dies nur stückweise tut.«35 Wenn dieser von Krauss angesprochene, für jedes einzelne photographische Bild behauptete Charakter des Fragmentarischen in Frage steht, so sind es insbesondere die Techniken der Abschneidens und der Abgrenzung, sodann aber auch des Anschlusses und der Überschreitung, die für eine Diskussion potenzieller Bildlichkeit von besonderem Interesse sind. Denn solche Potenziale entfalten sich nicht allein innerhalb 35 Rosalind Krauss: Stieglitz’ Äquivalente. In: dies.: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, [Paris 1990], übers. von Henning Schmidgen, München 1998, S. 127–137; hier S. 131. 106 S TEFFEN S IEGEL einer durch Rahmung in ihrer Ausdehnung definierten Bildfläche;36 sie können vielmehr, dies kann der Blick auf die Arbeiten von Hockney, Wenzel und Hendricks erweisen, gerade auch jenseits dieser von außen an das Bild getragenen Grenzsetzungen siedeln. Der von Hans Jonas angesprochene »Keim der Unendlichkeit« berührt hierbei nicht allein die Grundlagen des Verstehens, sondern auch des Redens über Bilder. Mit der seit Leon Battista Alberti geläufigen Fenster-Metapher ist eine Vorstellung von Bildlichkeit wirksam, die den Charakter des Fragmentarischen durch die aufeinander bezogenen Operationen von Ausgrenzung und Synthese zu modellieren versucht.37 Das ›Innen‹ des Bildes steht in einer solchen Konzeptualisierung nicht allein gegenüber einem abgetrennten ›Außen‹; die Rede von einem solchen ›Innen‹ stellt vielmehr die Voraussetzung einer autonomen, das heißt einzig einer Logik des Bildes verpflichteten visuellen Ordnung dar. Jedes Moment faktischer oder auch nur prätendierter Transgression dieser Rahmenfunktionen stellt daher den Ausgangspunkt zur Diskussion um die Optionen bildlicher Ästhetik oder emphatischer und mit den Worten Max Imdahls formuliert: um die Identität des Bildes dar.38 In Frage stehen hierbei vor allem die Trennschärfe und damit die synthetisierende Kraft jenes Schnitts, dem zugestanden wird, die Differenz von bildlicher und nichtbildlicher Wirklichkeit definieren zu können. Dass eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Modellierung von Bildlichkeit zuallererst eine Kritik der wenigstens seit Alberti metaphorisch geladenen Beschreibungssprache sein sollte, hat bereits André Bazin im Kontext seiner Versuche einer theoretischen Konzeptualisierung des Filmbildes in wünschenswerter Deutlichkeit angesprochen. Das von ihm gegenüber dem ›cadre‹ ins Spiel gebrachte und mit dem Begriff ›cache‹ bezeichnete Modell vorläufiger Rahmung macht es möglich, das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit nicht auf eine Konstellation von endgültig disjunkten Größen einschränken zu müssen.39 Bazins Konzept des ›cache‹ verweist auf jenes Moment dynamischer Entfaltung, das sich im Film fortlaufend als ein Zusammenspiel von On und Off ereignet, im einzelnen photographischen Bild indes als ein potenzielles Jenseits abzeichnet. Insbesondere 36 Siehe hierzu Philippe Junod: Vom »componimento inculto« Leonardos zum »œil sauvage« von André Breton. In: Gerhart von Graevenitz, Stefan Rieger, Felix Thürlemann (Hg.): Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001, S. 133–146. Dario Gamboni: Acheiropoiesis und potentielle Bilder im 19. Jahrhundert. In: Friedrich Weltzien (Hg.): von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 63–74. 37 Hilde Zaloscer: Versuch einer Phänomenologie des Rahmens. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 189–224. 38 Max Imdahl: Überlegungen zur Identität des Bildes [1979]. In: ders.: Gesammelte Schriften, 3 Bde., Bd. 3, Frankfurt am Main 1996, S. 381– 423. Siehe hierzu außerdem Max Imdahl: Bild – Totalität und Fragment. In: Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Fragment und Totalität, Frankfurt am Main 1984, S. 115–123. 39 André Bazin: Peinture et cinéma. In: ders.: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 111999, S. 187–192. Siehe hierzu auch Dubois 1990 (wie Anm. 4), S. 174–213 sowie den Beitrag von Ulrike Hanstein in diesem Band. DAS POTENZIELLE P HOTOGRAPHISCHE B ILD 107 von hier aus gewinnt die Rede vom ›Silberspiegel‹ ihren vollen Sinn: Dem statischen Ausschnitt der finestra aperta steht das Potenzial dynamischer Verwandlung eines scheinbar nur vorläufig definierten Ausschnittes entgegen.40 An den Rändern des photographischen Bildes ist das nicht Repräsentierte stets schon Gegenstand der Repräsentation. Es ist daher kein Zufall, dass in den hier näher betrachteten photographischen Collagen von David Hockney, Jan Wenzel und Peter Hendricks stets diese Ränder und die spezifische Gestaltung des Rahmens eine entscheidende Rolle spielen. Das ästhetische Kapital, das alle drei Künstler in jeweils sehr eigener Weise aus der Komposition einzelner Bilder zu einem größeren Ganzen schlagen, ist ohne die Optionen potenzieller photographischer Bildlichkeit undenkbar. Bei Hockney wird dieses Potenzial kubistisch verformt, um den Eindruck zeitlicher Dehnung in eine mal mehr, mal weniger homogene Bildfläche tragen zu können. Bei Wenzel ist die Latenz eines zwar unsichtbaren, aber dennoch präsenten bildlichen Jenseits der Anlass, Bildkonstruktionen von hoher Kohärenz zu entwerfen, deren ästhetische Prämisse jedoch gerade die Inkohärenz der visuellen Informationen ist. Bei Hendricks schließlich wird ein solcher, nicht zuletzt apparativ gestützter Ludismus in Tableaus übersetzt, deren analytischer Gestus zuletzt vor allem darauf zielt, das Verhältnis von Innerhalb und Außerhalb, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einer fortlaufenden Neubestimmung zu unterziehen und das Nebeneinander verschiedener Tafeln als den Wechsel von bildlicher Aktualität und Potenzialität sichtbar zu machen. »Fotos«, so meinte Susan Sontag mit Blick auf ein solches Zusammenspiel, »sind Details. Deshalb wirken Fotos so lebensähnlich.«41 Lebensähnlichkeit, heißt dies, ist ein Effekt, der mit den ästhetischen Mitteln des photographischen Bildes hergestellt werden kann. Und es ist nicht ohne Bedeutung, dass Sontag mit Blick auf solche Akte bildmedialer Produktion von ›Wirklichkeit‹ eine Topik mobilisiert, deren Schlüsselbegriffe ›Detail‹, ›Fragment‹ und ›Bruchstück‹ heißen.42 Sich für Fragen nach einer Bildästhetik des »Undsoweiter« zu interessieren, erfordert daher stets, den Blick auf die Funktion der Bildränder zu richten. Denn diese Ränder sind es, mit deren Hilfe sich das Zusammenspiel von Präsenz und Absenz, von Aktualität und Potenzialität überhaupt einrichten lässt. Sontags Identifikation des photographischen Bildes mit einer Ästhetik von Detail, Fragment und Bruchstück macht hierbei deutlich, dass zwischen den Operationen von Einschluss und Ausschluss stets ästhetische Praktiken des Anschlusses vermutet werden können.43 40 Für den originellen Versuch eines Ausgriffs auf dieses Jenseits des Bildes im Medium mittelalterlicher Buchmalerei siehe Felix Thürlemann: Die Miniatur und ihr Jenseits. Zu den Formaterweiterungen in den Très Riches Heures der Brüder Limburg. In: David Ganz, Thomas Lentes (Hg.): Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, Berlin 2004, S. 241–259. 41 Susan Sontag: Fotografie. Eine kleine Summa [2003]. In: dies.: Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, übers. von Reinhard Kaiser, München 2008, S. 164–167; hier S. 166. 42 Siehe hierfür ebd., insbesondere S. 164 und 166. 43 Mit einem vergleichenden Seitenblick auf die Malerei profilierte diesen Zusammenhang bereits pointiert Brian O’Doherty: In der weißen Zelle. Inside the White Cube [1976], übers. 108 S TEFFEN S IEGEL Das äußere Maß, das als Rahmen an die Photographie gelegt wird, ist gerade deshalb konstitutiv für jedes Interesse nach einer Ästhetik des photographischen Bildes, weil sich hier, anhand einer Vielfalt verschiedener Rahmenfunktionen, das Verhältnis von Teil und Ganzem organisiert. In Frage stehen damit zum einen die Optionen einer Transgression des photographischen Bildes, das heißt seiner Öffnung auf das, »was jenseits liegt«. Eine solche Frage zieht zum anderen aber nach sich, die »unendliche Mannigfaltigkeit«, auf die die Transgression des photographischen Bildes zielt, in den Blick nehmen zu müssen. Die Idee von ›Bezugnahme‹ lässt sich auf diese Weise nicht allein als eine Frage des im Bild Sichtbaren diskutieren, sondern auch als eine Frage nach dem potenziellen photographischen Bild, das sich allein anhand ästhetischer Techniken der Produktion visueller Latenz abzeichnet. Dieses Jenseits jedoch mit ›Wirklichkeit‹ identifizieren zu wollen, arbeitet einer Vorstellung von photographischer Referenzialität zu, die sich in den Arbeiten von Hockney, Wenzel und Hendricks nachdrücklich dementiert sehen muss. Es war Susan Sontag, die einen Hinweis auf den Zielpunkt solcher Transgressionen formulierte: »Ein einzelnes Foto impliziert – anders als ein einzelnes Gemälde –, daß es noch andere gibt.«44 Fragen nach einer Ästhetik des potenziellen photographischen Bildes führen notwendigerweise zu einer Betrachtung des Bildes im Plural. Denn an den Rändern jedes einzelnen Bildes, wie scharf oder unscharf seine Grenzen auch gezogen sind, lauern stets neue Bilder. von Wolfgang Kemp, Berlin 1996, S. 13–17. Siehe außerdem Oskar Bätschmann: Begrenzt – Unbegrenzt. In: Werner Busch, Oliver Jehle (Hg.): Vermessen. Landschaft und Ungegenständlichkeit, Zürich, Berlin 2007, S. 57–72. 44 Susan Sontag: Die Bilderwelt. In: dies.: Über Fotografie, [New York 1977], übers. von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, München, Wien 1978, S. 141–166; hier S. 153. 7 Die Maßgabe der Einstellung, die Grenze des Films Stanley Cavell betrachtet Gertrud U LRIKE H ANSTEIN Mein Beitrag bestimmt den Ein- und Ausschluss des kadrierten Bildes als medientechnische Bedingung und als ästhetische Formgebung des Films. Argumente für die limitative Aufnahme des Films lassen sich aus Stanley Cavells Theorie der kinematografischen Wirklichkeitskonstruktion beziehen. Im Rahmen seiner epistemologischen Bildreflexion verleiht Cavell der ästhetischen Bestimmungsleistung des Films selbst Nachdruck. In welcher Weise filmische Formen das Darstellungsvermögen des Mediums spezifizieren, erschließt Cavell an Carl Theodor Dreyers letztem Film ›Gertrud‹ (Dänemark 1964). Lange statische Einstellungen exponieren in ›Gertrud‹ das apparatgestützte Bild als begrenzte, kontingente Perspektive. In ›Gertrud‹ erreicht die Verwendungsweise der Einstellung eine raum-zeitliche Maßgabe. Eingehende Analysen von Gertrud widmen sich den Beziehungen zwischen dem im Bildfeld Sichtbarem und dem Off. An der sukzessiven Bestimmung von Sichtbarem und Entzug erweist sich eine formale Befragung des Darstellungsvermögens. Eine Geschichte der Filmtheorie ließe sich als eine von Konzepten der Entgrenzung verfassen: Béla Balász und Dziga Vertov berufen sich auf die entkörperlichte Dynamik des Kamera-Auges. Walter Benjamin bespricht die Sprengung raumzeitlicher Kontinuität. Jean Epstein kennzeichnet unmittelbare Wirkungen zwischen dem fotografischen und dem psychischen Automatismus. Und Gilles Deleuze bestimmt die intrinsische Veränderung des kinematografischen Bildes, das Raum und Zeit als Bezugsgrößen einer Bewegungswahrnehmung in unabschließbarem Übergang hält. Die filmische Hervorbringung von Bildlichkeit und Bewegung begreift Deleuze nicht als zeichenhaft verweisende Struktur. Die unablässige Bildkonstitution und -auslöschung des Films ist kein einfach begrenzbarer Gegenstand der theoretischen Reflexion. Vielmehr steht die in den universalen Bilderfluss eingelassene Wahrnehmung als Prinzip für den Bezug zwischen Bewusstsein und Welt. Diese (Bild-)Theorien des Films, die Subjekt-Objekt-Grenzen durchkreuzen oder der Aufhebung raum-zeitlicher Setzungen zusprechen, haben jedoch ein Double. Aufweisen lässt sich auch eine Geschichte von Überlegungen zur perspektivischen Beschränkung und zur limitativen Aufnahme des Films. So bedenken bei- 110 U LRIKE H ANSTEIN spielsweise André Bazin, Pascal Bonitzer oder Noël Burch den unaufhebbaren Bezug des Bildes auf ein spezifisches Ungesehenes: das Off. Die Frage nach dem Maß der Bilder nimmt mein Beitrag auf mit Überlegungen zum Ein- und Ausschluss des kadrierten filmischen Bildes. Die Auseinandersetzung über Grenzziehungen im Sichtbaren möchte ich mit Stanley Cavells Thesen zum FotografischenführenundmitCarlTheodorDreyersletztemFilmGertrud (Dänemark 1964). In seiner frühesten filmphilosophischen Studie The World Viewed trägt Cavell mehrfach Anmerkungen zu Dreyers Kino ein.1 Einleitend gilt es, Cavells bildtheoretischen Einsatz und seine Bestimmung der apparativen Realitätsübertragung zu rekapitulieren. Im kritischen Nachvollzug von Cavells Film-Lektüre und mit Sequenzanalysen möchte ich dann die These belegen, dass in Gertrud der Gebrauch der Einstellung eine raum-zeitliche Maßgabe erreicht. Die Einstellung ist als filmästhetisches Verfahren aufzufassen, das das Verhältnis von Sichtbarem und Entzug sukzessiv bestimmt. Inszenierungen der Bildgrenze und des Imaginationsraumes im Off lassen sich als mit dem Film gegebene Deutung des Vermögens und der »Reichweite« des Bildes verstehen. Eingehende Analysen vonGertrud widmen sich daher den Beziehungen zwischen dem im Bildfeld sinnlich Gegenwärtigen und dem Off. An der Anordnung und dem Ausschluss des Wahrnehmbaren – den bildgebenden Verfahren des Films – erweist sich eine formale Befragung des Darstellungsvermögens. Einstellung und Ansicht Mit bildtheoretischen Aussagen über den Film erscheint das Problem, wie der Gegenstand zwischen chronofotografischer Stillstellung und der Bewegungsillusion der Filmerfahrung zu bestimmen ist. Um sowohl der Technik als auch der kinematografischen Wahrnehmungsszene Geltung zu verleihen, möchte ich die Einstellung als kritische Kategorie anführen. Klärungen lassen sich zunächst aus dem medientechnischen Verfahren beziehen. Einerseits ist eine Einstellung durch die Dauer bestimmt: Es ist ein im kontinuierlichen Aufnahmevorgang der Kamera belichtetes Stück Film. Andererseits steht »Einstellung« für die optische Organisation des Bildes, für die Einstellungsgröße. Festgelegt wird sie durch den Abstand der Kamera zu Darstellern oder Gegenständen sowie durch die technischen Gegebenheiten des Objektivs. Mit der entfalteten Dauer zwischen zwei Schnitten und der montierten Folge von Einstellungen vergegenständlicht sich für den Zuschauer die filmisch entworfene Welt. Dabei schreiben die je bestimmten Ausschnitte und ihre Anschlüsse räumliche, zeitliche und erzählerische Positionierungen ein. Die technische Einstellung des Films ist – darauf hat Gertrud Koch hingewiesen – 1 Siehe Stanley Cavell: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, Cambridge, London 1979. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 111 zugleich ein intentionaler Akt.2 Sie zeigt immer bestimmte Bezugnahmen auf Objektwelten, spezifische Einstellungen zum Bild und damit auch Bedingungen und Geltungsansprüche visueller Darstellungen an. Stichworte für die materielle und mediale Besonderheit des filmischen Bildes möchte ich aus Cavells medienphilosophischen Überlegungen beziehen. In The World Viewed führt Cavell für den Status des filmischen Bildes mehrfache Bestimmungen an. Er bespricht die fotografische Referenz auf die Objektwelt, die medientechnische Transkription und die automatisch umgeformte, animierte Realität der kinematografischen Bilder. Damit begründet er die einzigartige Stellung des Films zwischen wiederholbarer Aufzeichnung und ephemerer Aufführung. Mit seiner Bestimmung des Films als Abfolge automatischer Weltprojektionen (»a succession of automatic world projections«3), reiht sich Cavell begrifflich und konzeptuell in die Tradition Bazins ein. Bei Bazin findet sich beispielsweise die Erklärung: »Der Film stellt sich stets als eine Folge von Wirklichkeitsfragmenten in Bildern dar, auf einer rechteckigen, in ihren Ausmaßen festgelegten Fläche, wobei Ordnung und Dauer des Gezeigten den ›Sinn‹ bestimmen.«4 Bazin widmet sich vor allem in seinen Analysen des italienischen Nachkriegskinos dem Realitätsgehalt beziehungsweise dem Objektivismus des Bildes. Er wendet sich gegen lineare filmgeschichtliche Modelle und die Ableitung stilistischer Veränderungen aus technischen Erfindungen. Als Einschnitte einer formal-ästhetischen Geschichte des Films führt Bazin unterschiedliche Realismus-Konzeptionen des Bildes an. »Unter ›Bild‹ verstehe ich ganz allgemein alles, was die Darstellung auf der Leinwand dem dargestellten Gegenstand hinzufügen kann. So vielfältig dieser Anteil ist, man kann ihn im wesentlichen in zwei Gebiete unterteilen: die Gestaltung des Bildes selbst und das Hilfsmittel der Montage (die ja nichts anderes ist als die Anordnung der Bilder in der Zeit).«5 Bazin zufolge lassen sich in der Filmgeschichte zwei überbrückende, einander entgegen stehende Konzeptionen der Darstellung aufweisen: Das Bild wird entweder als ästhetische Anordnung begriffen, die der Realität etwas hinzufügt oder als eine, die sie enthüllt. An den Filmen von Orson Welles und dem italienischen Nachkriegskino weist er auf, dass die Entwicklung realistischer Bildtypen die Beziehungen zwischen Zuschauer, Dargestelltem und Wirklichkeit keineswegs vereinfacht, sondern verkompliziert: »Das Bild – seine äußere Struktur, seine Organisation in der Zeit – 2 Siehe Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt am Main 1992. 3 Cavell 1979 (wie Anm. 1), S. 146. 4 André Bazin: Der filmische Realismus und die italienische Schule nach der Befreiung. In: ders.: Was ist Film? [Paris 1975], übers. von Robert Fischer und Anna Düpee, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 295–326; hier S. 312–313. 5 André Bazin: Die Entwicklung der Filmsprache. In: ders.: Was ist Film? [Paris 1975], übers. von Robert Fischer und Anna Düpee, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 90–109; hier S. 91. (Hervorhebung im Original.) 112 U LRIKE H ANSTEIN verfügt, weil es sich auf einen größeren Realismus stützt, über sehr viel mehr Mittel, die Wirklichkeit zu beugen und von innen her zu verändern.«6 Entscheidend für Bazins Nachdruck auf den wesentlich realistischen Ausdrucksformen des Kinos ist die automatische Institution des Bildes. Das fotografische Verfahren bedingt beim Betrachter eine ›Wirklichkeitsübertragung‹ zwischen dem Gegenstand und seiner Darstellung.7 Während Bazin in seine Thesen zum Fotografischen auch wahrnehmungspsychologische Deutungen einbezieht,8 findet Cavell hier vor allem sein Projekt einer ontologischen und epistemologischen Bildreflexion vorformuliert. An Bazins Überlegungen knüpft Cavell abwägend und differenzierend an, wenn er die Rolle der Realität bei der Erzeugung des fotografischen Bildes befragt. Die fotografische Grundlage des Films – so Cavell – schafft einen von den tradierten Künsten abweichenden Wirklichkeitsbezug. Sie stiftet ein nie zuvor dagewesenes Verhältnis zwischen der Anwesenheit und der Abwesenheit eines Gegenstandes. »Auf einem Foto sehe ich Sachen, die in Wirklichkeit nicht vor mir sind. […] Das Objekt spielt bei der fotografischen Aufnahme eine ganz andere Verursacherrolle als bei der Entstehung eines Gemäldes. Die Darstellung betont die Identität des Gegenstandes, daher kann man von einem Abbild reden. Eine Fotografie hingegen betont die Existenz des Gegenstandes und zeichnet sie auf, daher mag man auch von Transkription reden. […] Weil ich sehe, was nicht vor mir ist, weil meine Sinne den Beweis einer gar nicht existierenden Wirklichkeit wahrnehmen, nenne ich den Film ›ein bewegtes Bild des Skeptizismus‹.«9 Das filmische Bild beunruhigt die Auffassung des Anwesendseins seiner Betrachter. Es bekundet unsere Abwesenheit von der filmischen Welt als Bedingung ihres Erscheinens. Den Eindruck und die anhaltende Popularität des Kinos führt Cavell darauf zurück, dass wir hier Erfahrungen der Getrenntheit und Distanzierung beziehungsweise eines durch Ansichten gewonnenen Bezuges auf die Welt wiedererkennen – Erfahrungen der Begrenztheit unserer Erkenntnisfähigkeit also, für deren philosophische Formulierung bei Cavell Verweise auf Nietzsche, Heidegger oder Wittgenstein stehen. Die filmische Bildfolge vergegenwärtigt eine sinnlich zugängliche und bedeutungsvoll bestimmte Realitätskonstruktion. Als halluzinatorische oder imaginäre Anschauung hält sie Erfahrungen bereit, die dem Erleben der nicht mit Gewissheit zu sichernden Bezugnahme auf den anderen und die Objekte der Welt gleichen. Für Cavells Einschätzung der alltäglichen und phi6 Ebd., S. 108 –109. 7 Siehe André Bazin:Ontologie des photographischen Bildes. In: ders.: Was ist Film? [Paris 1975], übers. von Robert Fischer und Anna Düpee, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 33–42. 8 Zu den psychologischen Bestimmungen in Bazins Theorie des Fotografischen siehe Jonathan Friday: André Bazin’s Ontology of Photographic and Film Imagery. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 4 (2005), S. 339–350. 9 Stanley Cavell: Denken – Was heißt das in der Fotografie? In: ders.: Nach der Philosophie. Essays, hg. von Ludwig Nagl, Kurt R. Fischer, Berlin 2001, S. 171–186; hier S. 173–174. Siehe auch Cavell 1979 (wie Anm. 1), S. 188–195. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 113 losophischen Belange des Films ist grundlegend, dass er die skeptizistische Beunruhigung des Denkens nicht als erkenntnistheoretisches Extrem begreift. Vielmehr ist sie eine mögliche und im Rahmen menschlicher Erfahrung auch wahrscheinliche Haltung des Zweifels. Die Fotografie als welthaltiger Ausschnitt Der fotografische ›Realitätssinn‹ und das vom Film eingesetzte Verhältnis der Betrachtung lassen sich mit Cavells Überlegungen zur Kamera näher erläutern. Als Ermöglichungsbedingung der filmischen Wirklichkeitskonstruktion benennt Cavell die unhintergehbare Äußerlichkeit der Kamera. Die aufnehmende Kamera ist dem Sichtbaren, das sie erzeugt, notwendig entzogen.10 Obwohl es möglich ist, sie als Gegenstand im Bildfeld durch Spiegel oder ähnliches anzuzeigen, kann sie nie als Bilderzeuger in den Blick geraten. Von der Welt, deren Existenz sie feststellt, bleibt sie getrennt. Die Kamera ist außerhalb ihres Gegenstandes, so wie wir – das ist die von Cavell vorgebrachte Analogie – außerhalb unserer Sprache sind. Das Sagen bleibt selbst unaussagbar, wir müssen immer etwas sagen. Den Ort unseres Sprechens können wir dem anderen nicht vollständig und bedeutungsvoll bezeichnen. Filmische Welten sind also unter der Bedingung einer Grenzziehung des Apparates gegeben. Im Raum des Kinos bildet die Leinwand für den Zuschauer eine kategoriale Grenze: Sie ist Aufnahmefläche des Lichts der Projektion und zugleich eine Abschirmung von der Welt der festgestellten visuellen Objekte.11 Das filmische Bild hält eine Welt in unaufhebbarer Distanz und birgt sie. Denn im Gegensatz zur abschließenden, auf das Dargestellte bezogenen Begrenztheit des Tafelbildes sieht Cavell mit der Fotografie eine Erfahrung des Ausschnitthaften gegeben. Bei der Betrachtung einer Fotografie wird das Sichtbare als Segment eines kontinuierlichen Zusammenhanges wahrgenommen und gedeutet. Die Welthaltigkeit des fotografischen Bildes erweist sich in denkbaren, möglichen Anschlüssen. Der Betrachter nimmt die Aufnahme als unvollständige, von unsichtbaren, doch vorhandenen Nachbarschaften umstellte Ansicht: »The world of a painting is not continuous with the world of its frame; at its frame, a world find its limits. We might say: A painting is a world; a photograph is of the world. What happens in a photograph is that it comes to an end. [...] The implied presence of the rest of the world, and its explicit rejection, are as essential in the experience of a photograph as what it explicitly presents. A camera is an opening in a box: that is the best emblem of the fact that a camera holding on an object is holding the rest of the world away.«12 10 Siehe Cavell 1979 (wie Anm.1), S. 126–127. 11 Ebd., S. 24–25. 12 Ebd., S. 24. (Hervorhebung im Original.) 114 U LRIKE H ANSTEIN Die Fotografie erlaubt eine Erfahrung von Auswahl und Ausschluss als den Bedingungen der Aufnahme. Der Film gestaltet das Verhältnis von visuell Gegebenem und Entzug über die Kadrierung und die Montage. Als Verfahren legen sie die Eigenschaften und die Dauer von Betrachtungsebenen fest. Sie strukturieren so ein veränderliches Verhältnis zu den sichtbaren und im Außerbildlichen evozierten Räumen, Objekten und Personen. Die Projektionen des Films verwirklichen eine Abfolge unterschiedlicher Einstellungen (im Sinne distinkter Einstellungsgrößen), die jeweils mit der physisch begrenzten Leinwand zur Deckung kommen. Beim Tafelbild ist die Beziehung des Dargestellten zur Beschränkung der Darstellung festgelegt und die abgebildete Welt findet am Rahmen ihr Ende. Demgegenüber vergegenwärtigen die Bildfolgen des Films erscheinende und verschwindende, je begrenzte Ansichten. Die Grenzen der Leinwand beschließen also nicht die Form der projizierten Bilder. Da die unterschiedlichen Einstellungen die Projektionsfläche immer in ihrer ganzen Ausdehnung füllen, kennzeichnet Cavell die Ränder der Leinwand als Umgrenzung eines Fassungsvermögens, als Gerüst beziehungsweise Rahmen. Von Bazin übernimmt Cavell die Beschreibung der Kino-Leinwand als Gussform.13 In die materiell festgelegte »Höhlung« der Leinwand passen sich unterschiedliche Bilder ein. Der stete Wandel der automatisch bewegten Ansichten überwindet den dauernden Zusammenschluss von Dargestelltem und Rahmung. Kadrierung und Off Die filmische Einstellung bestimmt den Ausschnitt des Raumes und die Komposition der sichtbaren Elemente bezogen auf den festgelegten Rahmen des Bildformats. In der medientechnisch strukturierten Wahrnehmungsordnung des Kinos fällt die Kadrierung mit der Grenzziehung zwischen zwei Raummodalitäten zusammen. Sie markiert die vom Zuschauer im sinnlichen Erfahren überbrückte Trennung von faktischem Kinosaal und dem Leinwandlichen: dem audiovisuell entworfenen Bildraum.14 Die Inszenierung filmischer Räume beruht auf dem simultanen Bezug von Bildfeld und Off sowie auf ihrem in der Zeit entfalteten gegenseitigen Bestimmungsverhältnis. An der Geschichte filmischer Formen lassen sich unterschiedliche Verwendungsweisen der Einstellung und veränderliche Verknüpfungsregeln offen legen. Für das frühe Kino (1896–1917) haben André 13 Cavell spricht von ›mold‹ und bezieht sich damit auf Bazins Ausdruck ›moulage‹. In der deutschen Übersetzung wird Bazins Metapher als ›Abdruck‹ und ›Lichtgußform‹ wiedergegeben. André Bazin: Theater und Film. In: ders.: Was ist Film? [Paris 1975], übers. von Robert Fischer und Anna Düpee, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 162–216; hier S. 184. 14 Siehe dazu Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹–Semantik– ›Ideology‹, Heidelberg 1992, S. 41–42. Doris Agotai: Architekturen in Zelluloid. Der filmische Blick auf den Raum, Bielefeld 2007, S. 52–54. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 115 Gaudreault und Tom Gunning einen Repräsentationsmodus der bühnenhaften Gegenüberstellung beziehungsweise der visuellen Attraktion aufgewiesen.15 Gekennzeichnet ist diese Präsentation durch frontale statische Einstellungen, die einen Schauplatz kontinuierlich zu sehen geben. Wie die fixierte Schauanordnung des Proszeniums im Theater öffnet sich der geschlossene, in seinen Grenzen unveränderliche Bildraum nur zum Betrachter hin. Im Übergang zum klassischen Kino prägten sich Konventionen der optischen Szenenauflösung durch Großaufnahmen und Naheinstellungen aus. Als narrative Schließung des Films bespricht Gunning Schnitte zwischen Bildern, die über Blickund Bewegungsachsen der Figuren motiviert und verbunden werden. Die repräsentationale Darstellung des klassischen Kinos ordnet einen »transparenten« und beweglichen Kamerablick den örtlichen Bezügen der Figuren unter. Die apparative Blickinstanz wird so diegetisiert. Die Montage trägt die wechselnden Perspektiven als visuelle Beschreibungen von subjektiven und objektiven Wahrnehmungsweisen ein. Blick- und Bewegungsanschlüsse zwischen den Einstellungen überbrücken dabei die raum-zeitlichen Sprünge des Schnitts. Die Kontinuitätsmontage des klassischen Kinos bringt den blinden Fleck der Kamera zum Verschwinden. Mit der Folge der Bilder erbaut sich der wahrnehmbare, fiktive Handlungsraum in phantasmatischer Geschlossenheit. Bazin grenzt für die prozesshafte Bestimmung von Bildfeld und Off zwei komplementäre Verfahren voneinander ab: cache und cadre.16 Die Kadrierung und der Anschluss der Bilder können den Eindruck eines kontinuierlichen Raumes erzeugen, den die einzelnen Einstellungen allmählich erschließen. Die Kadrierung wirkt dann wie ein Sucher, der einen homogenen Zeitraum entdeckt. Diese Bestimmung eines offenen Raumes, bei dem das relative Off schrittweise zum Gegenstand des Bildes werden kann, nennt Bazin cache. Die Verwendung der Einstellung kann jedoch auch eine Anordnung isolieren und die Umgebung ausschalten. Die Einstellung wird dann als absolute Rahmung erfahren, als cadre. Die Bilder stellen zwischen sich dann keine Anschlüsse her, sondern ermessen ihre Differenz. Die Erfahrung raum-zeitlicher Bezüge ist nicht mehr die eines Ganzen, das immer umfassender ansichtig wird. Wahrnehmbar werden vielmehr Zäsuren, Leerstellen, unentscheidbare Abstände zwischen den Bildern. Deleuze analysiert Einstellungsfolgen, die nicht durch die imaginative Fortsetzung der gezeigten Bewegung zu überbrücken sind, als »falsche Anschlüsse« und 15 Eine konzise Darstellung der Ausarbeitungen von Gaudreault und Gunning bieten die Beiträge beider Autoren in Thomas Elsaesser, Adam Barker (Hg.): Early Cinema. Space– Frame–Narrative, London 1990. 16 André Bazin: Malerei und Film. In: ders.: Was ist Film? [Paris 1975], übers. von Robert Fischer und Anna Düpee, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 224–230; hier S. 225. Zu den Funktionen der Kadrierung und des Off siehe auch Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, [Paris 1983], übers. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main 1997, S. 27–35. 116 U LRIKE H ANSTEIN »irrationale Schnitte«.17 Deleuze zufolge führt im modernen Film die differenzierende Verknüpfung der Bilder eine neue Form des Intervalls ein. Das Intervall ist hier ein Mittel, das den unsichtbaren Raum zwischen zwei Einstellungen wahrnehmbar werden lässt. Es evoziert etwas wesentlich Außerbildliches und umgibt die sichtbaren Geschehnisse mit einem absoluten Off. Die ausgedehnten Intervalle und die Diskontinuitäten zwischen den Einstellungen ziehen die Möglichkeiten des Bildes in Zweifel. Die Schließung des Bildes in Gertrud Bei Cavell wie auch bei Deleuze steht als Musterfall für eine isolierende Bestimmung des Bildfeldes das filmische Werk von Dreyer. In Dreyers wohl bekanntestem Film La Passion de Jeanne d’Arc (Frankreich 1928) akzentuieren die Großaufnahmen und verkanteten Einstellungen von Räumen die Begrenztheit des Bildes. Die fragmentierenden Ansichten von Körpern, Gesichtern und Schauplätzen trennen hier die einzelnen Einstellungen voneinander ab. Die Aufnahmewinkel, Einstellungsgrößen und Anschlüsse der Bilder sind nicht durch personale Blickachsen oder örtliche Bezüge begründet. Sie setzen die einzelnen Bilder in ein Verhältnis der Inkompatibilität. In La Passion de Jeanne d’Arc wird die raumbildende Funktion der Bildfolge unterboten und so als Mangel erfahrbar. In Gertrud wird die Endlichkeit des filmischen Bildes in anderer Weise bedeutet: Dreyer dramatisiert hier durch lange kontinuierliche Aufnahmen den Wandel der Zeit und Bewegungsformen in geschlossenen Innenräumen. Die Dauer der einzelnen Einstellung scheint das Verhältnis der Kamera zum Sichtbaren zu vergegenständlichen. In den anhaltenden Einstellungen tritt die Kadrierung gegenüber der Figurenaktion hervor. Die Einstellung als »Raumbild« wird vom Zuschauer als bedeutungsvolles Element des wahrnehmbar Erscheinenden und dessen Variation in der Zeit erfahren. Die nachfolgenden Analysen von Gertrud werden dabei zwei Verfahren aufweisen: Plansequenzen mit Kamerabewegungen, die sich der Figurenaktion anheften, und statische Einstellungen von Interieurs. Wären Filme wie Musikstücke mit Anweisungen für das Tempo, die Dynamik und den Ausdruck versehen, so erschiene »morendo« als zutreffende Angabe für Gertrud. Das verhaltene Schauspiel, das sparsame visuelle Geschehen und das Gewicht der distanzierend gesetzten Worte scheinen die Sinnlichkeit und Bewegung der filmischen Form selbst zum Erliegen zu bringen. Dreyers Film ist die Adaption eines Bühnenstückes von Hjalmar Söderberg aus dem Jahre 1906. Die Züge der Hauptfigur und ihr Konflikt zwischen Begehren und Ehe, zwischen Seelenleben und gesellschaftlicher Konvention hängen der Literatur des 19. Jahr- 17 Siehe Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, [Paris 1985], übers. von Klaus Englert, Frankfurt am Main 1997, S. 233 –236. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 117 hunderts an: Die Story von Gertrud überführt die unbedingte Gefühlsmacht Emma Bovarys in die Selbstveränderung Noras – die Frau wählt die Isolation, nimmt Abschied vom Puppenheim. Schauplatz von Gertrud ist Stockholm um 1900. Der Plot verdichtet, teilweise mit Rückblenden, Episoden aus drei Liebesbindungen Gertruds (Nina Pens Rode). Alle drei Beziehungen gibt sie enttäuscht auf. Gertrud, eine ehemalige Opernsängerin, verlässt ihren Ehemann Gustav (Bendt Rothe). Er weiß ihre Forderung nach einer wahrhaftigen und absoluten Liebesbeziehung nicht zu erwidern. Diese Trennung ermöglicht Gertrud eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Geliebten, dem jungen Komponisten Erland Jansson (Baard Owe). Jansson sucht jedoch nur eine leichtfertige Affäre und gesteht ihr, bereits gebunden zu sein. Schließlich trifft Gertrud den Dichter Gabriel Lidman (Ebbe Rode) wieder. Trotz der einstigen Nähe verließ Gertrud ihn, weil er der Kunst den Vorrang gegenüber der Liebe einräumte. Lidmans Versuch einer erneuten Annäherung weist Gertrud zurück. Sie verlässt die mit den Männern geteilte Welt Stockholms und geht nach Paris, um Studien der Psychologie zu beginnen. Ein Epilog zeigt Gertrud in hohem Alter. Vor allem aber zeigt er die Möglichkeit eines ernsthaften und gleichberechtigten Gesprächs zwischen den Geschlechtern. Einem Freund aus Paris legt Gertrud ihre Erinnerungen offen. Auf ihrem Grabstein, so erklärt sie ihm, möge amor omnia stehen. Der Anfang von Gertrud spart einen establishing shot aus: Wie bei einem Bühnenstück hebt die Handlung mit einem begrenzten Schauplatz und einem Auftritt an. Aus dem Schwarzbild blendet eine Halbtotale auf, ein Innenraum, ein Mann. Die Kamera heftet sich mit einer Fahrt an seinen Gang durch das Zimmer. Er hält für einen Moment inne, auch die Kamera, die sein Rückenbild erfasst, stockt in ihrer Bewegung. Mit seiner Wendung und seinen Schritten zu einem Schreibtisch hebt die Dynamik der Blickbewegung wieder an. Frontal fährt die Kamera an den Mann heran, der nach einer halben Drehung hinter dem Tisch zu stehen kommt. Die Choreografie von Verfolgung und Halt, Wendung und Annäherung setzt eine nicht personale, doch auch nicht objektive Blickinstanz ein. Mit Christian Metz lässt sich dies als »subjektives Bild ohne Subjekt«18 kennzeichnen. Die gleitende Bewegung durch das Interieur, die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Figur animiert eine selbst ungesehene, tätig-bewegte Blickinstanz. Auf das Rufen des Ehemannes hin tritt Gertrud links durch einen Türrahmen in den sichtbaren Raum (Abb. 1). Im Folgenden gleichen geringe Kamerafahrten zu den Seiten die minimalen kinetischen Impulse der Figuren aus und halten sie »auf Mitte«. Das Paar setzt sich. Nach eineinhalb Minuten erfolgt der erste Bildschnitt zu einer Nahaufnahme seines Gesichts. Er spricht zu Gertrud, sieht links an der Kamera vorbei aus dem Kader. Die Kamera schwenkt nach links, überwindet langsam den Raum zwischen den Figuren und verstärkt visuell die Pause 18 Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, [Paris 1991], übers. von Frank Kessler, Sabine Lenk, Jürgen E. Müller, hg. von Jürgen E. Müller, Münster 1997, S. 111. 118 U LRIKE H ANSTEIN Abb. 1: Videostill aus: Carl Theodor Dreyer: Gertrud, Dänemark 1964. des Dialogs. Wenn die Kamera Gertruds Gesicht erreicht, setzt auch ihre Rede ein. Sie blickt links aus dem Kader. Zwischen den Figuren gibt es keine Blickbeziehung. Die visuell getrennten Figuren verbindet nur der verschleppte Dialog mit den präzise artikulierten, doch eintönig vorgebrachten Repliken. Die Naheinstellung von Gertruds Gesicht hält vor, seine Rede fällt ins Off des Bildes. Schließlich fährt die Kamera nach rechts, erfasst kurz Gustavs Sprechen, kehrt dann wieder zurück zu Gertrud, als sei es von größerer Bedeutung, ihren mimischen Ausdruck beim Sprechen und Zuhören zu bezeugen. Eine Rückfahrt der Kamera endet bei einer halbnahen Einstellung, die beide Figuren in einer Ansicht zusammenschließt. Eine stark ausgeleuchtete Stuhllehne im Hintergrund des Bildraumes bringt jedoch auch hier die Figuren deutlich auf Abstand (Abb. 2–4). Die Montageverfahren des klassischen Kinos suchen den Blick der Kamera, der eine Abwesenheit evoziert, mit den Blickachsen und Bewegungsrichtungen der Figuren zusammenzuschließen. Beispielsweise durch das Schuss-GegenschussVerfahren werden die Bilder als Folge von subjektiven und objektiven Wahrnehmungsweisen gedeutet. Die perspektivische Organisation des Bildes und der Schnitt formen imaginäre Verbindungen zwischen der apparativen Blickinstanz (der Kamera) und den erblickten Objekten. Im Alternieren von Sehen und Gesehenem verortet die Folge der Einstellungen das Wahrnehmbare. Die sinnlichen Eindrücke des Films entwerfen eine perzeptive Subjektivität in Anbindung an die filmischen Figuren. Eine eindeutige narrative Ausdeutung des Kamerablicks bleibt Dreyer schuldig. Die Einstellungen und Bewegungen verweisen auf subjektiveWahrnehmungsakte, die jedoch nicht mit den Figuren zur Deckung kommen. Am Filmanfang schließen sich die Kamerafahrten den Gängen und dem Gepräch der Figuren an. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 119 Abb. 2: Videostill aus: Carl Theodor Dreyer: Gertrud, Dänemark 1964. Sie ermessen allmählich den Schauplatz. Wahrnehmbar werden im Innenraum minimale Veränderungen der Positionen und örtlichen Bezüge. Die Bewegungsimpulse und Richtungswechsel der Kamera werden durch die Unruhe der Figuren gelenkt. Die Sequenz ist hier im wörtlichen Sinne ein »Folgen«, bis zum Abwenden von der Figur oder dem Schnitt als Abbruch der bestimmten Bezugnahme über den Blick. Der Film bietet keine identifikatorische Deutlichkeit über Wechsel der Einstellungsgrößen oder point-of-view shots. Die Kamerabewegungen in Gertrud heben die Distanz zu den Körpern und Gesichtern nur selten auf. Der gewahrte Abstand der Einstellungen verstärkt den Eindruck der unversöhnlichen Fremdheit zwischen den Figuren. Die Bildgestaltung bewahrt sie auch gegenüber dem Zuschauer in unaufhebbarer Isolation. Filmische Interieurs Im Verlauf des Films richtet der Gebrauch der Einstellung eine lastende Immobilität des Visuellen aus. Vorherrschend sind statische halbtotale und halbnahe Einstellungen von frontal inszenierten Dialogen. Auf dem sichtbaren Bezug der Körper auf den Schauplatz beruht die bühnenhafte Wirkung der Rede und der gestischen Aktion. Ab der 60. Filmminute ist ein Gespräch zwischen Gertrud und dem Dichter Gabriel Lidman zu sehen. Sie begegnen sich bei einem Empfang, der zu Ehren von Lidmans Geburtstag gegeben wird. Eine Halbtotale zeigt eine sich öffnende Tür: Gertrud betritt einen hellen Salon. Ein Kameraschwenk erfasst ihren Gang durch den Raum. Aus dem Off hebt Lidmans Stimme an. Er fordert 120 U LRIKE H ANSTEIN Abb. 3 und 4: Videostill aus: Carl Theodor Dreyer: Gertrud, Dänemark 1964. sie auf, sich zu ihm zu setzen. Erst nach dem Ende seiner Rede wird Lidman im Bildfeld sichtbar. Eine Halbtotale umschließt dann beide Personen, ihre sichtbaren Körper und hörbaren Stimmen. Lidman sitzt im Bildfeld links auf einem Sofa, rechts steht Gertrud, ihm zugewandt. Gertrud nimmt neben Lidman Platz. Mit ihrem Einhalt kommt auch die Bewegtheit der Kamera für einen Moment zur Ruhe. Dann steht Lidman auf, um das Licht im Raum teilweise zu löschen. Dabei folgt die Kamera seinem Gang in den Hintergrund des Bildraumes mit einem Schwenk und einer kurzen Fahrt. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 121 Abb. 5: Videostill aus: Carl Theodor Dreyer: Gertrud, Dänemark 1964. Wenn Lidman in den Vordergrund zurückkehrt und sich wieder neben Gertrud setzt, so scheint mit seinem ermatteten Niedersinken auch der bewegte Kader »einzurasten«: Eine halbnahe Einstellung zeigt im Vordergrund einen runden Tisch, dahinter auf dem Sofa Lidman und Gertrud. Begrenzt wird der Raum in der Tiefe durch eine helle geschlossene Flügeltür. Gertrud und Lidman halten zwischen sich einen Abstand, der eine zufällige Berührung unmöglicht macht. Ihre Oberkörper sind einander leicht zugewandt, doch sie sehen sich nicht an. Beide blicken an der Kamera vorbei ins Off. Die statische Einstellung des Paars hält für die folgenden fünf Minuten an (Abb. 5). Der Dialog mit den schwerfällig wechselnden Repliken wird von Lidman angetrieben. Er drängt auf eine Erklärung, weshalb Gertrud ihn einst verlassen hat. Die in der Tonhöhe und Dynamik wenig variierenden Äußerungen und der fehlende Bezug über den Blick lassen das Gespräch kaum als Interaktion erscheinen. Die Rede beider Figuren adressiert nicht den anderen in Form einer Ansprache oder eines Anspruchs. Die matt vorgebrachten Worte wirken eher wie Monologe. Sie gleichen einem lauten Für-sich- oder Zu-sich-Selbst-Sprechen. Die Reglosigkeit der Figuren in der statischen Einstellung konzentriert die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die sichtbaren Zeichen der Artikulation und des Zuhörens, auf die Stimmen und die leise aus dem angrenzenden Raum klingende Musik. Durch Redundanzen, Pausen, Abbrüche und den Übergang von Lidmans Rede in ein Schluchzen stellt die Szene die Möglichkeit eines bedeutungsvollen Gesprächs in Frage. 122 U LRIKE H ANSTEIN Die Dauer der statischen Einstellung verdichtet das visuell Gegebene und das auditive Geschehen zu einem einheitlichen szenischen Zeit-Raum. Die Einstellung stabilisiert den Ausschnitt. Sie setzt ihn absolut. Die stillgestellte Ansicht ist unveränderlicher Bezugspunkt für kleinstmögliche interne Wandlungen. Wahrnehmbar wird die sensible Phrasierung der Haltung, der Gestik, der Blicke, des Lichts, des Faltenwurfs der Kleidung, der Atembewegung, der hörbaren Worte und des entfernten Klangs eines Stückes für Violine und Klavier. Im Gespräch weist Gertrud Lidman erneut zurück. Von Lidman erfährt sie, dass Erland Jansson bei einer Feier vulgär mit seiner letzten Eroberung prahlte und ihren Namen nannte. Tief verletzt erkennt sie die Gefühllosigkeit Janssons. Am Ende der Sequenz singt Gertrud ein Lied aus Robert Schumanns Dichterliebe (op. 48): »Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht, ewig verlor’nes Lieb, ewig verlor’nes Lieb! Ich grolle nicht, ich grolle nicht. Wie du auch strahlst in Diamantenpracht, es fällt kein Strahl in deines Herzens Nacht, das weiss ich längst. Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht.«19 Ebenso wie Lidmans Worte im Weinen verginggen, endet nach der ersten Strophe auch Gertruds stimmlicher Ausdruck (einer unerwiderten Liebe) in wimmernden Lauten. Dann sinkt sie ohnmächtig zu Boden. Dreyers karges Enthüllungsdrama sah sich nach der Premiere 1964 scharfer Kritik ausgesetzt. Kommentiert wurdeGertrud unter anderem als »two hour study of sofas and pianos«.20 Diese schroffe Bemerkung enthält den zutreffenden Hinweis, dass die filmisch entworfene Welt die Form des Interieurs annimmt. Wohn- und Innenräume bilden in Gertrud den unverrückbaren Gegenpart für die Aufdeckung individueller Empfindungen. Die widersprüchlichen Gefühle der Figuren finden in der material anschaulichen, bürgerlichen Lebensform ihren Ausdruck und ihre Beschränkung. Dekor und Mobiliar zeugen ebenso wie der Plot des psychologischen Kammerspiels, die Konversation im Salon und das Lied von einer Konstruktion der Innerlichkeit als historisch spezifischer Deutung einer bewussten Bezugnahme auf sich als empfindsames Selbst. Die Bilder von Sofas und Klavieren, von formell gekleideten Figuren umstellt von Leuchten, Gobelins, Gemälden, Stühlen und Tischen beharren mit einem kontemplativen Blick auf dem stofflichen Außen von Körpern und Dingen. Die insistierende Dauer der Einstellungen zeugt vom Versuch, ihren Anschein zu durchdringen und sie von innen zu begreifen. Kennzeichnen lässt sich diese Bewegungsrichtung auch an der weitgehenden Beschränkung der Handlung auf den Dialog. An die Stelle körperlicher Aktion tritt die Veränderung von Situationen durch Enthüllungen im intimen Zwiegespräch. Das »In-sich-Gehen« der Figuren ist selbst eingelassen in eine filmische Form, die ich im Folgenden als absolut bestimmte Räumlichkeit des Innen kennzeichnen möchte. 19 Text von Heinrich Heine zitiert nach Robert Schumann: Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung. Band 1, hg. von Max Friedlaender, Frankfurt am Main, Leipzig, London, New York 2002, S. 116–117. 20 Zur zeitgenössischen Rezeption von Gertrud siehe beispielsweise Elliott Stein: Gertrud. In: Sight and Sound 34 (1965), S. 56–58. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 123 Abgesehen von zwei Szenen im Park sind die Schauplätze der Handlung Innenräume. Die durch Möbel und Objekte strukturierten Räume bleiben vom Außen abgetrennt. Fenster werden zwar als Lichtquelle inszeniert, jedoch übermittelt die Kamera nie ihren Ausblick. Lediglich Wandspiegel und Gemälde fügen Öffnungen – zumindest Unterbrechungen – in die kompakten Raumgrenzen ein. Plansequenzen entdecken die Türen nicht als Verbindung zum Außen, sondern als Fluchten in weitere Innenräume und als Möglichkeit für Auf- und Abtritte im sichtbaren Raum. Im Zusammenspiel von Bildgestaltung und Mise en scène werden Türen zum Scharnier zwischen Schauplätzen und Situationen. Sie tragen Veränderungen des Sichtbaren und sachte, unmerkliche »Bild- und Tonschnitte« ein. Die langen statischen Einstellungen befestigen die Räumlichkeit des Innen. Sie isolieren eine Anordnung und schalten über ihre Dauer die Umgebung aus. Die Einstellung wird zur absoluten Rahmung, zum Abschluss des filmisch konstruierten Raumes. Wenn Figuren den Kader verlassen haben, halten Einstellungen manchmal für mehrere Sekunden vor. Trotz der andauernden Projektionsbewegung nähern sich diese leeren Raumansichten Stills. InGertrud werden keine Figurenbewegungen zwischen Orten gezeigt. Nur selten sind Gänge zu sehen, mit denen die Figuren in das Bildfeld eintreten oder es verlassen. Die ausweglosen Interieurs scheinen die Figuren zu lähmen, ihre kinetische, expressive und wortsprachliche Bewegung gerinnt in der Einstellung. Die Ansichten von Innenräumen werden zu interiorisierten optischen und akustischen Bildern: Mit der Beschränkung und Diskontinuität des Visuellen werden über die Dauer des Films für den Zuschauer die Möglichkeiten imaginativer Ergänzungen des Sichtbaren immer weiter abgebaut. Die Isolation der einzelnen Einstellung gegenüber der vorangehenden und nachfolgenden, verfestigt so den Eindruck, dass auch die Aktualisierung weiterer Bilder die abgedichtete Ansicht nicht auf ein wandelbares Außen hin zu öffnen vermag. Die Einstellungen betonen ihren Ausschluss, ihre konstitutive Geste einer Auslöschung von Sichtbarkeit. Die Folge der Einstellungen inGertrud bezieht das Bild auf ein absolutes Off. Off meint hier nicht mehr den möglichen Anschluss an das sichtbar Gegebene. Es bezeichnet keine Umgebung in kurzer, zu überwindender Entfernung, sondern einen unaufhebbaren Entzug. Die filmisch entworfene Welt kontrahiert zur Einstellung. Der solitäre Ort des Betrachters Im Rückgang auf Cavells Interpretation von Gertrud möchte ich die Einstellungsfolgen als Subjektivierungsakte des audiovisuellen Bildes näher bezeichnen. Zu verdeutlichen ist dabei, dass die filmische Konstruktion Ich-hafter Empfindungssubjekte nicht einfach mit figurengebundenen Perspektiven übereinkommt. In seiner Auseinandersetzung mit Gertrud widmet sich Cavell der Frage, in welcher Weise die Gestik der Kamera im Verlauf des Films als bedeutungsvoller Äußerungsakt erfahren wird. Als signifizierende Gesten bestimmt Cavell die Sta- 124 U LRIKE H ANSTEIN gnation der einzelnen Einstellung, die keine Begründung über den Schnitt erfährt. Sie fügt sich nicht als Segment in einen sukzessiv als kontinuierlich erfahrenen Raum. In den langen statischen Einstellungen werden die Bewegt-Bilder für Momente als Stills wahrgenommen und tragen dennoch eine Veränderung. Der Gebrauch der Einstellung exponiert die Begrenztheit der fotografischen Aufnahme. Das Verhältnis der Kamera zum Sichtbaren scheint selbst zum Geschehen des Bildes zu werden im nachdrücklichen Aufweis der kontingenten Perspektive: »The camera, once placed, is typically stilled for long minutes at a stretch, so that there is something recognizable as a frame […]. […The characters] pose and repose themselves against a total, simplified environment, as for a painting or a still portrait, and the result is not the commemorative or candid significance of paintings or still photographs, but the opacity of self-consciousness. The emotion conveyed is of theatricality, and the cause of the emotion lies not in the drama of the characters’ words and gestures but in our sense that they are characters before themselves, that our views of them are their views of themselves. Their views are not caused by ours, by their awareness that they are being watched from outside; their awareness is of being watched from inside.«21 Theatralität steht hier für die Wahrnehmung einer Distanz zur Welt. Anlässe dafür bietet der unauflösbare Konflikt zwischen Einbildungskraft, Sinnesdaten und Ausdrucksvermögen. In Gertrud werden die audiovisuellen Bilder selbst gegenüber der sichtbaren Figurenaktion als Wahrnehmungsakte eines Ich-haften Bewusstseins erfahrbar. Die Folge der Einstellungen vergegenwärtigt und enthüllt spezifische Erfahrungsweisen eines Selbst- und Weltverhältnisses. Dreyers filmisches Projekt bestimmt Empfindungssubjekte im stets gefährdeten, ungewissen Bezug zum anderen. »The sense of constriction about these characters – the sense that they are limited or condemned to the same views of themselves that we are given – produces a sense that it is they who are selecting these views, as if their spiritual energies are exhausted in the effort to find some perfect or complete view of themselves to offer and to retain.«22 Die filmischen Entwürfe von Selbstverhältnissen führen ein Erleben unzureichender Expression auf. Für die Figuren nimmt die Erfahrung von Subjektivität die Form der Isolation an. In der Dauer der optischen und akustischen Wahrnehmungen greift dabei ein »Innen« des Empfindens über die sichtbare Figur im Bild hinaus. Die Einstellungen vergegenwärtigen einen Ich-haften Selbstbezug als sinnlichen Zugang zur (und wandelbare Bestimmung der) filmischen Welt. Die Verwendung der Einstellung in Gertrud ist für Cavell ein Beispiel, wie spezifische Gebrauchsweisen etwas über die allgemeinen Bedingungen der filmischen Bedeutungsstiftung zu erkennen geben. Seine Interpretation des Films begreift er als sprachlichen Nachvollzug der Aufklärung, die Kunstform und Einzelwerk über einander geben können. Wenn Cavell von einer Ontologie des Fotografischen oder des Films spricht, so führt er zugleich eine methodische Kritik des Geltungsanspruches 21 Cavell 1979 (wie Anm. 1), S. 204–205. 22 Ebd., S. 206. D IE MASSGABE DER E INSTELLUNG, DIE G RENZE DES F ILMS 125 an. Die Bestimmung des Films als Medium konzipiert Cavell als unabschließbar. Seiner Auffassung nach ist ein Medium nicht durch apparative Bedingungen und technische Verfahren determiniert, sondern es wird durch Verwendungsweisen konstituiert – durch die fallweise Verwirklichung bestimmter Möglichkeiten, die etwas im/durch das Medium als bedeutungsvoll erfahrbar werden lassen. »[T]he aesthetic possibilities of a medium are not givens. […] I feel like saying: The first successful movies – i.e., the first moving pictures accepted as motion pictures – were not applications of a medium that was defined by given possibilities, but the creation of a medium by their giving significance to specific possibilities. […] A medium is something through which or by means of which something specific gets done or said in particular ways.«23 Die Auseinandersetzung mit Merkmalen einer Kunstform sieht Cavell an die Betrachtung konkreter Verwendungsweisen verwiesen. Die Formen und der Gebrauch konstituieren das in einem Medium Realisierbare. Die Verwirklichung von bedeutungsvoll erfahrbaren Ausdrücken sind ebenso wie die Akte der Interpretation fallweise-bestimmende Bewegungen. Mit Cavells filmtheoretischen Reflexionen lassen sich für Überlegungen zum Maß der Bilder zwei Anhaltspunkte eintragen: erstens die Befragung ihres kategorialen und epistemologischen Status und zweitens die Untersuchung der Bedingungen, die im Verhältnis zum Betrachter Bedeutung mit konstituieren. Für das Darstellungsvermögen des kinematografischen Bildes bleibt zu ermitteln, welchen Aufschluss die sinnlichen und rationalen Erfahrungsgehalte des Films über das ästhetische Medium geben können. Angeleitet von dieser Frage möchte ich für Dreyers filmische Form die bestimmende Funktion der Einstellung an der letzten Szene pointieren. Dreyer beschließt seinen Film, abweichend von Söderbergs Textvorlage, mit einem Epilog (ab der 103. Minute). Die Sequenz markiert einen Zeitsprung und zeigt die gealterte Protagonistin im Gespräch mit einem Freund. Ebenso wie in zwei vorangehenden flashback-Szenen finden sich hier leicht überstrahlte high-key Aufnahmen, die unscharfe Konturen und wenig Plastizität aufweisen. Diese formale Reminiszenz, die Ähnlichkeiten zu den »inneren Bildern« der Rückblenden ausbildet, lässt die Schlussszene uneindeutig werden. Ob es sich um ein Geschehen der diegetischen Realwelt, um ein retrospektives oder visionäres Schauen handelt, bleibt unentscheidbar.24 Auch der Dialog konstruiert Wechsel der Zeitperspektive. Der lineare Ablauf der Bilder ist mit einer wortsprachlichen Wiederholung und einer Vorwegnahme des Zukünftigen synchronisiert. Gertrud liest laut ein Gedicht, das sie als junge Frau schrieb. Dann verabschiedet sie ihren Gast mit den Worten: »One day your visit will be just a memory like all the other memories that I keep. Occa- 23 Ebd., S. 31–32. 24 Ein Kommentar zur Zeitlichkeit dieser Szene findet sich in Raymond Carney: Speaking the Language of Desire. The Films of Carl Dreyer, Cambridge, New York 1989, S. 328–341. 126 U LRIKE H ANSTEIN sionally I revive the memories and become absorbed in them and I feel as if I stare into a dying fire.«25 Eine Schuss-Gegenschuss-Montage zeigt die zögernde Trennung. Gertrud und ihr Gast verabschieden sich mit einem langsamen Winken über die Distanz eines großen, beinahe leeren Raumes hinweg. Die letzte Einstellung des Films erfasst Gertrud hinter einer leicht zum Zuschauer geöffneten Tür. Mit dem Schließen der Tür verschwindet die Figur im Off des Bildes. Mit einer langsamen Fahrt entfernt sich die Kamera von der geschlossenen Tür und erweitert den Ausschnitt des sichtbaren Raumes. Die Bewegung endet und eine statische Einstellung erhält für mehrere Sekunden die Ansicht des unbelebten Interieurs. Zur leisen Streichermusik tritt ein Glockenläuten. Es führt im stillstehenden Bild ein Metrum für die vergehende Zeit ein. Zum andauernden Läuten blendet die letzte Einstellung ins Schwarz. Die geschlossene Tür sperrt auch den Zuschauer aus, den ungesehenen Gast der filmischen Innenräume. Das leere Bild ist ein Entzug. Es trägt für den Zuschauer einen distanzierenden Abstand ein. Es markiert die Unverfügbarkeit des Betrachteten als Bedingung der kinematografischen Wahrnehmungsordnung. Die letzte Einstellung exponiert die räumliche und zeitliche Begrenztheit als Kondition des Films. Die sinnliche Verbindung zu den Wirklichkeitsoptionen der Bilder ist durch deren Dauer und Zeitmaß mitentschieden. Die bewegten Projektionen des Kinos sind wie Gertruds Erinnerungsbilder zugleich Reanimation und Verlöschen: »Occasionally I revive the memories and become absorbed in them and I feel as if I stare into a dying fire.«26 Dreyers filmische Form setzt über die Dauer und die Anschlüsse der Einstellungen Erfahrungen der Bewahrung und des Verschwindens des Bildes frei. Für den Zuschauer schließt die Wahrnehmung der Projektionen einer abwesenden Welt auf zu der einer sich auszehrenden Zeit. »[I]t isn’t that filmic cinema, like lived time, is memory in the making. Under the rule of cinematographic speed, of retentive evanescence, or in other words under the optical lure of movement’s own virtuality in projection, it is rather that the memory trace is time in the making: time coming forth as image, where what you see is what you lose.«27 Als Zuschauerin kommt man nicht umhin, in der letzten Einstellung von Gertrud eine filmische Geste der Entsagung zu erkennen – »Ich grolle nicht«. 25 Dialog in der 110. Filmminute, zitiert nach der englischen Untertitelung der DVD. Carl Theodor Dreyer: Gertrud, London, British Film Institute Video Publishing 2006. 26 Ebd. 27 Garrett Stewart: Framed Time. Toward a Postfilmic Cinema, Chicago, London 2007, S. 3. 8 Emersive Bilder Zum Zuschauer-Bild-Verhältnis in David CronenbergsVideodrome M ICHAEL F ÜRST Unter dem Begriff ›Medienreflexivität‹ lassen sich Filme zusammenfassen, die das eigene oder ein anderes Medium in einer bestimmten Form repräsentieren oder strukturell darstellen. Auch David Cronenbergs Film ›Videodrome‹ (1982) ist ein solcher Film, der die Medien Fernsehen und Video reflektiert. Medien, hier im Sinn Michel Foucaults verstanden als Mediendispositive, die aus unterschiedlichen Elementen ein produktives und dynamisches Netz ergeben, führen damit Diskurse über sich selbst und andere Mediendispositive. Dabei spielt das Zuschauer-Bild-Verhältnis eine zentrale Rolle. In Cronenbergs ›Videodrome‹ nimmt das Bild monströse Züge an und attackiert seine Zuschauer, indem es die Grenze zwischen Bild- und Zuschauerraum gewaltsam durchbricht. Medienreflexive Horrorfilme machen dies durch monströse Darstellungen und Bilder von Gewalt sichtbar, die als filmische Attraktionen das Narrative in den Hintergrund treten lassen. Wie in ›Videodrome‹ die Mediendispositive Fernsehen und Video repräsentiert werden und dabei das Verhältnis zwischen Zuschauer und Bild dargestellt wird, steht im Zentrum dieses Beitrags. Aus dem Bild heraus, den Zuschauern entgegen Rund 25 Jahre nach der Entstehung von David Cronenbergs Film Videodrome (Kanada 1982) stößt man auf der Homepage des Media Markt auf eine Werbung zum »Interaktiven Fernsehen de luxe« (Abb. 1): Zwei Menschen strecken sich aus dem ihnen zugehörigen Bildraum des jeweiligen Mediums, in dem sie als Bild vorhanden zu sein scheinen, und berühren sich zärtlich, nur noch wenige Zentimeter trennen sie von einem Kuss. In dieser Werbeanzeige steht das Paar – die heterosexuelle Paarkonstruktion ist nicht überraschend – für die beiden Mediendispositive Fernsehen und Mobiltelefon, die dank neuer Technologien miteinander verknüpft werden können. Das Stichwort ist ›Interaktivität‹ und es geht um die scheinbar ganz individuelle, persönliche Einwirkung des Zuschauers auf bestimmte Fernsehinhalte mittels des Mobiltelefons. Weniger wichtig an dieser Abbildung neuer medialer Möglichkeiten sind die ideologischen und vor allem kommerziellen Implikationen, auch wenn diese ein essentieller Bestandteil werbewirksamer Anzeigen sind. Vielmehr schlägt die Darstellung der beiden Bildmedien, deren Bildelemente sich aus ihrer Oberfläche 128 M ICHAEL F ÜRST Abb. 1: Werbung der Firmen Blucom und Media Markt für interaktives Fernsehen aus dem Jahr 2008. herauslösen und in gegenseitigen Kontakt treten, die Brücke zu Cronenbergs Film Videodrome, in dem der Regisseur auf noch immer eindrucksvolle Weise eine Vorstellung von der dispositiven Wirkmacht von Fernseh- und Videobildern entwirft. Damit wird das Interesse explizit auf die Bilder gelenkt, das heißt auf ihr mediales Eingebundensein in ein Dispositiv, auf das Verhältnis von Körper und Bild und die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bild und Zuschauer. Die rhetorische Figur der Personifikation spielt in dieser Konstellation eine zentrale Rolle, durch die dem gestaltlosen Phänomen ›Bild‹ eine Form gegeben wird, die wiederum als bedeutsam aufgefasst werden kann. Das ›Wie‹ der Darstellung ist entscheidend. Während es in der Werbeanzeige eine Kuss-Szene ist, die die Zusammengehörigkeit zweier als bisher unterschiedlich wahrgenommener Medien zur Anschauung bringt, nehmen die Bilder in Videodrome deutlich monströse Gestalt an. Und während das Paar die innovative Überwindung einer als einschränkend empfundenen Grenze erotisch aufgeladen demonstriert, rückt in Videodrome die Verbindung von Gewalt und Sexualität in den Mittelpunkt, wird das Begehren medialer Bilder zum Verhängnis, wenn die sichere Grenze zwischen Bildraum und Realität nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Vor allem demonstriert die Anzeige jedoch, dass es möglich ist, der so oft konstatierten immersiven Bildwirkung in einer Umkehrbewegung die – so könnte man sagen – emersive Bildattacke entgegenzuhalten.1 Nicht das ›Hinein‹, das 1 Steven Shaviro geht in seiner Arbeit zur affektiven Wirkung von Filmbildern ebenfalls davon aus, dass diese eher aggressiver Art ist: »Film’s virtual images do not correspond to anything E MERSIVE B ILDER 129 Eintauchen in das Bild ist notwendigerweise Garant für einen engen Kontakt zwischen Bild und Zuschauer,2 sondern vielmehr das ›Heraus‹, das gewaltsame Eindringen des Bildes in die Welt des Zuschauers, muss als Zeichen für ein besonderes Zuschauer-Bild-Verhältnis verstanden werden. Eine Reflexion über eben dieses Bildphänomen findet sich bei Victor I. Stoichita, der es bei Gemälden aus dem 16. Jahrhundert entdeckt und in genauen Beschreibungen einzelne Elemente hervorhebt, die diese Art der Grenzüberschreitung evozieren.3 Mit dem Verweis auf die Bildende Kunst soll nicht versucht werden, einen Ursprung für die Stoßrichtung des Bildes in den Zuschauerraum zu suchen. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass diese bestimmte Bewegungsrichtung – ob in Richtung auf den innerbildlichen oder außerbildlichen Betrachter/Zuschauer – als Teil einer reflexiven, bildnerischen Praxis eingesetzt wird, um das Zuschauer-Bild-Verhältnis unabhängig vom Medium selbst zu steuern. actually present, but as images, or as sensations, they affect me in a manner that does not leave room for any suspension of my response. I have already been touched and altered by these sensations, even before I have had the chance to become conscious of them. The world I see through the movie camera is one that violently impinges upon me, one that I can not longer regard, unaffected, from a safe distance. But this also means that cinema involves the violation of presence and the irreversible alienation of the viewer. The cinematic image, in its violent more-then-presence, is at the same time immediately an absence: a distance too great to allow for dialectical interchanges or for any sort of possession. In its disruptive play of immediacy and distance, film is not just an art without an aura; it is an art that enacts, again and again, what Bataille calls the sacrifice of the sacred (auratic) object, or what Benjamin calls the disintegration of the aura in the experience of shock.« Steven Shaviro: The Cinematic Body, Minneapolis 1993, S. 46. Auch Beate Ochsner verweist auf Shaviro in Hinblick auf den »Gewaltsamen Angriff [der Bilder; M.F.] auf die Unversehrtheit des Körpers.« Beate Ochsner: Die (Un-)Ordnung der Bilder. Zum Status der Realitäten in Videodrome (1982) und eXistenZ (1998). Zur Konfusion der Bilder. In: Oliver Fahle (Hg.): Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen, Weimar 2003, S. 157–178; hier S. 167. Und Sabine Nessel schreibt in Hinblick auf den Katastrophenfilm: »Gezeigt werden Bilder, die den Zuschauer nicht verführen, sondern attackieren wollen.« Sabine Nessel: Wiederkehr der amerikanischen Berge. Zur Kontinuität der Ansätze von Laura Mulvey und Tom Gunning im Spiegel neuerer Katastrophenfilme. In: Christine Rüffert et. al. (Hg.): Unheimlich anders. Doppelgänger, Monster, Schattenwesen im Kino, Berlin 2005, S. 153–160; hier S. 159. 2 Eine umfangreiche Studie zum immersiven Bild hat Oliver Grau vorgelegt, der eine direkte Linie von frühen Raumgestaltungen der Antike über Panoramen bis hin zur ›cave‹ einer virtuellen Realität in der Medienkunst zieht. All diese Bild-Räume hätten die Funktion, die Betrachter mittels verschiedener Mechanismen eines zunehmenden Illusionismus in sich hinein zu ziehen. Und obwohl Grau selbst auf die Auswölbung des Bildes in den realen Raum der Betrachter eingeht, wenn er etwa von Faux Terrains spricht, bleibt die Richtung der Bildwirkung einseitig. Siehe Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2001. 3 Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, [Paris 1993], übers. von Heinz Jatho, München 1998, S. 16. 130 M ICHAEL F ÜRST Das Zuschauer-Bild-Verhältnis, so lässt sich allgemein festhalten, ist durch das jeweilige Mediendispositiv organisiert.4 In Anlehnung an Michel Foucault ist unter einem Dispositiv ein Netzwerk zu verstehen, das durch das Zusammenspiel unterschiedlichster Elemente entsteht.5 In Bezug auf Medien umfasst ein solches Netzwerk Elemente wie eine bestimmte Architektur, eine topografische Anordnung, Technologien, soziale und kulturelle Praktiken der Mediennutzer, Diskurse, Bilder und vieles mehr. Das Netzwerk setzt sich allerdings nicht einfach aus diesen Elementen zusammen, sondern konstituiert sie selbst erst in ihrem Zusammenspiel. Entsprechend sind Mediendispositive für die Konstruktion ihrer Zuschauer verantwortlich. Anders als in den frühen Apparatus-Theorien wird hier die diskursive Zurichtung des Zuschauersubjekts einerseits und sein ›Mittun‹ am ›Zuschauer-Sein‹ andererseits ins Zentrum der Beobachtung gerückt und nicht die auf der Basis psychoanalytischer Theorien basierenden Ansichten zur Subjektwerdung. Es sind darüber hinaus die Überlegungen von Gilles Deleuze und Giorgio Agamben zum Dispositiv, die ihren Einfluss auf die hier ausgeführten Gedanken haben. Beide beziehen sich direkt auf Foucault und geben neue Impulse für ein theoretisches Dispositivkonzept. Deleuze macht ein prozessuales Verständnis von Dispositiven stark, die ständigen Veränderungen unterliegen.6 Agamben hingegen, der nunmehr alles als Dispositiv verstehen will, damit also Foucaults Begriff in seiner Bedeutung stark ausweitet, macht deutlich, dass alles in unserer Kultur als Dispositiv die gesellschaftlichen Subjekte herstellt, geht aber auch davon aus, dass es ein Stadium des Subjekts vor dem Eintreten in das Symbolische gibt, das er ›Lebewesen‹ nennt. Dieses vorkulturelle Subjekt, das im eigentlichen Sinne noch keines ist, durchlaufe zu allererst verschiedene Subjektivierungsprozesse, die von Dispositiven organisiert seien. Auf diese Weise sei es den Lebewesen möglich, verschiedene Identitäten auszubilden, da jede Subjektivierung wie eine Maske funktioniere. Massenmedien dagegen förderten die Desubjektivierung, weil, so lässt sich Agambens negative Sicht auf technische Medien verstehen, keine individuelle Identität ausgebildet wird, sondern ein kollektiver Uniformismus vorherrscht.7 Entscheidend für die film- und medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Film ist, dass Mediendispositive aus verschiedenen Teilen bestehen und nicht in ihrer Gesamtheit, so es eine solche Abgeschlossenheit überhaupt gibt, gefasst werden können. Sie haben immer auch eine historische Komponente, die 4 So fasst auch Jacques Aumont die Funktion des Dispositivs zusammen: »[T]he apparatus may be defined as the regulation of the conjunction between spectator and image.« Jacques Aumont: The Image, [Paris 1990], übers. von Claire Pajackowska, London 1997, S. 130. 5 Siehe Michel Foucault: Ein Spiel um die Psychoanalyse. In: ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 118–175. 6 Siehe Gilles Deleuze: Was ist ein Dispositiv?. In: François Ewald, Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt am Main 1991, S. 153–162. 7 Siehe Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich, Berlin 2008. E MERSIVE B ILDER 131 Veränderungen einschließt und damit auch Varianten eines Dispositivs denkbar macht. Schließlich kommt einem Mediendispositiv die machtvolle Funktion der Subjektivierung zu. Letzteres jedoch nicht, wie bei Agamben, in einem pessimistischen Sinn, sondern aus einer notwendigerweise kritisch-reflexiven Perspektive, die in diesem Fall versucht, dem Phänomen der Figur des Monsters als Personifikation des bewegten Bildes in medienreflexiven Horrorfilmen nachzugehen.8 Als medienreflexiv sind Filme zu verstehen, die gerade nicht allein das eigene Mediendispositiv (selbstreflexiv) zur Anschauung bringen, sondern auch andere verhandeln.9 Ein solcher Film ist Videodrome, der das Mediendispositiv Fernsehen auf besondere Weise repräsentiert, das in dieser Variante eng gekoppelt mit dem Videodispositiv in Erscheinung tritt. Und es muss angemerkt werden, dass jede filmische Reflexion eines Mediendispositivs, sei sie nun repräsentationaler oder strukturaler Art, immer nur eine Momentaufnahme, ein Stillstellen eines Mediendisposititivs zu einem bestimmten Zeitpunkt sein kann und niemals das gesamte Dispositiv erschöpfend wiedergibt oder vorführt. Das Bild wird zu Fleisch Der Film Videodrome, dessen fantastische Erzählung um die direkte körperliche Wirkung von Fernseh- und Videobildern kreist, reflektiert die Dispositive Fernsehen und Video in ihren spezifischen Verknüpfungen.10 Das repräsentierte 8 In Hinblick auf das Monströse und die Zurichtung des Körpers schreibt auch Shaviro: »There is no getting away from the monstrosity of the body, or from the violence with which it is transformed, because there is no essential nature, no spontaneous being, of the body; social forces permeate it right from the beginning. The body is at once a target for new biological and communicational technologies, a site of political conflict, and a limit point at which idelogical oppositions collapse. Nobody has gone further than Cronenberg in detailing the ways in which the body is invested and colonized by power mechanisms, how it is both a means and an end of social control.« Shaviro 1993 (wie Anm. 1), S. 134–135. 9 Zu den Fragen der Medienreflexion siehe insbesondere Jay David Bolter, Richard Grusin: Remediation: Understanding New Media, Cambridge (Mass.) et al. 2000. Paul Young: The Cinema Dreams its Rivals. Media Fantasy Films from Radio to the Internet, Minneapolis, London 2006. Andrea Seier: Remediatisierung. Die performative Konstitution von Gender und Medien, Berlin 2007. 10 Damit zeigt sich deutlich, wie flexibel Mediendispositive gedacht werden müssen. Zwar ist es durchaus möglich, das Verständnis vom jeweiligen Mediendispositiv enger zu fassen, aber gleichzeitig müssen Verschränkungen wie die zwischen Fernsehen und Video in den Blick genommen werden, die Teil der historischen Veränderungen eines Mediendispositivs sind. Yvonne Spielmann hingegen wendet den Begriff des Dispositivs auf das Medium Video nicht an, weil sie darunter ein abgeschlossenes System versteht, mit dem man Video nicht beschreiben könne, da es strukturell anders aufgebaut sei als Kino oder Fernsehen. Ihr geht es aber nicht um die inhärente Macht des Mediums, die hier jedoch von Bedeutung ist, selbst wenn dies im Rahmen eines relativ offenen und dynamischen Netzwerks geschieht. Somit ist es sinnvoll, an dieser Stelle mit dem Dispositivbegriff zu operieren. Siehe Yvonne Spielmann: Video. Das reflexive Medium, Frankfurt am Main 2005, besonders S. 19. 132 M ICHAEL F ÜRST Dispositiv erstreckt sich ausgehend vom Fernsehapparat über einen Fernsehsender (›Civic TV‹), die Möglichkeit eines offenen Kanals, die Videotechnologie inklusive Kamera für eigene Aufnahmen und deren Distribution unabhängig von Sendeanstalten bis hin zur reinen Präsenz als elektronisches Bild einzelner Personen, die die öffentliche Meinung beeinflussen. Eine besondere Rolle kommt den Videokassetten als Speicher- und Verbreitungsmedien von Fernsehbildern und selbst hergestellten Bildern zu. Insbesondere in der Figur des Professor Brian O’Blivion wird das medienwissenschaftliche Verständnis eines Mediums zum Zweck der Kommunikation deutlich. Er existiert nur als auf Videokassetten gespeichertes, monologisierendes Bewegtbild ohne eigenen menschlichen Körper. Auf diese Weise bedarf er eines technischen Körpers, bestehend aus Videorekorder und Fernsehapparat, um überhaupt in Kontakt mit anderen treten zu können. Die mediale Vermittlung menschlicher Körper zeigt sich darüber hinaus daran, dass die wichtigsten Charaktere des Films zunächst als Fernsehbild eingeführt werden. Auf diese Weise wird deutlich, dass ein solches Bild immer von einem Rahmen eingefasst ist, der das Dargestellte zurichtet und in dieser bearbeiteten Form seinen Zuschauern darbietet.11 Besonders einprägsam in dieser Hinsicht ist die Sequenz in der Rena King Show (00:08:11– 00:11:03), einer Talkshow zum Thema Sexualität und Gewalt im Fernsehen, zu Beginn des Films. Es sind ausschließlich Medienvertreter – Max Renn ist Mitinhaber eines Fernsehkanals, Niki ist Radiomoderatorin und Professor O’Blivion eine Art Medienwissenschaftler oder -philosoph –, die im Medium Fernsehen präsent sind. Sie werden alle als Bilder über Bildschirme eingeführt, bevor die Kamera schließlich selbst den Blick in die Runde frei gibt. Jeder Bildschirm zeigt die entsprechende Person aus einer bestimmten Perspektive und in einem bestimmten Ausschnitt, immer jedoch nur als Fragment, innerhalb des Rahmens, bevor die ›reale‹ Kamera die Bilder aus diesen Rahmen zu befreien scheint, sie ausrahmt, ohne sie tatsächlich aus ihrem Rahmen zu entlassen, der jetzt die Kinoleinwand oder der Fernsehapparat der außerfilmischen Zuschauer ist. Schon in dieser Sequenz, in der das Sprechen über Bilder, die Präsenz im und außerhalb des Bildes zentral sind, zeichnet sich die Komplexität des gesamten Films ab. Dieser funktioniert weniger auf narrativer Ebene12 als vielmehr auf der 11 Inwieweit ein Mediendispositiv seine Macht auf die Außenwelt wirksam werden lassen kann, zeigt Peter Greenaway in The Draughtsman’s Contract auf besonders eindrückliche Weise. Nicht nur technische Grundbedingungen, sondern auch sozio-kulturelle Normen und Vorstellungen bestimmen die Macht des jeweiligen Dispositivs. Zur Rolle des Rahmens als »parergon« siehe Stoichita 1998 (wie Anm. 3), S. 75: »Bei jedem Bild begründet der Rahmen die Identität der Fiktion. Einem Bild zusätzlich zu seinem wirklichen einen gemalten [gefilmten; M.F.] Rahmen zu geben, heißt die Fiktion zu potenzieren. Das Bild mit gemaltem [gefilmtem; M.F.] Rahmen affirmiert sich zweifach als Darstellung: es ist das Bild eines Gemäldes [Mediendispositivs; M.F.].« 12 Beate Ochsner spricht daher von der »gestörte[n] Ordnung der Bilder«. Siehe Ochsner 2003 (wie Anm. 1), S. 160. E MERSIVE B ILDER 133 Ebene visueller Präsenz. Videodrome steht somit der Idee eines »Kinos der Attraktionen«, wie es von Tom Gunning beschrieben wurde, nahe.13 Es geht in diesem Film um das Zeigen von Bildern. Das exhibitionistische Moment dieses Films, dem gegenüber einer kohärenten und logisch schlüssigen Erzählung der Vorrang gegeben wird, äußert sich vornehmlich in Bildern von Gewalt und Sexualität. Gunning stellt genau diese Betonung des Bildes als Ereignis in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: »Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Kino der Attraktionen die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sehr direkte Weise fordert, indem es die visuelle Neugier erweckt und vermittels eines aufregenden Spektakels Vergnügen bereitet – eines einmaligen Ereignisses, egal ob fiktiv oder dokumentarisch, das für sich interessant ist. Diese Art des Filmemachens ist durch das direkte Ansprechen des Publikums gekennzeichnet, durch einen Kinovorführer, der den Zuschauern eine Attraktion darbietet. Der dramatischen Zur-Schau-Stellung wird der Vorrang gegeben vor dem Narrativen, dem direkten Auslösen von Schocks oder Überraschungen vor dem Ausbreiten einer Geschichte oder dem Erschaffen eines diegetischen Universums.«14 Die bewegten Bilder des Horrorfilms, verstanden als Attraktionen, stehen insofern auch dem Konzept des »Chocks« im Sinn Walter Benjamins nahe.15 Für beide Ansätze spielt Wahrnehmung in Verbindung mit Reaktion eine entscheidende Rolle. Auch die monströsen Bilder innerhalb der medienreflexiven Horrorfilme fordern ihre Zuschauer derart heraus, dass eine Reaktion unvermeidbar ist. Das Besondere der Fernseh- und Videobilder in Videodrome ist ihre Fleischwerdung, ihre Manifestation im Körperlichen. Sie transportieren ein unsichtbares Signal, das einen Hirntumor bei den Zuschauern auslöst, der wiederum für die Erzeugung von Halluzinationen verantwortlich ist. Kurz: Die Bilder wirken auf ihre Zuschauer derart ein, dass ihnen ein neues Organ wächst, das selbst wieder Bilder erzeugt. Ein undurchdringlicher Bilderkreislauf entsteht, der in der Auflösung des menschlichen Körpers im Bild aufgeht. Auf der Ebene der Repräsentation stellt sich die Materialisierung der Bilder unterschiedlich, aber zumeist in Form von Bildern von Gewalt und Sex dar. 13 Tom Gunning: Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde. In: Meteor. Texte zum Laufbild 4 (1996), S. 25–34. 14 Ebd., S. 29–30. Ochsner ist hier radikaler, vertritt aber grundlegend dieselbe Ansicht, wenn sie davon ausgeht, dass »sich der nach eigenen Aussagen einzige ausschließliche first-personfilm David Cronenbergs, Videodrome, gerade durch den Verzicht auf jedwede Erzähllogik oder Handlung aus[zeichnet]; vielmehr scheint der kanadische ›body-horror-Regisseur‹ (Martyn Steenbeck) eine vorführerlose Projektion vereinzelter Bilder zu bevorzugen, wie auch der Protagonist Max Renn [...] an möglichen inhaltlichen Zusammenhängen der einzelnen snuffBilder sich allein aus ökonomischen Gründen desinteressiert zeigt.« Ochsner 2003 (wie Anm. 1), S. 158. 15 Siehe Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. In: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt am Main 1977, S. 185–229. 134 M ICHAEL F ÜRST Abb. 2: Filmstill aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. Übergriff der Bilder In Videodrome ist es Max Renn, der den Wirkungen der Bilder ausgesetzt wird und zu halluzinieren beginnt. Bald schon ist jedoch nicht mehr klar, wie die Realitätsebenen des Films auseinander gehalten werden können. So sitzt er in einer der Szenen vor seinem privaten Fernsehgerät und sieht sich ein Video an, das ihm durch seine Sekretärin zugestellt wurde. Zunächst spricht Professor O’Blivion ganz allgemein, dann allerdings adressiert er Max direkt mit seinem Namen, spricht ihn also persönlich an. Diese Form der Unmittelbarkeit, die sich ebenfalls durch Veränderungen auf der Ebene des Tons bemerkbar macht, erzeugt eine Intimität und Nähe zwischen dem Bild und seinem Zuschauer, wie sie bei einem Videobild sonst nicht möglich sind. Dann aber verändern sich die Bilder und das Gesicht von Niki ist zu erkennen, das zunehmend größer auf der Bildschirmoberfläche erscheint, bis innerhalb des Rahmens nur noch ihre Lippen zu sehen sind (Abb. 2 und 3). Sie ruft Max mit verführerischer Stimme zu sich, der daraufhin den Apparat zärtlich berührt. Während Nikis erotisiertes Atmen zu hören ist, bildet das Fernsehgerät auf seiner Oberfläche plötzlich Adern aus und nimmt damit deutlich menschliche Züge an (Abb. 4). Niki, so lässt sich sagen, zeigt sich als Symbiose aus Bild und Cyborg. Die Bildschirmoberfläche, die nunmehr nicht nur Nikis Lippen zeigt, sondern vielmehr zu Lippen geworden ist, wölbt sich schließlich nach außen, Max entgegen, der sie küsst. Er taucht dabei mit seinem Kopf in die Bildoberfläche ein, ohne jedoch gänzlich darin zu versinken (Abb. 5). Diese Kombination aus erotischen Handlungen und plötzlichen Zügen des Monströsen sind keine Seltenheit in Videodrome. Das Bild wird zu Fleisch und geht mit seinem Gegenüber eine körperliche Verbindung ein. Es wölbt sich ihm ent- E MERSIVE B ILDER 135 Abb. 3: Filmstill aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. gegen, schießt auf ihn und explodiert vor seinen Augen. In jedem Fall sind die monströsen Bilder inVideodrome keine immersiven Bilder, sondern geradezu Bildattacken, die ihren Zuschauer direkt angreifen oder sexuell erregen, was sich am deutlichsten in der Ausbildung eines Tumors im Kopf des Zuschauers zeigt. Für den Tumor gibt es kein spezielles Bild, vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass alle Bilder in Videodrome Projektionen dieses Organs sind, da der Film ausschließlich aus der First-Person-Perspektive Max Renns erzählt wird. In der oben beschriebenen Szene zeigt Cronenberg das Mediendispositiv im Privatraum, wo sich Fernsehapparat und Videorekorder für gewöhnlich befinden. Ein einzelner Zuschauer sieht sich ein Video an, das schließlich Bilder zeigt, die ihn erotisch ansprechen, weil er sie wörtlich nimmt. Die Nähe zum Pornofilm ist offensichtlich, doch Cronenberg geht hier einen Schritt weiter: Die üblicherweise distanzierten Bilder der Mattscheibe bewegen sich auf ihren Betrachter zu, nehmen körperliche Gestalt an und erlauben den direkten Kontakt. Dabei verwandeln sich die Bilder aber nicht einfach in die Wunschgestalt des begehrten Körpers, sondern verharren in der monströsen Mischung aus Maschine und Mensch.16 Gleichwohl wird Niki – das Objekt der Begierde – im Rahmen des Bildschirms fragmentiert und geht schließlich in ihren Lippen ganz auf.17 Der Apparat wird zur 16 Im Gegensatz beispielsweise zu Woody Allens The Purple Rose of Cairo (USA 1985), wo die Kinoleinwand zum Tor zwischen zwei Welten wird und damit die ersehnte Welt des Films zugänglich gemacht wird. 17 Für eine psychoanalytische Lesart des Œuvres von David Cronenberg siehe Manfred Riepe: Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs, Bielefeld 2002. Darin insbesondere das Kapitel zu »Videodrome«, S. 87–119. Ebenso Simon Pühler: Metaflesh. Cronenberg mit Lacan. Körpertechnologien in SHIVERS und eXistenZ, Berlin 2006. 136 M ICHAEL F ÜRST Abb. 4: Filmstill aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. Resonanzfläche, über die Berührungen weitergegeben werden können. Auf der Ebene des Tons ist nur ein Stöhnen zu hören, wodurch einmal mehr deutlich wird, dass es sich um einen erotischen Akt handelt, der jedoch nicht in einem Höhepunkt endet. Es ist hinlänglich bekannt, dass der Videomarkt vor allem für die Produktion von Porno- und Horrorfilmen empfänglich war, deren Konsumption im Privaten einen idealen Raum gefunden hatte. Cronenberg liefert in der Figur Max Renns den Idealtypus eines solchen Konsumenten wie auch eines ökonomisch denkenden und handelnden Distribuenten gleichermaßen. An zwei weiteren Filmszenen soll das nach außen gerichtete Bild im Kontext seines Dispositivs dargestellt werden. Max sucht die »Cathode Ray Mission« auf, einen Ort für Arme und Obdachlose, die dort ihre tägliche Dosis Fernsehen erhalten. Es ist sein Plan, Bianca O’Blivion, die Tocher des Video-Professors und Leiterin der Mission, zu töten. Max, mittlerweile selbst ein Hybrid aus menschlichem Körper, Videorekorder und Schusswaffe, ist mittels einer Videokassette – also Bildern beziehungsweise Bildsignalen – darauf programmiert worden, Bianca zu töten. Er ist damit mehr Bild als Mensch. Willenlos folgt er dem Programmablauf, jedoch ohne Erfolg, denn Bianca weiß sich zu helfen. Sie zeigt Max auf einem Fernsehbildschirm Bilder von der Hinrichtung Nikis. Plötzlich und unerwartet wird die Bildschirmoberfläche zur Membran und wird von einer Hand, die eine Schusswaffe hält und deren Konturen sich deutlich unter der flimmernden Membran des weichen Bildes abzeichnen, nach außen gestoßen, auf Max zu (Abb. 6). Dabei verändert die Membran ihre Erscheinung und wandelt sich vom weißen Rauschen zur opaken Oberfläche menschlicher Haut. Kurzzeitig blickt der außerfilmische Zuschauer mit den Augen Max Renns in die schwarze Öffnung des Revolvers, dann ereignet sich ein Schuss und Max scheint getroffen (Abb. 7). E MERSIVE B ILDER 137 Abb. 5: Filmstill aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. Doch es ist nicht der Körper von Max vor dem Bildschirm, der aus den Einschusslöchern blutet, sondern das fleischliche, sich in einen männlichen Oberkörper verwandelte Bild im Rahmen des Fernsehapparates (Abb. 8). Es ist eine Spiegelung des Körpers von Max Renn, der selbst unversehrt bleibt. Vielmehr erfährt man von Bianca, dass dieser Vorgang zur Entfernung der Videokassette notwendig war, durch die Max programmiert wurde. Die Bilder mussten, so könnte man sagen, gelöscht, getötet werden. Nun bemächtigt sich Bianca selbst Max’ Körper, indem sie ihn mit einer anderen Kassette umprogrammiert, diesmal mit dem Ziel, ihre Gegner zu töten. Es wird also deutlich, dass die Bilder inVideodrome oft in einem gewaltsamen Akt ihren Zuschauer attackieren, ihn selbst oder sein Spiegelbild verletzen – sofern man an dieser vage gewordenen Differenzierung festhalten will –, ohne ihn jedoch zu töten. Schauplatz dieser Attacken sind die verschiedenen Körper. Auch der Schluss des Films legt ein Bildverständnis nahe, in dem die Bilder nicht als immersiv, sondern dem Zuschauer entgegenkommend gedacht werden müssen. Es handelt sich um die sehr kurze Szene (1:20:44–1:20:59), in der Max vor einem Fernsehgerät sitzt, das zuerst Nikis Kopf gezeigt hat, die beschwörend auf Max einredet, zum »neuen Fleisch« zu werden. Sie werde ihm zeigen, wie er die Transformation vollziehen könne. Nun zeigt die Bildschirmoberfläche den Raum, in dem sich Max befindet, in einer Totalen, zeigt ihn vor einem Feuer. Parallel zoomen beide Kameras, die im innerfilmischen Fernseher und die des Films, auf ihr Objekt zu. Dies hat zur Folge, das Max’ Kopf in einer Nahen zu sehen ist, wie er seine rechte, zur Waffe mutierte Hand, an die Schläfe hält. Für den außerfilmischen Zuschauer wird das Bild vom Gehäuse des innerfilmischen Fernsehapparates gerahmt. Max blickt dem außerfilmischen Zuschauer und der innerfilmi- 138 M ICHAEL F ÜRST Abb. 6: Filmstill aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. Siehe auch Farbtafel IX. schen Figur Max Renn entgegen, während er die Worte spricht: »Long live the new flesh!« und dann den Auslöser betätigt. Ein Schuss ertönt und mit ihm gibt es einen Schnitt auf den Fernsehapparat, dessen Mattscheibe zeitgleich explodiert und blutige Innereien dem Zuschauer Max Renn und damit auch dem außerfilmischen Zuschauer entgegenschleudert. Es folgt die Wiederholung des gerade Beschriebenen bis zum Schuss. Sie endet mit einem schwarzen Bild – und der außerfilmische Zuschauer darf erleichtert sein, dass ihm nicht tatsächlich die Gedärme entgegen fliegen. Die Macht des Mediendispositivs über Bilder und Körper Cronenberg zeigt in Videodrome das Mediendispositiv Fernsehen in vielen möglichen Varianten: Gekoppelt an einen Videorekorder im Haus von Max, als technisches Kontrollgerät, als Rahmen der dargestellten Bilder und als Ort der körperlichen Präsenz in der Figur Professor O’Blivions in einer Fernsehsendung, als Dispositiv der Aufzeichnung, Speicherung und Distribution (Professor O’Blivion, Videonachrichten von Max’ Sekretärin), als Vermittler tabuisierter Inhalte wie Snuff-Videos, als Massenmedium, das in organisierter und krimineller Form seine Zuschauer beeinflusst. Letzteres wird in den zahlreichen Verkörperungen der Technologie und der Hybridisierung menschlicher Körper dargestellt. Fernsehbildschirme sind nahezu überall: im Sender, im Privathaushalt, im Büro, selbst ein Obdachloser auf der Straße führt seinen eigenen Fernsehapparat mit sich. Dennoch fällt auf, dass der Film niemals das für das Fernsehdispositiv klassische Schema der E MERSIVE B ILDER 139 Abb. 7: Filmstill aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. familiären Häuslichkeit repräsentiert.18 Lediglich in den Szenen, in denen Niki und Max sich gemeinsam in seinem Wohnzimmer mit den Videos sexuell stimulieren, scheint so etwas wie Privatsphäre aufzukommen, der die pornografischen Bilder mit dem privaten Raum verknüpft. Entscheidend jedoch ist, dass Cronenberg eine Vorstellung der Fernseh- und Videobilder entwirft, in der diese zu Körpern werden und deren Wirkung auf die Zuschauer geprägt ist von Gewalt. Sie durchbrechen immer wieder die Grenze, die Zuschauerraum und Bildraum von einander trennt und attackieren ihren Betrachter beziehungsweise verführen ihn. Damit führt Cronenberg nichts Geringeres als einen Diskurs über die Funktion und Struktur des Mediendispositivs Fernsehen und dessen Wirkung auf die Zuschauer zu Beginn der 1980er Jahre. Indem nicht mehr zwischen der Perspektive des Protagonisten und der außerhalb seiner Wahrnehmung liegenden Wirklichkeit unterschieden werden kann, vielmehr beides zusammenfällt, wird Cronenbergs Sicht auf das Massenmedium Fernsehen deutlich. Die Körperlichkeit des Bildes und die Bildlichkeit der Körper, die in der Darstellung von Sexualität und Gewalt zum Ausdruck gebracht werden, sind die Attraktionen, das Ereignis, das Spektakel des Films, der auf diese Weise auf der selben Stufe steht wie die Medienbilder innerhalb der Erzählung. Formal wird die Darstellung der Wirkmächtigkeit von Fernseh- und Videobildern im Zeigen von 18 Ein Beispiel für einen zeitgleich entstandenen medienreflexiven Horrorfilm, in dem genau dieser Rahmen der Kleinfamilie zentrale Bedeutung besitzt, ist Poltergeist (USA 1982), Regie: Tobe Hooper. 140 M ICHAEL F ÜRST Abb. 8: Filmstill aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. Siehe auch Farbtafel IX. zerstörten, zersprengten, geöffneten, blutenden Körpern und der medialen Fragmentierung der Körper durch das gerahmte Bild eingelöst. In Videodrome bewegen sich die Bilder zwischen der Rahmung der Körper als deren dispositive Zurichtung, ihrer Beherrschung – denn nur das, was sich im Rahmen befindet, ist auch sichtbar – und der gleichzeitigen Sprengung dieses Rahmens. Die Bilder brechen aus, um sich ihren zerschnittenen Körper zurückzuerobern, auch wenn die Körper, die damit entstehen, monströser Art sind. Anders gesagt, das »New Flesh« ist ein (Bild)Körper, der erst im Medialen zu sich selbst kommt. Cronenberg entwirft in Videodrome damit eine Vorstellung vom Fernsehen als einem Mediendispositiv, das direkten Einfluss auf seine Zuschauer hat, sie so sehr zu einem Teil von sich werden lässt, dass nicht mehr zwischen außersubjektiver und innersubjektiver Welt unterschieden werden kann. Fernseh- und Videobilder werden vielmehr Teil der Realität und sind den Zuschauern nicht äußerlich, sondern prägen sie nachdrücklich, indem sie sich geradewegs in ihnen einnisten. Jenseits der Bildgrenze Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Videodrome die bewegten Bilder in der Rolle des Monströsen ihren Rahmen durchbrechen, indem sie ihren Zuschauer tätlich angreifen, seinen Körper mutieren lassen, sich in ihm einnisten und ausbreiten, sein Bewusstsein und seine Wahrnehmung beeinflussen. Eigentlich gefährlich jedoch ist erst der jeweilige Code, die Speicherform der Bilder, denn es sind entweder die magnetisch gespeicherten Bilder einer Videokassette oder die Strah- E MERSIVE B ILDER 141 lung bei der Übermittlung von Fernsehbildern, die den Tumor auslösen. Beides, die Art der Speicherung und der Übertragung, ist notwendigerweise beim Fernsehen und Video unsichtbar, dem Zuschauer damit unzugänglich. Cronenberg macht sichtbar, was sonst im Verborgenen bleibt, nimmt ihm damit aber keinesfalls seinen Schrecken. Zwar stellt sich dies immer wieder als gewalttätiger Akt dar, doch es bleibt am Ende des Films offen, ob es sich tatsächlich um eine Transformation des menschlichen Körpers zum medialen Bild handelt und nicht um einen Selbstmord. So gesehen wäre Cronenbergs Film nicht notwendigerweise als pessimistische Sicht auf den zunehmenden Einfluss von Massenmedien in der Gesellschaft zu verstehen. Gleichwohl erscheint die Erklärung, dass es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema handelt, auf der Hand zu liegen. Warum sonst sollte der Film sich auf die Darstellung sexueller Akte und Gewalttaten konzentrieren? Möglicherweise, dies könnte eine Antwort sein, weil es gerade diese Arten von Bildern sind, die als Attraktionen und Spektakel funktionieren, die keine kohärente Erzählung benötigen, um ihre Wirkung bei den Zuschauern zu erzielen. Es geht aber ganz offensichtlich nicht darum, Fernsehen und Video zu diskreditieren, denn dazu ist und bleibt der Film zu uneindeutig, zu offen. Stattdessen kann davon ausgegangen werden, dass Cronenberg das Mediendispositiv Fernsehen so darstellt, wie es sich ihm Anfang der 1980er Jahre präsentiert: als eines mit starkem Einfluss auf die Zuschauer und der Veränderung von Wahrnehmung. Gleichzeitig aber, und hierin liegt die eigentliche Stärke des Films, sind es nicht einfach ›die Massenmedien‹, von denen eine Gefahr ausgeht, vielmehr stehen hinter den Bildattacken wiederum Menschen, deren Ziel es ist, manipulativ auf die Zuschauer einzuwirken. Die Macht der Fernseh- und Videobilder ist damit nicht eine nicht-menschliche Macht, sondern die der Bildproduzenten. Cronenberg schafft es auf geradezu virtuose Weise, die gegenseitige Einflussnahme und die komplizierten Verstrickungen des Mediendispositivs Fernsehen vorzuführen, indem er sie in einer Art Interaktion zwischen Bild und Zuschauer darstellt. Nicht zuletzt steht Max Renn für den Bildlieferanten, der seiner Kundschaft die Bilder vorführt, die sie zu sehen wünschen. Das Publikum entscheidet also mit. Cronenberg versteht es, den außerfilmischen Zuschauern nicht einfach einen Spiegel vorzuhalten, sondern sie in die Verstrickungen hineinzuziehen, indem er die Struktur des Films so angelegt hat, dass die außerfilmischen Zuschauer ebenso involviert sind wie Max Renn. Sie sehen den größten Teil des Films aus seiner Perspektive. Es sind gerade die Bilder von Sexualität und Gewalt, eben jene Bilder also, die innerhalb des Films auf ihre Zuschauer übergreifen, dabei aber nur die transportierende Oberfläche sind, die auf die selbe Weise die Aufmerksamkeit der außerfilmischen Zuschauer auf sich ziehen. Auch Beginn und Ende des Films machen die Doppelung deutlich: Das erste Bild ist der Titel »Videodrome«, der für den Film, aber auch für die Organisation innerhalb des Films steht, die die Tumor erzeugende Strahlung aussendet. Auf der bildästhetischen Ebene erscheint die Titelschrift als von Störungen begleitet, die es nur für den Bruchteil einer Sekunde 142 M ICHAEL F ÜRST erlauben, den Titel in Gänze zu sehen. Die durch die Störungen erzeugten Effekte erinnern sehr an diejenigen, die bei vielfach angesehenen Videokassetten auftreten. Somit stellt bereits das erste Bild von Videodrome eine Verbindung zwischen Film und außerfilmischen Zuschauern her. Immer wieder scheinen sich die Bilder an die Zuschauer zu wenden, was Cronenberg mittels der bereits angesprochenen Rahmungen evoziert. Dass der Adressat im Film Max Renn ist, ändert nichts daran, dass die eigentlichen Adressaten die außerfilmischen Zuschauer im Kino oder vor dem heimischen Fernseher sind. Somit erhalten auch die Bilder von Gewalt und Sexualität eine enunziative Funktion.19 Sie wenden sich in ihrer Plötzlichkeit, ihrem Schockeffekt direkt an die außerfilmischen Zuschauer, richten sich an ihre Affekte und lassen sie am Ende bewusst ratlos zurück. 19 Zu diesem Begriff siehe Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster 1997. 9 Minimalistischer Überschwang Zur Verselbständigung der Form im Werk von Jan Dibbets J ASMIN M ERSMANN In der zentralperspektivischen Malerei fungiert der Schachbrettboden als Maß der proportionalen Verkürzung, der Horizont als Grenze und der Fluchtpunkt als Projektion des Betrachter- oder Kameraauges. Das Werk des niederländischen Fotografen Jan Dibbets (*1941) wird hier als systematische Auseinandersetzung mit der costruzione legittima vorgestellt, deren Regeln die Fotografie »von Natur aus« zu erfüllen scheint. Dibbets’ Montagen loten die Grenzen der technischen Determiniertheit der Fotografie aus, indem sie deren Perspektivität und Indexikalität in Frage stellen. Kaum ein Fotograf vermisst seine Motive so genau wie Dibbets und doch bricht sich noch in seinen formalisiertesten Arbeiten eine Bildlichkeit Bahn, die das oft in gezeichneten Diagrammen mitgelieferte Maß überschreitet. Ein Streifen Himmel, ein Streifen Meer. Ruhe vor dem Sturm. Doch schon im zweiten Bild der Reihe gerät der Horizont ins Schwanken, schwappt nach rechts, wird von Bild zu Bild schräger; bald steht er senkrecht und droht umzuschlagen, hängt wie festgefroren in der Luft (Abb. 1). Der visuelle Schwindel, das verrät ein Kreisdiagramm unter der 1972 entstandenen Fotosequenz 0°–135° Sea Horizon des niederländischen Fotografen Jan Dibbets (*1941), ist das Resultat einer Kamerarotation, durch welche sich der Ausgangshorizont in neun 15°-Schritten über je zwei Zwischenstufen zur Diagonalen, zur Vertikalen und schließlich zur umgekehrten Diagonalen neigt. Doch was in der parallel entstandenen Serie 0°–135° Horizontal, wo lediglich eine kurze schwarze Linie durch die Kamera in Bewegung versetzt wird, wie eine formalistische Fingerübung erscheint, erhält einen bildlichen, fast existenziellen Überschuss, sobald es sich bei der Linie nicht um eine Horizontale, sondern um den Horizont handelt, den menschlichen Referenzrahmen und die Figur des Erhabenen par excellence. Was dem Meereshorizont durch die Unterwerfung unter das geometrische Maß genommen wird, erhält er durch die Suggestionskraft der Bilderreihe zurück. Der Horizont ist nur eine der Grundfiguren der costruzione legittima, die Dibbets systematisch untersucht, um sie ausgerechnet mit den Mitteln der Fotografie auszuhebeln, die als Erbin der Zentralperspektive von den einen als Beweis ihrer Gültigkeit gefeiert und von den anderen als Trägerin einer »Erbsünde« verdammt 144 J ASMIN M ERSMANN Abb.1: Jan Dibbets, 0°–135° Sea Horizon, 1972, Farbfotografien und Bleistift auf Papier, Privatsammlung. wird.1 Die Perspektive fungiert als Paradigma, das die Bedingungen der Möglichkeit bildlicher Äußerungen festlegt.2 Eine Systematisierung findet sie in Leon Battista Albertis Traktat Della Pittura von 1436, der als Leitmotiv und Folie der Untersuchung von Dibbets’ Reflexion über die Grenzen der Fotografie dienen soll. Aufgrund ihrer technischen Voraussetzungen ist es der Fotografie unmöglich, dem Paradigma zu entkommen, doch vermag sie die Zentralperspektive durch die Vermeidung von Fluchtpunkten, Montagetechniken oder die Perversion perspektivischer Topoi zu unterminieren. Der Betrachter vor dem Bild wird verunsichert, ihm wird systematisch die Aussicht verbaut oder – ganz wörtlich – der Boden unter den Füßen entzogen. Damit stellen die Arbeiten jedoch nicht nur die Perspektive, sondern auch den indexikalischen Charakter der Fotografie in Frage. Durch die Verunklärung der Beziehung zum Referenten, der doch laut Barthes an der Fotografie »klebt«, wird die Aufmerksamkeit auf das Medium selbst gelenkt.3 Die formale Strenge der Bilder täuscht dabei nur auf den ersten Blick über deren Ambivalenzen hinweg. Dibbets kämpft an zwei Fronten: Einerseits arbeitet er sich am Paradigma der Perspektive ab, andererseits an der Tradition der Minimal Art, die der illusionistischen Räumlichkeit durch die Schaffung »konkreter Objekte« zu entkommen versucht. Kaum ein Fotograf »vermisst« seine Bilder so genau wie Dibbets und doch stellen seine Fotografien die Abbildlichkeit und Maßstäblichkeit in Frage. 1 Siehe Hubert Damisch: L’origine de la perspective, Paris 1993, S. 9–10. Otto Stelzer: Kunst und Photographie. Kontakte, Einflüsse, Wirkungen, München 1966, S. 49–55. 2 Damisch 1993 (wie Anm. 1), S. 16. 3 Siehe Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980, S. 17: »bref, le référent adhère [...] ils sont collés l’un à l’autre«. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 145 In Ce que nous voyons, ce qui nous regarde hat Georges Didi-Huberman gezeigt, inwiefern auch den Werken der Minimal Art eine (bisweilen anthropomorphe) Bildlichkeit eignet, die sich durch keine formale Reduktion tilgen lässt: Frank Stellas Tautologie »What you see is what you see« ist demnach umzuformen in »Was wir sehen, blickt uns an«.4 So leicht sie sich auf Winkelmaße reduzieren lassen mögen, Dibbets’ Horizonte sehen – oder zumindest – gehen uns an. Allerdings ist bei Dibbets’ Arbeiten keineswegs immer klar, was wir sehen. Seine Fotografien fungieren als Index, doch ist es alles andere als evident, was sie indizieren. Sie sind abstrakt und figurativ zugleich: »Alles, was Mondrian entkleidete«, so Dibbets, »kleide ich wieder ein.«5 Die Horizontale trägt bei ihm ein Kleid aus Wasser, Farbflächen sind fotografierte Kotflügel, Albertis finestre reale Fenster. Doch gerade durch das »Anziehen« des ansonsten Transparenten legt Dibbets die Bedingungen und Ambivalenzen des Bildlichen frei. Fenster »Als Erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein rechtwinkliges Viereck von beliebiger Größe: von diesem nehme ich an, es sei ein offen stehendes Fenster, durch das ich betrachte, was hier gemalt werden soll«6 Seit den siebziger Jahren experimentiert Dibbets mit Albertis Fenstermetapher, die die Bildfläche als transparenten Schnitt durch die Sehpyramide definiert. Voraussetzung für die Transparenz des Fensters ist die Verleugnung der Materialität der Leinwand: Wird der Blick auf dem Weg zum Sinn durch einen pastosen Farbauftrag oder verzerrte Perspektiven aufgehalten, scheitert die Illusion. In der Fotografie kann der Raumwirkung insbesondere durch den Ausschluss von Fluchtlinien oder durch bildparallele Elemente entgegengewirkt werden. Letzteres demonstrieren die Perspective Corrections, mit denen Dibbets seit den späten sechziger Jahren experimentiert. My Studio I,1. Square on Wall von 1969 zeigt einen Raumausschnitt, vor dem ein der gewöhnlichen Verzerrung offenbar nicht unterworfenes Quadrat merkwürdig ortlos auf dem Fotopapier zu schweben scheint. Der aus der barocken Quadraturamalerei bekannte Effekt entsteht dadurch, dass Dibbets die perspektivische Verzerrung eines auf die Wand gezeichneten Trapezes so »kompensiert«, dass es auf dem Foto als Quadrat erscheint. Dabei geht es Dibbets nicht, wie Regis Durand behauptet, darum, »das eigentliche Sein der Dinge« wiederherzustellen, sondern bildliche Tiefe als illusorisch zu entlarven, das Band zum 4 Siehe Georges Didi-Huberman: Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, Paris 1992. 5 Jan Dibbets: Licht und Zeit. Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks. In: Kunstforum Band 150 (April–Juni 2000), S. 255. 6 Leon Battista Alberti: Della Pittura. Über die Malkunst, hg. und übers. von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt 22007, S. 92–93: »Principio, dove io debbo dipingere scrivo uno quadrangolo di retti angoli quanto grande io voglio, el quale reputo essere una finestra aperta per donde io miri quello che quivi sarà dipinto...«. 146 J ASMIN M ERSMANN Referenten zu trennen und den Betrachter zu verunsichern.7 Die Täuschung kann nur gelingen, weil die Prägnanz der geometrischen Form das Wissen um die perspektivische Verzerrung verdrängt. Anders als in der Anamorphose, wo die Täuschung durch eine Positionsveränderung aufgehoben wird, ist der Betrachtungswinkel hier durch die Kamera festgelegt.8 In das Fotopapier eingeschrieben, lenkt das Quadrat die Aufmerksamkeit wie eine »Bildstörung« auf die materielle Oberfläche. Eine vor allem im 17. Jahrhundert verbreitete Form, die Transparenz des »Fensters« zu stören, ist die Konkretisierung der albertinischen Metapher durch eine Art travelling back, das Vorhänge oder den Fensterrahmen selbst ins Bild rückt.9 Dibbets geht darüber hinaus, indem er sogar die »Glasscheibe« durch Sichtblenden oder die Variation der Aufnahmebedingungen opazifiziert.10 Um durch ein Fenster (althochdeutsch: augadoro = Augentor) schauen zu können, darf es zunächst einmal nicht verstellt sein: In der Fotoserie Louverdrape, Black to Black (1971– 1972) fungiert eine Jalousie als externe Blende, die den Einfall von Licht und »Außenwelt« reguliert, indem die geschlossenen Lamellen peu à peu gedreht werden, bis sie orthogonal zur Bildfläche stehen und den Blick auf den Hintergrund freigeben, der mit der erneuten Drehung der Lamellen wieder im Dunkel verschwindet (Abb. 2). In der Streifen-Montage der Bilder kommen die Übergänge vom geschlossenen zum offenen Zustand und vice versa dem Übergang von abstrakter zu figurativer Fotografie gleich.11 Die Arbeit erinnert an Émile Zolas Definition von Kunst als der durch ein Temperament gesehenen Realität, die er selbst mit dem Blick durch ein verschleiertes Fenster vergleicht, durch das die Wirklichkeit je anders erscheine.12 Hier jedoch ist es weniger das Temperament des Künstlers als das Medium selbst, das die Erscheinungsweise bestimmt: Auch die Fotografie liefert offensichtlich keinen unmittelbaren Zugang zur Welt. Venetian Blind weist eine große formale Ähnlichkeit zu der Serie Shutterspeed Piece, Horizontal (1971) auf, die ebenfalls aus quer gestreiften, vom Hellen ins Dunkle überleitenden Fotografien besteht (Abb. 3). Allerdings ist die Reihe durch ein grundsätzlich anderes Verfahren entstanden, das sich an den Bildern selbst jedoch nicht 7 Regis Durand: L’exacte simplicité de Jan Dibbets. In: Art Press 91 (1985), S. 17: »Corriger la perspective, c’est en critiquant la manière dont elle transforme l’essence en apparence, chercher à rétablir l’être même des choses.« 8 Siehe Jurgis Baltrusaitis: Anamorphoses ou Thaumaturgus opticus, Paris 1993. 9 Siehe Victor Stoichita: L’instauration du tableau. Métapeinture à l’aube des temps modernes, Genf 1999, S. 50: »L’embrasure de fenêtre reprend les données essentielles du ›tableau‹, de tout tableau. Elle est, par essence, cadre.« und S. 285: »Ce qui occupait auparavant toute la sur face de la toile fut soumis à un travelling arrière«. 10 Siehe Maurice Brock: Obstacle et transparence dans l’image de la Renaissance. In: Pascale Dubus (Hg.): Transparences, Paris 1999, S. 31–51. 11 Siehe Angela Lampe und Thomas Kellein (Hg.): Abstrakte Fotografie, Ostfildern-Ruit 2000. 12 Siehe Josef Schmoll gen. Eisenwerth: Fensterbilder. In: Thomas Grochowiak (Hg.): Einblicke– Ausblicke. Fensterbilder von der Romantik bis heute, Recklinghausen 1976, S. 7. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 147 Abb. 2: Jan Dibbets, Louverdrape, Black to Black, 1971–1972, Schwarzweißfotografien und Bleistift auf Papier, Privatsammlung. Abb. 3: Jan Dibbets, Shutterspeed Piece, Horizontal, 1971, Schwarzweißfotografien und Bleistift auf Papier, Sammlung Daled. 148 J ASMIN M ERSMANN Abb. 4: Jan Dibbets, The Shortest Day of 1970 at Konrad Fischer’s Gallery Düsseldorf, photographed from Sunrice to Sunset – 21. Dec.1970, 80 Farbfotografien auf Platte, Sammlung FER. Siehe auch Farbtafel XIV. ablesen lässt. Erst die minutiös unter den Fotografien vermerkten Angaben zu den progressiv verkürzten Belichtungszeiten verraten, dass die Beleuchtungsunterschiede hier durch ein kamerainternes Maß zustande gekommen sind. Neben der materiellen Offenheit des Fensters stellen adäquate Beleuchtungsverhältnisse somit die zweite Bedingung der Sichtbarkeit dar. Dem Titel nach zu urteilen, dokumentiert The Shortest Day at Konrad Fischer’s Gallery (1970) den Verlauf des kürzesten Tages des Jahres durch die im Zehnminutentakt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang aufgenommenen Ansichten eines Rundbogenfensters (Abb. 4). Zum »shortest day« wird der fotografierte Tag jedoch nicht durch die Wintersonnenwende, sondern durch die Komprimierung der Stunden auf einer Platte mit achtzig lückenlos montierten Farbfotografien, die zwischen zwei Schwarzbildern alle Licht- und damit auch Transparenzstufen des Fensters festhalten. Langsam lassen sich durch die breiten Sprossen die befahrene Straße und die gegenüberliegende Fassade erkennen; um Mittag wird es gleißend hell, Fahrzeuge parken eine Weile vor dem Fenster, Menschen erscheinen und verschwinden, langsam wird es dämmrig, schließlich dunkel. Ein Tag ohne besondere Vorkommnisse, eine Drehung der Erde aus dem Schatten heraus und wieder hinein.13 13 Vorläufer hat diese Sequenz in Claude Monets atmosphärisch aufgeladener Darstellung der Kathedrale von Rouen zu verschiedenen Tageszeiten (1891–1894) und in Andy Warhols achtstündigem Schwarzweißfilm Empire (1964), der die Beleuchtung des Empire State Building von 20:06 Uhr bis 02:42 Uhr dokumentiert. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 149 Abb. 5: Jan Dibbets, Shutterspeed Piece, Konrad Fischer’s Gallery I, 1971, Schwarzweißfotografien und Bleistift auf Papier, Privatsammlung. In Dibbets’ Shutterspeed Piece, Konrad Fischer’s Gallery I (1971) versinkt ein ähnliches Fenster, von einem Weißbild ausgehend, über zehn Stufen ebenfalls im Dunkel (Abb. 5). Doch wie der Titel verrät, liegt dies hier nicht am schwindenden Tageslicht, sondern an der kürzer werdenden Belichtungszeit, die wie in Shutterspeed Piece, Horizontal unter den Bildern verzeichnet ist. In den neunziger Jahren führt Dibbets die bereits in den Perspective Corrections und Venetian Blind angelegte Reflexion über die Bedeutung des Betrachtungswinkels als dritte Bedingung der Sichtbarkeit weiter, doch tritt gegenüber dem Frühwerk eine malerische, fast poetische Komponente hinzu: Die aus einer schrägen Untersicht fotografierten, ausgeschnitten auf farbigen Malgrund montierten Barcelona-Windows (1990) erinnern mit ihren nach außen geöffneten Läden unwillkürlich an Schmetterlinge, die aus einer unbestimmten Tiefe auf den Betrachter zuzufliegen scheinen (Abb. 6).14 Durch die Neigung der Holzfenster 14 Zu den Barcelona-Windows siehe Gloria Moure: Jan Dibbets in Barcelona. In: dies., Rudi Fuchs (Hg.): Jan Dibbets. Interior Light. Works on Architecture 1969–1990, New York 1991, S. 181–184. 150 J ASMIN M ERSMANN Abb. 6: Jan Dibbets, Barcelona Window, 1989–1990, Farbfotografie und Wasserfarbe, Rivoli, Castello di Rivoli: Museo d’Arte Contemporanea. wird dem an den Kamerastandort gebundenen Betrachter die durch die Fensterläden ohnehin schon verstellte Aussicht zusätzlich unmöglich macht. Das Fenster verwandelt sich in ein materielles (Flug-)Objekt, einen witzigen Kommentar auf die Korrelation von Fenster und Auge beziehungsweise Blick und Flug, wie sie in Albertis berühmtem Selbstporträt mit »Flug- und Flammenauge« vorgestellt wird.15 15 Siehe Horst Bredekamp: Albertis Flug- und Flammenauge. In: Christoph Brockhaus (Hg.): Die Beschwörung des Kosmos. Europäische Bronzen der Renaissance, Duisburg 1994, S. 297–302. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 151 Blickpunkte / Fluchtpunkte »Dann bringe ich innerhalb dieses Rechtecks, wo es mir richtig erscheint, einen Punkt an, der den Ort einnimmt, auf welchen der Zentralstrahl trifft, und den ich deshalb ›Zentralpunkt‹ nenne«16 Der zentrale Sehstrahl verbindet in Albertis Konstruktion den Fluchtpunkt mit dem Betrachterauge und weist diesem damit einen idealen Standpunkt vor dem Bild zu. »Richtig« steht ein Betrachter demnach, wenn sein Blick orthogonal auf den Fluchtpunkt trifft, der in der Projektion mit dem Betrachterauge koinzidiert. Wie Hubert Damisch zutreffend betont, darf die Rolle der Perspektive in einem Bild allerdings nicht überbewertet werden, da der dem Betrachter durch die Bildgeometrie angewiesene Punkt nicht notwendig mit dem Punkt übereinstimmt, an dem er sich aufgrund von Komposition, Farbregie oder Identifikationsfiguren verortet.17 Indem Dibbets dem Betrachter jeden Ankerpunkt entzieht, verweigert er ihm nicht nur den Eintritt ins Bild, sondern erschwert ihm auch die Positionierung vor der Bildfläche. Neben der Zentralperspektive ist es vor allem das Dispositiv des Panoramas, das dem Betrachter einen Platz im Mittelpunkt des Universums einräumt. Dieser Punkt ist in dem Diagramm der Fotosequenz Panorama, Amsterdamse Bos I (1971) der Scheitelpunkt von zwölf Radien, die einen Kreis in 30°-Winkel unterteilen. In der Tradition der »Cyclographien« des 19. Jahrhunderts nimmt Dibbets aus jedem dieser Winkel ein Foto des Amsterdamer Parks auf, dessen Rundumsicht er dann auf einer Linie »ausrollt«, die die natürliche Beschränktheit menschlicher Perspektivität aufhebt.18 Was sich zuvor hinter dem Rücken befand, liegt nun offen vor Augen: Ein wenig spektakulärer Waldsaum, der sich in der Mitte lichtet und den Blick auf den Horizont freigibt, der im Diagramm dem Kreisumfang entspricht. Ausgerollt verliert das Panorama jedoch seine kosmische Geschlossenheit; der aus quadratischen Schwarzweißfotografien zusammengesetzte Streifen scheint beliebig verlängerbar. Das Panorama stilisiert die Welt zu einem Gegenüber, obgleich sie doch, mit Merleau-Ponty gesprochen, »um mich und nicht vor mir« ist. Denn »von mir als Nullpunkt der Räumlichkeit erfasst«, sehe ich die Welt nicht wie ein Geometer von außen, sondern stets von innen.19 Diagramm und Fotoreihe figurieren die Passage von dem in der Welt situierten 16 Alberti 2007 (wie Anm. 6), I.19, S. 92–93: »Poi dentro a questo quadrangolo, dove a me paia, fermo uno punto il quale occupi quello luogo dove il razzo centrico ferisce, e per questo il chiamo punto centrico«. 17 Siehe Damisch 1993 (wie Anm. 1). 18 Siehe Marie-Louise von Plessen (Hg.): Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Basel 1993, S. 328, Abb. IX.55. 19 Siehe Maurice Merleau-Ponty: L’Œil et l’esprit, Paris 1964, S. 59: »L’espace n’est plus celui dont parle la Dioptrique, réseau de relations entre objets, tel que le verrait un tiers témoin de ma vision, ou un géomètre qui la reconstruit et la survole, c’est un espace compté à partir J ASMIN M ERSMANN 152 Menschen zu einem Subjekt, das einem Sichtbarkeitsgebilde gegenübersteht, dessen projektiver Schöpfer es zugleich ist. Das Tableau illustriert damit die These Gottfried Boehms, nach der durch das perspektivische Aufspannen des Raumes als Beziehung eines Hier zu einem Dort das In-der-Welt-Sein »ausgeräumt« werde.20 Horizont »Diese Linie ist für mich eine Grenze, die keine gesehene Größe, die nicht höher als das Auge des Betrachters liegt, überragen kann. Und diese [Linie], da sie durch den Zentralpunkt hindurchgeht, nennt man ›Zentrallinie‹«21 Dibbets’ Horizontbilder verschieben Höhe und Neigungswinkel der albertinischen »Zentrallinie« und heben damit die bei den Panoramen noch gewährleistete Konvergenz zwischen Kamera und Betrachterauge auf. Ambivalenz entsteht in den Sea Horizons jedoch nicht allein durch die Kameraneigung, sondern auch durch die fehlende Fluchtung, die das Bild einmal flächig und einmal tiefenräumlich erscheinen lässt. »Der Horizont«, so Dibbets, »ist die schönste Linie, die es gibt, zwei- und dreidimensional gleichzeitig.«22 Er ist zugleich Grenze und Figur des Unendlichen, das Paradigma des Erhabenen, für das es laut Kant »keinen ihm angemessenen Maßstab außer ihm, sondern bloß in ihm« gibt.23 Anders als für Burke ist für Kant allerdings nicht das Meer selbst erhaben, sondern unser Verstand, der im Scheitern der Einbildungskraft seine eigene Unendlichkeit erkennt: »das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch die Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen lässt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden kann.«24 Die prinzipiell rahmenlose Fotografie setzt dem schlechthin Großen, für das es im Bild keine Vergleichsgröße gibt, zwar keine Grenzen, aber sie unterwirft es einer Geometrisierung, die ihrerseits ein bildliches Potential freisetzt, das den visuell-somatischen Referenzrahmen des Betrach- 20 21 22 23 24 de moi comme point ou degré zéro de la spatialité. Je ne le vois pas selon son enveloppe exté rieure, je le vis du dedans, j’y suis englobé. Après tout, le monde est autour de moi, non devant moi«. Gottfried Boehm: Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, Heidelberg 1969, S. 79. Alberti 2007 (wie Anm. 6), I.20, S. 96–97: »Questa linea a me tiene uno termine quali niuna veduta quantità, non più alta che l’occhio che vede, può sopragiudicare. E questa, perché passa per ’l punto centrico, dicasi linea centrica«. Jan Dibbets, zitiert nach Georg Jappe: Protokoll eines Gesprächs mit Jan Dibbets: Der Horizont ist die schönste Linie. In: Kunstnachrichten 10.4/5 (1973), o.S. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790–1799], hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, S. 335 (B 84 / A 83). Ebd., S. 330 (B 77 / A 76). M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 153 ters ins Ungleichgewicht bringt. Mondrian hatte das Meer auf Kreuze reduziert, die über die geometrischen Verhältnisse hinaus reine Kraftverhältnisse zum Ausdruck bringen sollten. Die Natur verhüllt das Universale, das Bild macht es transparent. Denn »plastisch sehen heißt: mit Bewußtsein betrachten oder, besser noch: hindurchsehen.«25 Kleidet Dibbets nun Mondrians Horizontale mit Wasser und seine Vertikale mit dem Fleisch des Betrachters vor dem Bild ein, entkleidet er die Linien damit zugleich ihrer metaphysischen Aufladung. Doch letztlich ist das, was Dibbets ankleidet, nicht das, was Mondrian enthüllte, sondern es sind die Koordinaten des fotografischen Dispositivs selbst: Denn anders als die Neigung des Kopfes hat die Neigung der Kamera Einfluss auf die Lage des Horizonts: »The camera is unaffected by this constancy of perception. It has his own frame of reference – the viewfinder.«26 Zielt Mondrians abstrahierendes Ausziehen auf Transparenz, führt Dibbets’ Ankleideverfahren zu Opazität, die paradoxerweise nicht verhüllt, sondern sichtbar macht: Man sieht trotz oder gerade dank der Hindernisse.27 Opak werden die Sea Horizons in dem Moment, in dem die Wasseroberfläche nicht als Meeresspiegel, sondern als senkrechte Fläche erscheint. Etwas verschämt berichtet Dibbets von der »Urszene« seiner obsessiven Beschäftigung mit dem Horizont: »Ich sass, das war ein Schulausflug, vorne im Bus in Scheveningen, da ging es hoch, durch die Dünen, mit dem Bus hoch ging das Meer hoch und dann wieder nach unten. Eine graue Mauer, dachte ich, eine unendlich hohe Mauer«.28 Damit sieht Dibbets, was laut Paul Valéry die meisten Menschen aufgrund ihrer Begriffsverblendung übersehen: »Sachant horizontal le niveau des eaux tranquilles, ils méconnaissent que la mer est debout au fond de la vue«.29 Anders als bei den Jalousien gelingt es dem Fotografen hier ohne »künstliche« Mittel, die Welt im Bild zu abstrahieren. »Das Meer«, so Dibbets, »ist ein abstraktes Ding, es ist abstrakt und real zugleich, romantisch und neutral. [...] Wie ich es sehe, kann es sehr mathematisch sein. Oder auch literarisch, für einen anderen.«30 Thomas Manns Venedig-Reisender Aschenbach beispielsweise »liebte das Meer aus tiefen Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der von der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des Einfachen, Ungeheueren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen, seiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und ebendarum verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, 25 Piet Mondrian: Natürliche und abstrakte Realität. Ein Aufsatz in Dialogform [1919–1920]. In: Michel Seuphor (Hg.): Piet Mondrian. Leben und Werk, Köln 1957, S. 310–351; hier S. 319. 26 Marcel Vos: On Photography and the Art of Jan Dibbets. In: Mildred Friedman (Hg.): Jan Dibbets, New York 1987, S. 22. 27 Siehe Brock 1999 (wie Anm. 10), S. 35. 28 Jappe, Dibbets 1973 (wie Anm. 22), o.S. 29 Paul Valéry: Introduction à la méthode de Léonard de Vinci [1894], Paris 1957, S. 23. 30 Jappe, Dibbets 1973 (wie Anm. 22), o.S. J ASMIN M ERSMANN 154 Ewigen, zum Nichts.«31 Dibbets kommt dieser »Aufgabe« des Künstlers zu Gliedern und Messen nach, indem er dem maßlosen, erhabene Ideen evozierenden Meer formale Grenzen setzt, und doch erlangt der schwankende Horizont gerade in seiner Formalisierung ein Eigenleben, das den Betrachter seekrank zurücklässt – zumal ihm nicht einmal, wie noch in Caspar David Friedrichs Mönch am Meer, ein schmaler Streifen Land unter den Füßen gewährt wird, auf dem er sich gegenüber der aus den Fugen geratenen Welt positionieren könnte. Schachbrettboden »Nachdem also der Zentralpunkt nach meiner Anweisung angebracht worden ist, ziehe ich von ihm gerade Linien zu jeder Unterteilung der Abschnitte auf der Grundlinie des Rechtecks; diese gezogenen Linien zeigen mir, wie jedes quer verlaufende Größenverhältnis aufeinander folgt und sich verändert, beinahe bis ins Unendliche«32 Das Neue an Albertis Konstruktion ist sein Verfahren zur geometrischen Festlegung der Transversalen, mithilfe derer sich der Schachbrettboden proportional gliedern und das Maßverhältnis der darauf befindlichen Figuren festlegen lässt. Dibbets widmet diesem Emblem der Zentralperspektive eine ganze Werkgruppe, die die Böden allerdings in der Aufsicht zeigt, so dass sich zwar die teilweise mit Bleistift nachgezogenen Fluchtlinien an den Fugen nachverfolgen lassen, der Horizont aber stets außerhalb des Bildes bleibt. Structure Panorama 360° (1977) ist wie das Amsterdamer Panorama aus der Drehung der Kamera um die eigene Achse entstanden, ordnet die Bilder aber nicht mehr auf einer Geraden, sondern in einem flachen Bogen an, so dass sich die quadratischen, unterschiedlich getönten Abzüge teilweise überlappen, wobei die Bodenfugen über die Bildgrenzen hinweg weitergeführt werden (Abb. 7). Obwohl dem Betrachter durch das Kreisdiagramm in recht eindeutiger Weise ein Platz in der Mitte der Komposition angewiesen wird, führt kein Weg von diesem Punkt auf den gewölbten Steinfußboden. Dibbets’ Rekurs auf den Schachbrettboden ist sein wohl ostentativster und zugleich ironischster Verweis auf die Zentralperspektive, denn schließlich liefert das fotografische Dispositiv die Perspektive sozusagen gratis, also ohne eigens konstruiert werden zu müssen. Zudem war Albertis Maßboden selbstverständlich kein 31 Thomas Mann: Der Tod in Venedig [1912], Frankfurt am Main 192007, S. 59–60. Siehe dazu auch Andreas Hapkemeyer: Horizontalen in der deutschen Literatur. In: ders. (Hg.): The Perception of the Horizontal, Köln 2005, S. 74–86. 32 Alberti 2007 (wie Anm. 6), I.19, S. 92–93: »Adunque posto il punto centrico, come dissi, segno diritte linee da esso a ciascuna divisione posta nella linea del quadrangolo che giace, quali segnate linee a me dimostrino in che modo, quasi persino in infinito, ciascuna traversa quantità segua alterandosi«. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 155 Abb. 7: Jan Dibbets, Structure Panorama 360°, 1977, Farbfotografien und Bleistift auf Papier, Sammlung der Morton G. Neumann Family. Selbstzweck, sondern bildete die Bühne für die dargestellte istoria. Dibbets’ Fußböden dagegen sind leer und wölben sich, um es zu bleiben. Ihre Leere ist nicht die atmosphärisch aufgeladene der nächtlich verlassenen Pavées, die Brassaï in den frühen dreißiger Jahren aufnahm, sondern die einer nie betretenen Bühne, die primär ihre Nichtbetretbarkeit ausstellt. Hier gibt es keine Lichtspiele auf nassem Kopfsteinpflaster, keine Inszenierung der Oberflächentextur, dafür aber viele Fluchtpunkte und präzise, doch unverständliche Linien. In ihrer Formalität erinnern diese Bilder an die Gruppe fast menschenleerer Architekturveduten in Urbino, Baltimore und Berlin, die laut Damisch die Einrichtung der Perspektive als dispositif d’énonciation ins Werk setzen.33 In Dibbets’ neueren Arbeiten treten Böden vor allem als fehlende in Erscheinung: Die Montage Middelburg (1982– 1983) beispielsweise präsentiert ein schwindelerregendes, weiß getünchtes Sterngewölbe, das sich in einem Dreiviertelkreisbogen auf einem graublauen Malgrund aufspannt (Abb. 8). Obwohl sich die quadratischen Einzelfotos aufgrund der unterschiedlichen Beleuchtungsverhältnisse klar unterscheiden, fügen sich die Gewölberippen über die Nähte der Fotos hinweg bis auf wenige minimale Verschiebungen genau zusammen. Der Fotobogen wird von einem weißen Kreis umfangen, innerhalb dessen einige der Gewölbe- und Fensterlinien mit Glasstift weitergezogen wurden. Ein schmaler Spalt markiert den Kreismittelpunkt und erinnert an die prinzipielle Unabschließbarkeit der Montage, die den Betrachter nun ohne erklärendes Diagramm mit einem Bild konfrontiert, das, um die fotografische 33 Damisch 1993 (wie Anm. 1), S. 246 und 345. 156 J ASMIN M ERSMANN Abb. 8: Jan Dibbets, Middelburg, 1982–1983, Farbfotografien, Wasserfarbe und Glasstift, Helsinki, Ateneum. Reduktion auf einen Blickpunkt zu überwinden, mehr zeigt, als ein einziger Blick vor Ort umfassen könnte. Obwohl die Pfeiler fehlen, fühlt man sich an Hegels euphorische Vision der gotischen Kathedrale erinnert: »Da nun ferner das Aufstreben sich als der Hauptcharakter bekunden soll, so übersteigt die Höhe der Pfeiler die Breite ihrer Basis in einer fürs Auge nicht mehr berechenbaren Weise. Die Pfeiler werden mager, schlank und ragen so hinauf, dass der Blick die ganze Form nicht mit einem Male überschauen kann, sondern umherzuschweifen, emporzufliegen getrieben wird, bis er bei der sanft geneigten Wölbung der zusammentreffenden Bogen beruhigt anlangt«.34 Die Passgenauigkeit der über die ein34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 2, Frankfurt am Main 1970, S. 337. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 157 zelnen Abzüge hinweg »zusammentreffenden Bogen« konfligiert mit der merkwürdigen Irrealität der Konstruktion, die sich kaum auf eine konkrete architektonische Situation zurückführen lässt. Ausgerechnet die nach harmonischen und symbolischen Maßverhältnissen konstruierte gotische Kathedrale verliert jede Kohärenz. Die Montage versucht nicht die objektive Situation zu erfassen, sondern den subjektiven Seheindruck eines Betrachters, dessen Blick mit in den Nacken gelegtem Kopf »umherzuschweifen, emporzufliegen getrieben wird«, bis er im Höhenrausch den Boden unter den Füßen verliert. Dass die Montage frontal ins Blickfeld gestellt ist, stört diese Erfahrung kaum, erinnert aber an die Vertikalität als eine der Eigenschaften des Bildlichen. Zeit Die Gewölbefalten raffen nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit, denn die simultane Schau der montierten Einzelbilder hebt die Temporalität des umherschweifenden Blickes auf. Gemeinhin ist die Fotografie für das Einfrieren der Zeit im Augenblick bekannt. Sie gelingt, so Henri Cartier-Bresson 1952, wenn im Bruchteil einer Sekunde die Bedeutung eines Ereignisses samt der Formen erfasst wird, die ihm seinen Ausdruck geben.35 Bei Dibbets gibt es keine menschlichen Akteure, die durch Handlung Zeit erschaffen. In den Panoramen wird die Zeitlichkeit der Rundumschau in der linearen Präsentation eliminiert, in 0°–35° Sea Horizon ist die einzige Akteurin die Kamera und in The Shortest Day ist sie es, die durch die Registrierung natürlicher Prozesse eine Ordnung des Nacheinander herstellt. Die Montagen stellen die Frage nach der Messbarkeit von Zeit. Norbert Elias zufolge ist ›Zeit‹ nicht objektiv gegeben, sondern »ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe [...] mit der biologischen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert.«36 Neben den Lichtverhältnissen am »kürzesten Tag« fungieren die Gezeiten und Schattenverschiebungen als »natürlicher« Maßstab von Zeitverläufen. Ihr Reiz besteht vor allem darin, dass beide von der Erdrotation verursacht und erst durch den fotografischen Zeitraffer sichtbar werden.37 Dane35 Am 8.2.1994 notiert Henri Cartier-Bresson im Rückgriff auf seine berühmte Definition in Images à la sauvette: »Ma passion n’a jamais été pour la photographie ›en elle-même‹, mais pour la possibilité, en s’oubliant soi-même, d’enregistrer dans une fraction de seconde l’émotion procurée par le sujet et la beauté de la forme, c’est à dire une géométrie éveillée par ce qui est.« In: ders: The mind’s eye. Writings on Photography and Photographer, New York 1999, S. 42. 36 Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie, Bd. 2, Frankfurt am Main 9 2005, S. 11–12. 37 Siehe dazu auch Margarethe Jochimsen (Hg.): Prozesse. Physikalische - biologische - chemische, Bonn 1978, o.S. 158 J ASMIN M ERSMANN Abb. 9: Jan Dibbets, Flood Tide, Sketch after the Work, 1969–1970, Schwarzweißfotografien und Bleistift auf Papier, Wuppertal, Von der Heydt-Museum. ben besitzt die Kamera jedoch auch eine Eigenzeit, nämlich die in den Shutterspeed Pieces vorgeführte Dauer der Einschreibung von Licht auf das fotosensitive Material, die – wie bei Joseph Nicéphore Nièpce oder Hiroshi Sugimoto – Zeitlichkeit generierende Bewegung sogar eliminieren kann. Die in zwei Reihen montierte Fotosequenz Flood Tide (1969–1970) beginnt mit einer Schwarzweißaufnahme nassglänzenden Sandbodens, in den eine Linie geharkt wurde, die auf dem hochformatigen Bild als Mittelsenkrechte erscheint (Abb. 9). In der zweiten Fotografie wird der Streifen durch die herannahende Flut verkürzt, die sich in den folgenden sieben Aufnahmen wie ein horizontales Band stückweise vom oberen zum unteren Bildrand schiebt, bis sie zuletzt das gesamte Bild überschwemmt.38 Der abgeschnittene Horizont und die fehlenden Fluchtli- 38 Zu diesem Werk siehe auch Holger Broeker: Der montierte Blick. Raum- und Zeiterfahrung im Werk von Jan Dibbets. In: Carolin Bahr, Gora Jain (Hg.): Zwischen Askese und Sinnlichkeit. Festschrift für Norbert Werner zum 60. Geburtstag, Dettelbach 1997, S. 304–313, bes. S. 306–307. Die Linie erinnert an die zwei Jahre zuvor entstandene Line made by walking des Landart-Künstlers Richard Long, bei der die Fotografie jedoch lediglich zur Dokumentation der Aktion diente. Siehe dazu Gilles Tiberghien: Land Art, Paris 1995, S. 235. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 159 nien erschweren die tiefenräumliche Lesart der Fotografien, die sich auch als abstrakte Komposition betrachten lassen. Unter jedem Abzug ist die genaue Uhrzeit der in relativ regelmäßigen Abständen von 11:05 bis 13:00 Uhr aufgenommenen Fotos vermerkt. Die senkrechte Linie wird zur Messleiste der Zeit: Würde das Experiment regelmäßig am gleichen Standort wiederholt, ließe sich auf dem Foto sogar die jeweilige Uhrzeit festlegen. Doch wieder ist Vorsicht geboten: Wie Dibbets’ Serie Horizons aus dem Jahr 1971 zeigt, lässt sich der Effekt steigenden Wassers auch durch die bloße Bewegung der Kamera erzielen.39 Neben Ebbe und Flut setzt Dibbets vor allem wandernde Schatten als Zeitindex ein. In der Fotoserie Shadows on the Floor of the Sperone Gallery (1971) richtet sich die Kamera nicht auf das Fenster selbst, sondern zeichnet in regelmäßigen Abständen sein »Negativbild« auf. Das sich verändernde Schattenmuster des Sprossenfensters fungiert als eine Art Sonnenuhr, die jedoch nur diskrete Momente erfasst und den eigentlichen Zeitverlauf – wie Bergson schon 1911 beklagt – nicht zu erfassen vermag: »Nous raisonnons sur le mouvement comme s’il était fait d’immobilités, et, quand nous le regardons, c’est avec des immobilités que nous le reconstituons.«40 Im Unterschied zu den Sukzessionen Eadweard Muybridges, den Dibbets über Sol LeWitt kennenlernte und dafür schätzt, dass er als erster »Intervalle fotografierte«, halten Dibbets’ Montagen keine schnellen, sondern extrem langsame Bewegungen fest. Sie fungieren als Zeitraffer, mit dessen Hilfe sich mehrstündige Prozesse auf einem Tableau komprimieren und durch die Betrachtung in Leserichtung wieder verzeitlichen lassen.41 In Shadows Taped Off on a Wall (1969) verwandelt Dibbets einen ganzen Ausstellungsraum in eine Kamera, auf deren Wänden er einen Tag lang die wandernden Schatten des Fensterrahmens mit Klebeband markiert. Erinnerte Shadows on the Floor an die Bewegungsstudien von Muybridge, ruft diese Installation die Chronofotografien von Etienne-Jules Marey in Erinnerung, bei denen Bewegungsabläufe nicht auf mehrere Einzelbilder verteilt, sondern auf einer Platte vereint werden. Die Intervalle liegen hier nicht zwischen einzelnen Bildern, sondern zwischen den einzelnen Markierungen. Selbstverständlich ist jede Fixierung von Schatten zugleich eine Reflexion über die Fotografie, die Talbot ursprünglich auch als skiagraphia, als Schattenschrift bezeichnete. Der Name beschreibt nicht allein das technische Verfahren, sondern betont zugleich das Vermögen der Fotografie, das Ephemere im Bild zu konservieren. »The most transitory of things, a shadow, the proverbial emblem of all that is fleeting and momentary«, so Talbot 1839, »may be fettered by the spells of our ›natural magic‹, and may be fixed for ever in the position which it seemed 39 Siehe Rudi Fuchs, J. Leering (Hg.): Jan Dibbets, Eindhoven 1971, o.S. 40 Henri Bergson: La Perception du Changement. In: ders.: La pensée et le mouvant. Essais et conférences, Paris 152003, S. 161. 41 Dibbets 2000 (wie Anm. 5), S. 257. 160 J ASMIN M ERSMANN only destined for a single instant to occupy.«42 In der seriellen Reihung wird dem Schatten ein Teil seiner Beweglichkeit zurückgegeben, wenn auch freilich nie die Passage, sondern stets Positionen registriert werden. Film: Painting Black Vase, Horizontal (1972) spielt mit der bekannten Kritik an der zenonischen Bewegungsfotografie à la Muybridge, die Körper nur »hier« oder »da«, aber niemals im Prozess der Bewegung zu zeigen vermag.43 Über eine Fläche von 8 x 10 Fotografien kommt zunächst von links eine Tischkante, dann eine schwarze Vase ins Bild, die in den einzelnen Abzügen peu à peu nach rechts wandert, bis nur noch der Tisch und schließlich allein eine weiße Wand zu sehen ist.44 Die Pointe liegt darin, dass was wie eine Demonstration des notwendigen Scheiterns an der Erfassung von Bewegung erscheint, im Gegenteil ein statisches Objekt in Bewegung versetzt. Die Disproportion zwischen der minimalen Kamerabewegung und ihrem Effekt produziert zudem einen Eindruck der Verlangsamung: Das Panorama fungiert als Zeitlupe. Wie in anfahrenden Zügen ist es ohne ein festes Maß unmöglich zu entscheiden, ob sich das Objekt oder das (Kamera-)Auge bewegt: »In der Fotografie ist es ja ständig so, dass etwas, was man auf einem Bild sieht, eben nicht das ist, was es ist. Aber gleichzeitig ist es genau das, was es ist. Alles Feststehende ist relativ.«45 Montage Dibbets ist das, was Raoul Haussmann als »photomonteur-photographe« bezeichnet, das heißt, er arbeitet nicht mit gefundenen, sondern mit seinen eigenen Fotografien, die er in einem einzigen Milieu und meist von einem Punkt aus aufnimmt.46 Klassischen Collagen, wie denen Hannah Höchs, gelingt es durch die Kombination heterogener Bildausschnitte ohne gemeinsamen Maßstab, Sinn in ansonsten insignifikante Bilder einzuführen.47 Auch in Dibbets’ Montagen wird »die Perspektive durch Perspektiven überwältigt«, doch sie kommunizieren nichts, 42 William Henry Fox Talbot: Some Account of the Art of Photogenic Drawing. In: Beaumont Newhall (Hg.): Photography: Essays & Images. Illustrated Readings in the History of Photography, London 1980, S. 25. Siehe auch Martin Schulz: Photographie und Schattenbild. In: Marion Ackermann, Helmut Friedel (Hg.): SchattenRisse. Silhouetten und Cutouts, Ostfildern-Ruit 2001, S. 141–142 und Ulrich Pohlmann: Über die Kunst, einen Schatten zu fixieren. Photographie und Schattenfiguren von 1839 bis 1930. In: ebd., S. 149–161. 43 Merleau-Ponty 1964 (wie Anm. 19), S. 78: »le corps est ici et là, mais il ne bouge pas«. 44 Siehe Rudi Fuchs: Modes of visual experience. New works by Jan Dibbets. In: Studio International 185 (1973), S. 37. 45 Dibbets 2000 (wie Anm. 5), S. 251. 46 Siehe Michel Frizot: Les vérités du photomonteur. In: ders. (Hg.): Photomontages. Photographie expérimentale de l’entre-deux-guerres, Paris 1987, o.S. 47 Siehe Rolf Krauss: Photographie als Medium. 10 Thesen zur konventionellen und konzeptionellen Photographie, Ostfildern 1995, S. 225 und 228. M INIMALISTISCHER Ü BERSCHWANG 161 sondern beschränken sich darauf, den Raum der Zentralperspektive zu de- und rekonstruieren – insbesondere den konkreten, gebauten Raum der Architektur, das häufigste Objekt perspektivischer Verzerrung.48 Besonders in den neueren Arbeiten, in denen die schematische Darstellung entfällt, gibt es keinen neutralen Dritten, der eine objektiv gegebene Wirklichkeit zu erfassen und dem Bild seinen Maßstab zu geben vermöchte. In den frühen Werken liegt die Ambivalenz vor allem in den Intervallen, die einen zeitlichen, räumlichen oder medialen Sprung markieren, und einen Graben zwischen Bild und Betrachter aufreißen. In den neueren Werken sind die Abzüge meist fächerförmig angeordnet, doch entstehen durch den lückenlosen Anschluss der Motive keine Intervalle, im Gegenteil: die Realität liegt doppelt. Die bruchlose Oberfläche verwirrt umso mehr, als sie sich vor Ort unmöglich mit einem Blick erfassen ließe: Das menschliche Maß wird überschritten. Bezeichnenderweise sind die Kreismontagen meist nicht geschlossen, doch trotzdem hat der Betrachter seinen panoramatischen Platz in der Mitte verloren. Die zu Unrecht als »dekorativ« kritisierten, seit den achtziger Jahren entstandenen Montagen werden häufig als Indiz einer religiösen Wende in Dibbets’ Werk interpretiert. Doch die Bemerkung Paul Groots, er habe schon 1969 bei der Betrachtung dreier lichterfüllter Fenster »kein gewöhnliches Gefühl« gehabt, zeigt, wie noch die formalistischste Studie sich metaphysisch aufladen lässt.49 Klaus Honnef bezeichnet Jan Dibbets’ Arbeiten 1970 als »visualisierte Denkanstrengung« und behauptet, seine Ideen schlügen sich »ohne vorherige Formalisierung unmittelbar auf Fotos nieder[.]«: »Zwischen Konzept und Ausführung schieben sich keine formalen Eingriffe. Infolgedessen gelangen auch Eigenmächte der Form, die sich bei jeder Investition begrifflicher Vorstellungen in bildnerische oder skulpturale Werke entfalten, nicht zur Geltung.«50 Zugunsten der Inthronisierung der concept art, deren Ziel es war, das Kunstwerk durch das Außerkraftsetzen formalästhetischer Kriterien von den »Fesseln der Dinghaftigkeit« zu befreien, übersieht Honnef gerade die Widerständigkeit des »Dings« Fotografie: Auch wenn Dibbets sich selbst zeitweilig als Konzeptkünstler verstand, bleiben Formfragen bei seinen fotografischen Arbeiten von eminenter Bedeutung. Auch seine frühen Bilder sind immer mehr als bloße Demonstrationsobjekte, deren Beunruhigungspotential in 48 Otto Stelzer 1966 (wie Anm. 1), S. 94. 49 Paul Groot: Jan Dibbets, ›Saenredam-Sénanque‹. In: Artforum 20.10 (1982), S. 94–95: »Even then seeing a triptych of three light filled windows, I had no ordinary sensation, here I cannot repress the feeling that we are dealing with the divine light of the Middle Ages, das Sendelicht, the transcendental light that is God.« Von »dekorativen« Bildern spricht beispielsweise John Welchman: Geometer, Photographer, Bloodhound. In: Art International 1 (1988), S. 39. 50 Klaus Honnef: Beschreibungen zu Projekten von Jan Dibbets. In: Jan Dibbets. Gegenverkehr, Aachen 1970, o.S. Diese Konzeptualisierung seiner Kunst kritisiert schon Erik Verhagen: Représentation et transformation. L’œuvre photographique de Jan Dibbets (1969–1989), Dissertation, Paris 2000, S. 43. 162 J ASMIN M ERSMANN ihrem Changieren zwischen Abstraktion und Figuration gründet: »Cézanne hat Realität als Abstraktion gebracht, Mondrian Abstraktion als Realität. Sie haben das beide getrennt. Daraus muss man die Konsequenz ziehen und nicht malen. Fotografie ist keine Lösung, sie ist nur ein Mittel eine kurze Zeit über, eine Lösung zu finden.[...] Es gibt eine höhere Lösung als Cézanne und Mondrian: Realität gleich Abstraktion.«51 51 Jappe, Dibbets 1973 (wie Anm. 22), o.S. P RÄZISE / UNPRÄZISE 10 Taube Bilder und sehende Hände Strategien visueller Transgression im Werk von Herwig Turk I NGEBORG R EICHLE Während in medientheoretischen Debatten der epistemische Status von computergestützten bildgebenden Systemen mit dem Verlust von Referenzialität belegt wird und zwischen Begriffen wie »Wirklichkeit« versus »Manipulation« oszilliert, verlassen sich Forscher, Mediziner, Naturwissenschaftler und ganze Wirtschaftszweige hingegen auf diese neuen Bildwelten in immer größerem Umfang. Diese Widersprüchlichkeit verdichtet der Künstler Herwig Turk in seinen Kunstprojekten zu einer produktiven Spannung, die jedoch stets von einem gewissen Unbehagen begleitet wird. Durch Strategien visuellerTransgression versuchtTurk,den komplexen Voraussetzungen für die Erzeugung von Evidenz in der modernen medizinischen und naturwissenschaftlichen Praxis nachzuspüren, insbesondere im Hinblick auf die Schwierigkeit, den bildgebenden Systemen Verbindlichkeit und soziotechnische Evidenz zuzuschreiben, werden an diese doch höchst relevante Entscheidungen geknüpft. I Als Herwig Turk1 die Recherche zu seiner Bildserie Superorgane (1993) in den frühen 1990er Jahren in medizinische und naturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen führte, stieß er dort überall auf den Einsatz digitaler Bilder und den Gebrauch neuer bildgebender Systeme.2 Aufgrund der Eindrücke und Erfahrun- 1 Der österreichische Medienkünstler Herwig Turk (geb. 1964) lebt und arbeitet in Wien und Lissabon. In den letzten Jahren wurden seine Arbeiten an Orten wie Georg Kargl Fine Arts Wien, Neues Museum Weserburg Bremen, Medien Kunst Labor TESLA in Berlin, Museum für angewandte Kunst/zeitgenössische Kunst Wien, Transmediale Berlin oder Media Art Biennale Seoul gezeigt. Zurzeit arbeitet Turk mit dem portugiesischen Wissenschaftler Paulo Pereira an dem interdisziplinären Projekt mit dem Namen »blindspot«, siehe www.theblindspot.org und www.herwigturk.net (Letzter Zugriff: 2. Juli 2008). 2 Siehe zu Herwig Turk: Ingeborg Reichle: Art in the Age of Technoscience. Genetic Engineering, Robotics, and Artificial Life in Contemporary Art. With a Preface by Robert Zwijnenberg, Wien, New York 2009, S. 114–121 und dies.: Unter Beobachtung. In: Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen 20 (2008), S. 63–66. 166 I NGEBORG R EICHLE gen, die Turk im Laufe der Zeit durch die Gespräche mit Experten in diesen wissenschaftlichen Einrichtungen sammelte, erschien es ihm zunehmend widersprüchlich, dass auf der einen Seite zahlreiche Medientheoretiker die neuen digitalen Bildwelten unter den Generalverdacht der Täuschung3 und des Verlusts des Realen4 stellten, Forscher, Mediziner und Naturwissenschaftler und ganze Wirtschaftszweige sich hingegen auf diese neuen Bildwelten in immer größerem Umfang verließen und Entscheidungsprozesse von höchster Relevanz an diese knüpften. Mit dem Projekt Superorgane versuchte Turk, diesem Widerspruch einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen, indem er menschliche Körperteile zu irritierenden Collagen zusammenführte und in einer maßlos vergrößerten fotografischen Anmutung präsentierte (Abb.1 a–d).5 Turk fotografierte mit einer analogen Mittelformatkamera Ausschnitte menschlicher Körperteile wie zum Beispiel Augenwinkel, Ohrläppchen oder Zähne und scannte anschließend die Blattkopien ein. Nachdem er die Bilder mit Photoshop digital bearbeitet hatte, ließ Turk 3 Siehe den bekannten Passus von Friedrich Kittler: »Diese Diskretheit oder Digitalität erstens der geometrischen Orte und zweitens der chromatischen Werte macht all die Zauberkunststücke möglich, die die Computergrafik von Film und Fernsehen unterscheiden. Es ist zum ersten Mal in der Geschichte optischer Medien möglich, das Pixel in der achthundertneunundvierzigsten Zeile und siebenhunderteinundzwanzigsten Spalte direkt zu adressieren, ohne seine Vorgänger oder Nachfolger durchlaufen zu müssen. Computerbilder sind also in einem Maß, das die Fernsehmacher und Ethikjournalisten schon heute zittern macht, die Fälschbarkeit schlechthin. Sie täuschen das Auge, das einzelne Pixel ja nicht mehr voneinander unterscheiden können soll, mit dem Schein oder Bild eines Bildes, während die Pixelmenge aufgrund ihrer durchgängigen Adressierbarkeit in Wahrheit die Struktur eines Textes aus lauter Einzelbuchstaben aufweist. Deshalb, und nur deshalb, ist es kein Problem, Computermonitore vom Textmodus zum Grafikmodus oder umgekehrt umzuschalten.« Friedrich Kittler: Computergrafik. Eine halbtechnische Einführung. In: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. I, Frankfurt am Main 2002, S.178– 94; hier S. 179. 4 Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. In: Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV 1980–1995, München 2000, S. 256–260; hier S. 258. 5 Sieben der insgesamt zehn Arbeiten umfassenden Fotoserie Superorgane zeigte die Kuratorin Silvia Eiblmayr erstmals in der Salzburger Ausstellung »Suture – Phantasmen der Vollkommenheit« im Salzburger Kunstverein. Siehe Silvia Eiblmayr (Hg.): Suture – Phantasmen der Vollkommenheit, Ausstellungskatalog, Salzburg 1994. Im Jahr darauf führte die groß angelegte Ausstellung »Fotografie nach der Fotografie« mehr als dreißig künstlerische Positionen zusammen, die ebenfalls die unterschiedlichsten Einflüsse der digitalen Fotografie auf die Gegenwartskunst thematisierten, siehe Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut, Florian Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, Dresden 1995. Siehe auch Anette Hüsch: Schrecklich schön. Bild, Material und Körper in der Post-Photographie. In: Hans Belting, Ulrich Schulze (Hg.): Beiträge zu Kunst und Medientheorie – Projekte und Forschungen an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Stuttgart 2000, S. 33–45. Im Jahr 1997 wurde in der Ausstellung »immortality 2 (never age never die never live)« eine Version der Superorgane in Farbe auf Film vergrößert, im ehemaligen septischen Operationssaal des Landeskrankenhauses Wolfsberg gezeigt, montiert in den Röntgenbildleuchtkasten. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 167 Abb. 1 a–d: Herwig Turk, Serie Superorgane. Links oben: Superorgan O-1, 1993, s/w Fotografie auf Aluminium, 125 × 213 cm. Rechts oben: Superorgan Z-1, 1993, s/w Fotografie auf Aluminium, 125 × 213 cm. Links unten: Superorgan A-1, 1993, s/w Fotografie auf Aluminium, 146 × 125 cm. Rechts unten: Superorgan Z-2,1993, s/w Fotografie auf Aluminium,146 × 125 cm. Negative davon herstellen, die in der Folge auf das ihnen zugedachte Maß vergrößert wurden. Schwarz-weiß und in gestochen scharfer fotografischer Anmutung gleicht die Materialität der Kompositbilder auf den bis zu 1,25 × 2,13 Meter großen Bildflächen gänzlich jener von herkömmlichen Fotoabzügen. Die bewusst provozierte überdimensionierte Sichtbarkeit der Bilder lässt kein Detail unberücksichtigt und Hautfalten, Härchen und das Geflecht von Adern zu Mustern oder gar zu unbekannten Landschaften werden. Die Verfremdung von Vertrautem wird durch die Doppelung und anschließende Spiegelung der ausgewählten Bildausschnitte der Körperfragmente sowie deren Drehung um 45 Grad erreicht. Durch die symmetriestiftenden Spiegelachsen lässt der Künstler die einzelnen Bildkomponenten zu einem neuen Bildganzen verschmelzen und rückt bislang vertraute Körperansichten in eine für den Blick des Betrachters irritierende Perspektive. Die übersteigerte Darstellung lässt kleine vertraute Körperpartien zu bedrohlichen Formationen werden und deren mit Körperflüssigkeit überzogene 168 I NGEBORG R EICHLE Oberflächen auf eine Weise abstoßend wirken, so dass man sich der affektiven Wirkung der Bilder kaum entziehen kann. Dieses Vorgehen markiert den Versuch einer Kritik an der möglichen Modifizierung der Morphologie des Körpers, ermöglicht durch die häufig praktizierte Modellierung des menschlichen Körpers durch die plastische Chirurgie, gefolgt von der Vision der genetischen Neuschöpfung des menschlichen Körpers durch die Rekombination von DNA-Sequenzen auf molekularer Ebene durch das genetic engineering. Durch diese provozierte visuelle Transgression werden eingeübte Sehkonventionen, Bildpraktiken und ihr Bezug zur Wirklichkeit infrage gestellt: Nach Alois Hahn folgt jedoch der Transgression die Norm wie ein Schatten, zumal die Übertretung von Normen diese wieder in Erinnerung ruft und eine stabilisierende Funktion erfüllen kann.6 Die Zurichtung menschlicher Körper durch die plastische Chirurgie ist weniger durch die Überschreitung von Normen und durch die Herstellung neuer Körperformen motiviert, sondern geleitet von dem Wunsch nach der Erfüllung normierter Körpervorstellungen. Diesen Widerspruch zwischen Potentialität und Normierung macht Turk visuell begreifbar, indem er in übersteigerter Weise Körperformen in einer Zeit zeigt, in der es immer schwieriger wird, zu unterscheiden, was als real und was als imaginär gilt. Durch den Rückgriff auf die klassische Ästhetik der »analogen« Fotografie knüpft Turk bewusst an deren paradigmatischen Status eines »objektiven« Dokumentationsmediums an, das sein Realitätsversprechen aus der kausalen Verbindung zwischen Aufzeichnungsprozess und Referent ableitet.7 Die fotografische Abbildung, imaginiert als wirklichkeitsgetreuer »Abdruck der Natur«, der auf einem physikalisch-chemischen Prozess beziehungsweise »Akt« basiert, galt schon bald nach ihrer Erfindung in den 1830er Jahren als Zeugenschaft und Existenzbeweis des Objektes vor dem Objektiv. Die durch die fotografische Anmutung unterstellte Glaubwürdigkeit der Existenz der rein fiktivenSuperorgane wird durch deren Doppelung wieder gebrochen. Turk führt damit vor Augen, dass auf der Ebene der optischen Wahrnehmung analoge Fotografien und digital bearbeitete Bilder kaum voneinander zu unterscheiden sind, obwohl deren voraussetzungsreiche mediale und technische Verfasstheiten höchst unterschiedlich sind.8 Es hat 6 Alois Hahn: Transgression und Innovation. In: Werner Helmich, Helmut Meter, Astrid Poier-Bernhard (Hg.): Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München 2002, S. 452–465; hier S. 452. 7 Fraglos ist mit der Verbreitung digitaler Bilder die Beschreibung »analog« versus »digital« zur Leitdifferenz in der Mediengeschichte und Theorie der Medien avanciert, siehe Ingeborg Reichle: Medienbrüche. In: Kritische Berichte, Heft 30.1 (2002), S. 41–56 und Jens Schröter: Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? In: ders., Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital. Opposition oder Kontinuum. Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 7–30; hier S. 8–9. 8 Siehe zum historischen Verhältnis analoger und digitaler Fotografie: Jens Schröter: Eine kurze Geschichte der digitalen Fotografie. In: Wolfgang Hesse, Wolfgang Jaworek (Hg.): Verwandlungen durch Licht. Fotografieren in Museen & Archiven & Bibliotheken, Esslingen 2001, S. 249–257 und Wolfgang Hagen: Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Genealogie T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 169 daher den Anschein, dass hier nichts weniger als das Verhältnis von Körper, Bild und Wirklichkeit im »post-fotografischen Zeitalter«9 zur Disposition steht, in einem Zeitalter, das zugleich auch das Zeitalter des genetic engineering ist, in dem manipulierte Bilder auf manipulierte Körper treffen und beide ihren ontologischen Status scheinbar längst verloren haben. II Den zunehmend prekär werdenden Status des Bildes im »post-fotografischen Zeitalter« thematisiert Turk auch in dem Nachfolgeprojekt referenceless photography (1998–2003) und nimmt die Herstellung und Praxis technischer bildgebender Systeme in der Medizin und den Naturwissenschaften und deren Verhältnis beziehungsweise Referenz zur Wirklichkeit in den Blick (Abb. 2–4). Obwohl visuelle Evidenz auf kulturellen und erlernten Interpretationen beruht, gelten in den Naturwissenschaften Bilder oftmals nach wie vor als »objektive Instanzen«, die sich angeblich unverfälscht und unmittelbar erschließen lassen.10 Mit referenceless photography lenkt Turk die Aufmerksamkeit auf die symbolischen und medialen Praktiken der Herstellung von »Sichtbarkeit« in den Naturwissenschaften, die mit der »ikonischen Wende« eine besondere Brisanz bekommen haben. Bereits der Titel markiert den Rahmen, in dem sich die künstlerische Auseinandersetzung mit den Bildwelten der Wissenschaften vollzieht, bezieht sich dieser doch auf den Topos von der »Referenzlosigkeit« digitaler Bilder beziehungsweise bildgebender Systeme. Heute basiert die Mehrzahl der bildlichen Repräsentationen in der Medizin und den Naturwissenschaften nicht mehr auf abbildenden, sondern auf bildgebenden Verfahren, wodurch das indexikalische Band zwischen Bild und Referenzobjekt in diesen Wissensgebieten stark gelockert wurde. Durch die neuen computerbasierten bildgebenden Systeme werden in Messprozessen Datenmengen und vielschichtige Datenrelationen in einem solch großen Umfang erzeugt, dass diese nur noch standardisiert und automatisiert bearbeitet werden können und der digital-elektronischen Bildaufzeichnung. In: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. I, Frankfurt am Main 2002, S. 195– 235; hier S. 221–222. 9 Mit der digitalen Fotografie scheint die Bezeugung realer Vorgänge an ihr Ende gekommen zu sein, siehe Fred Ritchin: In Our Own Image. The Coming Revolution in Photography. How Computer Technology Is Changing Our View of the World, New York 1990 und William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge (Mass.), London 1992. Mitchell schlägt eine klare Unterscheidung zwischen der fotochemischen Fotografie und den elektronischen Bildtechnologien vor und beschreibt den Übergang von der analogen zur digitalen Technik als einen radikalen Bruch und eine revolutionäre systemische Veränderung auf der formalen Ebene. 10 Siehe Britta Schinzel: Wie Erkennbarkeit und visuelle Evidenz für medizintechnische Bildgebung naturwissenschaftliche Objektivität unterminieren. In: Bernd Hüppauf, Christoph Wulf (Hg): Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 354–370; hier S. 355. 170 I NGEBORG R EICHLE Abb. 2: Herwig Turk, referenceless photography 001–98, 1998–2003, Leuchtkasten mit Duratrans, 100 × 100 cm. sich kognitiv nur mehr als Verbildlichungen von menschlichen Experten erfassen, beziehungsweise verarbeiten lassen. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass die Komplexität und der Umfang der auf diese Weise produzierten Daten einer Rückholung in die Anschauung bedürfen. Nach Britta Schinzel bedeuten diese Visualisierungstendenzen in den Naturwissenschaften jedoch nicht unbedingt eine Rückkehr der Anschauung des Natürlichen, sondern eine visuelle Perzeption von Virtuellem, von kompliziert konstruierten Artefakten, deren Korrespondenz mit Gegebenem erneut kontingenter Konstruktionen bedarf.11 11 Siehe ebd. und dies.: Epistemische Veränderungen durch die Informatisierung der Naturwissenschaften. In: Sigrid Schmitz, dies. (Hg.): Grenzgänge. Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften, Königstein 2004, S. 30–49. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 171 Abb. 3: Herwig Turk, referenceless photography 002–98, 1998–2003, Leuchtkasten mit Duratrans, 100 × 100 cm. Für das Projekt referenceless photography hatte Turk bereits 1998 mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms eine ganze Reihe von Bildern in verschiedenen Grautonwerten hergestellt. An die Auswahl der fünf Visualisierungen, die im Zusammenhang mit dem Kunstprojekt zum Einsatz kommen sollten, legte der Künstler strenge Kriterien an: Die technischen Voraussetzungen sowie der vielstufige Herstellungs- und Bearbeitungsprozess der Bilder sollten möglichst unsichtbar bleiben. Selbst für das Auge des Experten sollte nicht mehr nachvollziehbar sein, mit welchem Programm beziehungsweise Filter die Bilder generiert worden waren. Die Strukturen der »Oberfläche« der einzelnen Visualisierungen sollten möglichst komplex und unregelmäßig erscheinen, damit diese nicht mehr als reine computergenerierte Artefakte zu erkennen waren. Der Verzicht auf eine aufwendige Farbgebung und die Verschwommenheit der Strukturen sollten die »Echtheit« der 172 I NGEBORG R EICHLE Abb. 4: Herwig Turk, referenceless photography 003–98, 1998–2003, Leuchtkasten mit Duratrans, 100 × 100 cm. Visualisierungen suggerieren. Die Unschärfe im Bild sollte zudem die Authentizität des »wissenschaftlichen Bildes« unterstreichen. Um den visuellen Eindruck von etwas »Wirklichem« zu evozieren, knüpfte Turk an ikonische Formeln der Mikroskopie an, indem er durch den Einsatz von Schatten den Bildern den Anschein einer Oberfläche und von Tiefe gab, was zugleich den Eindruck der Plastizität des Objektes beziehungsweise des Sachverhaltes verstärken sollte. Turk beabsichtigte, die von ihm mittels digitaler Bildbearbeitung generierten und damit einer »tatsächlichen« Bedeutung entbehrenden Visualisierungen an eine Reihe von Experten zu senden und sie um eine präzise Beschreibung zu bitten, ohne jedoch die Herkunft der Bilder genauer zu benennen. Erst durch die Zusammenarbeit mit dem renommierten portugiesischen Zellbiologen Paulo Pereira wurde es Turk möglich, die Bilder an entsprechende Experten zu versenden und T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 173 einen Referenzrahmen zu installieren, der das Vorhaben nicht sogleich als Kunstprojekt ausweisen würde.12 Pereira unterstützt seither dieses Kunstprojekt, da er referenceless photography für einen kunstvollen Weg erachtet, die Bildproduktion in den Wissenschaften zu problematisieren: »referenceless bezieht sich auf die Unmöglichkeit, Bedeutung oder Sinn aus einem Bild zu ziehen. Die Fotografien, die von Herwig Turk auf einem leeren Computerbildschirm hergestellt wurden, scheinen diese Urfunktion mit wissenschaftlicher Präzision einzulösen. Diese künstlich hergestellten Bilder wurden kreiert, um auszusehen, als ob sie etwas Sinnvolles, aber bislang Unbekanntes darstellten. Sie übersetzen einen subtilen Versuch, den symbolischen Wert von Legitimität zu hinterfragen, wo Legitimität ein Mittel ist, um einem Bild Autorität und Diskursmacht zuzuschreiben. Die Fotoarbeiten der Serie referenceless scheinen von der Kunst abgewiesen und von der Wissenschaft angenommen zu werden. Sie sind ›wissenschaftliche‹ Bilder, die in ihrem eigenen Kontext triviale Elemente eines Registrierungsprozesses computerbasierter Datenverarbeitung repräsentieren. Und doch unterliegt die Produktion dieser Bilder einer strengen Disziplin. Die Bilder stellen abstrakte Wissensparadigmen dar, suprematistische Formen der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die neue Wege eröffnen, um ihre Herstellung zu hinterfragen.«13 Am 25. Juni 2004 wurden die Bilder von Pereira mit einer Bitte um Stellungnahme per E-Mail an einen Kollegen am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen und an einen weiteren Kollegen am niederländischen Forschungsinstitut für Augenheilkunde in Amsterdam versendet. Beide Forscher lieferten zu jedem Bild eine vier bis sechs Zeilen umfassende detailreiche Beschreibung und es zeigte sich, dass die inhaltlichen Bestimmungen der beiden Forscher nicht weit auseinanderklafften: Die Abbildungen 2 und 3 wurden als mikroskopische Aufnahmen von Zellfragmenten identifiziert, Abbildung 4 als Linse eines Walfischs: »This image seems to show a similar surface to the one imaged in Figure NADA1-98, albeit at a lower magnification. In this magnification, which shows a larger area of the surface, it becomes obvious that the depressions and exaltations do not occur with a periodicity and do not all run parallel. In this image, the surface is not reminiscent of the surface of cells as stated above for Figure NADA198« und »Medium power secondary emission SEM micrograph of the basal epithelial membrane at the interface between anterior lens epithelium cells (LECs) and lens fiber cells (LFCs) in the eye lens of a whale fish. The micrograph shows the numerous caveolae involved in the transport of nutrients from the LECs to the 12 Paulo Pereira ist seit einigen Jahren Direktor des Zentrums für Augenheilkunde der Medizinischen Fakultät an der Universität Coimbra und Leiter des Labors für Biogerontologie, IBILI, an der Medizinischen Fakultät der Universität Coimbra sowie Direktor des Labors für Elektronenmikroskopie der Medizinischen Fakultät der Universität Coimbra, das zum Nationalen Netzwerk für Elektronenmikroskopie in Portugal gehört. 13 Paulo Pereira: referenceless photography. In: Herwig Turk, Paulo Pereira (Hg.): blindspot, Lissabon 2007, S. 6. (Übersetzung I.R.) 174 I NGEBORG R EICHLE underlying LFCs. Note that the individual LECs are not well demarcated.«14 Beide Forscher schrieben den Bildern zudem einen großen ästhetischen Reiz zu: »Very beautiful picture actually!«15 Dieser Kunstgriff von Turk zeigt auf, mit welcher Selbstverständlichkeit Forscher »wissenschaftliche Aussagen« über die mit digitaler Bildbearbeitungssoftware hergestellten Bilder treffen können, obwohl diese im Grunde genommen reine Bild-Artefakte darstellen. Eine Ursache liegt sicherlich darin, dass die Anfrage an die Experten aus einem vertrauenswürdigen Umfeld heraus an sie gerichtet wurde. Zudem knüpfte Turk bei der Produktion der Bilder gezielt an visuelle Referenzen aus der Bildwelt der Mikroskopie an und damit an weithin bekannte Stiltraditionen und Sehkonventionen. Die Verfahren der Mikroskopie sind wie die meisten naturwissenschaftlichen Verfahren maßgeblich auf den Einsatz visueller Medien angewiesen und daher zutiefst abhängig von sinnlicher Wahrnehmung, die in der Folge zur bildlichen Darstellung des Wahrgenommenen und seiner »Sichtbarmachung« führt. Da nicht nur die Herstellung von Sichtbarkeit, sondern das Sehen selbst bereits eine Aktivität ist, bringt das Beobachten in den Wissenschaften immer schon Kontroll- und Disziplinierungsstrategien mit sich.16 Auch in der Mikroskopie hängt die Herstellung von Bedeutung von den Sehgewohnheiten beziehungsweise der Schule des Sehens ab, in der die Wissenschaftler ausgebildet und erzogen werden. Die Instrumente und Apparaturen, durch die der Blick der Forscher geprägt wird, sind zudem heute in hohem Maße standardisiert und automatisiert und werden von global präsenten Firmen hergestellt und vertrieben. Ein weiterer Grund dafür, dass die Forscher überhaupt Aussagen über diese Kunst-Bilder treffen konnten, liegt schlicht in ihrer Ikonizität und der engen Verschränkung von Deixis und Bildlichkeit, handelte es sich in diesem Kunstprojekt doch um eine visuelle Bestimmung, die eingefordert wurde. Ganz gleich, ob es sich tatsächlich um eine wissenschaftliche Visualisierung handelt oder um ein rein fiktionales Bild-Artefakt wie im Falle von referenceless photography – Bilder beziehungsweise visuelle Medien sind stets eingebettet in eine Ordnung des Zeigens. Wie Gottfried Boehm vermutet, ist dies immer ein doppeltes Zeigen: Bilder zeigen etwas und zeigen zudem immer auch sich selbst.17 Turks Bilder zeigen nichts, 14 Ebd., S. 11. 15 In den Ausstellungen »Peripheral Vision I« im Museu das Comunicações in Lissabon im Jahre 2007 und »K8 Emanzipation und Konfrontation« im Kunstverein für Kärnten in Klagenfurt 2008 zeigte Herwig Turk referenceless photography in 100 × 100 cm großen Leuchtkästen und machte die Texte der Wissenschaftler zugänglich. 16 Siehe Lorraine Daston, Peter Galison: Das Bild der Objektivität. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 29–99. 17 Siehe Gottfried Boehm: Repräsentation – Präsentation – Präsenz. In: ders. (Hg.): Homo Pictor, München, Leipzig 2001, S. 3–13 und ders.: Die Hintergründe des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes. In: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin 2007, S. 19–33 sowie Dieter Mersch: Wort, Bild, Ton, Zahl. Modalitäten des Darstellens. In: ders. (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, München 2003, S. 9–49. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 175 was außerhalb der Bilder anzutreffen ist, und sind im Grunde rein fiktional. Natürlich konnte Turk die beiden von Pereira angefragten Forscher hinsichtlich dessen täuschen, was sie auf den Visualisierungen sehen, nicht aber darin, dass sie etwas sehen. Damit wird deutlich, dass Bilder immer auch etwas aufzeigen und präsentieren und es daher eine negative Ikonizität nicht geben kann. Referenceless photography macht sich zunutze, dass visuelle Medien durch Evidenzeffekte gekennzeichnet sind und deren bildliche Intensität eng mit ihrer medialen Form des Zeigens verbunden ist. Zudem wird deutlich, dass wissenschaftliche Bilder nicht nur die ihnen zugewiesenen Inhalte (zum Beispiel Messdaten) referieren, sondern dass ihre Strategien der Sichtbarmachung das Sichtbargemachte immer auch transformieren, verändern und in ihre jeweils eigene visuelle Logik einbinden. In den unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen kommen höchst differente Darstellungsweisen zum Einsatz und eine breite Palette visueller Medien, die ihrer je eigenen Logik folgen und auf ihre Weise Bedeutung schaffen und stabilisieren.18 Turk zeigt mit seinem Kunstprojekt nicht nur, dass wissenschaftliche Bilder heute in einem hochkomplexen Gefüge von Apparaten, Agenten, Instrumenten und Texten Sinn erzeugen, sondern dass durch den Einzug dieser technischen Bildsysteme die Frage nach der Referenzialität auf grundlegende Weise neu gestellt wird. Es geht dabei nicht um die Fragen des Wirklichkeitsbezugs dieser Bilder, sondern um deren Verhältnis zum institutionellen Rahmen und Kontext, in dem diese Visualisierungen entstehen. Die Herstellung visueller Verbindlichkeit und Evidenz ist im heutigen »postfotografischen Zeitalter«, in dem die computerbasierte Bildgenerierung dem permanenten Verdacht der Bildmanipulation ausgesetzt ist und elektronische Pinselstriche, künstliche Schattengebung, Skalierungsänderungen, Farbveränderungen, Ausblendungen, Retuschierungen und Synthetisierungen zum Standardrepertoire jeder PC-Software gehören, nur noch über institutionelle Absicherungen wie Ausbildungsstandards, professionelle Selbstkontrolle und routinierte Verfahrenskontrolle möglich. Folgt man David Gugerli, dann bedeutet dies, dass die technischen bildgebenden Systeme nicht nur die medizinische Diagnose in grundlegender Art und Weise restrukturieren, sondern auch deren zugrunde liegendes institutionelles Gefüge:19 Als im Zuge der »digitalen Revolution« das World Wide Web, das sich durch die Entwicklung von grafikunterstützenden Browsern20 rasch zu einem Bild18 Zur Logik naturwissenschaftlicher Bildproduktion siehe: Martina Heßler, Dieter Mersch: Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken? In: dies. (Hg.): Bildlogik. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 8–49. 19 David Gugerli: Soziotechnische Evidenzen. Der »pictorial turn« als Chance für die Geschichtswissenschaft. In: traverse. Zeitschrift für Geschichte 3 (1999), S. 131–159. 20 War das Internet zunächst ein rein textbasiertes Medium, so wurde es infolge der Erfindung des Internetprotokolls HTTP (Hypertext Transfer Protocol) und von grafikunterstützenden Browsern zu Beginn der 1990er Jahre in ein Bildmedium transformiert. Siehe Tim BernersLee, Mark Fischetti: Weaving the Web. The Original Design and Ultimate Destiny of the World Wide Web By Its Inventors, San Francisco 1999. 176 I NGEBORG R EICHLE medium von bis dahin ungekannten Ausmaßen entwickelte, völlig neue Möglichkeiten für die Distribution digitaler Bilddatensätze eröffnete, wurde es amerikanischen Medizinern möglich, mithilfe von neuen standardisierten Bildanalyseverfahren im Bereich digitalisierter Diagnoseverfahren21 die Auswertung von Routineuntersuchungen an Mediziner in Indien zu delegieren, deren Befunde tags darauf den amerikanischen Kollegen wieder zugingen. Diese Form der Telemedizin wird heute vor allem in der Radiologie praktiziert, ermöglicht durch den rasanten technischen Fortschritt bildgebender Systeme in diesem Wissensbereich. Heute stehen der medizinischen Bilddiagnostik immer komplexere bildgebende Systeme zur Verfügung, deren hoher Informationsgehalt eine immer detailliertere und aussagekräftigere Diagnose ermöglicht. Die Analyse wird durch die gesteigerte Komplexität jedoch immer zeitaufwendiger und somit kostspieliger. Einige Institutionen lagern die Bilddiagnostik daher in Länder wie Indien aus, andere arbeiten an der Integration automatisierter und standardisierter Bildverarbeitungsmethoden. Beide Optionen sind nicht unproblematisch: Im Gegensatz zu vielen anderen klinischen Prozessen, in denen die Unterstützung der Mediziner durch standardisierte Vorgehensweisen erfolgen kann, folgt der Prozess der Bildanalyse in der Regel keinem Standard. Die Analyse von Bildern geschieht oft in einem Ad-hoc-Vorgehen und nicht nach einem zuvor definierten Verfahren.22 In die Bildgenerierung mittels bildgebender Verfahren gehen interpretierende Modelle und Annahmen ein, sodass sich die empirische Verlässlichkeit nicht mehr auf den Referenzkörper bezieht, sondern auf das bildgebende System, das sich komplexer Kombinationen numerischer und statistischer Methoden und Visualisierungsalgorithmen bedient, um schließlich visuelle Evidenz zu erzeugen.23 In einer aufwendigen »Visualisierungspipeline« werden viele Entscheidungen bezüglich der Auswahl von Methoden der Filterung, der Interpolation, der Segmentierung oder etwa der 3-D-Rekonstruktion über Renderingverfahren getroffen.24 Die präzise und oftmals überaus realistisch anmutende bildliche Darstellung des Endresultats der Auswertung der Datenmengen kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass eine lange Kette von Auswertungsschritten erforderlich ist, um diese Ergeb- 21 Insbesondere wurden in der Medizin in den letzten drei Jahrzehnten computerbasierte bildgebende Systeme entwickelt, zum Beispiel (3-D-)Ultraschall, Computertomografie (CT), Magnetresonanz Imaging (NMR, MRI), Positronen-Emissionstomografie (PET), funktionelles Magnetresonanz Imaging (fMRI) oder Magnetoenzephalographie (MEG), die eine solche Arbeitsweise ermöglichen. 22 Siehe hierzu Sabine Iserhardt-Bauer et al.: Standardisierte Analyse medizinischer Bilddatensätze in der Neuroradiologie: Konzepte und Anwendungen. In: Thomas Schulze et al. (Hg): Simulation und Visualisierung. Proceedings der Tagung »Simulation und Visualisierung 2007« am Institut für Simulation und Graphik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg am 8. und 9. März 2007, Erfurt 2007, S. 357–370. 23 Siehe Schinzel 2006 (wie Anm. 10), S. 356. 24 Ebd., S. 360. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 177 nisse aus den zuvor gemessenen Daten herauszufiltern.25 Messprozesse, die zum Beispiel durch den Einsatz akustischer oder elektromagnetischer Wellen hervorgerufen werden, werden schließlich in optische oder akustische Repräsentationen überführt, wobei in vielen Wissensbereichen die bildliche Repräsentation der akustischen vorgezogen wird, obwohl diese den Messprozess wesentlich präziser wiedergibt als ein zweidimensionales Bild, das die Daten in sichtbare Strukturen überführt.26 Durch komplexe und kontingente Bilderzeugungsprozesse setzt eine zunehmende Entfernung des Bildes von dem Abzubildenden ein, bis hin zum Entstehen von Bild-Artefakten, die keine physiologischen Entsprechungen beziehungsweise Referenz mehr haben. Zudem bringen es viele dieser höchst komplizierten Visualisierungsprozesse mit sich, dass sich mit jedem Abstraktionsschritt, mit jedem Ableitungsschritt und jedem Integrationsschritt deren Fehleranfälligkeit erhöht. III Mit dem Problem der Fehleranfälligkeit beziehungsweise »Unsicherheit« setzt sich Turk in seiner Videoinstallation uncertainty (2007) auseinander (Abb. 5 a–b). In der Praxis der Datenauswertung, Datenevaluation oder Datengewinnung können Unsicherheiten auftreten und Fehlerrechnungen von Messdaten entstehen: Das Zählen des Messvorganges erfolgt weithin ohne Unsicherheiten, erst durch die wissenschaftliche Verwendung des Zählergebnisses tritt Unsicherheit auf beziehungsweise kann Unsicherheit auftreten. Schon Richard P. Feynman beschrieb Unsicherheit als eines der elementaren Kennzeichen moderner Wissenschaft und Karl Popper vermutete bereits, dass jede wissenschaftliche Wahrheit unsicher ist. Turk stellt uncertainty Überlegungen des österreichischen Experimentalphysikers Manfred Drosg voran, mit dem er sich in vielen Gesprächen über das Phänomen der Unsicherheit in der Wissenschaft27 in der Konzeptionsphase des Projektes austauschte: »Wegen der Komplexität der Realität bedient man sich zu ihrer Beschreibung Modellen (Theorien), die naturgemäß einfacher sind oder mindestens einfacher darstellbar sind als die Realität, praktisch immer unter der Zuhilfenahme der Mathematik. Genauso wenig wie ein Modell den Ausschnitt der Realität, den es beschreiben soll, exakt beschreiben kann, gibt es für kein Modell eine exakte Entsprechung in der Realität. [...] Diese Überlegungen haben für uns hier insoweit 25 Jürgen Hennig: Chancen und Probleme bildgebender Verfahren für die Neurologie. In: Freiburger Universitätsblätter 153.3 (2001), S. 67–86; hier S. 72. 26 Siehe hierzu im Bereich der Visualisierung von Atomen: Jens Söntgen: Atome Sehen, Atome Hören. In: Alfred Nordmann et al. (Hg.): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2006, S. 97–113; hier S. 101. 27 Manfred Drosg: Der Umgang mit Unsicherheiten. Ein Leitfaden zur Fehleranalyse, Wien 2006 und ders.: Dealing with Uncertainties. A Guide to Error Analysis, Berlin, Heidelberg 2007. 178 I NGEBORG R EICHLE Abb. 5 a–b: Herwig Turk, uncertainty, 2007. Zweikanal Videoprojektion mit den Maßen 4 × 6 × 4 Meter (variabel). Zwei Ansichten der Installation in der Ausstellung »Peripheral Vision I« im Museu das Comunicações in Lissabon, 2007. Siehe auch Farbtafel VIII. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 179 große Bedeutung, als die Theorie der Unsicherheit unendlich viele ›Messungen‹ voraussetzt, mit deren Hilfe der wahre Wert erhalten werden kann. Dass in der Realität nur relativ wenige Datenwerte zugänglich sein werden und deshalb der wahre Wert nur relativ grob durch einen Schätzwert angenähert werden kann, ist offensichtlich.«28 In seiner Videoinstallation uncertainty stellt Turk ein weiteres Mal ein Laborgerät in den Mittelpunkt des Geschehens und wieder wird eine Laborarbeitsbank zum Bühnenraum. Turk zeigt diese Arbeit als großformatige Videoprojektion, in der ein Schüttelapparat, auf dem ein Glasgefäß mit einer fluoreszierenden Lösung steht, behutsam bewegt wird. Die ersten Aufnahmen entstanden 2003 im Labor von Paulo Pereira, allerdings mit einer solch niedrigen Auflösung, dass die Aufnahmen 2005 und 2007 wiederholt wurden. Das Editieren und die Stabilisierung der Aufnahmen wurde später mit der Compositing- und Animationssoftware Adobe After Effects 6.5 von Bärbel Buck vorgenommen. Die Kamera, die das Video aufnahm, war auf einem weiteren Schüttelapparat installiert, dessen Bewegungen synchron zum Gerät mit dem Glasgefäß verliefen. Am Anfang kaum wahrnehmbar, bewegt sich nicht nur das Glasgefäß, sondern das gesamte Bild der Projektion, sodass auf diese Weise die Bewegung des Laborgerätes von der Bewegung der aufnehmenden Kamera überlagert wird. Der Effekt dieser visuellen Irritation wurde von Turk bewusst provoziert, da selbst in einem bis ins kleinste Detail kontrollierten Experimentalsystem die beiden Geräte wohl niemals exakt synchron schwingen würden. Die Asynchronizität der Schwingung wäre jedoch selbst bei einer hinreichend exakten Justierung für den Betrachter wohl erst nach einer sehr langen Beobachtungsdauer wahrnehmbar. Durch die gezielte Überlagerung der Bilder versucht Turk, eine Form von visueller Evidenz zu erzeugen. Auf einem zweiten, gegenüberliegenden Projektionsbild wird ein Videobild gezeigt, das auf den ersten Blick aussieht wie das erste Video, aber nur an wenigen Punkten im Bild statisch ist, was der Betrachter allerdings erst bemerkt, wenn er den Finger draufhält und damit überprüft, dass sich das Bild an dieser Stelle nicht bewegt. In diesem Kanal wird an den Bildrändern der schwingende schwarze Bildausschnittsrahmen sichtbar, der indiziert, dass ein weiteres Bewegungssystem die ersten beiden überlagert. Der komplexe Aufbau des Experiments kann jedoch nicht durch bloße Anschauung entschlüsselt werden. Denn die inhärenten Bildabläufe werden über den Gleichgewichtssinn vom Betrachter wahrgenommen. Körper reagieren unmittelbar auf schwingende Bewegungen und versuchen, sich zu synchronisieren und die Schwingungen vorwegzunehmen oder auszugleichen wie auf einem Schiff. Dieser Sinn, der vorwiegend auf Antizipation von Bewegungen und Lesbarkeit von räumlichen und zeitlichen Strukturen hin ausgerichtet ist, macht das Experiment uncertainty unmittelbar erfahrbar. 28 Drosg 2006 (wie Anm. 27), S. 14–15. 180 I NGEBORG R EICHLE IV Während seiner Streifzüge durch naturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen nahm Turk nicht nur den unterschiedlichen epistemischen Status visueller Praktiken in Kunst und Wissenschaft in den Blick, sondern begann zudem, über das Labor als Ort der Herstellung von wissenschaftlichen Tatsachen nachzudenken. In seinen Kunstprojekten sucht Turk seither, der materiellen Kultur des Labors nachzuspüren und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Instrument, experimenteller Praxis und Theoriebildung auszuloten sowie die gegenwärtige laborwissenschaftliche Produktion von Erkenntnissen29 unter Beobachtung zu stellen und visuell erfahrbar zu machen. In der achtzehn Fotografien umfassenden Arbeit agents (2007) löst Turk sechs Laborgeräte aus ihrer zugewiesenen Stellung im effizient organisierten Arbeitsablauf des Laboralltags heraus (Abb.6a–c). Er zeigt diese Geräte isoliert und funktionslos vor dem Ausschnitt einer kunstvoll ausgeleuchteten Laborbank mit weiß glänzenden Kacheln und schwarz-grauen Fugen. So wird ein Bildraum aufgespannt, in dem ein Mikroskop, eine Pipette und eine Kaltlichtquelle mit zweiarmigem Lichtleiter durch die Bildregie des Künstlers zu Akteuren werden. Die für den Laien befremdlichen Formen der Geräte entfalten durch ihre Inszenierung eine starke visuelle Kraft und erscheinen dadurch wie Skulpturen. Die von Turk ausgewählten Instrumente weisen sich als stumme Zeugnisse eines überaus dynamischen Wissensfeldes aus, in dem diese Hilfsmittel schon morgen wieder verschwunden und durch ein effizienteres und leistungsfähigeres Nachfolgemodell ersetzt sein werden. Lange Zeit schenkte die Erforschung der materiellen Kultur des Labors den Instrumentarien keine große Aufmerksamkeit, da man annahm, dass man es in den Naturwissenschaften vornehmlich mit Ideen zu tun habe und Instrumente bloße Hilfsmittel zum Abmessen und Beobachten seien.30 Durch die Konzentration auf laborwissenschaftliche Apparaturen, die im wissenschaftlichen Alltag für gewöhnlich keine große Beachtung finden, stellt Turk diese als wichtige Agenten im Zusammenspiel der materiellen Kultur des Labors und der Herstellung wissenschaftlicher Erkenntnis vor. Die materiell als auch theoretisch organisierte Praxis des Beobachtens, Messens und Experimentierens sowie das Verhältnis von Erfahrungswissen und Akteuren der Erfahrung sind für Turk eingeschrieben in die jeweiligen instrumentellen Rahmenbedingungen der Produktion von Tatsachen in den Wissenschaften. Schon Gaston Bachelard bezeichnete in den 1930er Jahren in seiner Schrift »Le nouvel esprit scientifique« die Instrumente der Wissenschaft als 29 Gegenwärtige Forschungen zur materiellen Kultur des Labors beschränken sich oftmals auf historiografische Annäherungen an das Zusammenspiel von Experimenten, Instrumenten und Theorien und blenden die gegenwärtige rasante Entwicklung fast vollständig aus. 30 Siehe Christoph Meinel (Hg.): Instrument – Experiment. Historische Studien, Berlin, Diepholz 2000. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 181 Abb. 6 a–c: Herwig Turk, agent LC, 2007. Je drei Lambda-Prints mit den Maßen 80 × 100 cm, die auf eine Aluminiumplatte aufgezogen sind, zeigen die Geräte in Frontalansicht und in profifilierter Seitenansicht. 182 I NGEBORG R EICHLE »materialisierte Theorien«: »Natürlich tritt der polemische Charakter der Erkenntnis noch deutlicher zutage, wenn man von der Beobachtung zum Experiment übergeht. Dann muss man die Phänomene sortieren, filtrieren, reinigen, in die Gussform der Instrumente gießen; ja sie werden auf der Ebene der Instrumente erzeugt. Nun sind Instrumente nichts anderes als materialisierte Theorien. Daraus resultieren Phänomene, die allenthalben die Prägemale der Theorien zeigen.«31 Und später fügt er hinzu: »Die zeitgenössische Wissenschaft [...] denkt mit/in ihren Apparaten.«32 In den Fotoserien agglomeration (2003) und labscapes (2007) zeigt Turk ebenfalls einzelne Laborgeräte, vielteilige experimentelle Versuchsaufbauten oder die Innensicht von Laborkühlschränken (Abb. 7 und 8). In der Videoarbeit setting_04, die Turk zusammen mit dem österreichischen Filmemacher Günter Stöger im Jahre 2006 umsetzte, wird der Betrachter erneut in ein Labor geführt (Abb.9 a–d). Wieder spannt der Ausschnitt einer Laborbank den Raum der Handlung auf, die auf die schattenhaften Bewegungen zweier Hände reduziert ist. Bühnenhaft inszeniert treten die Hände als einzige Akteure des Geschehens auf, verhüllt durch eng anliegende Schutzhandschuhe und den obligatorischen weißen Laborkittel. Von der linken unteren Ecke aus beginnt sich behutsam die Choreografie der Bewegungen der Hände zu entfalten, deren Handlungen eine spezielle Form von gestischem Wissen eingeschrieben ist. Die rasch aufeinanderfolgenden Gesten beschreiben in pantomimischer Manier das Vollziehen von Handlungen und Tätigkeiten im Labor, die durch Regeln und Instruktionen präzise vorgegeben sind. Die Vorführung der Gesten im Takt des Arbeitsrhythmus’ des experimentellen Prozesses – der zwischen Greifen und Begreifen oszilliert – kommt ohne Materialien, Instrumente, technische Assistenten oder andere Wissenschaftler aus. Das reduzierte visuelle Arrangement lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters gänzlich auf das in den Gesten eingeschriebene implizite Wissen der handelnden Person. Die Überblendungen der sich stetig wiederholenden Filmsequenzen spiegeln das Bemühen um eine anschauliche Wiedergabe präziser und routinierter Abläufe im Labor wider. Dennoch lassen die um Exaktheit der Handhabung des experimentellen Ablaufs ringenden Hände Abweichungen und kleine Unterschiede erkennen, die erst durch die stetige Wiederholung und zeitversetzte Überblendung sichtbar werden. Obwohl die Videoinstallation nur einen kleinen Ausschnitt einer beliebigen Laborbank zeigt, lässt der Künstler durch einige wenige szenische Elemente eine ungewöhnlich verdichtete Aussage über laborwissenschaftliche Forschungspraktiken entstehen: Hier gelangen wissenschaftliche Methoden und Protokolle durch Handlungen zur Anwendung und werden Materialien und Proben ununterbrochen experimentellen Manipulationen unterworfen, deren Abläufe durch das Wissen und Handeln eines Menschen bestimmt werden. Die stetigen 31 Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, [Paris 1934], übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1988, S. 18. 32 Ebd., S. 18. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 183 Abb. 7: Herwig Turk in Kooperation mit Patricia Almeida, agglomeration 006, 2003, Lambda-Print auf Aluminium, 100 × 80 cm. Wiederholungen der Filmsequenzen lassen an eine Beschreibung dieser Laborsituation von Ludwik Fleck denken: »Alle Experimentalforscher wissen, wie wenig ein Einzelexperiment beweist und zwingt: es gehört dazu immer ein ganzes System der Experimente und Kontrollen, einer Voraussetzung (einem Stil) gemäß zusammengestellt und von einem Geübten ausgeführt.«33 An der Entstehung von setting_04 war Paulo Pereira wieder beteiligt, ebenso wie die portugiesische Performancekünstlerin Beatriz Cantinho. Die Aufnahmen entstanden in einem Labor an der Medizinischen Fakultät der Universität Coimbra und wurden mithilfe einer hochauflösenden Videokamera aufgezeichnet. Die Geräusche, die die Choreografie der Szene begleiten, wurden mithilfe eines Raumtons des Labors generiert, digital auf mehreren Spuren überlagert und zu einer Art 33 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, [Basel 1935], Frankfurt am Main 1980, S. 126. 184 I NGEBORG R EICHLE Abb. 8: Herwig Turk, labscape 01, 2007, Lambda-Print auf Aluminium, 120 × 150 cm. Rauschen verdichtet. Das Video zeigt die Hände von Rosa Christina Fernandes, einer Wissenschaftlerin, die an der Medizinischen Fakultät der Universität Coimbra forscht.34 Die Abschottung des Körpers der Wissenschaftlerin von der sterilen Laborumgebung soll darauf anspielen, dass das Labor seine epistemische Wirksamkeit unter anderem aus der Differenz schöpft, die es zu seiner Umwelt aufbaut. Die Performancekünstlerin Beatriz Cantinho choreografierte die Gesten und Bewegungen der Wissenschaftlerin und sensibilisierte die Forscherin für wichtige Parameter, wie zum Beispiel die Form und das Gewicht der Dinge, mit denen sie im Laboralltag umgeht und die einen Einfluss haben auf die Geschwindigkeit des Bewegungsflusses der Hände. Die Gesten der Wissenschaftlerin ahmen die Prozedur zum Aufbau eines Systems zur Trennung von Proteinen mit SDS-Polyacrylamidgel-Elektrophorese (SDS_PAGE) nach, in der Zellen aus einer Kultur mit Trypsin verdaut und in 34 In vielen wissenschaftlichen Publikationen werden die für den mechanischen Ablauf eines Experiments notwendigen Laborassistenten weder benannt noch wird deren Status reflektiert. Siehe hierzu Klaus Hentschel (Hg.): Unsichtbare Hände. Zur Rolle von Laborassistenten, Mechanikern, Zeichnern u. a. Amanuenses in der physikalischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit, Diepholz, Stuttgart, Berlin 2008. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 185 Abb. 9 a–d: Herwig Turk, setting04_0006, 2006, vier Videostills. fünf neue Kulturen aufgeteilt werden. In der Videoarbeit setting_04 werden experimentelle Handlungen sichtbar gemacht, die in einer schriftlich fixierten Beschreibung oder einer statischen Bilderreihe wohl nur unzureichend darzustellen wären und somit im Grunde unsichtbar bleiben. Dieses Zeigen von implizitem Wissen und längst zu Routine gewordenen Handlungsvollzügen im Labor erringt den Status einer Archäologie des Selbstverständlichen und verweist auf die Erfahrenheit und die Geschicklichkeit des Wissenschaftlers in seinen »Fingerspitzen«, das in konventionellen text- und bildgestützten Medien bislang keine Berücksichtigung findet.35 Die Dynamik der Videosequenz macht es möglich, den Aspekt des gestischen Wissens beziehungsweise des Handlungswissens im Labor unter Beobachtung zu stellen und beschreibt es als ein raum-zeitliches Ereignis, in dem Handlungen zwischen »Wissen« und »Können« oszillieren. Mit dieser Videoarbeit gelingt es Turk, die materiale und vor allem die körperliche Seite der Produktion wissenschaftlicher Tatsachen visuell erfahrbar zu machen. Indem er gestisches Wissen ins Bild setzt und diesem damit eine Form von Aufmerksamkeit zuweist, bricht er die oftmals forcierte Trennung zwischen Epistemologie und Praxis beziehungsweise Theorie und Experiment auf, und dies 35 Auf die Bedeutung von Geschicklichkeit und manuellem Wissen des Wissenschaftlers im Labor beziehungsweise des Experimentators hat zuerst Michael Polanyi in seinen Studien zum impliziten Wissen hingewiesen. Siehe Michael Polanyi: The Tacit Dimension, New York 1966. 186 I NGEBORG R EICHLE nicht zuletzt, da die gegenwärtige Forschung in den Naturwissenschaften oftmals in komplexen soziotechnischen Systemen stattfindet, die die biologische Ausstattung des Menschen weitestgehend hinter sich gelassen haben.36 V Auf die Transformation der Epistemik des Visuellen im Bereich naturwissenschaftlicher Bilder antwortet Herwig Turk mit Strategien künstlerischer Transgression und schlägt damit eine Brücke zwischen der Vorstellung von der Referenzlosigkeit der Kunst und den Relevanzstrukturen bildgebender Systeme in den Wissenschaften. Projekte wie referenceless photography führen uns diese Transformation in einer künstlerischen Rahmung vor Augen: Während sich die Kunst längst davon befreit hat, Referenz- und Sinnbezüge außerhalb ihres eigenen Systems zu errichten, ist die Frage nach der Referenz der Bilder beziehungsweise ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit in den Wissenschaften hingegen zu einem zentralen epistemologischen Problem geworden, da diese Bilder als Darstellungen wirklicher Sachverhalte gelten müssen und nicht als beliebige Konstrukte. Um diese Problematik sichtbar zu machen, bringt Turk tatsächlich referenzlose Bilder ins Spiel, indem er mit Photoshop hergestellte Bildartefakte als wissenschaftliche Bilder ausgibt, die von Experten als solche auch gelesen werden. Sicherlich hat die Ablösung abbildender Verfahren durch computergestützte bildgebende Systeme zu einer Verschiebung der Herstellungsweisen bildlicher Evidenz in den Wissenschaften geführt, vorallem aber hat sie die Rolle des Betrachters problematisiert, da es in diesem Zusammenhang weniger darum geht, ›was Bilder wollen‹, sondern was Experten ›sehen‹. Die Herstellung von visueller Evidenz kann im »post-fotografischen Zeitalter« nie durch die Rezeption des Bildes allein geleistet werden sondern einzig durch das Wissen um dessen Herstellung und durch die Rückbindung an den Entstehungskontext. Die Disposition des Betrachters wird von Turk kunstvoll ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, ist der Wissenschaftler doch zugleich immer Generator als auch Betrachter wissenschaftlicher Bilder, der nur als erzogenes, erfahrenes und adaptiertes Mitglied institutionalisierter Bilderkennung in der Lage ist, diese zu lesen, zu deuten und schließlich relevante Entscheidungen und Handlungen an diese zu knüpfen. Die Rezeption wissenschaftlicher Bilder ist eingebettet in ein Regime von Erwartungen und historisch formierter und formierender Wahrnehmungspraktiken, die regeln, was wie zu sehen ist. In die bedeutungshaft organisierte Wahrnehmung des Experten fließt ein System von Geglaubtem, Gewohntem und Gewünschtem ein, das die Auslegung der Bilder mitbestimmt. Das in höchstem Maße voraus36 Siehe Hartmut Böhme: Was sieht man, wenn man sieht? Zur Nutzung von Bildern in den neuzeitlichen Wissenschaften. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 6 (8. Januar 2005), S. 38. T AUBE B ILDER UND S EHENDE H ÄNDE 187 setzungsreiche Verstehen wissenschaftlicher Bilder ist immer an die Seh- und Sichtweisen und den Denkstil eines Experten gebunden, der eingebettet ist in institutionelle Legitimationsstrategien wissenschaftlich-technischer Verfahren als auch den komplexen Voraussetzungen für die Erzeugung soziotechnischer Evidenz, die mit jeder neuen Bildtechnologie wieder in Frage gestellt und neu ausgehandelt wird. 11 »Eine vollkommen neue Realität« Transgression des Wahrnehmbaren in den Bildern Tschernobyls DANIEL B ÜRKNER Die Bilder aus den Sperrgebieten Tschernobyls entziehen sich unserem Wahrnehmungsvermögen. In den vergangenen zwanzig Jahren produzierte der journalistische, künstlerische und touristische Blick auf die Sperrgebiete das Bild einer der regulären Lebenswelt konträr entgegenstehenden Realität. Transgression soll daher hier nicht als Überschreitung des erträglichen Anblicks verstanden werden, sondern, in epistemischer Hinsicht, als Überschreitung des Bewusstseins. In der zeithistorischen Fotografie zeigt sich das Unsichtbare der Strahlung noch in der Materialität der physikalischen Strahleneinwirkung. Die Bilder, die sich uns jedoch vehement entziehen, sind davon unberührte Inszenierungen und Ästhetisierungen von Alltäglichkeit. Der philosophische Topos der bereits geschehenen Katastrophe der postmodernen Gesellschaft manifestiert sich gerade in diesen Bildern in der Ungreifbarkeit und der Unsichtbarkeit des Katastrophalen. Was ist maßlos an den Bildern Tschernobyls? Die Bilder Tschernobyls umgeben uns scheinbar überall. Mehr als zwanzig Jahre nach dem folgenreichen Zwischenfall füllen sie unsere Museen, Bücherschränke und Computerbildschirme. Sie ließen mit ihrer Ästhetik einer postindustriellen Landschafts- und Stadtfotografie die Sperrgebiete um Tschernobyl zu einem der beliebtesten touristischen Ziele der Ukraine werden. Was bedeutet Überschreitung in diesem Zusammenhang? Schließlich sind es nicht die Bilder verstümmelter Kinder und sterbender Aufräumarbeiter erster Stunde – der so genannten Liquidatoren – die den breiten Strom dieser Bilderflut darstellen. Ich möchte versuchen, gerade in der Masse der populären Bilder, die uns das Leid der Menschen vorenthalten, nach der besonderen Transgression des Ereignisses zu suchen. Diese Transgression besteht, wie ich denke, nicht in einer Überschreitung des erträglichen Anblicks, sondern in einer Überschreitung der Wahrnehmung sowie des Bewusstseins. Für beides gilt, dass das Phänomen der Strahlung und die Unmöglichkeit ihrer Wahrnehmung für den Menschen eine Schlüsselrolle spielen. Überschreitung spielt sich deshalb in doppelter Hinsicht ab, im Phänomen selbst sowie in der versuchten Darstellung. 190 D ANIEL B ÜRKNER Dazu sind die philosophischen und soziologischen Auseinandersetzungen mit Strahlenkatastrophen und dem Ereignis Tschernobyl von großer Bedeutung. In dem Versuch, eine – so der philosophische Konsens – vom menschlichen Bewusstsein ausgeschlossene Katastrophe zu begreifen, zeigt sich so ein Phänomen, das hochgradig virtuell, zeitlich nicht zu verorten und mit Wissenstechnologien nicht zu begreifen ist. Die Katastrophe ist in den Ansätzen von Jean Baudrillard über Paul Virilio bis Guillaume Grandazzi stets gesellschaftlich konstitutiv und präexistent. In der Transgression der visuellen Darstellung möchte ich zwei Stränge aufzeigen. Dabei soll die Darstellung von radioaktiver Strahlung im Bild, die konkrete chemische Materialisation auf dem Trägermaterial in den ersten Fotografien des Unfalls von Igor Kostin herangezogen werden, um eine physikalische Spur der Katastrophe zu verfolgen, die bereits medienhistorisch in einer Tradition der Transgression steht. Anschließend soll dargelegt werden, dass der weit größere Teil der Bilder gerade durch die Nicht-Darstellbarkeit von Strahlung auf die Nicht-Darstellbarkeit der Katastrophe zurückgreift. Analysiert werden dabei die künstlerischkonzeptionellen Fotografien von Robert Polidori und Kenji Yanobe sowie touristische Fotografien. In der absoluten Simulation, dem Computerspiel, werden die beiden Stränge der Darstellbarkeit und der Nicht-Darstellbarkeit von Strahlung im Bild wieder zusammengeführt. Dabei ist meine These, dass die Strategien der Darstellung einer Katastrophe in diesen Bildern, die aufgrund der Eindämmung der Strahlenemission in den Jahren nach dem Unfall nicht mehr die Physikalität der Strahlung im Bild rekurrieren können, auf eben jene Alltäglichkeit verweisen, die Swetlana Alexijewitsch als »eine vollkommen neue Realität«1 beschreibt: das Leben im katastrophalen, kontaminierten Zustand, analog zu der in der postmodernen Philosophie suggerierten präexistenten Katastrophe. Die absolute Transgression der Darstellbarkeit zeigt sich in den aktuellen Bildern Tschernobyls somit paradoxerweise in der Darstellung von Alltäglichkeit und verwischt die Grenzen, die sie überschritten hat. Die Maßlosigkeit als Norm Wie kann man sich einem Verständnis der epistemischen Überschreitung des Unfalls von Tschernobyl nähern? Die stete Transgression des Verständnisses als spezifisches Charakteristikum der Strahlenkatastrophe stellt eine Kontinuität in der Philosophie und Soziologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Die Simulationstheorie Jean Baudrillards im Atomzeitalter kann hierbei als generelle Basis der Auseinandersetzung mit der Transgression des Bewusstseins in der Postmoderne gelten. Die konkreten Analysen des Ereignisses von Tschernobyl durch Paul Virilio und Guillaume Grandazzi fokussieren diese epistemische Überschreitung 1 Swetlana Alexijewitsch, Paul Virilio: Radioaktives Feuer. Die Erfahrung von Tschernobyl. In: Lettre International 60 (2003), S. 11–15; hier S. 13. E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 191 in den Krisen des Zeitlichen und des Bewusstseins. Dabei zeigt sich, dass die Maßlosigkeit als Norm konstitutiver Bestandteil der atomaren Katastrophe in ihrer philosophischen Reflexion ist. Der von Lyotard für die Postmoderne attestierte »Zerfall der großen Erzählungen«2 und der damit einhergehende Verlust von Narration steigern sich in der philosophischen Reflexion des Atomzeitalters zu einer absoluten Simulation. Jean Baudrillards Simulationstheorie suggeriert eine Irrealisierung der Realität durch die Mechanismen der Simulation. Wie Thorsten Scheer feststellt, kann in Baudrillards Theorie eine Unterscheidung zwischen Ereignis und Verbildlichung, Beschreibung oder Interpretation nicht mehr stattfinden.3 Die Mechanismen der medialen Simulation erzeugen dabei eine Implosion des Sinns, das heißt eine völlige Abwesenheit von Realität durch einen explosionsartigen Überschuss von simulierter Realität. Dabei werden selbst die Katastrophe und das Ereignis als nicht-substantialistisches Konstrukt zersetzt. In Baudrillards Philosophie weicht der Begriff des Ereignisses dem einer Simulation des Ereignisses durch die Informationsgesellschaft: »Das ganze Szenario der öffentlichen Information und alle Medien haben keine andere Aufgabe als die Illusion einer Ereignishaftigkeit beziehungsweise die Illusion der Realität von Einsätzen und der Objektivität von Fakten aufrechtzuerhalten.«4 Das eigentliche Ereignis und somit auch die Katastrophe wurden in der postmodernen Gesellschaft praktisch abgeschafft. Für Baudrillard befindet sich die Gesellschaft der Postmoderne insofern wiederum bereits in einem katastrophalen Zustand. Die nicht mehr greifbare Objektivität des Systems der Gesellschaft, ihre Virtualität stellt die Katastrophe dar, auf die auch Günther Anders 1981 mit dem Begriff ›apokalypsestumpf‹ zur Charakterisierung der an die Katastrophe gewöhnten Gesellschaft verweist.5 Eine ähnliche Position bezüglich der Präsenz der Katastrophe im Atomzeitalter formuliert Jacques Derrida in seinem Essay »No Apocalypse, not now« von 1985. Auch hier findet sich im Axiom »Am Anfang wird es Geschwindigkeit gegeben haben«6 das Futur II einer präexistenten Katastrophe. In einer Theorie, die stets mit der Wechselwirkung von Beschleunigung und Verlangsamung operiert, liegt die subversive Reaktion des postmodernen Denkens Baudrillards darin, die sofortige Präsenz des Ereignisses einzufordern: »Denn die Unsterblichkeit ist immer die monotone Unsterblichkeit gesellschaftlicher Paradiese. Niemals wird die Revolution den Tod wiederentdecken, wenn sie ihn nicht auf der Stelle fordert.«7 2 3 4 5 6 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Graz, Wien 1986, S. 54. Siehe Thorsten Scheer: Postmoderne als kritisches Konzept, München 1992, S. 130. Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 64. Siehe Günther Anders: Die atomare Drohung, München 1983, S. X. Jacques Derrida: No Apocalypse, not now (full speed ahead, seven missiles, seven missives). In: ders.: Apokalypse, Graz, Wien, 1985, S. 91–132; hier S. 91. 7 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991, S. 295. 192 D ANIEL B ÜRKNER Nach den Ereignissen von Tschernobyl 1986 treten Diskurse zutage, die von einer jeweils unterschiedlichen, aber immer einzigartigen Spezifik des Unfalls ausgehen und eine Soziologie und Philosophie dieser ›neuen‹ Katastrophe entwickeln. Anhand der Zusammenhänge von Tschernobyl artikuliert Paul Virilio diesen »Unfall der Zeit«8 und seine existentielle Bedeutung. Während das Ereignis in räumlicher Hinsicht lokal veranlagt ist, hat man seine zeitliche Auswirkung jedoch global zu verstehen. Die der Katastrophe als Maß dienende Zeit ist nach Virilio die astronomische Zeit, weshalb sich der Unfall nicht wie andere Katastrophen punktuell auf einer Zeitachse markieren lässt. Es wurde also eine zeitliche Konstante durch das Ereignis geschaffen, die Tschernobyl als »posthistorischen Unfall«9 kennzeichnet. Solch eine Katastrophe markiere – im Gegensatz zum historischen Unfall, der eine Epoche von einer anderen absetzt – das Ende der Wissenschaft von der Zeit selbst. Auch der Soziologe Guillaume Grandazzi bestätigt dieses Paradoxon der Zeitlichkeit und dieser »Vergangenheit, die nicht vergeht«.10 Grandazzi macht in dieser Krise des Zeitlichen die Unbegreiflichkeit und damit auch die Undarstellbarkeit der Katastrophe fest. Der Großteil der von der Katastrophe Betroffenen hätte dabei – die Liquidatoren ausgenommen – kein bedeutendes Ereignis erlebt, sondern den Alltag unter den unmerkbaren und unsichtbaren, aber trotzdem veränderten Bedingungen der Strahlung weitergelebt. Eine Initiation ist für Grandazzi nötig, um einen Unfall als historisches Ereignis wahrnehmen zu können. Die Referenzpunkte der Tradition des Schreckens im Krieg, so zum Beispiel ein Bild des Feindes, weichen bei diesem Unglück einer Bezugslosigkeit der Gedanken, die eine Verarbeitung von Geschehnissen im herkömmlichen Sinn unmöglich macht. Für Grandazzi ist durch eine ebenso geartete Referenzlosigkeit der atomaren Katastrophe »der Unfall [...] der sichtbaren Gestalt des Geschehenen beraubt«.11 Ein weiterer Aspekt der Tschernobyl-Interpretation Virilios ist der ›Unfall des Wissens‹. Die Überschreitung des Bewusstseins – der Möglichkeit, den Sachverhalt zu erfassen oder zu reflektieren – verweist auf Virilios katastrophisches Gesellschaftsbild des technowissenschaftlichen Zeitalters. Im »soziologischen Zustand der Selbstzerstörung«,12 den die Menschheit seit den Ereignissen in Hiroshima pflegt, bildet Tschernobyl eine sinnvolle Konsequenz. Nach Virilio hat »die menschliche Gattung [...] es gewagt, ihre Selbstvernichtung zu planen«13 und sieht den Bedeutungskomplex von Tschernobyl nun als soziologischen Zustand vor sich. 8 Alexijewitsch, Virilio 2003 (wie Anm. 1), S. 11. 9 Ebd., S. 13. 10 Guillaume Grandazzi: Die Zukunft erinnern. Gedenken an Tschernobyl. In: Osteuropa 4 (2006), S. 7–18; hier S. 8. 11 Ebd. 12 Alexijewitsch, Virilio 2003 (wie Anm. 1), S. 11. 13 Ebd. E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 193 Zur Verdeutlichung der philosophischen Haltung, die sich gerade mit dem Unverständlichen auseinandersetzt, zitiert Virilio Albert Camus als Philosoph des Absurden angesichts der Ereignisse von Hiroshima: »Das ist nicht möglich. Das, was sich dort ereignet hat, übersteigt unser Vorstellungsvermögen.«14 Tschernobyl wird als Gipfel dieser Philosophie des Absurden gesehen. Den Zustand der Krise des Wissens und des Bewusstseins beschreibt auch Grandazzi im Rekurs auf Ulrich Beck als »anthropologischen Schock«.15 Tschernobyl ist Initiation und Symbol einer »katastrophischen Entwicklung […], die von nun an unseren Erwartungshorizont bestimmt, da die der Menschheit drohenden Gefahren immer konkreter, die Realitätsverweigerung zugleich jedoch immer intensiver wird.«16 Das nach Grandazzi weitgehend ausgebliebene Ereignis der Katastrophe von Tschernobyl steht in Analogie zu diesem neuen soziologischen Zustand der Welt. In Analogie zur Psychoanalyse Donald Winnicotts bezeichnet Grandazzi die Angst der Bewohner der kontaminierten Gebiete als »stochastische Angst«,17 das heißt einer Furcht vor einem vergangenen Ereignis, das noch nicht erlebt wurde. Die Katastrophe wahrzunehmen, zu erkennen und sich ihr auszusetzen steht als einzige Möglichkeit des Handelns in dem von Virilio und Grandazzi beschriebenen Zeitalter nach Tschernobyl. Dabei verbleibt jedoch jeder Versuch, sich dem Ereignis zu nähern, tatsächlich ein Akt der Simulation, eine Statuierung des Unvermögens, das Phänomen der Katastrophe zu begreifen. Als einzige Möglichkeit der Reflexion im Zeitalter der Technowissenschaft fungiert die Katastrophe in Virilios Modell als Instanz der Sinngebung schlechthin. Gerade die Nichtgreifbarkeit der Katastrophe gerät dabei jedoch zum epistemischen Paradox, das programmatisch für die Konzepte der Visualisierung des Unfalls steht. Spuren des Maßlosen im Bild In den Bildern Tschernobyls stehen die materiellen Spuren der Strahlung als unikale Möglichkeit, das Wesen dieser Katastrophe, die in ihrem Wesen als nicht greifbar charakterisiert wird, zu indizieren. Die epistemische Transgression des Phänomens Strahlenkatastrophe entzieht sich in eben diesen Bildern nicht visuell, sondern wird in Analogie zur Kulturgeschichte der mythisch rezipierten Entdeckung der Strahlung auf fotografischem Material tatsächlich abgebildet. Der Fotograf Igor Kostin war im Auftrag der Presseagentur Nowosti mit der Dokumentation des Unfalls vor Ort und des weiteren Verlaufs betraut. Dabei wurde aufgrund der restriktiven sowjetischen Informationspolitik, die den Umgang 14 Ebd. 15 Siehe Ulrich Beck: Der anthropologische Schock. Tschernobyl und die Konturen der Risikogesellschaft. In: Merkur 8 (1986), S. 653–664. 16 Grandazzi 2006 (wie Anm. 10), S. 13. 17 Ebd. 194 D ANIEL B ÜRKNER Abb. 1: Igor Kostin, ohne Titel, 1986, Fotografie. © Igor Kostin/ Corbis. Siehe auch Farbtafel II. mit der Katastrophe bestimmte, Kostins Arbeit in den ersten Jahren nach dem Unfall nirgends veröffentlicht. Durch die sowjetische Informationssperre wurden auch visuelle Informationen unterbunden: Es wurden lediglich Bilder der Liquidatoren in scheinbar siegreicher Arbeit und Szenen regulärer landwirtschaftlicher Tätigkeit gedruckt. So ist auch bezeichnenderweise auf den Abbildungen der Spezialseite »1986 in Fotografien« der renommierten sowjetischen Literaturzeitschrift Literaturnaja Gazeta kein einziges Foto des Reaktorunfalls zu sehen.18 Es liegt alleine deshalb schon nahe, in diesem fotografischen Material konsistente Informationen über das Wesen des Unfalls, über die Strahlung als nicht adäquat kontrollierte und – den offiziellen Siegesberichten entgegen – furchtbare zivile Schäden verursachende, unsichtbare Gefahr zu vermuten. Kostin machte seine ersten Aufnahmen aus einem Hubschrauber direkt über dem Reaktor. Er selbst rekapitulierte den fotografischen Akt als enorme visuelle und physische Erfahrung: »Vor 18 Siehe Centro de Cultura Contemporánea de Barcelona (Hg.): Érase una vez Chernóbil, Barcelona 2006, S. 61. E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 195 uns ein großes klaffendes Loch, wie ein offenes Grab. Die weißliche Rauchsäule scheint in hohem Tempo in den Himmel zu schießen. […] Auf dem Grund der Ruinen erkennt man nur schwach den rötlichen Schein des schmelzenden Reaktorkerns. Über meinen Unterarm laufen heiße Schweißtropfen. Die Temperaturen sind sehr hoch, dabei können wir nirgends Flammen sehen. […] Ich unterdrücke den Hustenreiz und halte das Objektiv in Richtung Boden. Ich mache meine ersten Aufnahmen, etwa zwanzig. Plötzlich blockiert die Kamera.«19 Die Fotografie, die Igor Kostin am Unfalltag, dem 26. April 1986, unter diesen Bedingungen anfertigte, ist die einzige Aufnahme des Tages, die entwickelt werden konnte (Abb.1). Auf Kostins Aufnahme ist in der runden Einfassung des Hubschrauberfensters der havarierte Reaktor als Ausschnitt abgebildet. Der angeschnittene Rauchschlot mit dem Nachbarblock und das durch die Explosion geöffnete und fragmentierte Gebäude dominieren das Bild. Die Bildqualität des Farbfotos ist von extrem grober Körnung und farblicher Verfremdung gekennzeichnet – eine Folge der Strahlenbelastung des Filmmaterials. Die Strahlenemission, die den Brand des Reaktors begleitete, ist auf das fotografische Material übergegangen. Die Analogie zur Kulturgeschichte des Nachweises von Strahlung auf fotografischem Material liegt nahe. Kostin selbst nimmt in seinen Erinnerungen Bezug auf Marie Curies Vorgehen bei der Isolierung des Radiums: »Beim Entwickeln in Kiew ist der Film mit einer undurchsichtigen Schicht bedeckt. Fast alle Bilder sind vollständig schwarz. Als wäre die Kamera bei hellem Licht geöffnet und der Film belichtet worden. In diesem Moment begreife ich noch nicht, dass das auf die Radioaktivität zurückzuführen ist. Marie Curie hat beim Isolieren des Radiums dieselbe Erfahrung gemacht: Die Strahlung belichtet Filme und fotografische Platten.«20 Dabei steht die Sichtbarmachung von Strahlung durch Bildmedien in einer langen wissenschaftshistorischen und medientheoretischen Tradition.21 Bei Versuchen mit einem mit Gas gefüllten Behältnis, durch das ein elektrischer Funken geleitet wurde, gelang Wilhelm Conrad Röntgen 1895 durch einen Zufall die erste Röntgenaufnahme. Der neue Glauben an das Medium Fotografie resultierte in einer medialen Revolution der Sinne und in zahlreichen Versuchen um 1896, seelische Zustände ebenso wie Knochen als unsichtbare körperliche Phänomene auf der fotografischen Platte festzuhalten und markiert damit eine Überschreitung der menschlichen Wahrnehmung durch das Bild. 19 Igor Kostin: Tschernobyl. Nahaufnahme, München 2006, S. 9. 20 Ebd. 21 Siehe Linda Dalrymple Henderson: Die moderne Kunst und das Unsichtbare. Die verborgenen Wellen und Dimensionen des Okkultismus und der Wissenschaften. In: Bernd Apke (Hg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900–1915, Ostfildern 1995, S. 13–31. Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S.132ff. Peter Geimer: Was ist kein Bild? Zur »Störung der Verweisung«. In: ders. (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 313–341. 196 D ANIEL B ÜRKNER Abb. 2: Igor Kostin, ohne Titel, 1986, Fotografie (Ausschnitt). Auch in Aufnahmen von Aufräumarbeiten in den Folgetagen, die unter extremer Strahleneinwirkung gemacht wurden, zeigt sich die physische Abbildung der Strahlung im fotografischen Material. So dokumentierte Kostin die extrem belastenden Arbeiten auf dem Dach eines benachbarten Reaktorblocks (Abb. 2). Als Effekte der Strahleneinwirkungen sind auf dem Fotomaterial weiße Schlieren am unteren Rand des Bildes zu sehen. Hier indiziert sich die Strahleneinwirkung materiell. Das für die Akteure Unsichtbare ist in diesen Aufnahmen sichtbar geworden. Der Zynismus, dass dieser Einsatz mit hochradioaktivem Material unter Strahleneinwirkung von 800–1000 Röntgen pro Stunde, bei der die Aufräumroboter den Betrieb versagten, einem Himmelfahrtskommando gleichkam, überhöht die Eigenschaften des fotografischen Materials auf fast mythische Weise.22 Die Sichtbarkeit der Menschen und ihres Handelns wird hierbei konterkariert von einem unbekannten Schleier, der nur in der Fotografie sichtbar ist und damit als Moment der Überschreitung abgebildet wird. Wie die okkultistische ›Fotografie des Unsichtbaren‹, die nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen eine Konjunktur 22 Siehe Wladimir M. Tschernousenko: Tschernobyl. Die Wahrheit, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 172. E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 197 erlebte,23 zeigen Kostins Fotografien das immaterielle, zum Zeitpunkt der Aufnahme anwesende Mysterium. Die Abbildung des Nicht-Vorstellbaren muss in der Fotografie zur Geisterfotografie werden. Der GAU als Alltag Kostin sollte den Verlauf des Unfalls über Jahre hinweg fotografisch verfolgen und sich der Formierung einer abgesperrten Zone mit ihrer eigenen Architektur, Flora und Fauna widmen. Diese Zone, ein Areal von dreißig Kilometern, die unter anderem den havarierten Reaktor sowie die Stadt Pripjat einschließt, wurde starker radioaktiver Verseuchung ausgesetzt. Bis heute ist für diese Zone keine offizielle Rücksiedlung möglich, auch wenn diese vereinzelt stattfand. Die bis auf unbestimmte Zeit zum Sperrgebiet erklärte Zone erhielt durch die Evakuierung und radioaktive Stimulation der Pflanzen selbst in den einst städtischen Regionen einen charakteristischen postzivilisatorischen, ruralen Charakter. Die Motive dieses Sperrgebiets ziehen bis heute zahlreiche Fotografen an und dominieren die visuelle Auseinandersetzung mit Tschernobyl. Die dauerhafte Strahlung der Orte ist jedoch zu niedrig, als dass sie auf regulärem Foto-Film Niederschlag finden würde und so in die Praxis des Fotografierens physikalischen Einzug halten würde. Die Strahlung, bei Kostin noch eindrucksvoll und mysteriös indiziert, ist im Bild spurlos verschwunden. Was sich nun abzeichnet, ist die Abbildung des Unfassbaren, die eng mit der philosophischen und soziologischen Rezeption des Unfalls verbunden ist. Es ist eine Abbildung, die, um das Nicht-Ergreifbare verbildlichen zu können, darauf verfallen muss, die Katastrophe, die absolute Ausnahme zum Alltag zu erklären. Das Futur II der postmodernen Deutung des atomaren Katastrophismus verbildlicht sich in der Vergegenwärtigung der Katastrophe und des GAUs als Alltag. Der kanadische Fotograf Robert Polidori besuchte im Juni 2001 die Sperrgebiete um Tschernobyl. In Gedächtnis und Erinnern beschreibt Francis Yates die Praktik Simonides’ und in der Folge Ciceros, imaginierte Räume mit Bedeutungen und Inhalten zu versehen und somit zu erinnernde Inhalte quasi räumlich abschreitbar zu archivieren und gedanklich zugreifbar zu machen: »Wir müssen uns das etwa so vorstellen, dass der antike Redner, während er seinen Vortrag hält, im Geist durch sein Erinnerungsgebäude geht und an allen erinnerten Orten die dort deponierten Bilder abnimmt.«24 Polidori bezieht sich explizit auf Yates und über23 Siehe Andreas Fischer: Ein Nachtgebiet der Fotografie. In: Bernd Apke (Hg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900–1915, Ostfildern 1995, S. 503–551. Clément Chéroux: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen: Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Eva Bracke (Hg.): Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Ostfildern-Ruit 1997, S. 11–22. 24 Frances A.Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 1990, S. 12. Siehe auch Stefan Goldmann: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos. In: Poetica 21 (1989), S. 43–66. 198 D ANIEL B ÜRKNER Abb. 3: Robert Polidori, Guards in front of the Unit 4 Sarcophagus, 2001, Fotografie. trägt dieses Konzept von Räumen als mit Inhalten und Bedeutungen versehenen Trägermedien auf die Fotografie. Christine Daum kennzeichnet deshalb Polidoris Bilder als »Gedächtnisbilder«,25 die nach diesem Prinzip jedoch nur funktionierten, wenn Räume oder Orte fotografiert würden, die Erinnerungen akkumulierten. Die Hinwendung zu den emotional behafteten Motiven der Sperrgebiete Tschernobyls steht ganz in dieser theoretischen Linie. Dem individuellen Gedächtnis, seiner Tendenz, vergangene Werte und Ereignisse zu überschreiben, wird die dauerhafte Einschreibung von Information in Räumen und Orten gegenübergestellt. Dabei hält Polidori der subjektiven Gedächtnisschwäche nicht nur das Gedächtnis der Räume, sondern auch das Gedächtnis der Strahlung entgegen: »The radioactive half-lives of elements, however, are not subject to this form of accelerated, subjective amnesia.«26 25 Christine Daum: Der Kriegsreporter und der Architekturfotograf. Die Tschernobyl-Fotos von Igor Kostin und Robert Polidori. In: Osteuropa 4 (2006), S. 63–70, hier S. 70. 26 Robert Polidori: Zones of Exclusion. Pripyat and Chernobyl, Göttingen 2003, S. 111. E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 199 Die Differenz des topographischen und des menschlichen Bewusstseins wird in einer Fotografie, die den Schutzmantel des havarierten Reaktors zeigt (Abb. 3), offenbar. In den Folgemonaten des Unfalls wurden nicht nur Gebäude und Böden in der Sonderzone dekontaminiert, sondern auch der Bau einer Betonummantelung für den havarierten Block 4 – der so genannte ›Sarkophag‹ – durchgeführt, um die Strahlenbelastung des Ortes einzudämmen und den Betrieb der noch intakten Blöcke des Kernkraftwerks wieder aufzunehmen.27 Der zum Teil aus Unfallschutt errichtete Schutzmantel ermöglichte eine extreme Verringerung der Strahlung, befindet sich jedoch zwanzig Jahre nach dem Unfall – unter anderem aufgrund des Ein- und Austretens von Regenwasser – in zweifelhaftem Zustand und ermöglichte den Austritt von Strahlung. Der an der Konstruktion des Sarkophags maßgeblich beteiligte damalige Einsatzleiter Iouli Andreev bezeichnete die Motive hinter der Errichtung des Schutzmantels retrospektiv als »mainly psychological or socio-political«28, da die Strahlenemission des Reaktors sowie die Wasserlöslichkeit radioaktiver Stoffe von den sowjetischen Behörden als irrelevante Größen abgetan wurden. Polidoris Fotografie zeigt diesen Schutzmantel mit einem ikonisch hervortretenden Schlot, umringt von Kränen und Gerüsten. Die den Bau umschließende Schutzmauer öffnet sich im Bildvordergrund in Form eines Tores, an dessen Außenposten sich drei Männer versammelt haben. Einer der Männer trägt Camouflagejacke und -hose mit eher nachlässiger Ordnung und bezeichnend lässiger Haltung. Die zwei restlichen Personen in schlichter Arbeitskleidung stützen sich sichtlich ohne Hektik auf einen brusthohen Zaun. In wartender Haltung sind ihre Arme übereinander gelegt. Die auseinandergehenden Blickrichtungen suggerieren einen Punkt nach der routinierten Konversation, das abwechslungslose Umherschweifen des Blicks. Die Männer scheinen sich zu langweilen. Das Bild zeigt ihre Patrouille als alltägliche Tätigkeit, der absolut nichts Außergewöhnliches anzuhaften scheint. Dabei impliziert das Gebäude des Sarkophags als Bedeutungsträger den versuchten Umgang mit dem größten atomaren Unfall der Menschheitsgeschichte. Die Differenz des Gedächtnisses der Orte und des der Menschen offenbart eine absurde Alltäglichkeit, die das postmoderne Verständnis von Katastrophe rekurriert. Die Strahlung des Ortes, von Polidori als dritter Gedächtnisträger des Systems markiert, ist in diesem Bild nicht zu sehen. Das Maßlose der dauerhaften, unsichtbaren Kontamination offenbart sich deshalb in der Differenz von Ort und Menschen, in der Absurdität von Alltäglichkeit. 27 Siehe Tschernousenko 1992 (wie Anm. 22), S. 134–136. 28 Iouli Andreev: Disaster Management. The current state of the sarcophagus and the ruined reactor in Chernobyl. In: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.): Energiepolitik 20 Jahre nach Tschernobyl. Dokumentation der Tagung ›Tschernobyl 1986–2006: Erfahrungen für die Zukunft‹, Berlin 2006, S. 21–28; hier S. 22. 200 D ANIEL B ÜRKNER Der GAU als Lebenswelt Der 1965 in Osaka geborene Künstler Kenji Yanobe verfolgt seit Mitte der 1980er Jahre das künstlerische Konzept, sich dem Thema des Überlebens und einer, so die Kunsthistorikerin Noi Sawaragi, »bereits ruinierten Zukunft«29 und einer imaginierten zerstörten Umwelt zu widmen. Yanobe verfolgt dieses Ziel mit dem Rückgriff auf ein Vokabular der Populärkultur Japans. Ereignisse wie die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki wurden seit den frühen 1990er Jahren durch zahlreiche japanische Künstler der ›Neo Pop‹ Bewegung im Rückgriff auf Elemente der Kindheit der Künstler reflektiert.30 Diese Referenz versteht sich bei Yanobe, wie Sawaragi ausführt, als Ausdruck der Motivation, post-apokalyptische Elemente in der japanischen Gesellschaft, die durchaus historische Berechtigung haben, zu thematisieren.31 Der Zusammenbruch japanischer Gesellschaftsutopien einer ›goldenen Zukunft‹ Mitte der 1960er Jahre angesichts wirtschaftlicher Regression bildet dabei die historische Basis für Yanobes Konzept, sich mit einer quasi post-apokalyptischen Welt auseinanderzusetzen. Yanobe fertigt dazu Anzüge und Fahrzeuge in der visuellen Ästhetik der ›Manga‹, einer spezifisch japanischen Form des Comics, an. Diese Plastiken mimen Ausrüstungsgegenstände für eine atomar belastete und ohne Schutzvorrichtung nicht begehbare Umgebung. Unter zahlreichen roboterähnlichen futuristischen Schutzanzügen, die Yanobe kreierte, ist der 1997 erstellte ›Atom Suit‹ zu finden: »Human-shaped radiation detecting suit with Geiger-Muller counters fixed to cover delicate organs (such as eyes, viscera, and genitalia). The suit flashes and counts radiation as radioactive rays go through human body. The wearer of the suit becomes a living ›antenna of the earth‹ who detects random cosmic rays, natural rays, or artificial rays.«32 Yanobe kontextualisierte sich in diesem Anzug in diversen Umgebungen. So besuchte er in dieser Montur Wüstenlandschaften, das ehemalige Expo-Gelände in Osaka und 1997 die Sperrgebiete Tschernobyls. In einer Mischung aus Skulptur und Performance setzt Yanobe in diesen Inszenierungen, die der amerikanische Fotograf Russel Liebman in Bildern festhielt, eine Umgebung in Wechselwirkung mit der deutlichen futuristischen Ästhetik des Comics. Bereits im Umgang mit dem in Untertexten als ›[Atom]‹ bezeichneten Protagonisten im gelben Atom Suit erkennt Takashi Murakami einen Hinweis auf die Dualität der Strahlung im Kontext der Industriegeschichte Japans: »Yanobe’s painful insight into the duality of 29 Noi Sawaragi: Zukunft als Déjà-vu. In: Kenji Yanobe, dies. (Hg.): Kenji Yanobe, Saarbrücken 2000, S. 9–15; hier S. 10. 30 Siehe Noi Sawaragi: On the Battlefield of ›Superflat‹. Subculture and Art in Postwar Japan. In: Takashi Murakami (Hg.): Little Boy. The Arts of Japan’s Exploding Subculture, New Haven 2005, S. 186–207; hier S. 200. 31 Siehe Sawaragi 2000 (wie Anm. 29), S. 10. 32 Kenji Yanobe: Art Works. Atom Suit, www.yanobe.com/aw/aw_atomsuit.html (Letzter Zugriff: 21. September 2007). E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 201 Abb. 4: Kenji Yanobe, Atom Suit Project. Ferris Wheel 2. Chernobyl, 1997, Duratrans, Acrylglas, Metall, Leuchtstoffröhren, verschiedene Materialien. Siehe auch Farbtafel III. nuclear power – the dream of a ›clean‹ energy source and the disastrous reality of radiation – is indicated by the inclusion of the word ›atom‹ in the project title. This refers to the Japanese name Tetsuwan Atomu (Atom), of the manga master Osamu Tezuka’s creation Astro Boy, a precise embodiment of the nuclear dream.«33 Der Protagonist posiert dabei vor diversen Motiven der 30-km-Zone, darunter in einem verlassenen Vergnügungspark der gesperrten Arbeiterstadt Pripjat (Abb.4). Den Hintergrund der Aufnahme bilden verlassene Wohnblocks und Bäume, während der Vordergrund vom Träger des gelben Schutzanzuges und einem gelben Riesenrad bestimmt wird. Das auffallende Gelb der Gondeln korrespondiert mit der Farbe des Schutzanzuges. [Atom] selbst sitzt in der schwingenden Gondel eines benachbarten Karussells. Vom Träger des Anzuges ist nur eine von Schweiß glänzende Mundpartie zu erkennen; die Instrumente des Anzuges – Lautsprecher, Digitalanzeige, Messapparaturen – dominieren die Gestalt. Die dynamische Körperhaltung und die spielerische Tätigkeit artikulieren Affinität und kindliches Zutrauen; die Verlassenheit der Umgebung gerät in diesem Bild zur Privatsphäre. Der Protagonist scheint in Einheit mit seiner Umgebung zu leben. Die natürliche Umgebung des [Atom] ist somit die disfunktionale Umwelt nach dem atomaren Unfall. Im Spiel mit der Ikonografie der Kindheitsfotografie thematisiert Yanobe gesellschaftlich konnotierte Idealvorstellungen von Leben und 33 Takashi Murakami: Little Boy (Plates and Entries). In: ders. (Hg.): Little Boy. The Arts of Japan’s Exploding Subculture, New Haven 2005, S. 1–96; hier S. 65. 202 D ANIEL B ÜRKNER Umwelt. Nur in dieser Harmonie von Umgebung und Person artikuliert sich ein postmodernes Verständnis von Strahlung. Der ideale Kontext eines solch abnormen Anzuges muss die abnorme Umgebung sein. Yanobe nutzt die Umgebung der Sperrgebiete dazu, für seine Kunstfigur [Atom] einen narrativen Zusammenhang zu schaffen. Er nimmt dabei ein Verständnis der Sperrgebiete als absoluten Ausnahmezustand auf, um seine Kunstwerke, die für eine Umgebung der Post-Apokalypse geschaffen sind, angemessen zu inszenieren. Hier wird der Ort der Sperrgebiete dazu genutzt, Visionen des Weltendes der Zukunft zu imaginieren. Das tiefere Verständnis von Strahlung als konstitutiv verstörendes Enigma artikuliert sich in der Harmonie der Figur mit seiner Umgebung. Beispiellos nimmt Yanobe damit Bezug auf ein Verständnis von Post-Moderne als Post-Apokalypse, wie es sich in Baudrillards Verständnis einer bereits vollzogenen Katastrophe ausdrückt. Wie Sawaragi schreibt, setzt Yanobe das Modell der Zone Tschernobyls mit der alltäglichen Wirklichkeit gleich: »Doch findet sich die ruinierte, strahlenverseuchte Zukunft nur in Tschernobyl? Ist nicht dieses ›Jetzt‹ umgeben von unerklärlichen chemischen Stoffen und elektromagnetischen Wellen, die den Körper durchdringen, und unabhängig davon, wie leuchtend seine Oberfläche sein mag, selbst diese ›ruinierte Zukunft‹?«34 Die wiederhergestellte Einheit von Mensch und Umwelt findet einen ironischen Höhepunkt im aufstrebenden Tourismus der Sperrgebiete. Seit 1996 ist es möglich, die ukrainischen Sperrgebiete der 30-km-Zone als Tourist im Rahmen einer ›ecological tour‹ zu besuchen. Sarah Johnstone zufolge war die Website www.kiddofspeed.com und ihre Urheberin Elena Filatova für einen initialen Aufschwung des Interesses an den Sperrgebieten als touristisches Ziel verantwortlich.35 Filatova schwärmt auf ihrer Homepage von illegalen Motorradfahrten durch die Sperrgebiete und veröffentlicht angeblich authentische Fotoessays dieser Exkursionen mit äußerst breiter Resonanz. Der Artikel »Ghost Town« widmet sich vornehmlich der verlassenen Stadt Pripjat. Und so findet sich eine Aufnahme von Filatova, ausgestattet mit Sonnenbrille, Lederjacke und Geigerzähler, vor dem uns inzwischen vertrauten Riesenrad der Arbeiterstadt (Abb. 5). Auch Filatova sitzt auf der Schaukel des Karussells, auf der Kenji Yanobe im Atomschutzanzug posierte. Filatova konterkariert durch ihre strenge Kleidung und eine ernsthafte, wachsame Pose mit dem Strahlenmessgerät den ursprünglich positiv konnotierten Sinnzusammenhang der Umgebung des Freizeitparks. Dabei wird die Strahlung der Umgebung nicht nur in Symbolen des Strahlenschutzes indiziert, sondern auch in der nummerischen Anzeige des Geräts. Filatova ist selbst als Beweis ihrer Präsenz am Ort in das Bild integriert. Dabei ist sie mit ihrer Darstellung der Sperrgebiete bemüht, im Bild den Ausnahmezustand der dargestellten Orte zu belegen. Dies geschieht primär durch die 34 Sawaragi 2000 (wie Anm. 29), S. 14. 35 Siehe Sarah Johnstone: Ukraine, Victoria, Oakland, London 2005, S. 75. E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 203 Abb. 5: Elena Filatova: ohne Titel, 2003–2005, Fotografie. Integration von Strahlenmessgeräten, deren Anzeige, der eigenen Person oder des Motorrads in den Bildaufbau. Umrahmt von Titulierungen wie »Ghost-Town« und Texten, die Rekurs auf die Johannes-Apokalypse oder den Feuergott Pluto nehmen, wird ein Bild von den Sperrgebieten als Ort der mythologischen Erkenntnis evoziert. Und doch stehen Filatovas Aufnahmen in der Tradition der touristischen Fotografie, die mit der Herstellung von Norm durch die Darstellung des Außergewöhnlichen operiert. Unterstrichen wird dies durch die inzwischen etablierte Vermutung, Filatova habe ihre Aufnahmen auf einer regulären touristischen Tour durch das Gelände gemacht.36 Bourdieu hebt die gesellschaftliche Funktion der touristischen Fotografie hervor, durch die Bannung des Ausnahmezustands im Urlaubsfoto die eigentliche gesellschaftliche Norm zu statuieren.37 Dabei unterscheidet sich Filatovas mythologisierende Fotografie kaum von der Unmenge touristischer Aufnahmen aus den Sperrgebieten, die eine einfache Stichwortsuche in öffentlichen Internetdatenbanken zutage fördert. Auch hier sind das Riesenrad und weitere Stadtansichten der verlassenen Arbeiterstadt Pripjat die beliebtesten Motive. Die Selbstinszenierung mit Strahlenmessgerät ist dabei Teil eines visuellen Codes, der mit der Fotografie vor anderen weltberühmten Sehenswürdigkeiten gleichzusetzen ist. 36 Siehe Mary Mycio: Chornobyl ›Ghost Town‹ story is a fabrication, www.uer.ca/forum_show thread_archive.asp?threadid=8951 (Letzter Zugriff am 18. September 2007). Siehe Johnstone 2005 (wie Anm. 35), S. 75. 37 Siehe Pierre Bourdieu: Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede. In: Pierre Bourdieu et al. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main 1983, S. 25–84. 204 D ANIEL B ÜRKNER Der Besuch der Sperrgebiete als einem exzeptionellen Ort wird jedoch durch die Konvention der Besichtigung außergewöhnlicher, auch extremer Orte im Tourismus zur Normalität im Sinne Bourdieus. Der übliche Kodex der touristischen Fotografie als Beweis von Präsenz wird hier durch die überwiegend auffallend vergnügten Mienen bestärkt. Die Hintergrundmotive der Sperrgebiete werden hierbei zum amorphen historischen Symbol von Gefahr, das der triumphierenden Geste der jungen westlichen Touristen untergeordnet wird. Beispielhaft für das Paradox des touristischen Habitus in den Sperrgebieten steht die Kommentierung eines Gruppenfotos durch den Hobbyfotografen selbst: »Errr, that’s the Chernobyl Reactor behind us...«38 Simulation Die Suggestion von Alltag findet in der virtuellen Realität einen obskuren Höhepunkt, der sich bereits im Medium Computerspiel an sich erkennen lässt. Friedrich Krotz stellt ein spezifisches »identifikatorisches Handeln in medialen Räumen und Szenarien, die jeden Aspekt der traditionellen Welt aufgreifen und zum Element des Spieles machen können«,39 heraus. Andreas Lange betont dabei die Rolle vertrauter visueller Reize im Design der Spiele, die das kulturell konnotierte Handeln der realen Erfahrung des Spielers in einer instinktiven Orientierung und Handlung in der virtuellen Spielwelt ermöglichen.40 Eine eben derart virtualisierte Lebenswelt konstruiert das Computerspiel ›S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl‹, das im März 2007 durch ukrainische Spielentwickler mit äußerst breiter Resonanz auf den Markt gebracht wurde. Das Spiel vereint in seiner Handlung Elemente des Romans Picknick am Wegesrand der Brüder Strugatzki und der Verfilmung Stalker durch Andrej Tarkowskij mit einer fiktionalen Fortsetzung der Ereignisse in Tschernobyl. Diese Fiktion beschreibt einen weiteren Unfall in der der 30-km-Zone, der die Bedingungen der Zone durch die Entstehung zahlreicher Strahlenanomalien in der Landschaft, bei Tieren und Menschen ins Monströse gesteigert hat. Der Spieler hat sich in der Tradition des Genres ›Egoshooter‹ mit erwartungsgemäß variationsreicher Waffengewalt einen Weg durch genetisch mutierte Militärs und Tiere zu bahnen. Dabei gilt es, zahlreiche Stationen, die an Orte der tatsächlichen Sperrgebiete angelehnt sind, zu passieren, um schließlich zum Zentrum der Zone, dem Sarkophag, zu gelangen. 38 www.flickr.com/photos/beatdrifter/1094551253/ (Letzter Zugriff am 18. September 2007). 39 Friedrich Krotz: Die Welt im Computer. Überlegungen zu dem unterschätzten Medium ›Computerspiel‹. In: Ästhetik und Kommunikation 115 (2001), S. 25–34; hier S. 29. 40 Siehe Andreas Lange: Storykiller. Von der Zerstörung der Geschichte in Computerspielen. In: Ästhetik und Kommunikation 115 (2001), S. 79–84; hier S. 81. E INE VOLLKOMMEN NEUE R EALITÄT 205 Abb. 6: Screenshot aus dem Computerspiel »S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl«. Siehe auch Farbtafel III. Die Visualität des Spiels ist dabei primär von den tatsächlichen Umständen der Sperrgebiete geprägt. Eigenen Aussagen zufolge besuchten die Programmierer das Areal, um in sich eine Vorstellung einer Kulisse für ein Computerspiel zu generieren: »It didn’t take us long to find a perfect setting, having the Chernobyl exclusion zone virtually next door. Moreover, it was truly ›our‹ location – so personal and known, our experience of the past.«41 Die Grafiken des Spieles wurden daraufhin durch die Verwendung von Fotografien, die während touristischer Ausflüge in die Sperrgebiete angefertigt wurden, erstellt: »To recreate the environment we’ve known since childhood using realistic textures, we processed an incredible number of photos and video material along with architectural layouts of industrial and residential structures. […] We [...] recreated the familiar, iconic places and images, joining them into levels as required.«42 Diese ›ikonischen Orte und Bilder‹ der Stadt Pripjat beinhalten auch das Ensemble des gelben Riesenrads und des maroden Karussells, das uns von den Aufnahmen Kenji Yanobes und Elena Filatovas vertraut ist (Abb. 6). Diese den Spielmachern eigener Aussage nach vertrauten Orte werden durch visuelle Elemente als Ort der Gefahr markiert. Strahlung wird im Gegensatz zur Statik der eigentlichen Sperrgebiete durch Lichteffekte und Flammen transportiert. Eine im Spiel besonders strahlenbelastete Umgebung wird bildlich durch Veränderung der Farbkontraste, der Farbsättigung oder der Bildschärfe gekennzeichnet. Erhöhte Grobkörnigkeit sowie Bildstörungen durch kleinere leuchtende Partien stehen dabei in klarer Analogie zur Bildstörung durch die physikalische Einwirkung von Strahlung auf das fotografische Material in den Aufnahmen Kostins. 41 www.stalker-game.com/en/?page=dev_diary&item=3 (Letzter Zugriff am 2. November 2007). 42 Ebd. 206 D ANIEL B ÜRKNER Insofern summiert die virtuelle Realität des Computerspiels die visuellen Strategien der Bilder Tschernobyls in sich. Die vertrauten Orte der virtuellen Handlung, die verlassenen Sperrgebiete Tschernobyls stellen eine postapokalyptische und damit typisch postmoderne Lebenswelt dar. Die Möglichkeit, den Gefahrenherd Strahlung abzubilden, ist hierbei lediglich durch den Rekurs auf die direkte Einwirkung von Strahlung auf das fotografische Bildmaterial gegeben. In den virtuellen Rekonstruktionen der Sperrgebiete, die nach touristischen Fotografien entstanden sind, ist die Strahlung an sich nicht vorhanden. Diese Alltäglichkeit der Katastrophe bedarf des blitzlichtartigen Flackerns und der scheinbar knisternden Grobkörnigkeit der Bildstörung, um ein Bewusstsein der Katastrophe zurück zu gewinnen. Das Computerspiel als virtueller Lebensraum gewinnt in der Interpretation hinsichtlich der postmodernen Philosophie der bereits geschehenen Katastrophe neue Bedeutung. Der Erfolg des Spiels in Westeuropa und Amerika vermag darüber hinaus die kulturelle Bedeutung der Transgression, die die Darstellung Tschernobyls transportiert, anzudeuten. Wie Natascha Adamowsky festhält, sind »was der Simulation vorangeht […] nicht die Dinge der Welt im Sinne eines abgeschlossenen Realen, sondern approximative Modelle, Näherungswerte, symbolisch formalisierte Beschreibungen, sprich Interpretationen«.43 Wie anhand dieser Beispiele ersichtlich wird, manifestiert sich die Überschreitung des Vorstellbaren durch radioaktive Kontamination als Statuierung des apokalyptischen Alltages in den Bildern. Der Rekurs auf die materielle Geisterfotografie lässt sich dabei als ein Versuch verstehen, dem unsichtbaren Ereignis ein Gesicht zu verleihen. Dieser Versuch bleibt dabei Ausdruck des Unvermögens, die Transgression der Strahlenkatastrophe im Bild zu erfassen. Die Reihe der hier betrachteten Bilder ließe sich durch unzählige visuelle Auseinandersetzungen erweitern, seien es Comics von Enki Bilal, die Gemälde Petro Yemets’, Maxim Kántors oder Christophe Bissons, die Fotografien von Pierpaolo Mittica, Guillaume Herbaut oder Paul Fusco. Dem dialektischen Aufwand, diese Nicht-Greifbarkeit im Bild zu erkennen, scheint mehr denn je gesellschaftliche Dringlichkeit zuzukommen. Das noch in den Bildern Tschernobyls oszillierende Nicht-Wissen über die Gefahren der Atomkraft wird in der aktuellen Debatte um die weltweite klimatische Veränderung zum vertrauten Wundermittel konvertiert und sublimiert. Es scheint, als hätte die wieder neue Maßlosigkeit der Bilder schmelzwasserfeuchter Gletscherreste und herabstürzenden Polareises der Nicht-Greifbarkeit der Bilder Tschernobyls vorläufig den Platz abgerungen. Für das gesellschaftliche Bewusstsein verbleibt die jeweils konstitutive Katastrophe eine bildliche Simulation. 43 Natascha Adamowsky: Was ist ein Computerspiel?, www.culture.hu-berlin.de/na/publikation/computerspiel.pdf (Letzter Zugriff am 10. November 2007). F ARBTAFELN 12 Astrophysikalische Bilder: das Maßlose des Maßhaltigen R AINER G RUBER Die Astrophysik wird den Naturwissenschaften, das heißt den quantifizierenden Wissenschaften zugerechnet. Und insofern das metrische Anmessen zu deren charakteristischen Vorgehensweisen zählt, erscheint die Frage nach einer Maßlosigkeit der astrophysikalischen Bilder vermessen. Ob und was gegebenenfalls an Maßlosem in diesen Bildern anzutreffen sei, lässt sich allenfalls erschließen aus der Beantwortung der Frage, worin denn das Maßhaltige dieser Bilder besteht. Und so mag am Ende eine Dialektik auch in den astrophysikalischen Bildern aufscheinen: eines Maßhaltigen, das auf dem Maßlosen beruht, und des Maßlosen, das des Maßhaltigen bedarf, um sich zu artikulieren. Beginnen wir mit einem konkreten Beispiel: der Beobachtung eines Doppelsternsystems mit einem Röntgenteleskop. Hat ein Neutronenstern sich einen Roten Riesen – einen Stern, wie ihn unsere Sonne kurz vor ihrem Ende bilden wird – eingefangen, so kreist dieser nicht nur wie der Trabant Mond um die Erde oder wie der Planet Erde um die Sonne. Die gravitative Anziehungskraft des Neutronensterns ist so groß, dass ein kontinuierlicher Strom von Materie dem Roten Riesen entrissen wird und wie im Schlauch einer Windhose auf den Neutronenstern zustürzt. Das akkretierende Material sammelt sich in einer wild rotierenden Akkretionsscheibe, aus der die Materie schließlich mit dem Milliardenfachen der Erdbeschleunigung auf den Neutronenstern stürzt. Wir begegnen hier zum ersten Mal einem Bild, nämlich in Gestalt einer Vorstellung. Neutronensterne und Schwarze Löcher, Supernova-Explosionen, Doppelsternsysteme, Galaxien und ihre Anhäufung in Clustern – solche Vorstellungen sind es, an deren kontinuierlicher Verfeinerung die Astrophysik arbeitet. Von dem feinen mathematischen Nervengewebe, das sie durchzieht, ist an dieser Stelle nichts zu bemerken. Sie sind maßlose Bilder, die sich in keiner mathematischen Formel wieder finden, obwohl sie Resultat mathematischer Vorstellungen und Berechnungen sind, eingebettet in ein mathematisches Gespinst von Konsistenzen, ohne das sie sich als Bilder weder hätten entwickeln noch halten können. 210 R AINER G RUBER Umwege Wäre die stürzende Materie elektrisch neutral, würden wir von diesem Vorgang nichts zu sehen bekommen. Das Doppelsternsystem konstituiert sich allein als Resultat der gravitativen Anziehungskraft der beiden Doppelstern-Komponenten, und obwohl diese riesig ist, ist sie doch zu schwach, um auf der Erde registriert werden zu können. In der Kosmologie und der Astrophysik ist es diese gravitative Anziehung, die interessiert. Aber nur über einen Umweg ist es möglich, Auskunft über ihr Wirken zu bekommen: über die parallele Existenz der elektromagnetischen Wechselwirkung. Da die stürzende Materie glücklicherweise aus elektrisch geladenen Teilchen besteht, wird elektromagnetische Strahlung emittiert. Die entstandenen Photonen – aufgrund der Wucht des Prozesses, dem sie entstammen, mit einer Energie versehen, die in der Größenordnung des Röntgenbereichs oder darüber liegt – reisen Milliarden von Jahren durch den Weltraum, potenzielle Künder des Prozesses, dem sie entstammen. Trifft eines von ihnen auf den von einem Astrophysiker bereitgestellten Detektor, so wird dieses Photon kurzerhand vernichtet. Sehen Das könnte bereits das Ende der Geschichte sein, nach dem Motto: vernichtet ist vernichtet. Es ist der Raffinesse des Physikers zu verdanken, dass er seinen Detektor – nicht anders, als das menschliche Auge – so konstruiert hat, dass zwar das Photon, nicht aber seine Information vernichtet wird. Ist dieser Detektor ein CCD, so schlägt das auftreffende Photon, bevor es verschwindet, eine Kaskade von Elektronen aus dem Halbleiter, die in so genannten Potentialmulden aufgefangen werden. Diese regelmäßig wie ein Gitter in Reihen und Spalten über den Detektor verteilten Sammelstellen bilden ein Koordinatensystem, das es erlaubt, jeder durch ein Photon erzeugten Ladungswolke einen Platz auf dem Detektor zuzuweisen. Dieser erlaubt nun zu bezeichnen, in welchem Pixel das Photon auftraf – sofern man der Ladungswolke habhaft wird, das heißt: den Detektor auslesen kann. Die Kunst dieses Auslesens ist es, die den Experten ausmacht. Wie der Fischer seine Netze einzieht, werden die Elektronenhäufchen – zeitlich im Gleichschritt getaktet – entlang einer Zeile durch die Reihe der Mulden geschleust und eins nach dem anderen am Rand entgegengenommen und notiert: die Anzahl seiner Elektronen, die als Amplitude ein kompliziertes Maß für die Energie des auslösenden Photons ist, sowie Reihe und Spalte des PotentialmuldenPixels, in dem das Häufchen ursprünglich entstanden ist. Was einer naiven Anschauung als Bild erscheinen mochte, das sich durch den Weltraum in unsere Richtung bewegt und nur aufgefangen werden muss, verflüchtigt sich in ein Bild kleiner, sprudelnder Elektronenbäche, die in einer Art Entwässerungssystem aus den innersten Schichten des Detektors aufgesammelt werden. A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 211 Mathematische Kondensation Egal, welche Bilder von Bildern wir benutzen wollen, sie alle kondensieren in eine Liste von Zahlen. Vier Zahlen, nämlich zwei Detektor-Ortskoordinaten, die Amplitude, aus der später auf die Energie des Photons zurückzuschließen ist, und der Zeitpunkt des Einschlags konstituieren je einen Eintrag auf dieser Liste. Diese Einträge werden vorerst gezielt als event und noch nicht als Photonen bezeichnet, da ihre Zuordnung zu Photonen erst noch bestimmt werden muss. Diese Liste enthält alle Information, die am Detektorausgang zur Verfügung steht und auf der jede spätere Verarbeitung basiert. Während noch die perlenden Elektronenbäche so maßlos wirkten, wie es das Dahinplätschern eines Bergbaches ist, liegen nun in der Liste nur noch Zahlen vor, der Gipfel alles Maßhaltigen. Im Maß der reinen Zahlenliste ist auch jedes offenbare geometrische Maß eines Ursprungsbildes wie verschwunden. Den Sehvorgang eliminieren Diese Zahlen repräsentieren in eng verzahnter Weise gleichermaßen das Objekt der Begierde – das Licht aussendende Doppelsternsystem –, aber auch den Detektor. Um die Vorgänge im Doppelsternsystem rekonstruieren zu können, muss der Einfluss des Detektors ausgeschaltet werden. Dies geschieht experimentell mittels aufwändiger, als Kalibration bezeichneter Verfahren, deren Resultat in Form mathematischer Matrizen unter anschaulichen Stichworten wie charge transfer efficiency, detector response matrix, instrument map bereitgestellt wird. Die mathematischen und folglich mathematisch manipulierbaren Einträge der Liste erlauben es, mithilfe dieser Matrizen den Einfluss des Detektors zu eliminieren und gleichzeitig eine Zuordnung der Ereignisse zu Photonen zu treffen. Die Detektoren der Röntgenastronomie befinden sich auf Satelliten, die oberhalb der Atmosphäre um die Erde kreisen, weil die aus dem Universum kommende Röntgenstrahlung nicht in der Lage ist, die Atmosphäre zu durchdringen. Sie sind montiert im Brennpunkt von Teleskopen, die die Röntgenstrahlen zu einem Bild bündeln, ähnlich (und doch grundverschieden von) der Funktion einer Linse im Fotoapparat. ROSAT, dessen vorrangiges Ziel ein Survey des gesamten Himmels war, umkreiste die Erde einmal in 96 Minuten auf einer nahezu kreisförmigen Bahn in 580 km Höhe. Für die Röntgensatelliten XMM oder CHANDRA wurde eine stark exzentrische Bahn gewählt, die beispielsweise CHANDRA bis zu 114.000 km in den Weltraum treibt und Phasen langer, durch die Erde ungestörter Beobachtung einzelner Objekte erlaubt. Bei dieser pointierten Beobachtung, dem Normalfall astronomischer Beobachtungen, wird das Teleskop – trotz seiner rasenden Geschwindigkeit – punktgenau auf sein Zielobjekt ausgerichtet. Um Rückschlüsse auf ihren Ursprung ziehen zu können, müssen die rekonstruierten Photonen an den Himmel zurück projiziert werden. Komplizierte Vermessungen der mehrfach ineinander geschachtelten Teleskopwände noch am Boden ermöglichen es, den Strahlenverlauf einzelner Photonen und ihrer Reflexionen an 212 R AINER G RUBER den mehrfach ineinander geschachtelten Teleskopwänden zu rekonstruieren. Sie bestimmen das Abbildungsverhalten des Teleskops auf den Detektor und liefern Hilfsdatensätze, die später unter Stichworten wie Vignetting und Pointspread function in die Berechnungen eingehen. Mithilfe eines so genannten Boresighting wird die Abweichung des Detektormittelpunkts von seiner idealen Lage auf der zentralen Achse des Teleskops bestimmt sowie mögliche, durch die Vibrationen beim Raketenstart verursachte Verdrehungen seiner Lage. Bilder und Zeitlichkeit Dreh- und Angelpunkt aber einer Rekonstruktion der Emissionsorte der Photonen am Himmel ist die Zeit. Jedes Bild konserviert Zeitlichkeit, in je eigener Art. Sei es das Landschaftsbild, das das Licht des Abendhimmels konserviert, sei es das abstrakte Bild, das zwar enthält, aber nicht mehr erschließen lässt, dass doch sein Maler, als er tags darauf das Bild fortsetzte, ein Anderer war, als der er tags zuvor das Bild begann. In der Erstellung einer Photographie wird diese Zeitlichkeit technisch explizit: Das Bild ist seiner Natur nach die Summation zeitlich indexierter Einzeleindrücke. Ist die Belichtungszeit zu groß, verschwimmt das Bild des Originals zu Überlagerungen, die eine – womöglich beabsichtigte – Unschärfe bewirken. ROSAT während der Phase des Surveys glich einem Photoapparat, der mit stets offener Blende in rasender Fahrt über sein rundum ausgedehntes Objekt fährt. In der Astronomie ist Zeitlichkeit der Schlüssel, um aus dem unscharfen Chaos der Eindrücke Bilder des Himmels rekonstruieren zu können. Eine von der Bodenstation gelieferte, Attitude genannte zeitliche Auflistung der Stellen am Himmel, auf die das Teleskop von Sekunde zu Sekunde orientiert war, ermöglicht es, für jedes Photon aus dem Zeitpunkt seines Auftreffens den Punkt am Himmel zu rekonstruieren, auf den das Teleskop in diesem Moment gerichtet war. Mithilfe der Abbildungsfunktion des Teleskops lässt sich daraus der Ursprungsort des Photons errechnen. Resultat all dieser Anstrengungen ist eine Liste aller registrierten Photonen, die neben ihrem rekonstruierten Eintreffort auf dem Detektor, ihrer Amplitude und ihrem Zeitpunkt die rekonstruierten sphärischen Himmelskoordinaten ihres Ursprungsortes aufweist. Diese Master-Liste birgt das Bild der Himmelskugel im Röntgenlicht. Sie ist die Basis aller weiteren Untersuchungen. Das Verschwinden der Zeitlichkeit in der Projektion Bilder, wie sie im Weiteren erzeugt werden, sind ebene Flächen. Der Himmel jedoch, wie wir ihn sehen, ist eine Kugeloberfläche. Bekanntlich ist es nicht möglich, die Oberfläche eines Luftballons auf einer ebenen Fläche auszubreiten, ohne gewaltsame Verzerrungen, Risse und Überdeckungen in Kauf zu nehmen. Für die Projektion des Himmels auf ein ebenes Bild stehen zahlreiche Projektionsarten zur Verfügung, deren Wahl dadurch bedingt wird, auf welche Treue (Winkeltreue, A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 213 Flächentreue etc.) Wert gelegt wird und welche Art Verzerrung in Kauf genommen wird. Alles zusammen treu zu erhalten ist grundsätzlich nicht möglich. Jedes derartige Bild ist notwendig ein Zerrbild. Für die Bilder, die dem relativ kleinen Gesichtsfeld eines Röntgenteleskops entsprechen, ist es üblich, die senkrechte Projektion auf die Tangentialebene im Feldmittelpunkt zu wählen. Beachtenswerte Verzerrungen treten so erst am Bildrand auf. Bei zusammengesetzten Bildern des gesamten Himmels ist es üblich, die flächentreue Hammer-Aitoff-Projektion zu benutzen. Im Computer setzen sich die Bilder aus (in der Regel) quadratischen Pixeln zusammen, die jeweils eine bestimmte Fläche des Himmels repräsentieren. Zur Erstellung des Bildes werden alle Photonen in demjenigen Pixel aufsummiert, deren Entstehungsort in der von diesem Pixel repräsentierten Fläche liegt. Wahlweise werden alle Photonen aufsummiert oder nur die Photonen eines bestimmten Energiebereichs – nur weiche oder nur harte Photonen. Obwohl für die Konstruktion all dieser Bilder die Zeitlichkeit eine entscheidende Voraussetzung war, konstituieren sich diese Bilder über das Eliminieren von Zeitlichkeit. Jeder Hinweis auf die zeitliche, aber auch auf die spektrale Codierung der Photonen, die entscheidend sind für die Bestimmung der zugrunde liegenden physikalischen Prozesse, verschwindet in der Summation. Lediglich ein am Namen des Bildes angebrachter Index hält gegebenenfalls fest, ob das Bild alle oder nur die weichen oder nur die harten Photonen enthält. Erwartungen: Distanz und Auflösung Spätestens an dieser Stelle muss von Erwartungen gesprochen werden. Von den Objekten der Sehnsucht, die das Herz des Astrophysikers höher schlagen lassen: den Neutronensternen, Schwarzen Löchern, Doppelsternsystemen, SupernovaÜberresten, Galaxien und Galaxienhaufen – kurz: den bekannten und unbekannten Objekten, die als Quellen der beobachteten Photonen in Frage kommen. Was davon wird in den Bildern zu sehen sein? Die Antwort hängt einerseits vom Auflösungsvermögen von Teleskop und Detektor ab, andererseits von der Distanz und der Größe der Objekte. Praktisches Maß für das Auflösungsvermögen ist der Winkel, innerhalb dessen eine Struktur noch erkennbar wird. CHANDRA, das von der NASA betriebene Röntgenteleskop, auf dessen Bilder wir uns im Folgenden stützen werden, ermöglicht eine Auflösung von einer halben Bogensekunde, das ist der 7.200te Teil eines Grades. Neuentwicklungen im Röntgenbereich schaffen Millibogensekunden, die Radioastronomen sogar Mikrobogensekunden. Maßgeblich für die tatsächliche Auflösung ist infolgedessen das Verhältnis der Größe eines Objektes zu seiner Distanz. Astronomische Distanzen werden zweckmäßigerweise in Lichtjahren gemessen, jener unvorstellbar großen Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Die gut beobachtbaren Supernovae stammen aus unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße. Die unter einem Winkel von 5 Bogenminuten erscheinende, schon 214 R AINER G RUBER von Kepler beobachtete Supernova liegt in einer Entfernung von 13.000 Lichtjahren. Die 1987 in unserer nachbarlichen Zwerggalaxie, der Grossen Magellanschen Wolke (LMC), erschienene Supernova SN1987A erreicht mit einem Abstand von 160.000 Lichtjahren einen Durchmesser von 12 Bogenminuten. Die uns nächstgelegene Galaxie, Andromeda, beginnt erst in einer Entfernung von 2.5 Millionen Lichtjahren. Die 2007 und 2008 beobachteten Supernovae SN 2007on und SN 2008D in einer Entfernung von 65 und 90 Millionen Lichtjahren erscheinen nurmehr punktförmig. Auch wenn wir zu den nächstgrößeren Objekten, den Galaxien, übergehen, schaffen wir es lediglich, uns im allernächsten Küstenbereich umzusehen. Centaurus A, die uns nächst gelegene Galaxie mit einem aktiven Zentrum – eine Monstergalaxie, die ein Schwarzes Loch von wahrscheinlich 70 Millionen Sonnenmassen beherbergt –, erscheint aus einer Entfernung von 11 Millionen Lichtjahren unter einem Winkel von 26 Bogenminuten. 11 Millionen Lichtjahre, das ist nicht einmal ein Tausendstel des Maßstabs von 13 Milliarden Lichtjahren, den das Universum vorgibt. Wenn wir darauf bestehen, in die kosmischen Weiten von Milliarden Lichtjahren vorzudringen, so sind mit der heutigen Generation von Teleskopen lediglich riesige Galaxienhaufen in der Lage, dem Auge ein Bild im Bild anzubieten. Die überwältigende Mehrheit der in den Bildern sichtbaren Quellen dagegen wird uns punktförmig erscheinen. Die Doppelsternsysteme, die von Neutronensternen oder Schwarzen Löchern gebildet werden – selbst die uns nächsten, wie Cygnus X-1 in einer Entfernung von 8.000 Lichtjahren –, gehören allemal zu den punktförmig erscheinenden Quellen. Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie denn nun diese punktförmigen Quellen entziffert werden können, insbesondere die räumliche Struktur eines Doppelsternsystems erkannt werden kann, wollen wir an einigen Beispielen sehen, wie die anschaulichen Bilder im Bild dazu gebracht werden, ihren Nutzen zu entfalten. Das Bild im Bild Im Hinblick auf die Erschließung des physikalisch-dynamischen Gehalts anschaulicher Bilder gehört die Ausdehnung der Messmethoden vom sichtbaren auf alle Wellenlängenbereiche des Lichts – von denen das Sichtbare nur einen winzigen Ausschnitt darstellt (Abb. 1) – zu den wichtigsten Entwicklungen der Astrophysik. Diese hat sich in eine Vielzahl von Disziplinen aufgespalten – die Gruppe der Abb. 1: Das Spektrum der elektromagnetischen Wellenlängen. A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 215 Abb. 2: Derselbe Bildausschnitt im optischen und im Röntgenlicht (rechts). Gamma-, Röntgen-, UV-, Optischen, Infrarot-, Mikrowellen- und Radiowellenastronomen –, die mit jeweils fundamental anderen Meßmethoden operieren. Da die verschiedenen Wellenlängen verschiedenen Energien entsprechen, beobachten die Teleskope sehr verschiedene physikalische Prozesse, auch wenn sie dasselbe Objekt beobachten. Die Fruchtbarkeit dieser Aufspaltung offenbart ihren ganzen Reiz, wenn durch Vergleich der Aufnahmen verschiedener Wellenlänge sich unvermittelt ein anschauliches Bild der zugrunde liegenden Dynamik erschließen lässt. Das ist in etwa so, wie wenn die Photographie eines Menschen im sichtbaren Licht ergänzt wird durch ein Röntgenbild, eine Kernspintomographie und ein Ultraschallbild. Jede werdende Mutter weiß Letzteres zu nutzen, um sich über die Fortschritte ihres Fetus zu unterrichten. Abbildung 2 zeigt links ein optisches Bild des Galaxienhaufens 3C438, das wie ein normales Bild des Sternenhimmels aussieht. Das Bild rechts zeigt denselben Bildausschnitt, offenbart jedoch im Röntgenlicht, dass der Galaxienhaufen aus einer riesigen Kugel von Gas besteht, in der bis zu Tausend Galaxien schwimmen. Die Temperatur des Gases von bis zu 100 Millionen Grad ermöglicht seine Sichtbarkeit im Röntgen-, nicht aber im optischen Licht – so, wie auch unser Skelett nur im Röntgenlicht sichtbar wird. Eine ungefähr 2 Millionen Lichtjahre ausgedehnte Struktur im heißen Gas gibt den Hinweis, dass es sich bei diesem Gebilde in etwa 4.8 Milliarden Lichtjahren Entfernung um das Resultat eines der energiereichsten Ereignisse im lokalen Universum handeln muss. Als plausibles Szenario gilt der Zusammenprall zweier sehr massereicher Galaxienhaufen, die schließlich miteinander verschmolzen. In Abbildung 3 zeigt die eingefügte Radiobeobachtung, dass im innersten Kern der zentralen Galaxie zwei Jets existieren, stark fokussierte Strahlen äußerst energiereicher Teilchen, wie sie von Schwarzen Löchern im Kern von aktiven Galaxien 216 R AINER G RUBER Abb. 3: Die Radiobeobachtung zeigt, dass im Kern des Galaxienhaufens zwei Jets hochenergetischer Teilchen ausgestoßen werden. ausgestoßen werden. Ein großer Fortschritt in der anschaulichen Wahrnehmbarkeit physikalischer Prozesse wurde durch das direkte Überlagern der Bilder aus verschiedenen Wellenlängenbereichen erzielt. Voraussetzung ist, dass die einzelnen Bilder in der Überlagerung noch erkennbar sind. Das wird erreicht, indem die Bilder mit den Farben des sichtbaren Spektrums verschieden eingefärbt werden. In dieser Verwendung werden die Farben des sichtbaren Spektrums als Falschfarben bezeichnet. Sie dienen als dem menschlichen Auge angemessene Marker und haben nichts mit dem physikalischen Spektrum zu tun, das untersucht wird.1 Abb. 4 zeigt den Galaxienhaufen 1E 0657-56, dem der Name Bullet-Cluster gegeben wurde, weil er aus der Kollision zweier Galaxienhaufen entstanden ist, deren einer den anderen auf dem Bild von links nach rechts wie ein Geschoss durchpflügt. Unterlegt ist ein optisches Bild aus Daten des Magellan und des Hubble Space Telescope, das die einzelnen, nur noch mehr oder weniger punktförmig erschei- 1 Der Vorteil einer solchen Einfärbung lässt sich hier, wo die Bilder nur in Grautönen vorliegen, leider nur ex negativo erschließen: aus der Schwerfälligkeit der nachfolgenden Beschreibung, der die Farben nicht zur Verfügung stehen. Hier ist das Vorstellungsvermögen des geneigten Lesers gefordert. A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 217 Abb. 4: Die Kollision zweier Galaxienhaufen lässt die Existenz von dunkler Materie evident werden. nenden Galaxien in Weiß und Orange zeigt. Der Bildausschnitt umfasst 7.5’ × 5.4’. Die Großräumigkeit des Zusammenpralls der Riesencluster ermöglicht die bildliche Darstellung, obwohl das Gebilde 3.4 Milliarden Lichtjahre von den Detektoren entfernt ist. Das farbige Bild, zusammengesetzt aus drei verschiedenen Beobachtungen, liefert spektakuläre Nachweise für die Existenz von dunkler Materie, einer bisher nicht entschlüsselten Materieform, die sich elektromagnetisch nicht äußert. Es zeigt (im Original in Pink) das von CHANDRA entdeckte heiße Gas der beiden Cluster: der rechte als projektilartiges Dreieck erkennbar, der linke spiegelbildlich dazu, aber nach oben und unten ausgedehnter und weniger klar konturiert. Beide repräsentieren normale, so genannte baryonische Materie. Jeweils rechts und links davon – im Originalbild blau markiert und hier nur als heller Halo erkennbar – befinden sich die Gebiete größter Massenkonzentration, wie sie aus Gravitationslinsen-Effekten berechnet wurden. Demnach erscheint die Gesamtmaterie jeden Clusters räumlich getrennt von seiner normalen Materie, die sich im heißen Gas manifestiert. Dieses Bild, das aus einer engen Verflechtung von Beobachtungen und ihrer theoretischen Veranschaulichung entstanden ist, liefert anschauliche Evidenz dafür, dass der größte Teil der Materie dieser beiden Cluster aus dunkler Materie besteht. Da die normale Materie beim Durchdringen des Clusters einer stärkeren Reibung unterliegt als die dunkle Materie, bleibt sie im Zusammenprall hinter dieser zurück. Beide treten im Bild auseinander. 218 R AINER G RUBER Abb. 5: Die Riesengalaxie Centaurus-A im Röntgen-, im optischen und im Radiolicht. Siehe auch Farbtafel XII. Abb. 6: Das Infrarot-Licht enthüllt die Existenz einer versprengten Galaxie nahe dem Zentrum von Centaurus-A (innerster dunkler Bereich). Die Radiodaten sind als Höhenlinien eingeflochten. A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 219 Im Bild von Centaurus-A (Abb. 5), der uns am nächsten gelegenen Galaxie mit einem aktiven Kern, sind drei Beobachtungen – farblich unterschieden nach Röntgenlicht (blau), Radiolicht (pink und grün) und optischem Licht (orange und gelb) (siehe untere Leiste) – überlagert. Wo die Röntgenastronomen Strukturen sehen, die sich um einen gewaltigen Jet gruppieren, der 30.000 Lichtjahre in das Universum ausgreift (unten links), sehen die Radioastronomen gewaltige Ausfaltungen von Magnetfeldern (unten, 3. Bild von links), in denen energiereiche Teilchen nahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Und während die Optischen Astronomen durch einen dicken Staubring vom Innern der Energieschleuder abgeschirmt sind (unten, 2. Bild von links), sehen die Infrarot-Astronomen im Kern der Riesengalaxie eine zweite, kleinere Galaxie (Abb. 6 innerster dunkler Bereich), die mit der großen Galaxie kollidierte. Sie ist vermutlich die Ursache der riesigen, für die meisten Wellenlängenbereiche nahezu undurchdringlichen Staubwolken (mit denen sie in dieser Graudarstellung nahezu verschmilzt). In letzterem Bild sind die optischen Daten überlagert und die Radiodaten als Höhenlinien eingeflochten. Soweit zu den evidenten Bildern von astrophysikalischen Objekten. Obwohl der Abbildcharakter dieser Bilder sehr ausgeprägt erscheint, bleibt zu warnen: Wie für Bilder der Kernspintomographie ist auch für die Interpretation astrophysikalischer Bilder großes technisches Know-how erforderlich. Punktförmige Quellen: Inbegriff des Maßlosen Die große Mehrzahl der astrophysikalischen Objekte stellt sich uns jedoch punktförmig dar. Die Dimension einer Fläche ist in Quadratzentimetern angebbar, die Dimension einer Strecke in Zentimetern; ein Punkt dagegen hat die Dimension Null: Punkte sind maßlos. Dementsprechend stellen sich uns alle punktförmigen Quellen – darunter fallen alle Doppelsternsysteme – als maßlos dar. Komplizierte Verfahren ermöglichen, die Photonen dieser Punktquellen zu extrahieren. Zwei Probleme sind dabei zu lösen: Zum einen bewirkt die technische Unschärfe des Teleskops, dass die ihrem Wesen nach punktförmigen Quellen im Bild als ausgedehnter Fleck erscheinen. Da Größe und Gestalt des Flecks durch die Point Spread Function des Teleskops bestimmt werden, kann und muss dieser Effekt durch Kalibration eliminiert werden, bevor die Eigenschaften der Quelle bestimmt werden können. Zum anderen sind die Photonen der Quellen, an denen die Astrophysiker so interessiert sind, mit den Photonen des Hintergrunds, der nicht weiter aufgelöst werden kann, wild durcheinander gewürfelt. Die Bestimmung des Hintergrunds ist bei Punktquellen tatsächlich der wichtigste und einzige Anlass für die Erstellung von Bildern. Bei der Untersuchung der Punktquellen selbst spielen die Bilder keine Rolle. Dementsprechend enthalten astrophysikalische Bilder nur das Nötigste, um die pure Existenz einer Quelle bestimmen und ihre Scheidung vom 220 R AINER G RUBER Hintergrund bewerkstelligen zu können: nämlich die Anzahl der in einem Pixel detektierten Photonen, nicht aber ihre Eigenschaften. Computeralgorithmen suchen in diesen, durch Anzahlen bestimmten Bildern nach wahrscheinlichen Orten für Quellen. Diese heben sich durch ein Mehr an Photonen vom Hintergrund ab. Eine Vielzahl von Listen möglicher Quellorte wird so erstellt. Damit ist die Rolle des Bildes für die analytische Untersuchung der Quellen beendet. Die weitere Bearbeitung läuft nur noch und ausschließlich über diese Listen, die Orte für mögliche Quellen angeben sowie die originalen Photonenlisten. Ob eine Quelle letztlich als Punktquelle akzeptiert wird oder nicht, welche ihre korrekte Position ist und welche der Photonen dieser Quelle zuzurechnen sind, entscheiden schließlich statistische Verfahren der Informationstheorie, die sich alleine auf die Photonenlisten selbst stützen. Die durch zahlreiche Tests belegte und entwickelte Trennschärfe dieser mathematischen Verfahren – der Maximum Likelihood Methode oder der Methode der Maximalen Entropie – ist enorm. So kommt es, dass die mathematische Methode allein entscheidet, ob eine Quelle vorliegt oder nicht. Das menschliche Auge ist angesichts der mathematisch-statistisch erreichbaren Signifikanz hoffnungslos überfordert. Lediglich in morphologischen Sonderfällen wird das menschliche Auge hinzugezogen. Auf diese Weise wird für jede Quelle ihr genauer Ort bestimmt und eine Liste der ihr zugeordneten einzelnen Photonen erstellt. Diese Liste ist die einzige Quelle der Information, die über ein punktförmiges astrophysikalisches Objekt im Röntgenbereich vorliegt. Das Doppelsternsystem, durch die Entfernung zum maßlosen Punkt geschrumpft und im Bild zum Fleck geweitet, befindet sich nunmehr als abstrakte Vorstellung in dieser Liste herausdestillierter Photonen. Spektren: der Umweg über die andere Dimension Wie also kommt das räumliche Bild eines Doppelsternsystems zustande, das doch für uns räumlich nicht auflösbar ist? Der Schlüssel liegt in der Existenz der Spektrallinien. Nicht nur ermöglichen diese, Informationen über die atomare Zusammensetzung der beteiligten Objekte zu erhalten. Der Vergleich der gemessenen Lage des für ein Atom charakteristischen Musters von Spektrallinien mit der Lage des Musters, falls das Atom in Ruhe ist, erlaubt mithilfe des Doppler-Effekts, Aufschluss über die relative Geschwindigkeit des emittierenden Atoms zu gewinnen. Es ist die zeitliche Variation der Spektrallinien, die die räumliche Rekonstruktion von Gebilden wie Doppelsternsystemen erlaubt. Die Spektrallinien eines um einen Zentralkörper rotierenden leuchtenden Objekts werden, sobald es sich vom Beobachter wegbewegt, zu größeren Wellenlängen verschoben und entsprechend zu kleineren Wellenlängen, wenn es wieder auf ihn zukommt. Dieses periodische Oszillieren der Spektrallinien einer Punktquelle erlaubt es, auf ein rotierendes Objekt zu schließen und Informationen über seine Bahnperiode und Bahngeschwindigkeit zu bekommen. Im Falle von Doppelsternsystemen lassen sich daraus mithilfe der Keplerschen Gesetze Rückschlüsse auf die Bahnparameter ziehen. A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 221 Der Umweg über die elektromagnetischen Phänomene ist also nicht nur ein notwendiges Übel aufgrund der Nichtmessbarkeit der gravitativen Phänomene, sondern liefert gratis die räumlichen Informationen und Parameter der gravitativ bestimmten Objekte. Ein feines Netz von Schlussfolgerungen physikalischer Natur erlaubt darüber hinaus, charakteristische Merkmale solcher Doppelsternsysteme auszuloten. Stürzt beispielsweise die Materie auf einen Neutronenstern, so wird es einen Aufprall auf der Oberfläche geben, der energetisch sichtbar wird. Für ein Schwarzes Loch, das keine feste Oberfläche besitzt, fehlt dieses Signum. Der Unterschied ist allerdings nur bemerkbar, wenn vergleichsweise wenig Materie angesaugt wird, da er sonst hoffnungslos von der Leuchtkraft der stürzenden Materie überstrahlt wird. Rotiert die Materie der Akkretionsscheibe um ein Schwarzes Loch genügend hoher Masse, so zeigen die Spektrallinien etwa vorhandener Eisenatome eine für die Allgemeine Relativitätstheorie charakteristische Profilverbreiterung, deren Form Rückschlüsse auf den von dieser Theorie vorhergesagten niederstmöglichen Orbit zulässt. Das Schwarze Loch, das seinen Namen daher hat, dass es sich uns über keine elektromagnetische Strahlung zu erkennen gibt, wird also kenntlich aus dem Verhalten seiner Umgebung. Das räumliche Bild eines Doppelsternsystems, das sich aus diesen Schlussfolgerungen ergibt, ist in allererster Linie ein theoretisch konzipiertes Modell. Und das gilt sehr allgemein: Ob es das Verhalten der Elektronen im CCD betrifft, das Reflexionsverhalten von Photonen an Metalloberflächen im Teleskop, die Projektionsgesetze sphärischer Geometrien oder den weiten Weg der Photonen durch ein Universum, dessen Raum- und Zeitverhalten nach den Gesetzen der Allgemeinen Relativitätstheorie modelliert wird: alles Bildliche in der Astronomie beruht auf einem Geflecht theoretisch-experimenteller Zusammenhänge. Da Visualisierung ein wichtiges Hilfsmittel der menschlichen Denkkapazität ist, kommt es, dass Bilder dieser Doppelsternsysteme als schematische Skizzen und – zunehmend bei PR-Aktionen im Internet – as seen by an artist auftauchen. Die zugrunde liegenden Spektraldaten sind weit weniger spektakulär. Vom Erscheinen und Verschwinden des Maßlosen Tatsächlich durchdringen sich auf subtile Weise die maßhaltigen Aspekte der Bilder – wie sie sich nicht nur in ihrer äußeren Pixelgeometrie und geometrischen Abgegrenztheit zeigen, sondern auch in ihrem innersten, mathematisch bestimmten Netzwerk von Maßrelationen, die wie ein Nervengeflecht das Bild durchziehen – mit ihren maßlosen Aspekten: zuallererst dem Bezug auf ein vorgestelltes Objekt, dem weder durch Nähe noch durch die Ferne der Instrumente anders näher zu kommen ist als durch selbstreferenzielle Konsistenzschleifen. Wir messen manchen Jets, die aus dem Kern aktiver Galaxien hervorbrechen, Ausdehnungen von bis zu 100 Millionen Lichtjahren zu. Ein Lichtjahr sind 9.5 Billionen Kilometer. Der Jet besitzt also in Kilometern gerechnet eine Ausdeh- 222 R AINER G RUBER nung von einer Eins mit 21 Nullen. Nichts in unserer Vorstellung ist dieser Zahl angemessen. Sie erscheint und ist dieser Vorstellung maßlos groß. Unser Geist und dieser Strahl, so tragen wir diesem Umstand in unserer Rede Rechnung, verlieren sich in einer unermesslichen Weite. Aber so, wie mit dem Begriff unermesslich die Eingliederung des Unermesslichen in unsere Vorstellung schon längst stattgefunden hat, so erlaubt der Maßstab des Lichtjahres den Vergleich mit seinesgleichen. Wofür das Licht 100 Millionen Jahre braucht, um es zu durcheilen, ist klein verglichen mit der Distanz von 13 Milliarden Lichtjahren, die uns vom Beginn des Universums trennt. Auch ein Neutronenstern, obwohl doch sein Durchmesser mit zwischen 10 und 20 Kilometern relativ genau bestimmt werden kann, ist eine Form der makroskopischen Materie, die sich der Anschauung entzieht. Unser Sehen beruht auf der Anwesenheit von Atomen und Molekülen, deren Elektronenhülle erlaubt, mit Licht in Wechselwirkung zu treten. Neutronensterne, deren äußerste Schicht der Theorie nach die puren Kerne von Eisenatomen sind, erlauben keine derartige Wechselwirkung. Sie zeigen keine Kontur. Mehr noch: Sehen setzt einen bis zu einem gewissen Grad stabilen Standpunkt voraus, während jeder Beobachter, der sich in die Nähe eines Neutronensterns begäbe, in Folge der Wucht der Anziehungskraft augenblicklich das Bewusstsein verlöre. Mit den Bildern deuten wir auf das Maßlose, als ob es im Maß des Bildes einzufangen sei. Das Bild deutet und lässt das Maßlose verschwinden, so wie ein Beschreiben in Termini des Maßhaltigen das Maßlose verschwinden lässt. Es ist die Dialektik des maßlos neu erscheinenden Objekts, das im Nu das Maß seiner selbst und zur Grundlage neuer Klassifizierung wird. Die astrophysikalischen Bilder, insoweit sie Faszination ausüben, aktivieren immer das seinerseits bildhafte Vorwissen des Beobachters um ihre Objekte: die Galaxien, die Neutronensterne, die Sternentstehungsgebiete, die Supernovae und tief im Innern, den Blicken unsichtbar, die Verkörperung des Maßlosen, die Schwarzen Löcher. Schwarze Löcher, die als maßloser Abgrund erscheinen, in dem Materie in eine umkehrlose, im Endlichen angesiedelte Unendlichkeit stürzt, in der Raum zu Zeit und Zeit zu Raum geworden ist und die doch gleichzeitig reinster mathematischer Ausdruck unserer metrischen Auffassung von Raum und Zeit sind, des Inbegriffs maßhaltiger Betrachtung. Schwarze Löcher repräsentieren das Unangemessene als Inbegriff des Angemessenen. Es ist diese Dialektik, die ihre Faszination ausmacht. Sie und nicht die Kitschfarbigkeit eines immer mehr in die Notwendigkeit der Public Relations getriebenen Wissenschaftsbetriebs verleiht den astronomischen Bildern ihre Attraktion. Das Verschwinden der Rekonstruktion Wir haben von Erwartungen geredet. Vielleicht verlangt kein anderes Bild so sehr, den Blick vom Bild weg auf den Autor und seine Methode zu richten, als das astrophysikalische, das doch gerade vom Autor zu abstrahieren sucht. Fragen wir uns A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 223 also: Was unterscheidet den Astrophysiker vom Maler, spezieller: dem klassischen Landschafts- oder Portraitmaler. Beide sind so verschieden nicht. Nicht nur erzeugen beide Bilder, für beide existiert auch ein Jenseits des Dargestellten. Aber: Sie schauen in entgegengesetzte Richtung. Für den Naturwissenschaftler gilt: Wenn die Welt so wäre, wie sie erscheint, gäbe es keine Naturwissenschaft. Raum und Zeit sind Maße, die über eine Welt gespannt werden, die maßlos ist. Nur noch in den Ritzen der Maßverhältnisse blickt uns das Maßlose an. Die astrophysikalischen Bilder sind so gesehen die maßhaltige Art, sich der maßlosen Welt zu nähern. Diese maßlose Welt, die sich dem Messen entzieht, ist dem Denken in der Figur des Eigentlichen präsent. Alle Naturwissenschaft will sich einem – nie einholbaren – Eigentlichen nähern. Andererseits aber ist die maßlose Welt dem Körper präsent, in all seinen haptischen, sinnlichen und motorischen Bezügen. In dieser anderen, der Körperwelt, ist der Mensch sich selber Maßstab. In diesem Bereich operiert der klassische Maler. Für beide, den Astrophysiker wie den klassischen Maler, ist das Licht der Überbringer des Bildes. Aber der Physiker interessiert sich für das emittierte Licht. Es verspricht ihm Aufschluss über die Materie am Ort seiner Entstehung. Den Maler hingegen interessiert das reflektierte Licht, das von einem Gesicht, von Körpern und ihren Kleidungen oder von einer Landschaft zurückgeworfen wird. Ihn interessiert nicht der Prozess der Destruktion, der fast alle Anteile des weißen Lichtes auslöscht – ihn interessiert das, was übrig bleibt: das Rot der Weste. Der Unterschied zwischen einem Feuer und seinem Widerschein auf Gesichtern ist ihm nur insofern wichtig, als das Feuer dem beleuchteten Gesicht eine andere Stimmung verleiht als die Tagesbeleuchtung oder die untergehende Sonne. Der Maler baut hierbei auf ein dem Sehen vorgängiges Bewusstsein, das mental mit Feuer oder Abendsonne andere Eindrücke verbindet als mit dem Tageslicht. Für den Physiker ist es verbindlich, diese auf den Beobachter verweisenden Umstände möglichst zu eliminieren. Der klassische Maler hingegen zielt darauf ab, lebensweltliche mentale Bezüge des menschlichen Beobachters zu aktivieren, die außerhalb des Bildobjekts angesiedelt sind. Insofern ist auch dem klassischen Maler die Darstellung eines Eigentlichen inhärent. Dem Maler ist die Netzhaut, was dem Physiker die Detektoroberfläche. Vermutlich gibt es kein konstruierteres Bild als dasjenige, das sich hinter der Netzhaut in unserem Gehirn befindet, wenn wir ein Bild ansehen – von den kompliziert zurechtgebogenen Distanzverhältnissen über die physiologisch bestimmten Farbzusammensetzungen bis hin zu den mentalen Erregungen, die vielleicht den Hauptpunkt bei der Betrachtung eines Bildes ausmachen. In dieser Kompliziertheit der Konstruktion übertrifft es das rekonstruierte Bild der Astrophysiker. Im Resultat jedoch erscheint bei beiden diese Konstruiertheit nahezu verschwunden, so dass Vorstellungen einer naiven Abbildtheorie greifen können. Die Gründe hierfür könnten verschiedener nicht sein. Während das astrophysikalische Bild für den naiven Beobachter – vielleicht aus Unkenntnis – als reines Postulat seiner Abbildlichkeit daherkommt (die empörte Aufdeckung der Falschfarben spricht Bände), gründet sich das Ver- 224 R AINER G RUBER schwinden der Konstruiertheit in der Landschaftsmalerei darauf, dass der Mensch sich selber Maßstab ist. Die Bildverarbeitung im Gehirn sowohl des klassischen Malers als auch des Betrachters seiner Bilder funktioniert auf dieselbe Weise. Das ist der Grund, weshalb sie nicht in Erscheinung tritt. Der Blick wird vielmehr in der Materialität des Bildes, der Auswahl der Leinwand, der Wahl der Pigmente und der Pinseltechnik aufgefangen – ein Aspekt, der den astrophysikalischen Bildern essentiell fehlt. Diesen Aspekt haben die Künstler der Moderne betont, die das geheime Einverständnis der Bildverständigung aufkündigten. Obwohl man also sagen kann, dass beiden, dem klassischen Maler und dem Astrophysiker, eine eigentümliche Suche nach dem Eigentlichen zu eigen ist, so ist doch bei diesem das Eigentliche im Lebensweltlichen angesiedelt, während es bei jenem außerhalb der Lebenswelt liegt. Die Grenzen dessen jedoch, was der Lebenswelt als zugehörig begriffen wird, sind Gegenstand stetiger Verschiebung in einem maßlosen Eingemeindungsprozess. Landgewinnung Dem Menschen erscheint maßlos, was keine lebensweltliche Fundierung hat. Alles, was sich dem menschlichen Körper und seiner Sinnlichkeit entzieht, ist dieser Lebenswelt und ihren in praktisch-gesellschaftlichem Vollzug entwickelten Vorstellungen maßlos. Es ist nun aber gerade die auf dem Maßvollen, dem Gemessenen beruhende Methode, die den vom europäisch-rationalen Denken geprägten Menschen weit jenseits seiner Lebenswelt in abstrakte Regionen führt, deren Benennung als objektiv ihm einprägt, dass seine Lebenswelt eine Erweiterung besitzt, die Gültigkeit beansprucht. Abstrakte Denkformen, die zu Modellen und Bildern gerinnen, bekommen eine Gültigkeit zugeschrieben, die auf Realitätsbezug, Erklärungskraft, Vorhersagekraft und auf dem Anspruch innerer Konsistenz beruht. Die Methode des konsistenten Realitätsbezugs, die sich über die quantitativen Messmethoden stets weiterpflanzt, schafft neue Realität, die jenseits der durch die Sinne vermittelten Lebenswelt liegt: In der Astrophysik ist es die Realität der Supernovae, der Galaxien, der Schwarzen Löcher. Über die astronomischen Bilder gewinnen sie Eingang in die Lebenswelt. Alle Skepsis gegenüber diesen astrophysikalischen Modellen, wie sie durch die Enttäuschung über den Disney-Charakter der Falschfarben hindurchschimmert, beruht selbst auf einem Trugschluss. Sie antizipiert ein Eigentliches. Ein Eigentliches aber existiert in unserer Lebenswelt so wenig wie im Universum. Im einen wie im anderen Fall existieren nur verkettete Bilder als Vorstellungen, die nur im Grad der Gewöhnung unterschieden sein mögen. Die hinter unserer Netzhaut einsetzende Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns hat einen Abstraktionsgrad, der jeden Bildeindruck zu einem hochkomplexen Geflecht ineinander greifender Operationen macht, das in nichts dem mathematischen Geflecht nachsteht, das die Konstruktion der astronomischen Objekte durchzieht. Die Konstruktion eines vermissten Eigentlichen verlangt hartnäckig nach der haptischen, motorischen, sinnlichen Bestätigung, die die Basis des menschlichen Maßes darstellt. A STROPHYSIKALISCHE B ILDER 225 Die auf Abstraktion beruhende, durch Quantifizierung ihr eigenes neues Maß setzende Methode, die den Naturwissenschaften zugrunde liegt, entzieht sich diesen haptischen Bestätigungen, ist selbst maßlos. Dass eben dieses Maßlose sein je eigenes Maß konstituiert, macht die Dynamik dieser Welterfassung aus. Die Schwarzen Löcher sind längst vom maßlos Exotischen zum gewohnten Nachbarn geworden. Das Maß frisst seine maßlosen Kinder und die Bilder rahmen sie. 13 Die Welt als Bildpunkt: Pale Blue Dot Voyagers Bild von der Erde (1990) als Visualisierung eines kosmologischen Maßstabskonzeptes B ORIS G OESL Das Bild unseres Planeten von der NASA-Raumsonde »Voyager 1« aus dem Jahr 1990 zeigt die Erde aus über sechs Milliarden Kilometern Distanz nur noch als Bildpunkt. Das als »Pale Blue Dot« (Carl Sagan) populär gewordene Bild bedarf sprachlicher, diskursiver Explikation, um als Bild unseres Heimatplaneten überhaupt erkannt zu werden. Das Bild visualisiert weniger den Planeten in seiner Gestalt als vielmehr den extraterrestrischen Maßstab per se, in dem die Erde nicht mehr supervisionär überblickt, sondern beinahe übersehen wird. So vermessen es scheint, die ganze Erde in nur einem einzigen Pixel darzustellen, so angemessen kommuniziert dieses ›Weltbild‹ im rhetorischen wie ethischen Sinne unsere Lage. Es bringt die irdische Endlichkeit wortwörtlich auf den Punkt. Zugleich symbolisiert es als Sinnbild für die Überwindung parzellierten Denkens genauso lapidar wie prägnant die Erschöpfbarkeit globaler Ressourcen als auch die Grenzen des Wachstums. Verdichtung: vom Ikonischen zum Symbolischen Am 14. Februar 1990 ereignete sich auf ganz andere Weise als durch kulturwissenschaftliche Orientierungsdebatten eine buchstäbliche ›Wende zum Bild‹ konkret räumlicher Art. Es handelte sich um einen ›iconic u-turn‹ der Videokameras von Voyager 1, dem von der Erde am weitesten entfernten von Menschen hergestellten Instrument.1 Der Astronom und Exobiologe Carl Sagan betreute die Mission maßgeblich. Er berichtet: »Die Sonde [...] richtete den Blick ihrer Kameras zurück auf die nun weit entfernten Planeten. Sie [...] machte sechzig Aufnahmen und legte sie in digitaler Form auf ihrem Speicherband ab [und] funkte [...] diese Daten allmählich zur Erde.«2 In rund 6,4 Milliarden Kilometern Distanz schwenkte die Narrow-angle-Kamera der Sonde um, nahm einen retrospektiven Blick auf das 1 Siehe hierzu Ben Evans (with David M. Harland): NASA’s Voyager Missions. Exploring the Outer Solar System and Beyond, London, Chichester 2004, S. 231–232. 2 Carl Sagan: Blauer Punkt im All. Unsere Zukunft im Kosmos, München 1996, S. 19. 228 B ORIS G OESL Abb. 1: Die Erde aus 6,4 Milliarden km Entfernung als Pale Blue Dot. Voyager 1 1990, Videoaufnahme, NASA/JPL (Jet Propulsion Laboratory). Siehe auch Farbtafel XIII. Sonnensystem und den Heimatplaneten Erde vor und ergatterte so im letzten technisch und optisch möglichen Moment ein einen einzigen Pixel kleines Bild des blauen Planeten, zufällig überstrahlt von einem der vier im Bild noch zusätzlich sichtbaren ›Sonnenstrahlen‹, die durch Streuung des Lichts an der Kameralinse hervorgerufen worden sind (Abb. 1). Dieses Bild einer radikal reduzierten repraesentatio mundi, das Carl Sagan 1994 zu seinem BuchPale Blue Dot: A Vision of the Human Future in Space motiviert hat, wurde 2001 sogar zu einem der Top Ten Space Science Fotos gewählt.3 Und dies, obwohl es ein wissenschaftliches Bild im strengen Sinne gar nicht ist. Es hat keine wissenschaftliche, instrumentelle Funktion, aber einen immensen Wert für die Wissenschaftskommunikation und -popularisierung. Es zeigt den Planeten keineswegs mehr vergleichbar erhaben wie jene Erd-Bilder, wie sie seit 1946 möglich wurden, als eine von den Amerikanern umgebaute V2-Rakete erstmals ein Bild der Erde aus dem Weltraum aufnahm. Ein weiteres 3 Siehe hierzu http://www.space.com/scienceastronomy/astronomy/top10_images_0109 25-11.html (Letzter Zugriff: 17. März 2008). D IE WELT ALS B ILDPUNKT 229 Bild von 1947 aus 160 km Höhe ist das älteste erhaltene Bilddokument der Erde aus dem All.4 Darauf folgten 1966 das erste Bild der Erde im Ganzen, aufgenommen von Lunar Orbiter I,5 und schließlich die Erdfotos der Apollo-Missionen zum Mond, wie zum Beispiel das Bild der Voll-Erde von Apollo 17, aufgenommen 1972, das den Titel ›Blue Marble‹ (Abb. 2) erhielt. Doch schon die Erd-Bilder der Apollo-Missionen waren keine primär explorativ motivierten Bilder, sondern quasi redundante Schnappschüsse en passant oder, wie Christoph Asendorf bemerkt, »im Grunde ein Abfallprodukt der Erkundung der Mondoberfläche«.6 Dennoch war die ästhetische Wirkung der Erdbilder unerwartet groß. Joachim Krausse resümiert: »Während die Apollo-Missionen [...] von einer Rhetorik des Frontier-Paradigmas begleitet wurden [...], bestand die wirkliche Sensation in einer neuen Wahrnehmung der Erde, in einem Blick zurück auf den Heimatplaneten.«7 Die Messlatte für eine weitere ästhetische Überbietung der Bilder der Erde aus dem All wurde durch die Apollo-Missionen bereits hoch gesteckt. Seit die ApolloBilder zu Ikonen der ökologischen Bewegung geworden waren, – zum Beispiel mit angestoßen durch den Whole Earth Catalogue 8 Stuart Brands und in Worte gefasst durch die von Barbara Ward und Richard Buckminster Fuller geprägte bildliche Metapher vom ›Raumschiff Erde‹9 – gab es eine implizite Bedingung für die rhetorische Wirksamkeit nachfolgender Bilder der Erde für eine ökologischplanetare Einstellungsänderung. Diese Bedingung bestand darin, dass solche Bilder von der inzwischen gewissermaßen als locus communis vertraut gewordenen und wiedererkennbaren Ansicht der schwebenden Voll-Erde unerwartet und verfremdend abweichen müssten. Umso mehr irritierte daher dann das Bild vom blassen blauen Punkt 1990, dessen Herstellungskalkül das bewusste Unterbieten des gewohnten Maßstabs ist. Das Bild unterbreitet das Wahrnehmungsangebot einer künstlich erzeugten Wiedergewinnung eines ›verlorenen‹ präkritischen, konzeptfreien Schauens oder einer quasi »›göttliche[n]‹ Unvoreingenommenheit des Blicks«,10 wie sie etwa Simone Mahrenholz in Bezug auf das Verhältnis von logi4 Siehe hierzu etwa Stefan Schmitt: Die ersten Erd-Fotos aus dem All. Abrufbar unter: http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/0,1518,454903,00.html (Letzter Zugriff: 17. März 2008). 5 Siehe hierzu Christoph Asendorf: Bewegliche Fluchtpunkte. Der Blick von oben und die moderne Raumanschauung. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic Worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume, Köln 2006, S. 19–49. 6 Ebd., S. 42. 7 Joachim Krausse: Buckminster Fullers Vorschule der Synergetik. In: Richard Buckminster Fuller: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften, hg. von Joachim Krausse, Amsterdam, Dresden 1998, S. 214–306; hier S. 270. 8 Siehe hierzu ebd., S. 268–269. 9 Ebd., S. 250. 10 Simone Mahrenholz: Bildtheorie als Medientheorie. Der logische Doppelstatus der Bilder und sein paradoxaler Ursprung bei Leibniz und Kant. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bildwissenschaft, Köln 2006, S. 85–101; hier S. 97. 230 B ORIS G OESL schem Mangel und detailgenauer Fülle im Bildlichen beschreibt und zeigt die von anderen Weltraumbildern historisch zur Zeit seiner Aufnahme schon flächendeckend allzu vertraute Erde nun visuell als eigentliche terra incognita. Letztlich ist es aber doch eine vorgebildete und wissende Unwissenheitserfahrung, eine docta ignorantia also, die hier aus der permanenten Konfrontation des isoliert visuellen Nicht-Erkennen-Könnens des Punktes als Erde mit dem vom Bild in der Praxis ja unablösbaren diskursiven Bewusst- und Informiertsein über die wahre Identität des Bildpunktes erwächst. Bereits auf den Apollo-Bildern der Voll-Erde sind keine menschlichen Einflüsse, keine Spuren der Zivilisation mehr zu erkennen, so dass, wie Carol Armstrong feststellt, eine Welt-Perspektive entsteht, in der »unsere individuelle[n] Subjektivitäten und die globale Ausdehnung einer mannigfaltigen menschlichen Kultur, nicht nur verkleinert, sondern vollkommen ausgelöscht, null und nichtig erscheinen.«11 Diese Interpretation würde nun erst recht auf das Bild vom Pale Blue Dot zutreffen, auf dem nicht nur zivilisatorische Zeugnisse unsichtbar werden und somit das protagoräische homo-mensuraKonzept vom ›Menschen als Maß aller Dinge‹ bildlich aufgehoben wird, sondern auf dem jegliche Strukturen des Planeten, seien es geologische Formationen oder auch nur die Differenz von Kontinenten und Ozeanen, nivelliert sind. Bildwissenschaftlich relevant ist nun, dass das Bild in seiner Informationsarmut dennoch hochgradig semantisch aufgeladen und rhetorisch instrumentalisiert wird. Allerdings ist es maximal erklärungsbedürftig, also nur mit textueller Unterfütterung versteh- und erkennbar. Das Bild ist für sich selbst nicht evident. Es zeigt die Erde weniger, als dass es sie intelligibel symbolisiert. So ist es hier noch vor einer potentiellen ikonischen Inkompetenz, vor der Möglichkeit des Anikonismus12 eines Betrachters also, schon der elementaren Struktur des Bildes selbst zu eigen, dass es nicht ohne Zusatzinformationen gedeutet werden kann. Die vom radikalen Untermaß der Darstellung herrührende Intelligibilität des Bildes, als einem weniger sinnlich als vielmehr nur verstandesmäßig Zugänglichen, lässt hier auch an jene etymologisch herleitbare Kontinuität zwischen ›mensura‹ (Maß) und ›mens‹ (Geist) denken, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht zufolge etwa von Cusanus erörtert wurde.13 Allenfalls ist die eben noch erkennbare Blaufärbung des Pale Blue Dot ein Identifikationsmerkmal für die Lesbarkeit des Bildes. Jurij Gagarin prägte 11 Carol Armstrong: Der Mond als Fotografie. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 359–383; hier S. 359. 12 Siehe hierzu Horst Bredekamp: Schwarze Legenden, Wucherungen, visuelle Schocks. Horst Bredekamp im Gespräch mit Wolfgang Ullrich. In: Neue Rundschau 114.3 (2003), S. 9–25; hier S. 19. 13 Siehe hierzu Hans Ulrich Gumbrecht: Artikel ›Maß‹. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 3, Stuttgart, Weimar 2001, S. 846–866; hier S. 852. D IE WELT ALS B ILDPUNKT 231 einst die Formel vom ›blauen Planeten‹14 und färbte damit das kollektive Bewusstsein mit der landläufigen Kenntnis der Farbe der Erde in toto von außen. Sozusagen als Renaissance der ›Blauen Blume‹ im technischen Bild ist Pale Blue Dot zudem als ein neoromantisches Symbol der Sehnsucht nach Ferne deutbar – zugleich paradox fusioniert mit dem Motiv des Heimwehs, denn der visuell entzogene, ersehnte ferne Ort ist ja die Heimat Erde. Analog zu Michel Frizots Frage in Bezug auf die Abbildung eines Sterns, ob denn »ein weißer Punkt auf einer schwarzen Fläche überhaupt schon ein Bild«15 genannt werden könne, kann man sich nun streiten, zu welchem Grad die Abbildung der Erde, die mit jeder beliebigen abstrakten Darstellung eines Punktes leichthin verwechselbar wird, noch eigentlich spezifisch bildlich funktioniert. Sterne selbst sind nicht teleskopisch vergrößerbar. Man kann mit Fernrohren nur je nach Lichtsammelvermögen mehr davon sehen, aber kein Teleskop kann Sterne scheibenflächig aufgeweitet als das zeigen, was sie sind, als ausgedehnte Gaskugeln. Sie sind immer nur als Lichtpunkte sichtbar. So konstruiert nun umgekehrt die Darstellung der Erde als Punkt jene irdische Sichtbarkeitsbedingung von Sternen auch für die Erde als Ganzes selbst und reiht damit ikonisch, den physikalischen Unterschied von Stern und Planet natürlich ausklammernd, die Erde gemäß der schon pythagoreischen Formulierung als ›Stern unter Sternen‹16 ein. Dadurch verbildlicht die Form der Darstellung das Bewusstsein für die (historisch lange verleugnete) räumliche Unausgezeichnetheit der Erde im Kosmos. Anstatt wie auf den (ganz passend unter dem Etikett des apollinisch maßvollen erschaffenen) Apollo-Bildern überblickt werden zu können, wird der Planet Erde hier vielmehr beinahe übersehen. Statt von einem Erhabenheit generierenden ›Overview-Effekt‹17 müsste man hierbei also eher von einem ›Overlook-Effekt‹ sprechen. Die Darstellung bedient sich der (bild-)rhetorischen Stilart des genus humile subtile, die anders als der genus grande sublime der Apollo-Erdbilder weniger in pathetischer Wirkungsabsicht auf Erhabenheit abzielt, als vielmehr rational belehrend intendiert ist. 14 Siehe hierzu Wolfgang Ullrich: Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik, Berlin 2006, S. 78. 15 Michel Frizot: Das absolute Auge. Die Formen des Unsichtbaren. In: ders. (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 273–284; hier S. 279. 16 Siehe hierzu etwa Hans Blumenberg: Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit. In: Galileo Galilei: Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen, hg. und eingeleitet von Hans Blumenberg [1965], Frankfurt am Main 22002, S. 7–75; hier S. 23. 17 Siehe hierzu Frank White: The Overview Effect. Space Exploration and Human Evolution, Boston 1987. 232 B ORIS G OESL Abb. 2: Die Erde als Blue Marble. Apollo 17 1972, 70mm-Fotografie, NASA. Rahmung, Kontextualisierung und mediale Unterschreitung Das Bild vom Pale Blue Dot kam in verschiedenen Versionen in Umlauf. Zunächst als das ›eigentliche‹ unvergrößerte Bild (Abb. 1), das als erstes technisches Bild das kopernikanische Weltbild auch fotografisch konsequent visualisiert, indem es die Erde sogar noch im Bildausschnitt peripher, exzentrisch positioniert zeigt: Die Erde ist eingetaucht in den rechten der Sonnenstrahlen außerhalb der Bildmitte. Ebenso kursiert das Bild aber auch als Bestandteil einer Bilderserie von den sechs für Voyager aus seiner Perspektive und Distanz abbildbaren Planeten des Sonnensystems, die von der NASA anthropomorphisierend ›Family-Portrait‹ (Abb. 3) getauft wurde und einen im Folgenden nun analysierten Vergleichs-Zusammenhang herstellt: Während Merkur perspektivisch zu nah an der Sonne war und von ihr überstrahlt wurde, Mars durch Streulicht der Sonne nicht sichtbar und Pluto zu klein war, um abgebildet werden zu können, sind auch zwischen den hier nun je in Ausschnittsvergrößerung dargestellten Bildern der verbleibenden Planeten systematische Unterschiede des optisch-bildlichen Maßes festzuhalten: Jupiter (oben rechts) und Saturn (unten links) wurden von der Kamera aufgelöst, sind also tatsächlich als extrem kleine Kugeln, das heißt in der zweidimensionalen Abbildung als – wenn auch winzige punktähnliche – Scheiben dargestellt. Uranus (unten in der D IE WELT ALS B ILDPUNKT 233 Abb. 3: Family Portrait. Bilder-Serie der Aufnahmen von Venus, Erde, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun (von oben links nach unten rechts). Voyager 1 1990, Videoaufnahmen, JPL/Caltech/NASA. Mitte) und Neptun (unten rechts) erscheinen fälschlich wegen bewegungsinduzierter Verwisch-Effekte größer als sie in Wirklichkeit im optischen Winkel der Aufnahme waren. Die Erde (oben in der Mitte) und die Venus (oben links) jedoch waren in jener Distanz im optischen Winkel der Kamera, obwohl deren Teleobjektiv mit einer Brennweite von 1.500 mm durchaus schon viel Vergrößerung erwirkte, dennoch unterhalb dessen, was auf der Sensorschicht der Kamera mit ihren 640.000 Pixeln durch das Maß eines einzigen Pixels repräsentiert wurde. Die Venus belegte bemessen am optischen Sichtwinkel nur 11% und die Erde 12% eines Bildelementes der Vidicon-Kamera.18 Der vergrößerte Ausschnitt des Bildes vom Pale Blue Dot in dieser Serie hebt zudem die relative Randlage des Erdpunktes auch in der Bildfläche im Gegensatz zum Originalbild auf und positioniert durch die Selektivität der Rahmung die Erde nun in den internen Bildmittelpunkt. Mit Hilfe dieser ikonischen Rezentrierung der Erde im Bildausschnitt wird gleichsam ein ›semantischer Geozentrismus‹ ins Bild gesetzt. 18 Siehe hierzu http://nssdc.gsfc.nasa.gov/photo_gallery/caption/family_portraits.txt (Letzter Zugriff: 17. März 2008). 234 B ORIS G OESL Pale Blue Dot stellt, anders als etwa Modelle der Erde in Globen seit Martin Behaim (1492) und als Fotografien der Voll-Erde, die selbst noch räumliche Ausdehnung aufweisen, unseren Planeten als das Allerkleinste eben noch Sichtbare dar. Statt von der aus dem allegorischen Vokabular der Renaissance entstammenden Devise des ›Unermesslichen im Kleinen‹ (›immensum in parvo‹),19 wie sie für den Globus als Weltmodell galt, muss hier von einem darstellenden Maßverhältnis des ›immensum in minimo‹ gesprochen werden. Bildtheoretisch ist nun die selten beachtete Tatsache relevant, dass die Erde zum Zeitpunkt der Aufnahme für die Kamera nur als Sichel-Erde sichtbar war,20 was jedoch freilich, da das Ausmaß ihres optischen Bildes ja unterhalb des Skalierungsrasters der Aufzeichnungstechnik, also eines Pixels lag, als visuelle Information nicht in das Bild übertragen werden konnte. Selbst das, in Bezug auf die visuelle Auflösung des menschlichen Auges anästhetisch dichte Pixelraster war noch zu grobmaschig für den maßgeblichen Bild-Referenten, die ganze irdische Welt. Das Pixel wäre im alternativen potentiellen Fall einer sichtbaren Voll-Erde nur heller belichtet worden, könnte aber keine direkte Information über den Zustand der vom Beleuchtungswinkel durch die Sonne abhängigen sichtbaren Erd-Erscheinungsform enthalten. Ein close reading solcher Autonomieeffekte der Bildlogik zeigt also schon die Fallen der vermeintlichen Evidenz des Bildlichen, die vor allem hier bei der Form des ›Family-Portrait‹ nahe liegen: Die Darstellung geschieht bei diesen sechs in einen Kontext gereihten Aufnahmen von beiden Seiten her extrem nah an der Grenze der optischen Auflösbarkeit (je etwas darüber oder darunter) und befördert somit die Versuchung, fehlschlüssige Gleichsetzungen der Abbildungsgesetzmäßigkeiten der sechs Einzelbilder untereinander zu ziehen. Nur die prädikativ ausgeführte Erläuterung macht den je unterschiedlichen Status der einzelnen Aufnahmen diesseits und jenseits des kritischen Basismaßes bildlicher Auflösung, des Pixels, jeweils klar. Was auf dem Bild vom Pale Blue Dot für sich selbst sichtbar ist (Abb. 1), ist also weder die topologische Gestalt der Erde selbst noch ihr beleuchtungsbedingtes Erscheinungsbild im Aufnahmemoment als Sichel. Sichtbar ist nur die gleichsam monochrome ›Auffüllung‹ des Pixels mit dem reflektierten Licht von der Erde; ein amorphes beziehungsweise durch die Pixelmaterialisation erst überformtes Licht-Zeichen der Erde, mit den einzigen ableitbaren Informationen der Position, des Helligkeits- und des Farbwerts, der trotz der Entstehung des Bildes als Komposit dreier Farbfilterbelichtungen nicht regelrecht manipuliert ist, sondern hier durchaus als farbliche Realitätsreferenz zu sehen ist. Obwohl es sich um eine nachträgliche Zusammensetzung aus drei farbgefilterten Schwarzweißaufnahmen han- 19 Siehe hierzu Jan Mokre: Immensum in parvo – Der Globus als Symbol. In: Peter E. Allmayer-Beck (Hg.): Modelle der Welt. Erd- und Himmelsgloben, Wien 1997, S. 70–87. 20 Siehe hierzu http://visibleearth.nasa.gov/view_rec.php?vev1id=1947 (Letzter Zugriff: 27. August 2008). D IE WELT ALS B ILDPUNKT 235 delt,21 zeigt das Bild doch das schon Sichtbare des visuellen Spektrums und keine konventionellen Falschfarben oder auch relationalen Pseudofarben, wie sie in der nichtvisuellen Astronomie bei Bildern aus Messdaten (in der Röntgen- oder der Radioastronomie etwa) sonst oft Verwendung finden. In dem Bild nun, der trügerischen ›anschaulichen Gewissheit‹ ikonischer Evidenz zum Opfer fallend, eine auch noch so winzige Kugelgestalt erkennen zu glauben, ist also eine vom impliziten Form-Vorwissen plausibilisierte Illusion aufgrund des Defizits sichtbarer Eigenform-Merkmale. Für die punktuelle Darstellung der Erde als Artefakt der Auflösungsgrenze in diesem Bild würde denn auch die McLuhansche Pointierung »das Medium ist die Botschaft«22 einmal im engeren Sinne gelten. Dem hier medial vermittelten Signal ist schließlich selbst keinerlei Form mehr immanent, weil es nicht als Form registriert werden konnte und es also maximal gegenüber einer Formung durch das medientechnologische ProzessierungsFormat offen ist. Das optische Bild desPale Blue Dot war selbst – von der KameraOptik unauflösbar – sichelförmig: Ein visueller Punkt wurde es aber erst durch den Prozess seiner medialen Herstellung und Verarbeitung. Der Dot entsteht als solcher demnach aus der Form des Pixels selbst, das als kleinstes Bildelement morphologisch indifferent gegenüber spezifisch zu kleinen Maßgrößen bleiben muss. Das Moment der ästhetischen Transgression besteht hier in der Unterschreitung des kritischen Maßes. Es muss beachtet werden, dass auch, wenn tatsächlich benachbarte Pixel wegen Überstrahlungseffekten zusätzlich ebenfalls etwas heller erscheinen und somit zur Kontur des Pale Blue Dot diffus mit beitragen, das optische Bild der Erd-Sichel eben dennoch weniger als einen Pixel im Winkel-Maß bei der Aufnahme eingenommen hat. Gerade bei technischen Bildern müssen also isoliert vom phänomenalen Endergebnis auch die spezifischen Kriterien schon ihrer Entstehung mitreflektiert werden, wenn eine Erkenntnis über ihren Bildstatus gewonnen werden soll. Peter Geimer etwa spricht sich für eine Bildwissenschaft aus, die neben den artefaktischen Resultaten auch »die Umstände ihrer Hervorbringung«23 stärker reflektiert. Geimer betont zudem: »Der Status einer wissenschaftlichen Abbildung entscheidet sich eben nicht erst in ihrer Betrachtung, sondern bereits in den experimentellen Verstrickungen ihrer Entstehung.«24 21 Siehe hierzu NASA Report: The Voyager Neptune Travel Guide. Abrufbar unter: http://ntrs.nasa.gov/archive/nasa/casi.ntrs.nasa.gov/19900004096_1990004096.pdf (Letzter Zugriff: 17. März 2008). 22 Siehe hierzu Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, übers. von Meinrad Amann, Dresden, Basel 1995, S. 21–43. 23 Peter Geimer: Weniger Schönheit. Mehr Unordnung. Eine Zwischenbemerkung zu ›Wissenschaft und Kunst‹. In: Neue Rundschau 114.3 (2003), S. 26–38; hier S. 37. 24 Ebd. 236 B ORIS G OESL Erklärungsbedürftige Unwahrscheinlichkeiten der Bildherstellung Die Erscheinungsform des Bildes mit den einzigen sichtbaren Merkmalen des Punktes – kein perspektivisch-systemräumlicher, aber ein ›semantischer Fluchtpunkt‹ – und der vier Sonnenstrahl-Linien weckt Reminiszenzen an das allgemein bildnerische Punkt-Linie-Fläche-Schema. Dessen Ratio besteht, wie Gottfried Boehm anmerkt, darin, »dass sich die unsichtbare Idealität des geometrisch definierten Punktes in die Empirie eines konkreten Punktes und von da aus, der Logik der Geometrie folgend, zu Linie, Fläche und komplexen Körpern weiter expliziert.«25 Diese strukturelle Übereinstimmung des Bildes mit der radikalen Abstraktion jeglicher ikonischer Gestaltungsschemata steht in frappantem Kontrast zu den dennoch hochgradig unbeeinflussbaren Maßgaben der Entstehung des Bildes. Die Sonnenstrahlen sind schließlich gleichwohl nichts als kontingente Zufallsphänomene und verweisen somit wiederum auf die für das Bildverständnis hier konstitutive Kenntnis seiner spezifischen Herstellungsbedingungen. Peter Geimer erklärt die dem Unbeabsichtigten gegenüber anfällige dispositive Verfasstheit der automatischen Bilder der Fotografie: »Ein Apparat ›sieht‹ nicht. Er zeichnet auf, ist dabei steuerbar und vielseitig manipulierbar, zugleich aber steht er – je nach Absicht der Aufnahme stärker oder schwächer – auch dem Kontingenten und Unvorhersehbaren gegenüber offen.«26 Nicht nur ist die Erinnerung an die Endlichkeit eine Appellstruktur des Bildes selbst, indem der das Bild rahmende rhetorische Diskurs das ›Memento Mori‹ vermittels einer ikonischen Formulierung als ›Memento Modi‹ (›Gedenke des Maßes‹) verständlich macht, sondern die Endlichkeit ist gewissermaßen auch schon ein Strukturmerkmal der Entstehungsbedingung des Bildes. Das bedeutet, dass dieses Bild, das an die Endlichkeit der irdischen Mittel gemahnen soll, selbst ein Produkt mehrerer Endlichkeits-Determinanten ist. Es ist zeitlich wie räumlich das ›letzte Bild‹, das aus dieser Entfernung mit den gegebenen Telekameras die Erde eben noch optisch zu registrieren imstande ist. Voyagers Energieressourcen reichen voraussichtlich noch bis 2020,27 doch ähnlich wie Orpheus im Mythos kein zweites Mal zu Eurydike zurückblicken kann, war es auch für Voyager 1990 der letzte mögliche Blick zurück zur Erde. Kein Blick- oder Bilderverbot hinderte die Sonde im Anschluss an die Aufnahme des Pale Blue Dot an der Umkehr zum Erdenbild, sondern schlicht die Überschreitung der kritischen Distanz für das Mindestmaß optischer Auflösbarkeit. Das Bild erfährt also durch die diskursiven Hinweise auf die vielfältigen Unwahrscheinlichkeiten seiner Herstellbarkeit eine weitere semantische und auratische Aufwertung. 25 Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 133. 26 Peter Geimer: Das Unvorhersehbare. In: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen: Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 101–117; hier S. 104. 27 Siehe hierzu Evans 2004 (wie Anm. 1), S. 234. D IE WELT ALS B ILDPUNKT 237 Abb. 4: Aufnahme der Sonne mit einmontierten vergrößerten Bildausschnitten von Erde (Pale Blue Dot) und Venus. Voyager 1 1990, Videoaufnahmen, NASA/JPL. Das gilt etwa auch für die Verweise auf die Notwendigkeit, das kurze Zeitfenster für den Start der Voyager-Sonden (1976–1978) zu nutzen, was die Vorbedingung des gesamten Gelingens des durch Swing-by-Manöver gravitationsbeschleunigten Fluges gewesen ist. Im Falle eines Versäumnisses dieses vorberechneten Zeitfensters hätte man (gerechnet ab dem Missionsstart 1977) 176 weitere Jahre warten müssen, um eine solche von der Planetenstellung abhängige Chance wieder zu erhalten.28 Erst dieser sprachlich verfasste Diskurs um die Entstehungsbedingungen des Bildes schafft das notwendige Bewusstsein für seine angemessene Rezeption. Carl Sagan legt selbst die rhetorische Kommunikationsstrategie des Bildes aus unmäßiger Ferne offen, wenn er seine Motivation für dessen Herstellung erläutert: »Ich wußte, daß die Erde vom Saturn aus gesehen zu klein ist, um irgendwelche Details erkennen zu können. Unser Planet ist gerade einmal ein kleiner Lichtpunkt, ein einsames Pixel, das sich kaum von den vielen anderen Lichtpunkten – Planeten und Sonnen – unterscheidet, die Voyager 1 sehen konnte. Doch gerade deshalb schien mir so eine Aufnahme wertvoll.«29 28 Siehe hierzu ebd., S. 43. 29 Sagan 1996 (wie Anm. 2), S. 20. 238 B ORIS G OESL Orientierung und Annäherungsbarrieren bei der Bildbetrachtung Eine weitere Variante zeigt das Bild gemeinsam mit einer Aufnahme der Venus einmontiert in ein weitwinkligeres Bild der Sonne an der korrekten entsprechenden perspektivischen Position, nur eben in ausschnittartig stärkerer Vergrößerung (Abb. 4). Durch das Einfügen dieser ›digitalen Intarsien‹ der beiden Teleaufnahmen von Erde und Venus wird der Anschein der Identifizierbarkeit einer geometrisch korrekten Orientierung und Ausrichtung der Bilder erweckt. Die jedoch könnte dann etwa höchstens in Referenz auf die räumlichen Achsen der Kamera selbst und deren Stellung zur Ekliptik bestimmt werden, was jedoch kontingent ist, da doch eine ausgelotete Ausrichtung mit einem definierten Oben und Unten außerhalb der auf der Erde gravitational bedingten Richtungsmodi weder festzulegen noch zu widerlegen, also unentscheidbar ist. Es gibt keinerlei Motivation für eine bestimmte ausgezeichnete Richtung. Möglich wäre beispielsweise auch eine Ausrichtung, die quasi georeferentiell den Nordpol der punktförmigen Erde nach oben weisend darstellt, womit an die Tradition der modernen Weltkarte, die konventionshalber genordet (statt wie vormals geostet) präsentiert wird, angeknüpft würde. Umso auffälliger ist es, dass das Bild, im Gegensatz zur horizontalen Ausrichtung der Sonnenstrahlen im einmontierten Teilbild aus Abbildung 4, bei seinen solitären Präsentationen auf den offiziellen NASA-Seiten im Internet (Abb. 1) mit eher vertikal verlaufenden Sonnenstrahlen dargeboten wird, womit vor allem die ikonografische Konvention einer (paradoxerweise wie auf Erden) von oben herunterstrahlenden Sonne zitiert und weitergeführt wird, so dass der Eindruck von Divinität, einer vom göttlichen Funken erleuchteten Erde, nahe liegt. Ein irdisches Sichtbarkeits-Dispositiv wird so in einer stilistischen Ausweitung über seinen eigentlichen Geltungsbereich hinaus ins extraterrestrische Bild übernommen. Die ausdrückliche Vertikalausrichtung des solitären Bildes ist dann also als Indiz einer stilgeschichtlich motivierten Gestaltungsentscheidung zu sehen. Der Begriff der ›Orientierung‹ bedeutet schließlich ursprünglich auch die Ausrichtung am Sonnenaufgang.30 Carl Sagan betont in seinem Buch: »Da die Raumsonde zum Zeitpunkt der Aufnahme Sonnenlicht reflektierte, scheint die Erde in einem Lichtstrahl zu schweben, der ihr eine ganz besondere Bedeutung verleiht. Doch das Bild ist nichts weiter als ein Zufallsprodukt aus Geometrie und Optik. [...] Wäre die Aufnahme einige Augenblicke früher oder später gemacht worden, wäre kein Sonnenstrahl auf die Erde gefallen.«31 Die von der Streuung des Lichts hervorgerufenen ›Sonnenstrahlen‹, deren Kontingenz im Sinne einer ›möglichen Unnotwendigkeit‹ als rein optische Artefakte ihnen dennoch nichts von ihrer phänomenalen Wirkung 30 Siehe hierzu etwa Sybille Krämer: Karten – Kartenlesen – Kartographie. Kulturtechnisch inspirierte Überlegungen. In: Philine Helas et al. (Hg.): Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 73–82; hier S. 74. 31 Sagan 1996 (wie Anm. 2), S. 23. D IE WELT ALS B ILDPUNKT 239 nimmt, erzielen also trotz der Zufälligkeit ihres Sichtbarwerdens die nobilitierende Impression einer semantischen Ausgezeichnetheit der Erde. Dieser Eindruck läuft dem Aspekt der Winzigkeit des Planeten in der Darstellung diametral entgegen. So vergegenwärtigt die (dominant diskursivierte) Darstellung der Erde als punktförmig klein ihre immense Winzigkeit im kosmischen Maßstab, gewissermaßen als eingeschriebene Wiederkehr der mittelalterlichen ›Bedeutungsperspektive‹, in der eine Korrelation ontologischen und sozialen Ranges mit der konkreten Größe der bildlichen Darstellung besteht, wo also Unbedeutendes klein dargestellt erscheint.32 Dementgegen konterkariert aber der als zufällig diskursivierte Zusammenfall des strahlförmigen Sonnenlichtartefakts in der Kameraperspektive mit der Position der Erde diese Schlussfolgerung maßstäblicher Bedeutungslosigkeit und hebt die Vanitas-Symbolik so im selben Moment auch schon wieder auf. Die rhetorische Form des Bildes vom Pale Blue Dot kann also als eine semantische Kippfigur zwischen zwei gegensätzlichen Lesarten beschrieben werden. Nun verursacht der visuelle Entzug der (real permanent sichtbaren) Erde im Bild des Pale Blue Dot darüber hinaus auch einen geradezu leibhaftigen Sog, dessen handlungsantreibende rezeptionsästhetische Appellstruktur auch als Reflexion der funktionalen Beschaffenheit des Sehsinnes als Distanzsinn,33 oder genauer noch der Visualität als einem ein Mindestmaß an Distanz erfordernden Phänomen mit einem Grenzwert im Nahbereich,34 angesehen werden kann. Das Bild der Erde fordert den Betrachter wegen seiner maßstäblichen Geringfügigkeit dazu heraus, ihm als Artefakt ganz konkret körperlich so nah wie möglich zu kommen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Als ›visueller Attraktor‹ bewirkt diese spezifisch räumlich reduzierte Darstellungsform der Erde hier also aus der Sichtbarkeitsnotwendigkeit heraus potentiell eine konkrete Annäherung an die opake, verrauschte Ebene des materialen Artefakts und verschiebt somit automatisch die Aufmerksamkeit asymmetrisch und übermäßig auf die von der Oberflächentextur bestimmte substantielle Seite der ›ikonischen Differenz‹.35 Indem das Bild eine zu weite Entfernung des potentiellen Betrachters durch drohendes Unsichtbarwerden des Pale Blue Dot sanktioniert – die Darstellung der Erde ist eben der Absolutschwelle des minimum visibile schon nahe – lockt es den 32 Siehe hierzu Jochen Schulte-Sasse: Artikel ›Perspektive/Perspektivismus‹. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 4, Stuttgart, Weimar 2002, S. 758–778; hier S. 760. 33 Siehe hierzu Christa Karpenstein-Eßbach: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien, Paderborn 2004, S. 30–45; hier S. 30: »Sehen: das ist Präsentation der Ferne, eine Gerichtetheit im Raum, die über die Reichweite des Tast- oder Riechfeldes deutlich hinausgeht. [...] Das Sehen ist nicht Handlung, aber aufgrund der Gerichtetheit des Sehstrahls hält das Sehen eine Nähe zur Handlung.« (Hervorhebungen im Original.) 34 Siehe hierzu Krämer 2007 (wie Anm. 30), S. 75. 35 Siehe hierzu Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: ders. (Hg.): Was ist ein Bild? [1994], München 42006, S. 11–38; hier S. 29–36. 240 B ORIS G OESL Betrachter sirenengleich solange immer näher, bis dieser bei seinem Annäherungsversuch irgendwann den Nahpunkt der visuellen Akkommodation des Auges (dieser liegt bei etwa 10–22 cm)36 überschreitet, unter dessen Distanz gar keine scharfe Abbildung auf der Netzhaut mehr möglich ist. Selbst dann noch, wenn man das Bild beinahe mit der Nasenspitze berührt, bewahrt es die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«.37 Anders als Bilder mit weniger extremem Maßstabsverhältnis bietet es nicht die physische Möglichkeit einer Korrespondenz von Aufnahme- und Betrachtungsperspektive.38 Es handelt sich hier also um eine doppelte Visualisierung von ›Ferne‹, so nah man ihr konkret kommen mag. Nicht nur, dass dem Bild schon dadurch eine Aura zukommt, dass es jenen Ort, der uns immer am nächsten ist und bleiben muss, die Erde, aus der zu diesem Zeitpunkt größten Ferne zu zeigen vermag, es entzieht sich gewissermaßen auch noch durch seine Transgression kritischer Schwellen visueller Zugänglichkeit jeglichem ikonodulen Wunsch nach Nähe. Authentizität, Wiederverwertung, Vorbilder und Punktsymbolik Wesentlicher Faktor der rhetorischen Wirksamkeit des Bildes vom Pale Blue Dot ist vor allem die Signatur von fotografischer Authentizität. Es entfesselt seine Faszinationskraft über das Moment seiner glaubwürdigen ›Echtheit‹ als objektives, mechanisch-technisches Bild. Anders dagegen verhält es sich bei einem direkt als Motivvergleich hierfür passend verwendbaren Einzelbild aus dem didaktischen Kurzfilm Powers of Ten (USA 1977; deutscher Titel: ZehnHoch) von Charles und Ray Eames. Darin wird ein animierter und aus Kran-, Luft- und Satellitenaufnahmen montierter Zoom von der Erde weg simuliert, der beim menschlichen Maß mit einem quadratischen Bildausschnitt von 100, also einem Meter Kantenlänge beginnt, um dann nach oben abzuheben. Im Laufe der Entfernung erkennt man Chicago, schließlich den Globus und gelangt so kurz vor der (immer als Zahlenwert an der Seite eingeblendeten) dreizehnfachen Zehnerpotenz der Anfangsentfernung zu einer transitorischen Ansicht der Erde im Sonnensystem, die der 36 Siehe hierzu Bruce E. Goldstein: Wahrnehmungspsychologie. Eine Einführung, übers. von Gabriele Herbst, Heidelberg, Berlin, Oxford 1997, S. 512. 37 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1977, S. 15. 38 Siehe hierzu auch allgemein Georg Glaeser: Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik, München 22007, S. 395. Glaeser erläutert hier die oft verkannte Bedeutung der Korrespondenz von (primärer) Aufnahmeperspektive des Bildes und (sekundärer) Betrachtungsperspektive des Bildträgers, die auf die Übereinstimmung des Sehwinkels abzielt: »Um eine Fotografie realistisch zu empfinden, sollten primäre und sekundäre Perspektive übereinstimmen. [...] Der Fotograf sollte sich bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme überlegen, ob der Betrachter des Bildes sich maßstäblich in seine Position versetzen kann.« D IE WELT ALS B ILDPUNKT 241 Abb. 5: Künstlerische Darstellung unseres Sonnensystems aus vergleichbarer Distanz von der Erde wie im Bild des Pale Blue Dot. Aus: Powers of Ten (ZehnHoch), Lehrfilm von Charles Eames und Ray Eames, USA, IBM, DBA Eames Office, 1977, 9 Minuten. Distanz des Voyager-Bildes entspricht. Die 6,4 Milliarden Kilometer reale Entfernung von Voyager entsprechen perspektivisch in etwa einem kurzen Moment der Darstellung von 1012 bis 1013 Metern Entfernung in dem animierten Trickfilm der Eames’ (Abb. 5). Hier handelt es sich nun nicht um ein fotografisches Bild, nicht um ein indexikalisch als Lichtspur von einem Apparat festgehaltenes Abbild der wahren Distanz, sondern um eine rein künstlerische Gestaltung. Das Bild aus dem Film ist als ein intermedialer motivischer Vorläufer des Bildes vom Pale Blue Dot beschreibbar, dem jedoch die rhetorische Überzeugungskraft der Authentizität versagt ist. Die Planeten selbst sind in diesem Bild auch gar nicht mehr dargestellt, sondern nur schematisch durch ihre Umlaufbahnen gekennzeichnet. Das entspricht zwar durchaus einer Logik der Authentizität, denn bei dieser ungefähren Distanz waren ja auch im realen Aufnahme-Fall der Voyagersonde die Planeten nur durch die stärkere Telekamera und nicht in ›Totale‹ sichtbar zu machen. Dennoch fehlt diesem Bild, verglichen mit dem des Pale Blue Dot, das symbolische Kapital des fotografischen Realismus im Sinne einer diskursiven Beglaubigung seiner natürlichen Entstehungsweise. 242 B ORIS G OESL Abb. 6: Al Gores rückgewandter Blick auf das Bild des Pale Blue Dot auf der Studioleinwand in seinem Film An Inconvenient Truth: A Global Warning (Eine unbequeme Wahrheit: Eine globale Warnung), Dokumentarfilm von und mit Al Gore, Regie: Davis Guggenheim, USA, Paramount Classics Pictures, Participant Productions, 2006, 93 Minuten. Al Gores Dokumentation über die globale Erwärmung An Inconvenient Truth: A Global Warning (USA 2006; deutscher Titel: Eine unbequeme Wahrheit: Eine Globale Warnung) ist nun andererseits ein prominentes Beispiel einer nachfolgenden Wiederverwertung des Bildes vom Pale Blue Dot in einem ähnlichen, aber dennoch stärker als bei Sagan ökologiespezifisch zugespitzten Zusammenhang: Der Appell Al Gores zu rücksichtsvollerem Umgang mit dem Planeten kulminiert kurz vor Ende des Films in seiner Referenz auf und Reverenz an das besprochene Bild. Während er das Bild auf einem großen Studiomonitor vorführt sagt er: »You see that Pale Blue Dot? That’s us. Everything that has ever happened in all of human history has happened on that pixel.«39 Stilistisch erwähnenswert hierbei ist die Inszenierungsform im Film, die just eine szenische Anordnung wählt, in der der anfangs besprochene umgewendete Rückblick der Voyagerkamera zusätzlich mit der Blick-Ausrichtung Al Gores im filmszenischen Bildraum nach hinten zum Bild des Pale Blue Dot auf den Studioscreen um eine zweite inkorporierte Umwendungs-Geste erweitert wird (Abb. 6). Al Gore zitiert in seinem sich Umwenden nach hinten zum Bild (im Bild) hier also noch einmal das Motiv der Umkehr von Voyagers Kamera körpersprachlich als ›Wende zum Bild im Bilde‹ weiter. Ebenso 39 Al Gore: Eine unbequeme Wahrheit: Eine Globale Warnung. Dokumentarfilm von und mit Al Gore. Regie: Davis Guggenheim, USA, Paramount Classics Pictures, Participant Productions 2006, 93 Minuten, Mitschrift der Sekunden 1:23:30–1:23:42. D IE WELT ALS B ILDPUNKT 243 aufschlussreich an der Verwendung des Bildes vom Pale Blue Dot in diesem Kinofilm ist die maßstäbliche Dimension der Darstellung auf der Kinoleinwand. Anders als bei den zentimeterkleinen Buch-Abbildungen kann die Kleinheit des Bildpunktes innerhalb des Gesamtbildes im Kontext des großformatigen Kino-Projektionsbildes schließlich viel stärker kontrastiert werden und so maßstäblich erst zur vollen Geltung kommen. Das Bild vom Pale Blue Dot steht aber auch selbst als Produkt am vorläufigen Ende einer langen Reihe von ideengeschichtlichen Vorbildern. Ein frühes exemplarisches Zeugnis der sogar begrifflich übereinstimmenden Sicht des kosmischen Maßstabs der Erde als bloßem Punkt formulierte etwa bereits Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen, wo er relativiert: »ist ja doch die ganze Erde nur ein Punkt im All, und welch kleiner Winkel auf ihr ist deine Wohnung!«40 Das Bild des Pale Blue Dot lässt sich als späte, lang ersehnte und nun auch technisch machbare Visualisierung eines bereits traditionellen philosophisch-kosmologischen Konzeptes verstehen. Dieses Bild muss mindestens mit zweierlei Maß gemessen werden: Neben dem astronomischen Raummaß vermittelt es auch ein damit inkommensurables ethisches Maß und liefert ein paradigmatisches Vorbild für eine angemessene(re) Einschätzung der irdischen Endlichkeiten. Nicht die ›beste aller möglichen Welten‹, sondern die einzige tatsächlich bewohnbare Welt wird im ›kleinsten aller möglichen Weltbilder‹ dargestellt. Wassily Kandinsky zufolge »hat der geometrische Punkt seine materielle Form in erster Linie in der Schrift gefunden – er gehört zur Sprache und bedeutet Schweigen.«41 Und so setzt dieses Bild der Erde als blasser blauer Punkt im Sinne des von Richard Wollheim formulierten ›Sehens-in‹42 gleichsam in einem Pinselstrich und Schriftzug zugleich den Punkt – einem grammatischen Punkt am Ende eines schriftlichen Aussagesatzes darin also funktional nicht unähnlich – ›hinter‹ seine eigene Aussage durch sich selbst: Ein finales Signum der Endlichkeit das mit der Pointe eines Minimums an Gezeigtem an die Kardinaltugend der Mäßigung im globalen Handeln appelliert, indem es in maximaler Verdichtung das terminierende und definitive Symbol des Punktes als Darstellungsform der ganzen Welt wählt. 40 Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen von Albert Wittstock, Stuttgart 1974, S. 45. 41 Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, mit einer Einführung von Max Bill, Bern 102006, S. 21. 42 Siehe hierzu Richard Wollheim: Objekte der Kunst, übers. von Max Looser, Frankfurt am Main 1982, S. 192–210. E NDLICH / UNENDLICH 14 Maß und Umriss Bilder als Regulative bei Winckelmann und Warburg P HILIPP E KARDT Der Beitrag vergleicht die Schriften Johann Joachim Winckelmanns und Aby Warburgs hinsichtlich der regulativen Funktion, die sie jeweils Bildern zusprechen. Unter Einbeziehung der ausdrücklichen Abgrenzung, die Warburg gegenüber dem Winckelmannschen Projekt vollzieht, werden beider Schriften als Theorien einer Tarierung der Gefühle gelesen, die ihr Medium in Bildern der menschlichen Figur findet, ihre konzeptuelle wie anschauliche Marge in deren Umriss beziehungsweise Konturierung. Auf der unterschiedlichen Grundlage des Angstaffekts einerseits (Warburg) und dem Begehren andererseits (Winckelmann) entsteht so eine Vergleichbarkeit zwischen zwei im klassischen System der Ästhetik einander ausschließenden Kategorien: dem Expressiven und dem Schönen. Bilder als Regulative Der folgende Text macht den Vorschlag, das Verhältnis von Maß beziehungsweise Maßlosigkeit einerseits und Bild andererseits nicht als eines der ausschließenden Zuschreibung zu begreifen. Die ästhetischen und bildwissenschaftlichen Schriften Winckelmanns und Warburgs, die in seinem Zentrum stehen, legen vielmehr nahe, dass der Größe ›Bild‹ nicht entweder Maß oder dessen Fehlen zugeschrieben werden kann. Einer der Vergleichspunkte zwischen Winckelmanns und Warburgs ansonsten durch zahlreiche Unvereinbarkeiten getrennten Projekten liegt vielmehr darin, so die These, dass beide das Bild als Medium einer Verhandlung zwischen Maß und Maßlosigkeit begreifen, genauer: dass in beiden Fällen Bilder als Medien zur Herstellung eines Maßes, insbesondere eines Maßes der Gefühle beschrieben werden. Wenn die Funktion der Bilder als eine solche Austarierung der Gefühle angenommen wird, leitet sich deren Notwendigkeit aber genau aus dem vorangehenden Fehlen beziehungsweise einer notorischen Instabilität solcher Tarierung ab. Bilder werden damit bestimmt als Mittler der Gefühle, als affektive Regulative, die immer neu Maße setzen, weil sie den Maßlosigkeiten nicht enthoben sind. Wie im Folgenden provisorisch zu entwickeln sein wird, gehen Winckelmann und Warburg dabei von verschiedenen Gefühlsgrundlagen aus: Während Warburgs Szenario auf dem Grundaffekt Angst basiert und auf diesen 248 P HILIPP E KARDT reagiert, handelt es sich bei Winckelmann um ein auf dem Begehren gründendes Modell, dessen Objekt ein schönes Ideal und dessen Verfehlung darstellen.1 Die zweite Grundannahme, von der hier ausgegangen wird, betrifft das Verständnis der Kategorie ›Bild‹ in anderer Weise. Winckelmanns und Warburgs Projekte sind auch darin vergleichbar, dass sie in gewissem Sinne mimetozentrische Konzeptionen vorstellen, in denen Bilder primär als Nachahmungen, aber auch als Vorlagen für die Figur des Menschen vorkommen. Anders formuliert: Im Folgenden gelten Bilder immer primär als Bilder der menschlichen Gestalt, die ihre Funktion genau aus diesem Bezug entfalten. Diese Feststellung führt zur dritten Grundannahme, die wiederum den Bogen zu Maß und Maßlosigkeit schlägt. Die konkret-anschauliche, aber auch die konzeptuelle Marge, an der sich die Frage von Maß und Maßlosigkeit entscheidet, ist sowohl für Winckelmann wie für Warburg der Umriss beziehungsweise die Kontur. Die arretierende Instandsetzung der Umrissklarheit bewegter Bilder manifestiert für Warburg jenen Moment, in denen sie ihre angst-parierende Funktion erfüllen; die genaue Tarierung der Körperkontur bedeutet für Winckelmann jenen Moment, in dem der Körper beziehungsweise sein Bild die Bewegung in Richtung einer Stille balanciert, die der idealen Schönheit wesentlich sei. Tatsächlich lässt sich das Folgende auch als Versuch eines Vergleichs zwischen zwei Positionen lesen, die hier als Leitkategorien auf zwei Werke (Winckelmann und Warburg) verteilt sind und zwischen denen nun eine Vergleichbarkeit entsteht, die sie innerhalb des klassischen Systems der Ästhetik nicht innehaben, wie es zum Beispiel Winckelmanns Schriften formatiert. Es geht hier nicht zuletzt um einen Vergleich zwischen dem Schönen und dem Expressiven. Von der Bewegung zur Prägung Mit dem Begriff der Pathosformel bezeichnet Warburg bestimmte durch den gesamten Verlauf der Kulturgeschichte – und in der gesamten geographischen Ausdehnung von Kultur überhaupt – wiederkehrende figurale Muster kultureller Produktion, denen gemein ist, dass sie zugleich als Produkt, Darstellung und symbolische Organisation von Bewegung fungieren.2 In Warburgs Werk tauchen sie in der Gestalt antiker Darstellungen rasender Mänaden auf; als Nymphe, die der den 1 Mit anderen Worten: Es geht hier zunächst darum, die immanenten Gefühlslogiken von Warburgs und Winckelmanns Systemen zu beschreiben. Eine Verknüpfung mit dem reichen Feld der Emotions- und Affektforschung bleibt an anderer Stelle zu leisten. 2 Im Folgenden wird ausdrücklich keine vollständige und systematische Herleitung von Warburgs Begriff der Pathosformeln unternommen. Einige wichtige Forschungspositionen zum Konzept der Pathosformeln sind: Zur Rezeption des Begriffs unter anderem bei Saxl, Curtius und Cassirer siehe Martin Warnke: Vier Stichworte: Ikonologie – Pathosformel – Polarität und Ausgleich – Schlagbilder und Bilderfahrzeuge. In: Werner Hofmann, Georg Syamken, ders. (Hg.): Die Menschenrechte des Auges. Über AbyWarburg, Frankfurt am Main 1980, S. 53–83; M ASS UND U MRISS 249 Fluten entsteigenden Venus entgegeneilt, und bei der es sich in Warburgs Interpretation um eine »Frühlingsgöttin«3 handelt; ja sogar noch im Motiv der eilenden Frau, das Warburg auf zeitgenössischen Briefmarken entdeckt. Die Bewegtheit all dieser Figuren ist meistens augenfällig: Sie laufen oder tanzen, werfen die Arme in die Höhe und ihre Gewänder sind in Wallung. Darüber hinaus sind in ihnen mit Warburg aber auch Abbildungen emotionaler Bewegung, also Momente der Gemütsbewegung, zu erkennen. In der Einleitung zu seinem späten Projekt eines Bilderatlasses solcher Pathosformeln spricht Warburg denn auch von der »ungehemmte[n] Entfesselung körperlicher Ausdrucksbewegungen« und benennt damit die Phänomene des (ekstatisch) Expressiven als zentrales Forschungsinteresse seiner Bildwissenschaft.4 Zwei Aspekte sind hier beachtenswert: Erstens der Umstand, dass die Allgemeinheit der Warburgschen Bestimmung auf der Ebene der kulturhistorischen Artefakte durchaus intendiert ist. Unter die Kategorie des Expressiven fällt das wahnsinnige Rasen der Mänaden genauso wie der freudig-verzückte florentinische Triumphzug. In einem Notizbucheintrag nennt Warburg die Pathosformeln deshalb auch zunächst ein nach Wertigkeit neutrales »Energiekonserve-Symbol« und vergleicht sie mit einer »unbetonten Leydener Flasche«, also mit dem ersten Modell eines Energie-Kondensators.5 Erst mit dem »Eintritt des selektiven Zeithier S. 61–68. Für eine Erörterung der Pathosformeln hinsichtlich der aristotelischen Begriffe Ethos und Pathos sowie hinsichtlich der Fragen einer morphologischen Klassifikation siehe Salvatore Settis: Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion. In: Vorträge aus dem Warburg Haus 1 (1997), S. 31–73. Ulrich Port versucht, Bezüge zu literarischen und theatralen Formen des Tragischen sowie zur rhetorischen Pathostheorie herauszuarbeiten. Siehe Ulrich Port »Katharsis des Leidens«. Aby Warburgs »Pathosformeln« und ihre konzeptionellen Hintergründe in Rhetorik, Poetik und Tragödientheorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Sonderheft 1999: »Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert«, S. 5–42. Einen Vergleich zum Freudschen Symptom-Begriff sowie zu den Ausdruckstheorien unter anderem Klages’ und Plessners unternimmt Cornelia Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004, S. 71–89 und S. 166–185. 3 Aby Warburg: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Band I.1, hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998, S. 16. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Hinzufügung der Bandangabe abgekürzt als Warburg: GS. 4 Aby Warburg: Mnemosyne. Einleitung. Letzte Fassung. 1927. WIA III.103.1, C 3. – Die hier verwendete Sigle entspricht der im Warburg Institute Archive (WIA) gebräuchlichen. Entsprechend werden im Folgenden nur vor Ort zugängliche Materialien des Archivs nachgewiesen. Eine nicht durchgängig korrekt transkribierte Fassung des Mnemosyne-Textes wurde veröffentlicht als Aby Warburg: Mnemosyne. Einleitung. In: Warburg GS II.1, S. 3–6. – Hier danke ich besonders Dr. Claudia Wedepohl, der wissenschaftlichen Archivarin des Institute, die mir während eines Forschungsaufenthaltes dort Wege durch Warburgs unveröffentlichtes Werk wies, für die Mitteilung ihrer haargenauen philologischen und editorischen Beobachtungen. 5 Diese beiden Zitate sowie das erste Zitat im sich anschließenden Satz stammen aus den letzten Aufzeichnungen Warburgs zum Mnemosyne-Projekt aus dem Jahr 1929. Die beiden sie enthaltenden Notizbücher (beide Mnemosyne. Grundbegriffe betitelt) konnten vom Verfasser im 250 P HILIPP E KARDT willens« entscheide sich, wie diese so genannten Dynamogramme, also die Einschreibungen der Dynamik/Bewegung sich je ausprägten, oder, in Warburgs Begrifflichkeit, polarisierten. In einer Notiz aus dem Jahr 1927 fasst Warburg diesen Komplex folgendermaßen: »Das antikische Dynamogramm wird in maximaler Spannung [...] aber unpolarisiert in Bezug auf die passive oder aktive Energetik des Nachfühlenden (Nachsprechenden, Erinnernden) überliefert. Erst der Contakt mit der Zeit bewirkt die Polarisation. Diese kann zur radikalen Umkehr (Inversion) des echten antiken Sinnes führen.«6 Man hat sich also zunächst in der Latenz aufgehobene Speichereinheiten ungerichteter Bewegtheit vorzustellen, Reservoirs neutraler Intensität, deren (Wieder-)Eintritt in den Verlauf der Zeit sich verknüpft mit einer plötzlichen Wertung: Dann erscheinen sie als Figurationen des Wahns, der Verzückung etc. Diese wertenden, polarisierten Aktualisierungen sind die Pathosformeln.7 Die Nähe von Warburgs Theorie der Pathosformeln zu einem evolutionären Diskurs wird in der bereits zitierten Einleitung zum Projekt des Bilderatlasses deutlich, in der Warburg den Begriff der Prägung verwendet. Pathosformeln werden dort als so genannte Engramme bestimmt, und diese werden hergestellt in einem evolutionären »Prägewerk [...], das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken lässt, in solcher Intensität einhämmert, dass diese Engramme leidschaftlicher [sic] Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriss bestimmen, den die Künstlerhand schafft, sobald Höchstwerte der Gebärdensprache durch Künstlerhand im Tageslicht der Gestal- Warburg-Archiv (noch) nicht eingesehen werden. Sie werden deshalb hier nach dem Wortlaut in Gombrichs Warburg-Biographie zitiert. Siehe Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, [London 1970], übers. von Mathias Fienbork, Frankfurt am Main 1981, S. 327 und S. 338. 6 WIA III.102.1.4, S. 20. 7 Diese Annahme, die Latenz und formale Neutralisierung mit energetischer Intensität zusammendenkt, wäre, einem Hinweis Warburgs folgend, mit Hermann Osthoffs Theorie »Vom Suppletivwesen der indogermanischen Sprachen« zu vergleichen (Aby Warburg: GS I.1, S. 363). Hierzu bemerkt Warburg rückblickend in seiner Einleitung zum Mnemosyne-Atlas: »Schon 1905 war dem Verfasser bei solchen Versuchen die Schrift von Osthoff über das Suppletivwesen der Indogermanischen Sprache [sic; das heißt nicht Sprachen] zu Hilfe gekommen: er wies zusammenfassend nach, dass bei Adjektiven und Verben ein Wortstammwechsel in der Komparation oder Konjugation eintreten kann, [...] ohne dass die Vorstellung der energetischen Identität der gemeinten Eigenschaft oder Aktion darunter leidet, obwohl die formale Identität des wortgeformten Grundausdrucks wegfällt« (WIA III.103.1, B2.). An anderer Stelle gibt Warburg als Beispiel für dieses Prinzip des Stammwechsels die Reihe »agathon, ameinon, bonum, melius, gut, besser« (Warburg: GS I.1, S. 363) an. Was sich also von Aktualisierung zu Aktualisierung einer gegebenen Formel bewahrt, ist ihre Ladung, aber nicht deren Wertung beziehungsweise jeweilige formale Ausprägung. Deswegen kann »die tanzende Salome der Bibel wie eine griechische Mänade« auftreten oder »eine fruchtkorbtragende Dienerin Ghirlandajos im Stil einer ganz bewusst nachgeahmten Victorie eines römischen Triumphbogens« (WIA III.103.1, B3) erscheinen. M ASS UND U MRISS 251 tung hervortreten sollen«.8 Gleichzeitig führt Warburg hier auch Elemente ein, die zunächst mit den genuin kunsttechnischen, ja mechanischen Konnotationen des Prägungsbegriff zusammenhängen, darüber hinaus aber auch mit der generellen medientechnischen Situierung seines Projekts. Denn wenn Warburg den Effekt der Pathosformel-Bildung dahingehend beschreibt, dass hier »die kunstwerkliche Gestalt das Eine auswählend umrissklar herausstellt« und wenn man sich die kunst(hand)werklichen Konnotationen der Begriffe des Prägewerks und des Einhämmerns ins Gedächtnis ruft, dann wird schnell klar, dass Warburg Prägung tatsächlich zu einem gewissen Teil ganz konkret als mechanisch-künstlerisches Stanzen denkt, als evolutionäres Hämmern eines formbaren Materials, als dessen Ergebnis umrissklare, profilierte Figuren und Formen oder eben figurale Formeln entstehen, die dann quasi wie Münzen in Umlauf gebracht werden können.9 Einen Hinweis in eine ähnliche Richtung gibt der Begriff der »Doppel-Herme des Apollo-Dionysos«, der Warburg zu einer funktionalen Bestimmung der Pathosformeln dient.10 Das Götter- beziehungsweise Begriffspaar Apollo/Dionysos verweist dabei natürlich auf Nietzsches Schrift zur Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, die Warburg in der Einleitung zum Atlas auch aufruft. Die Intention von Nietzsches Text geht bekanntlich auf eine Kritik eines einheitlich klassizierenden Verständnisses der griechischen Antike, dessen Wahrzeichen seit Winckelmann das der Statue, hier das apollinische Standbild ist. Diesem stellt Nietzsche die erhabene Erschütterung, die emotive Ruptur dionysischer Musik und des Tanzes entgegen. Was sich bei Nietzsche damit als zwei Tendenzen antiker Kultur beziehungsweise zwei Ansätze zu deren Interpretation über die jeweiligen Leitkünste der Skulptur und der Musik darstellt, wird bei Warburg dann aber zu einer einzigen symbolischen Organisationsform, nämlich der der Pathosformeln, in denen sich ekstatische Bewegtheit mit »bändigender formaler Gestaltung« verbindet, die – wie schon zitiert – »das Eine auswählend umrissklar herausstellt«.11 Mediale und affektive Situierung: Film, Photographie, Film Still; Angst Es ist zum Beispiel von Philippe-Alain Michaud der Vorschlag gemacht worden, Warburgs Bildertheorie unter dem medialen Paradigma filmischen Wissens zu interpretieren, und es spricht natürlich einiges dafür, die wallenden Stoffbahnen und tanzenden weiblichen Figuren, die Warburgs Aufmerksamkeit finden, mit den ersten kinematographischen Aufzeichnungen von Tanzpionierinnen wie Loïe 8 WIA III.103.1, B4. 9 WIA III.103.1, A3. 10 WIA III.103.1, C2. Dieser Begriff taucht bereits in Warburgs Resümee seines Vortrags über den »Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance« auf. Siehe Warburg GS I.1, S. 176. 11 WIA III.103.1, C4 und WIA III.103.1, A3. 252 P HILIPP E KARDT Fuller oder Isadora Duncan zu verknüpfen.12 So führt Michaud mediengeschichtlich aus: »Dès 1889, l’association du support souple en celluloïd, de la perforation et de l’émulsion sèche remplançant le collodion humide permettait de combiner la transparence, le décomposition du mouvement et l’impression instantanée; le film Kodak se révélait capable de retenir non seulement l’apparence, mais aussi l’énergie d’un corps en mouvement concentrée dans le déploiement d’une action simple se déroulant dans un temps limité. Le cinéma produisait ainsi des effets comparables à ceux que les historiens de l’art commençaient à percevoir dans les images.«13 Es scheint auf den ersten Blick nicht vollkommen abwegig, Warburgs Denken, das Reliefs oder Renaissancemalerei ja quasi durch Bewegung animiert, ein filmisches Imaginäres zu unterstellen. Allein für eine mediale Situierung des Konzepts der Pathosformeln reicht eine solche Einordnung nicht aus. Denn, wie bereits dargestellt, sind die Pathosformeln ja gerade zu bestimmen als eine, eben formelhafte, plötzliche Stillstellung der Bewegung, die in ihnen quasi einfriert oder kondensiert wird. Solche Eigenschaften sind aber die des photographischen Standbildes und nicht die von 24 frames pro Sekunde, die die kritische Wahrnehmungsschwelle des menschlichen Auges überschreiten und die Bilder damit erst real animieren. Die Theorie der Pathosformeln zielt gerade nicht auf eine (imaginäre) Weiterentfaltung der Bewegung. Schließlich sind die Pathosformeln auch nicht, wie von Michaud vorgeschlagen, in Analogie zu den chronophotographischen Recherchen Mareys und Muybridges zu situieren, denn deren Intention geht auf eine analytische Zerlegung des Bewegungsablaufs in Segmente, aus denen dann zwar nicht, wie beim Film, die Bewegung (als illusionäre) wiedererstehen soll, die aber dennoch auf die Herstellung ihres schematischen Verlaufsgraphen zielt.14 Keines dieser Verfahren entspricht Warburgs Schilderung, die Bewegtheit mittels kompakter Umrissenheit ins Figürliche bannen will. Wenn man also Warburg im medialen Horizont filmischer Signifikation verorten möchte, so müsste man am ehesten von einer Theorie der film stills sprechen, in denen der vorherige Ablauf der bewegten Bilder zu einer plötzlichen Unterbrechung kommt, und in dem die Bewegung einfriert, so als hätte man die Filmspule angehalten. In diesem Sinn wären die Pathosformeln mit dem still als ästhetisches Ereignis zu vergleichen, das die Intensität der Bewegung des ablaufenden Streifens kondensiert.15 12 Philippe-Alain Michaud: Aby Warburg et l’image en mouvement, Paris 1998. Zu den Tänzerinnen siehe ebd., S. 54–55. Diese Annahme vertritt ähnlich Gabriele Brandstetter: Tanz Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main 1995, S. 43–48. 13 Michaud 1998 (wie Anm. 12), S. 45. 14 Siehe ebd., S. 83. Generell wäre hier auf dem nicht-seriellen Charakter von Warburgs Gestenbegriff zu bestehen. 15 Unter Umständen wäre hier ein Vergleich mit Barthes’ Arbeiten zum intensiven dritten Sinn des filmischen Bildes produktiv, den der Semiotiker ebenfalls immer nur am still nachzeichnet. Siehe den »Der dritte Sinn« betitelten Text in Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 47–66. M ASS UND U MRISS 253 Auch Giorgio Agambens in seinem Aufsatz Noten zur Geste vertretene Meinung »innerhalb jedes Abschnitts« von Warburgs Bilderatlas müssten »die Bilder eher als Einzelbilder eines Films gesehen werden denn als autonome Realitäten« trifft den Sachverhalt in dieser Hinsicht nicht, weil er den einzelnen frame unter vielen zum Paradigma der Interpretation erhebt und damit letztendlich – wie Michaud – eine Annäherung an die Chronophotographie Mareys und Muybridges probt.16 Die folgende Aussage Agambens scheint ebenfalls schwer mit der internen Logik von Warburgs Theorie zu vereinbaren: »in Wahrheit stand, als Kristall des historischen Gedächtnisses, die Geste in ihrem Zentrum, ihre Erstarrung zum Schicksal und der unermüdliche Versuch der Künstler und Philosophen (der im Falle Warburgs an den Wahnsinn grenzte), sie in einer dynamisierende Polarisierung davon zu befreien.«17 Erstens sind Bewegung und formalisierende Stillstellung komplementäre Elemente der Pathosformeln und Arretierung hat hier in keiner Weise mit ›Verdinglichung‹ zu tun, die in einem Akt der Dynamisierung ›aufgebrochen‹ werden müsste. Vielmehr scheinen die jeweiligen historischen Ausprägungen der Pathosformeln, das heißt das Stanzen, das plötzliche Aushärten, genau deren Polarisierung zu bedeuten. Agambens Behauptung, die Polarisierung wirke der Aushärtung der Geste entgegen, käme damit einer Verkehrung der Logik von Warburgs Argument in ihr Gegenteil gleich. Zweitens verwendet Warburg den Begriff des Schicksals, zum Beispiel in seiner Untersuchung Francesco Sassettis letztwilligeVerfügung so, dass die formelhafte Auskristallisierung der Geste auf ihn antwortet. Das Schicksal bringt die Auskristallisierung der Geste also erst hervor, das heißt, es geht ihr voraus.18 Mit anderen Worten: Zum Schicksal erstarrt bei Warburg nichts, sondern die Pathosformeln prägen sich unter der Einwirkung des Schicksals, das als Bewegung vorgestellt wird, aus. Drittens wäre der Begriff des ›historischen Gedächtnisses‹ hinsichtlich Warburgs Theorie nur mit äußerster Vorsicht zu verwenden, weil diese evolutive wie innerhistorische, archaische und geschichtliche Elemente verknüpft und damit den Begriff der Geschichte eher problematisiert, als ihn zum Fundament zu erklären. Auf dem Umweg der kunsthandwerklichen beziehungsweise der medientheoretischen Reflektion gerät man dann auch zurück zur Frage der Gefühlsregulierung und zwar mit einem echten Erkenntnisgewinn, der sich auf eine interne Differenzierung im Denken Warburgs bezieht, in dem nunmehr die zuvor postulierte Wertneutralität der Pathosformeln im Latenzzustand in Frage zu stellen ist. Wenn 16 Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg, Berlin 2001, S. 57. Siehe auch ebd., S. 56. Die vorgebliche Auffassung der Bilder im Atlas als ›autonome Realitäten‹ lässt sich übrigens aus Warburgs Schriften selber nirgends ableiten und wird in der Warburg-Forschung nirgends vertreten. Zu fragen wäre auch, von welchem »einen« Film Agamben hier ausgeht: die Bildersammlung des Mnemosyne-Atlasses ist kumulativ und nichtlinear. Jedes einzelne gesammelte Bild verwiese, wollte man diese Logik weiterdenken, auf einen je anderen Film, das heißt Bewegungsablauf. 17 Ebd., S. 57. 18 Siehe Warburg: GS I.1., S. 127–158. 254 P HILIPP E KARDT Warburg die Pathosformel »ungehemmte Entfesselung körperlicher Ausdrucksbewegung« nennt oder sie als Produkt »triebhafter Selbstentäußerung« beschreibt, dann ist noch nichts wesentlich Neues gesagt.19 Anders verhält sich das aber mit einer Formulierung, in der Warburg die »volle Wucht der leidenschaftlich-phobisch [...] erschütterten [...] Persönlichkeit« aufruft, aus der die Pathosformeln heraus entstünden.20 Genauer noch bestimmt er deren Funktion als Agenten in einem »Entdämonisierungsprozess der phobisch geprägten Eindruckserbmasse, der die ganze Skala des [phobischen – im Manuskript ausgestrichen; Ph.E.] Ergriffenseins gebärdensprachlich umspannt«.21 Diese Bestimmung verdient eine genauere Lektüre. Denn wenn der letzte Nebensatz zwar immer noch die ganze Skala des Ergriffenseins in den Ausprägungen der Pathosformeln zulässt, so ist deren initiale Bildung doch einer spezifischen emotionalen Farbe zugesprochen: nämlich der Angst. Deswegen spricht Warburg ja auch von der leidenschaftlich-phobisch erschütterten Persönlichkeit. Darüber hinaus erkennt er in der Angst auch den Ausgangspunkt der evolutionären Formung von Ausdrucksbewegungen überhaupt: die Eindruckserbmasse ist phobisch geprägt. Die Pathosformeln prägen sich damit, weil am Anfang Angst ist, und diese Begründung ist doppelt: erstens als intensiver Auslöser der Prägung überhaupt; zweitens aber auch im Sinne einer Reaktion und Bewältigung der auslösenden Angst. Sie sind verantwortlich für den Entdämonisierungsprozess, der sich in Warburgs Denken direkt mit der Fixierung von Bewegung verbindet. Die Pathosformeln sind Elemente »bewusster bändigender formaler Gestaltung«, Produkte einer »antichaotische[n] Funktion, die man so bezeichnen kann, weil die kunstwerkliche Gestalt das Eine auswählend umrissklar herausstellt«.22 Die formulaisch-prägende Stillstellung der Angst, die nunmehr die Stelle der initialen Bewegung besetzt, ist dabei einerseits als unwillkürlicher Effekt zu sehen – die Ausdrucksbewegungen wird durch Angst ausgelöst; andererseits bietet dieser Effekt aber auch schon eine Antwort auf die das Subjekt peinigende Angst, indem es dieser statische Medien zuweist. Die still gestellte expressive Geste und ihre Veräußerlichung in der Kunst nehmen bei Warburg damit unmittelbar Zweck gerichtete Funktionen auf dem psychischen Gebiet ein, indem sie es dem Subjekt erlauben, die Angst einzuhegen.23 19 20 21 22 23 WIA III.103.1, C3 und WIA III.103.1, C3. WIA III.103.1, A2. WIA III.103.1, A4. WIA III.103.1, C4 und WIA III.103.1, A3. Auch die Mitherausgeber der ersten Studienausgabe von Warburgs Schriften, Horst Bredekamp und Michael Diers, unterstreichen den Charakter der Pathosformeln als »Mittel der Angstbefreiung«. Warburg: GS I.1, S. 5*. M ASS UND U MRISS 255 Abgrenzung gegen Winckelmann Es lässt sich Weiteres über die Theorie der Pathosformeln sagen, wenn man Warburgs Denken gegenüber demjenigen Winckelmanns profiliert. Schon der Hinweis auf Nietzsches Geburt der Tragödie weist ja auf ein zumindest gespanntes Verhältnis zu einer klassizierenden Formauffassung hin und in der Tat finden sich nicht selten Passagen in den Schriften Warburgs, die eine solche Abgrenzung als konstitutives Merkmal des eigenen Projekts ausdrücklich benennen. So charakterisiert Warburg zum Beispiel den Inhalt seines Vortrags über den Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance als »der heute noch nachwirkenden Auffassung Winckelmanns vom Wesen der Antike diametral« widersprechend.24 Noch in einem Ende 1927 unter dem Titel Vom Arsenal zum Laboratorium gehaltenen Vortrag, der einen Rückblick auf sein akademisches Werk wirft, stellt er fest: »Diese Korrektur [...] an Winckelmanns Doktrin von der olympischen Stille der Antike entwickelte sich [...] im Laufe der [...] Jahrzehnte auf kulturwissenschaftlicher Grundlage immer weiter und ist heute noch nicht abgeschlossen.«25 Es scheint damit nichts einfacher als eine klare Einordnung der Pathosformeln in eine Kategorie der expressiven Äußerungen, die seit Winckelmann als mit dem Schönen unvereinbar gegolten haben. So schreibt Winckelmann in der ersten Ausgabe seiner Geschichte der Kunst des Althertums: »Der Ausdruck ist eine Nachahmung des wirkenden und leidenden Zustands unserer Seele, und unseres Körpers, und der Leidenschaften so wohl, als der Handlungen. In beyden Zuständen verändern sich die Züge des Gesichts, und die Haltung des Körpers, folglich die Formen, welche die Schönheit bilden, und je größer diese Veränderung ist, desto nachtheiliger ist dieselbe der Schönheit. Die Stille ist derjenige Zustand, welcher der Schönheit, so wie dem Meere, der eigentlichste ist [...].«26 Die Abgrenzung von Warburgs gegen das Winckelmannsche Projekt wird noch plausibler, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Winckelmann die zitierte Bestimmung in einer Sektion unterbringt, die »Von dem Ausdrucke in der Schönheit, sowohl in Gebehrden als in der Handlung« betitelt ist, und dass er in der zweiten Ausgabe auf die »Minen und Gebehrden des Gesichts« wie auf die »Bewegung der Glieder und des ganzen Körpers« als Bestandteile der den Ausdruck unterstützenden »Action« eingeht.27 Das Winckelmannsche Ideal des stillen, schönen Körpers scheint damit 24 Ebd., S. 176. 25 WIA I.10.1, III. 26 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums [Erste Auflage 1764, Zweite Auflage 1776]. Zitiert nach Johann Joachim Winckelmann: Schriften und Nachlass, Band 4.I, Mainz 2002, S. 300. Der Band stellt die teilweise erheblich differierenden ersten beiden Auflagen des Textes nebeneinander. Das Argument des vorliegenden Textes hat nicht zum Ziel, die Entwicklung des Winckelmannschen Projektes nachzuzeichnen und zitiert deswegen unter der Abkürzung Winckelmann: GdK aus beiden Fassungen. 27 Winckelmann: GdK, S. 300–301. (Hervorhebung im ersten Zitat Ph.E.) Diese schematische Darstellung wäre allerdings dahingehend zu modifizieren, dass Winckelmann zwar die kate- 256 P HILIPP E KARDT vollends gegen den bewegten, expressiven Leitkörper der Warburgschen Theorie abgesetzt. Neben der Absage an die ästhetische Leitkategorie des Schönen trennen Warburgs Projekt von Winckelmanns dabei zunächst und besonders offensichtlich vor allem den jeweiligen Bildtheorien unterlegte verschiedene temporale Schemata.28 Denn die zeitliche Trope vom »Anfang, Fortgang, Fall«, die Winckelmanns Erzählung der Geschichte der Kunst des Alterthums strukturiert, könnte in Warburgs System höchstens in der Form eines dynamischen Pendelgeschehens eingehen, in dem sich Kraftbewegungen abspielen und Psychen schwingen, nicht aber, wie in Winckelmanns Fall, als Markierung eines qualitativen Bogens, der einmal historisch gezogen wurde und auf den der moderne Betrachter aus der Distanz zurückblickt.29 »Die Kunst unter den Griechen«, schreibt Winckelmann, »hat [...] vier Hauptzeiten, und wir könnten deren fünf setzen. Denn so wie eine jede Handlung und Begebenheit fünf Theile, und gleichsam Stufen hat, den Anfang, den Fortgang, den Stand, die Abnahme und das Ende, worin der Grund lieget von den fünf Auftritten oder Handlungen in theatralischen Stücken, eben so verhält es sich mit der Zeitenfolge der Kunst«.30 Aufgerufen ist damit die Struktur der antiken Tragödie, allerdings nicht das Tragische dionysischer Prägung. Vielmehr geht es Winckelmann um die zeitliche Lokalisierung des Betrachters, der sich immer schon nach dem historischen »Stand«, also nach dem Umschlagspunkt, an dem die Statuen still und groß waren, befindet. Dieser Stand, nämlich die ideale Schönheit buchstäblich verkörpernde Klassik, ist die Norm des geschmackspädagogischen »Lehrgebäudes«, nach der Begriffe und Richtigkeit im Urteil »auf eins und das Wahre« bestimmt werden sollen, »zur Regel im Urtheilen und im Wirken«.31 Sie wird auch – qua Idealität – zum Imperativ einer unmöglichen Mimesis für die Nachwelt. Deren Unmöglichkeit hört man ganz ausdrücklich in einer Formulierung aus den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst: »Der einzige Weg für uns groß, ja, wenn es möglich ist unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Kunst der Alten«.32 Denn was sich als der- 28 29 30 31 32 gorische Unvereinbarkeit von Unbewegt-Schönem und Bewegt-Expressivem behauptet, die wenigstens partielle Koexistenz beider Elemente in der Ausführung schöner Statuen aber für notwendig hält. Georges Didi-Huberman eröffnet seine umfangreiche Warburg-Studie denn auch genau über den Weg einer Kontrastierung der verschiedenen zeitlichen Modelle, die Winckelmann und Warburg trennen. Siehe Georges Didi-Huberman: L’Image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 11–26. Winckelmann: GdK, S. 5. Ebd., S. 429. Ebd., S. XVI und 212. Auch hierin zeigt sich der Unterschied zu Warburgs Denken: um den Begriff der Pathosformeln wäre unter keinen Umständen eine Pädagogik aufzubauen. Warburgs Regulativ ist vollkommen unpädagogisch. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, 2., vermehrte Auflage 1756. In: ders.: Kunsttheoretische Schriften I, Baden-Baden, Straßburg 1962, S. 1–44. Im folgenden abgekürzt als Winckel- M ASS UND U MRISS 257 art attraktives Objekt für eine Nachahmung zum Zweck der Herstellung des Unnachahmlichen präsentiert, reproduziert sich unproblematisch allein in Winckelmanns Phantasma antiker Schönheitsmultiplikation, einem Phantasma über ein Zeitalter, in dem »Weltspiele der Schönheit« abgehalten werden und in dem die Praxis einer »Belohnung der Leibesübungen und anderer Verdienste mit Statuen« dafür sorgt, dass schöne Körper, seien sie aus Fleisch oder Marmor, sich vermehren: »Da also die Schönheit von den Griechen gewünschet und geachtet wurde, suchte eine jede schöne Person durch diesen Vorzug dem ganzen Volke bekannt zu werden, und sich insbesondere den Künstlern gefällig zu erzeigen, weil diese den Preis der Schönheit bestimmten, und eben dadurch hatten sie Gelegenheit, das Schönste täglich vor Augen zu sehen«.33 Oder ähnlich: »Eine Statue des Siegers, in dessen Gleichheit und Aehnlichkeit, an dem heiligen Orte in Griechenland gesetzet, und von dem ganzen Volke gesehen und verehrt, war ein mächtiger Antrieb, nicht weniger dieselbe zu machen, als zu erlangen, und niemals ist es für Künstler, unter irgendeinem Volke von je an, eine so häufige Gelegenheit gewesen, sich zu zeigen«.34 Was in diesem Expositions-Szenario verschwiegen wird, spricht sich in Winckelmanns Rede von der historischen Lage nach dem ›Stand‹ aus, nämlich dass die Attraktion dieser schönen Körper eben wenig oder nichts mit Tugend zu tun hat, viel mehr dagegen mit einer Zeitstruktur, die sie immer schon dem Verlorensein preisgibt. Ungefähr parallel zu Warburgs Vorhaben wird andernorts an einer theoretischen Neufassung der Bild-Regulative gearbeitet, die Winckelmann beschäftigten. Nun wird ein Subjekttypus zu beschreiben gesucht, der »ein Ideal in sich aufrichtet« – wie eine Statue, und solcher Prozess der »Idealbildung« ist nicht nur wortwörtlich mit den Manifestationen idealer Schönheit in den plastischen Bildern (der Griechen) verwandt.35 Auch in dieser Version ist die Möglichkeitsbedingung der Idealbildung durch eine zeitliche Positionierung des Subjekts als nachträgliche vis-à-vis einer unwiederbringlich verlorenen Phase der Fülle gegeben: »Der Mensch hat sich hier, wie jedesmal auf dem Gebiete der Libido, unfähig erwiesen, auf die einmal genossene Befriedigung zu verzichten. Er will die narzißtische Vollkommenheit seiner Kindheit nicht entbehren, und wenn er diese nicht festhalten konnte [...] sucht er sie in der neuen Form des Ichideals wiederzugewinnen. Was mann: N. Zitiert wird S. 3. Philippe Lacoue-Labarthe entfaltet dieses Problem, verstanden als Auftrag einer Aneignung des ›Eigenen‹ der Griechen als niemals Statt gehabt habendes, im besonderen auf die Dichtung Hölderlins, im allgemeinen auf die deutsche Kultur der Klassik bezogen, in seinem Aufsatz »Hölderlin und die Griechen«. In: ders.: Die Nachahmung der Modernen. Typographien II, Basel, Weil am Rhein, Wien 2003, S. 71–85. 33 In der Reihe ihrer Zitierung Winckelmann: GdK, S. 214, S. 218, S. 215. 34 Ebd., S. 220. 35 Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzissmus [1914]. In: Studienausgabe. Band 3, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt am Main 1975, S. 37– 68; hier S. 60. 258 P HILIPP E KARDT er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.«36 Diese Beschreibung Freuds wäre zu ergänzen durch Lacans Analyse der Dialektik körperlicher Einhegung und Stabilisierung einerseits und ihrem notwendigen Gegenstück, der Frustration, die das Ergebnis des unausweichlichen NichtGenügens des Subjekts hinsichtlich der projizierten Idealform erzeugt: »Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.«37 Die deutsche Übersetzung »jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes« verschweigt den charakteristischen Aufschwung, die nach oben gerichtete Bewegung, die im Französischen die Benennung dieses Identifikationseffekts mit sich bringt: assomption jubilatoire.38 – Jedem Auf folgt hier allerdings ein Ab: »Diese Form könnte man als Ideal-Ich bezeichnen [...]. Die totale Form des Körpers, kraft der das Subjekt in einer Fata-Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt, ist ihm nur als »Gestalt« gegeben, in einem Außerhalb, wo zwar diese Form eher bestimmend als bestimmt ist, wo sie ihm aber als Relief in Lebensgröße erscheint, das sie erstarren läßt [...]. Solchermaßen symbolisiert diese »Gestalt« – deren Prägnanz offenbar als artgebunden zu betrachten ist [...] – durch die zwei Aspekte ihrer Erscheinungsweise die mentale Permanenz des Ich (je) und präfiguriert gleichzeitig dessen entfremdende Bestimmung«.39 Auch in Winckelmanns »Träumen« schon »symbolisiert sich die Ich-Bildung [...] als ein Stadion« – als ein stade de miroir:40 »In der That bilde ich mir ein, in dem olympischen Stadio aufzutreten, wo ich glaube Statuen junger und männlicher Helden [...] und so viele Wunderwerke der Kunst zu tausenden zu sehen; ja in diesen Traume hat sich meine Einbildung mehrmal vertiefet, weil ich mich mit jenen Ringern vergleiche, indem meine Unternehmung für nicht weniger mißlich als die ihrige zu achten ist. Denn ich muß mir selbst also vorstellen, da ich mich an die Bahn wage, vor so vielen Werken der Kunst, die ich vor Augen sehe, und vor den hohen Schönheiten derselben die Gründe und Ursachen zu erklären, wo ich, wie in den Weltspielen der Schönheit nicht einen, sondern unzählige Richter vor mir sehe«.41 »Diese eingebildete Versetzung nach Elis«, so versichert Winckelmann, »will gleichwohl nicht als bloßes dichterisches Bild angesehen seyn«.42 Die Passage bedeutet auch mehr als den folgendermaßen geschilderten Übergang vom histo36 Ebd. 37 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion [1949]. In: ders.: Schriften I, hg. von Norbert Haas, Berlin, Weinheim 1996, S.61–70; hier S. 64. 38 Ebd. Siehe auch Jacques Lacan: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je [1949]. In: ders.: Écrits I, Paris 1999, S. 92–99; hier S. 93. 39 Lacan 1996 (wie Anm. 37), S. 64–65. 40 Ebd., S. 67. 41 Winckelmann: GdK, S. 239. 42 Ebd. M ASS UND U MRISS 259 rischen zum systematischen Teil der Geschichte der Kunst: »Von dem ersten Abschnitte gehe ich zu dem zweyten, das ist, von den vorläufigen Nachrichten zu dem Wesen selbst der Kunst der Griechen, so wie ihre Jugend nach den Tagen der Vorübungen zu den großen Spielen, sich in dem Stadio selbst vor den Augen des ganzen Volkes, nicht ohne bange Furcht vor dem Ausgang zeigte«.43 Die Passage spricht vielmehr von konkreten menschlichen Körpern, die in einem sich als synchron ausgebenden Prozess der Spiegelungen hergestellt und nur äußerst prekär stabilisiert werden. Diesem Prozess sind eine zeitliche Dialektik vom drohenden Verlust der Idealform einerseits sowie das Wissen um diesen Verlust als Rückprojektion des Ideals in eine zurückliegende historische Epoche andererseits eingeschrieben. Diese fordern – gerade als nicht sicher gegebene – zur imitativen (Wieder)Herstellung durch spekuläre Angleichung und Einbildung auf, die freilich immer schon als ungenügend bestimmt sind. Es ist die Abwesenheit einer solchen Spiegelachse, auf der sich eine an das Ideal sich knüpfende, in Stufen des Erreichens, Überschreitens und des Ungenügens sich messende Nachahmung ereignet, die Winckelmanns und die narzisstischen Bilder-Szenarien von Warburgs Denken der Pathosformeln unterscheidet. Mit anderen Worten: Die anthropologischen und subjektbildenden, gefühlstarierenden Sicherungseffekte, die mit dem Konzept der Pathosformel beschrieben sind, stellen keine Identifikationsprozesse dar. Sie sind auch nicht, wie die Psychoanalyse hinsichtlich der Spiegelbilder nahe legt, als Produkt eines Widerstreits zwischen einem primären Wunsch oder Trieb, also einem Lustprinzip, mit einer Zensur übenden, repressiven Instanz anzusehen. Die Theorie der Pathosformelbildung zielt vielmehr jenseits des Lustprinzips, auf ein Geschehen, in dem pure, primäre Angst und Erregung durch eine Kristallisation ins Bild eingehegt werden müssen. Dieser Umschlag ereignet sich nicht durch ein intervenierendes Verbot, sondern als unvermittelte Emergenz. Umschreibung der Kontur Es spricht nun allerdings einiges dafür, dass Warburgs Theorie der Pathosformeln, aller Abgrenzungsrhetorik gegen das Denken Winckelmanns zum Trotz, zu diesem in einem komplizierteren Verhältnis steht als solche Beteuerungen Glauben machen wollen. Zum Abschluss sollen deswegen – nur äußerst grob und provisorisch – einige Linien skizziert werden, die die beiden Projekte nicht trennen, sondern sie vielmehr verbinden und Warburgs Bilderdenken damit letztendlich teilweise als eine Umschreibung der Ästhetik des schönen Körpers lesbar machen. An erster Stelle wäre einzugehen auf Warburgs Kopplung der symbolischen Stabilisierungsfunktion an eine durch ihre Außenbegrenzung integrierte Gestalt. Im evolutionären Prägewerk überleben die »Engramme leidschaftlicher [sic] Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut« und bestimmen »vorbildlich« – aber nicht 43 Ebd. 260 P HILIPP E KARDT ideal – »den Umriss [...], den die Künstlerhand schafft«.44 Dieser »Entdämonisierungsprozess der phobisch geprägten Eindruckserbmasse« verbindet sich für Warburg mit »bewusster bändigender formaler Gestaltung«, mit einer »antichaotische(n) Funktion, die man so bezeichnen kann, weil die kunstwerkliche Gestalt das Eine auswählend umrissklar herausstellt.45 Nicht erst bei Lacan, sondern bereits bei Winckelmann ist aber auch schon die Rede vom »Ganzen der Gestalt«, und diese ist eben durch nichts anderes garantiert als eine lineare Bestimmung der Umrissklarheit, die bei Winckelmann Contour heisst: »Die edelste Contour vereinigt oder umschreibt alle Theile der schönsten Natur und der idealischen Schönheit in den Figuren der Griechen«.46 Und wenn Winckelmann diese Integration und Kohärenz ganz deutlich benennt – die »Formen eines solchen Bildes sind einfach und ununterbrochen« –, dann macht er letztendlich keine Unterscheidungen zwischen marmornen und menschlichen (beziehungsweise männlichen) Körpern: »Die Körper erhielten durch diese Übungen den großen, männlichen Contour, welche die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben«.47 Und auch das Wissen um die Prekarität einer solchen konturierenden Integration, das heißt das Wissen darum, dass es sich bei der Idealisierung um einen fein auszutarierenden Balanceakt handelt, der jederzeit ins Zuviel (»ohne Dunst und überflüssigen Ansatz«) oder Zuwenig, ins Noch-Nicht-Ideale oder ins Nicht-Mehr-Ideale zu kippen droht, ist bei Winckelmann vorhanden: »Der griechische Künstler [...] hat seinen Contour in allen Figuren wie auf die Spitze eines Haares gesetzt«.48 Bereits bei Winckelmann wird der Anblick einer solchen Erscheinung des Schönen mit einer Funktion der Mäßigung und damit der Kontrolle der Leidenschaften zusammen gedacht: »In dieser Betrachtung war die Stille einer von den Grundsätzen, die hier beobachtet wurden, weil dieselbe nach dem Plato, als der Zustand betrachtet wurde, welcher das Mittel ist zwischen dem Schmerz und der Fröhlichkeit«.49 Von dieser Beobachtung ausgehend, wäre Warburgs Projekt als die 44 Beide Zitate WIA III.103.1, B4. 45 In der Reihenfolge ihrer Zitation: WIA III.103.1, A4. WIA III.103.1, C4. WIA III.103.1, A4. Cornelia Zumbusch stellt im Anschluss an Gombrich und unter Hinweisen auf Warburgs Notizen zum »Symbolismus als Umfangsbestimmung« eine Verbindung zwischen Warburgs Überlegungen zum Umriss einerseits und Kants Ausführungen zum Umfang der Urteile über deren Grenzen andererseits her. Siehe Zumbusch 2004 (wie Anm. 2), S. 239–240. Zumbuschs Studie wäre hier wohl als Verteidigung des Warburgschen Beitrags zu einer genuin visuellen Form der Kognition, das heißt der visuellen Symbolbildung zu verstehen. Der vorliegende Beitrag entwickelt Warburgs Theorie des Umrisses hingegen aus dem Bereich der Ästhetik (schön versus expressiv) und Fragen der Affekte und ihrer Kontrolle. 46 Winckelmann: GdK, S. 257 und ders.: N, S. 16. 47 Winckelmann: GdK, S. 251 und ders.: N, S. 5. 48 Winckelmann: N, S. 5 und S. 17. 49 Winckelmann: GdK, S. 301. – Lacan führt in seinem siebten Seminar diese Denklinie fort, wenn er formuliert: »es gibt ein bestimmtes Verhältnis des Schönen zum Begehren. [...] Einerseits scheint es, der Horizont des Begehrens könne aus dem Register des Schönen eliminiert M ASS UND U MRISS 261 Fortsetzung einer Tradition der Affektkontrolle beziehungsweise Affektausgleichung zu verstehen, die sich aber nicht auf Verbot, Repression, Ideal und Schönes stützt, sondern sich dem Prozess wiederholter kultureller Emergenz symbolischer Bändigung überantwortet. In diesem Sinn werden Winckelmann und Warburg als Theoretiker einer regulativen Funktion der Bilder lesbar, die beide eine Tarierung der Gefühle an eine Balancierung der Kontur knüpfen. werden. Trotzdem ist andererseits nicht weniger deutlich – und es ist auch ausgesprochen worden vom Denken der Antike bis zum heiligen Thomas [...], daß es die Wirkung des Schönen ist, das Begehren aufzuschieben, es zu mindern, es zu entwaffnen [...]. Die Erscheinung des Schönen schüchtert das Begehren ein, sie untersagt es.« Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Seminar VII, hg. von Jacques-Alain Miller, Weinheim, Berlin 1986, S. 287. Diesen Effekt, den Lacan im Zuge seiner Interpretation der Antigone-Tragödie beschreibt, bindet er dabei ausdrücklich an die Erscheinung des schönen Bildes. Hier liegt es »an der Schönheit Antigones« beziehungsweise am »faszinierende(n) Bild der Antigone«, dass das Begehren in die Schranken verwiesen wird. Ebd., S. 298–299. 15 Exzessive Bildlichkeit Das digitale Bild als Vomitiv M ARKUS R AUTZENBERG Der digitalen Kälte porentief reiner, störungsfreier Hollywoodbilder wird in vielen medienkritischen Beiträgen die Zerbrechlichkeit des analogen fotografischen Filmbildes gegenübergestellt, das sich durch seine fotochemische Fragilität sowie durch das Filmkorn auszeichne und – mit Prädikaten wie ›Lebendigkeit‹ versehen – gerade einen Re-Auratisierungsschub erfährt. In der die Grenze zum Ekel mitunter bereits überschreitenden Dichte visueller Überfülle ist jedoch innerhalb der »digital cinematography« eine Bewegung zu verzeichnen, die über das Medium Film hinausdrängt, das die mediale Spezifität des Digitalen nicht mehr fassen kann und daher aisthetisch aus ›allen Nähten platzt‹. Hierin besteht eine besondere Form der Maßlosigkeit des digitalen Bildes, das aufgrund seiner medialen Ermöglichungsgrundlagen streng genommen überhaupt kein Bild mehr ist, sondern prozessuale Bildlichkeit, die sich im Modus des digitalen Films gerade anschickt, als »exzessive Bildlichkeit« den Rahmen zu sprengen. Es ist auffällig, dass sich die Unterscheidung von Analog und Digital in der Medientheorie zu weiten Teilen dem Vorbild des Films verdankt, der als klassisches Analog-Medium nicht nur die Authentizität fotografischer Indexikalität mit sich führt, sondern als Bewegungs-Bild (Deleuze) das analoge Kontinuitätsbeispiel par excellence abgibt. Dies ist schon bei Friedrich Kittler zu beobachten, dessen Rudolf Arnheim-Referenz entscheidend für die Anwendung der Lacanschen Kategorie des Realen auf Medienphänomene ist: »Medien, im Unterschied zu Künsten, sind eben nicht darauf beschränkt, mit dem Gitter des Symbolischen zu arbeiten. Sie rekonstruieren Körper, heißt das, nicht nur im System der Wörter oder Farben oder Tonintervalle. Medien und erst sie erfüllen vielmehr ›die anspruchsvolle Forderung‹, die wir (laut Rudolf Arnheim) seit Erfindung der Photographie ›an die Abbildung stellen‹: ›Sie solle nicht nur dem Gegenstand ähnlich sein, sondern die Garanten für diese Ähnlichkeit dadurch geben, daß sie sozusagen ein Erzeugnis dieses Gegenstands selbst, d.h. von ihm selbst mechanisch hervorgebracht sei – so wie die beleuchteten Gegenstände der Wirklichkeit ihr Bild mechanisch auf die photographische Schicht prägen‹ oder wie die Frequenzkurven von Geräuschen ihre Wellenformen der phonographischen Platte einschreiben. Eine 264 M ARKUS R AUTZENBERG Reproduktion, die der Gegenstand selber beglaubigt, ist von physikalischer Genauigkeit. Sie betrifft das Reale von Körpern, wie sie mit Notwendigkeit durch alle symbolischen Gitter fallen.«1 Zur Indexikalität der Fotografie kommt im Film noch die Ikonizität der Bewegungsillusion hinzu, die die Fotografie aus ihrer Totenstarre befreit und deren genuine Referenzialität noch aisthetisch überbietet. Der Repräsentationslogik medialer Vollzüge wächst angesichts des Mediums Film eine besondere Evidenzkraft zu und nicht nur Siegfried Kracauer hat daher in seiner »Theorie des Films« diesem Medium die »Errettung der äußeren Wirklichkeit«2 zugetraut, die von jener »Agonie des Realen« denkbar weit entfernt scheint, die Jean Baudrillard bekanntlich dem technischen Medienzeitalter attestierte.3 Auch bei Hartmut Winkler spielt die Gegenüberstellung von Film und Computer eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, das Analoge mit dem Digitalen zu kontrastieren.4 Auf der anderen Seite des Theoriespektrums lässt Lev Manovich seine Theorie der ›Neuen Medien‹ einer bestimmten diskursgeschichtlichen Urszene entspringen, in der Film und digitale Medien nicht auseinander fallen, sondern konvergieren. Zum Modell der Turingmaschine heißt es in »The Language of New Media«: »The machine operated by reading and writing numbers on endless tape. At every step the tape would be advanced to retrieve the next command, read the data, or write the result. Its diagram looks suspiciously like a film projector. Is this a coincidence? [...] The cinematic apparatus is similar to a computer in one key respect: A computer’s program and data also have to be stored in some medium. This is why the Universal Turing Machine looks like a film projector. [...] The histories of media and computing became further entwined when German engineer Konrad Zuse began building a computer in the living room of his parents’ appartement in Berlin – the same year that Turing wrote his seminal paper. Zuse’s computer was the first working digital computer. One of his innovations was using punched tape to control computer programs. The tape Zuse used was actually discarded 35mm movie film.«5 Für Manovich, dessen impliziter Medienbegriff in »The Language of New Media« stets audiovisuelle Medientechnologien umfasst, nimmt das Bild des Binärcodes, der auf Zuses 35mm-Filmstreifen über den ikonischen Code des Films gestanzt ist, jene Medienkonvergenz vorweg, die aus dem Computer erst ein Medium macht. Denn die militärhistorische Herkunft und Nutzung des Computers, die Paul Virilio und Friedrich Kittler immer wieder betont haben, verwendet diesen 1 Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 21–22. 2 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1964], Frankfurt am Main 1985. 3 Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978. 4 Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie des Computers, München 1997, S. 185– 191. 5 Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge 2001, S. 24–25. E XZESSIVE B ILDLICHKEIT 265 als Rechenmaschine und nicht als Medium. Digitale Medien indes sind für Manovich heute wieder das, was sie an ihrem Ursprung bereits waren: ein Amalgam aus Symbolischem und Imaginärem, aus Code und Bild. Obwohl Manovichs diskursgeschichtliche Urszene ihre Suggestivkraft eher aus ihrer Metaphorizität bezieht, zeigt das Bild des mit einem Binärcode bestanzten Filmmaterials zumindest jene Gewaltsamkeit, die heute als Argument gegen die digital cinematography ins Feld geführt wird. Die Argumentationslinien gleichen dabei der Kritik an digitalen Medien überhaupt.6 In diesem Zusammenhang liegen der Unterscheidung Analog/Digital zumeist folgende Semantiken zugrunde: »Entropie versus Information, kontinuierlich versus diskontinuierlich, linear versus nichtlinear, Ereignis versus Wiederholung, Wahrscheinlichkeit versus Unwahrscheinlichkeit, Reales versus Symbolisches, Natur versus Artefakt usw.«7 Innerhalb der Filmtheorie bekommt die Kritik an digitalen Medien eine besondere Schärfe, auch wenn die filmtheoretische Kritik mitunter völlig anderer Provenienz ist. Alexander Kluge vertritt zum Beispiel die Ansicht, dass digitale Medien dem ›Wesen‹ des Filmischen radikal widersprechen: »Im binären Prinzip steckt sozusagen bereits ein Programmschema: Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Unter lebendigen kulturellen Verhältnissen gilt dagegen der Satz vom eingeschlossenen Dritten, so daß sämtliche binären Programmierungen den lebendigen Zusammenhang der Mitteilung zerstören. Man kann daher durch binäre Logiken etwas herstellen, was augenscheinlich funktioniert, aber es verändert radikal die authentischen Verhältnisse in der Wirklichkeit: die Nebensachen sind weg. [...] Die Stellung des Kinos ist dazu verblüffend gegnerisch [...] es arbeitet die Ausdrucksweise des Films mit sogenannten Nebenvalenzen, [...] Zwischenwerten. Der Unterschied zwischen bloßem Gebrauchsprodukt und Filmkunst zeigt sich regelmäßig in sogenannten Zwischenvalenzen, die außerhalb des Filmprodukts nicht greifbar sind und zum großen Teil bereits beim Vorzeigen des Films im Fernsehprogramm verschwinden.«8 Das Problem ist, dass hier ästhetische Konventionen unkommentiert mit »authentischen Verhältnissen in der Wirklichkeit« gleichgesetzt werden. Auf ein adäquates medientheoretisches Niveau gebracht, kann gezeigt werden, dass mit jenen »Nebenvalenzen« und »Zwischenwerten« filmischer Materialität zum Beispiel 6 Siehe exemplarisch etwa Almuth Hoberg: Film und Computer. Wie digitale Bilder den Spielfilm verändern, Frankfurt am Main, New York 1999. Timothey Binkley: Refiguring Culture. In: Phillip Hayward, Tina Wollen (Hg.): Future Visions. New Technologies of the Screen, London 1993, S. 90–122. Grundlegend dazu Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt am Main 1991. 7 Jens Schröter: Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? In: ders., Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum?, Bielefeld 2004, S. 7–33; hier S. 10. 8 Alexander Kluge: Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit. In: Klaus von Bismarck (Hg.): Industrialisierung des Bewußtseins. Eine kritische Auseinandersetzung mit den ›neuen‹ Medien, München 1985, S. 51–129; hier S. 71–72. 266 M ARKUS R AUTZENBERG das Korn analogen Filmmaterials gemeint sein kann, dessen Eigenschaft es tatsächlich ist, bereits im »Vorzeigen des Films im Fernsehprogramm« nicht mehr sichtbar zu sein: »Im Unterschied zum Pixel, der durch eine feste Position innerhalb des geometrischen, horizontalen und vertikalen Bildrasters definiert wird, sind die Körner in der analogen Filmemulsion zufällig verteilt.«9 Das zufällige Flirren des Filmkorns auf der Leinwand ist natürlich im Prinzip eine Störung in Reinkultur, ›Rauschen‹ im informationstheoretischen Sinne und genau als eine solche hat dieses Phänomen im Verlauf der Mediengeschichte des Films augenscheinlich eine signifikante Verwandlung erfahren und zwar von der Störung zum Garant der Authentizität filmischer Repräsentation, ja Agens filmischer ›Lebendigkeit‹ selbst: »Indem die Bilder sich durch die Verteilung der Körner minimal voneinander unterscheiden, wirkt auch eine statische Filmeinstellung ohne bewegte Objekte lebendig und scheint eine eigene Form der Zeitlichkeit zu entwickeln.«10 Barbara Flückiger zählt noch eine Reihe weiterer Störungen auf 11 und kommt zu dem Schluss, dass sich die Konjunktur dieser innerhalb der digital cinematography heute dem Umstand verdankt, dass analoge Störungen die Künstlichkeit digitaler Bilder durch die Vertrautheit mit diesen zu ästhetischer Konvention gewordenen Störungen als Film authentifizieren. »Es ließe sich also feststellen, dass gegenwärtige Störungsverfahren, selbst wenn sie so weit getrieben werden, dass sie den Rahmen des Unsichtbaren verlassen, in letzter Instanz doch dem Zweck dienen, mathematisch automatisierte Abläufe mit einem unregelmäßigen, teilweise sogar individuell von Hand erzeugten Raster zu überlagern.«12 Ein immer wieder zitiertes Beispiel hierfür ist Steven SpielbergsJurassic Park (USA 1993), ein Film, der zusammen mit James CameronsTerminator 2 (USA 1991) allgemein als einer jener Filme gilt, die den Boom digitaler Bildbearbeitung im Mainstreamkino entscheidend befördert haben.13 Spielberg ließ in seinem Film computergenerierte Dinosaurier durch Landschaften laufen, die auf herkömmliche, analoge Weise fotografisch aufgenommen wurden. In der Kombination von digital erzeugten und analog aufgenommenen Bildern wurde dabei ein Eindruck von Fotorealismus erzielt, der zum damaligen Zeitpunkt etwas völlig Neuartiges war, jedoch: »Typical images produced with 3-D computer graphics still appear unnaturally clean, sharp, and geometric looking. Their limitations especially stand out when juxtaposed with a normal photograph. Thus one of the landmark achievements of Jurassic Park was the 9 Barbara Flückiger: Zur Konjunktur der analogen Störung im digitalen Bild. In: Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum?, Bielefeld 2004, S. 407–429; hier S. 410. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 418. Neben dem Filmkorn sind dies noch Motion Blur, also Bewegungsunschärfe, Diffusion im Sinne von Überblendungseffekten, Lens Flare, optische Verzeichnungen und Vignettierungen. 12 Ebd., S. 427. 13 Manovich 2001 (wie Anm. 5), S. 200. E XZESSIVE B ILDLICHKEIT 267 seamless integration of film footage of real scenes with computer-simulated objects. To achieve this integration, computer-generated images had to be degraded; their perfection had to be diluted to match the imperfections of film’s graininess.«14 Die digital generierten Bilder mussten also dem Vorbild analoger Filmbilder angepasst werden, um einer ästhetischen Erwartungshaltung entsprechen zu können, der das, was einstmals Störung filmischer Transparenz war, nun zu ästhetischer Garantie von Authentizität geworden ist. Medialität wird so – in überraschender Invertierung einer berühmten These Benjamins – zum Residuum des Auratischen. Walter Benjamin sah bekanntlich in den zu seiner Zeit aktuellen Medientechnologien Film und Fotografie Techniken, die durch das Element der Reproduzierbarkeit jene Aura erodieren, die in der Singularität von Kunstwerken unter bestimmten Umständen noch anzutreffen sei.15 Heute nehmen analoge Medien wie der Film den Platz ein, der für Benjamin im Kultwert des singulären Kunstwerks das Auratische begründete. Almuth Hobergs Satz, dass das Original eines analogen Medienartefakts kostbar sei, da es »die einmalige Manifestation eines stattgefundenen Geschehens«16 darstelle, spricht für eine bereits beginnende Re-Auratisierung analoger Medientechnologien im Zeitalter eines digitalen Medienparadigmas, das die Unterscheidung von Original und Kopie erst jetzt wirksam unterläuft. Das eigentlich philosophische Skandalon digitaler Medien liegt nämlich in ihrer Fähigkeit zur radikal nicht-repräsentationalen Generierung von Medienphänomenen.17 Das Unheimliche an digitalen Medien ist, dass diese als einzige in der Lage sind, überhaupt identische Kopien von etwas ohne Einbußen herstellen zu können.18 Das allerdings auch nur unter der Voraussetzung, dass dieses ›Etwas‹ (egal ob Bild, Ton oder Schrift) selbst bereits digital kodiert ist. Die Idee einer verlustfreien Kopie ist innerhalb einer Repräsentationslogik an sich bereits ein Paradox, denn eine solche Idee unterläuft bereits die Unterscheidung von Original und Kopie, auf der sie beruht. Eben jenes Paradox ist allerdings der springende Punkt digitaler Medien. Dieser Umstand hat wiederum zur Folge, dass Oppositionen wie Original und Kopie ihre Unterscheidungskraft verlieren, denn es gibt hier kein Kriterium mehr, das zum Beispiel zwischen einem digitalen Bild und dessen digitaler ›Kopie‹ auf technischer Ebene irgendeinen Unterschied festlegen könnte. 14 Ebd., S. 201–202. 15 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 431– 469. 16 Hoberg 1999 (wie Anm. 6), S. 24. 17 ›Nicht-Repräsentational‹ bezeichnet hier natürlich allein die medientechnische Verfasstheit, nicht die semiotischen Aspekte, die sich dieser Verfasstheit verdanken, also in den Oberflächenphänomenen (Bildern, Tönen, Hypertext etc.) jederzeit anzutreffen sind. 18 Die Beunruhigung, die darin liegt, sucht die Künste seit Langem in der Figur des Doppelgängers heim. 268 M ARKUS R AUTZENBERG Dass seit einiger Zeit versucht wird, diesen ›Mangel‹ mittels digitaler Signaturen oder ›Wasserzeichen‹ zu kompensieren, ist nur eine Bestätigung dieser Verunsicherung. In Analog-Medien fällt diese Unterscheidung bekanntlich leichter, denn nicht nur, dass es keine verlustfreie Übersetzung von einem Medium in ein anderes gibt – auch die Vervielfältigung innerhalb derselben analogen Medientechnik geht immer mit einem Datenverlust einher, der aus physikalisch beobachtbaren Abnutzungserscheinungen resultiert: »Demgegenüber vervielfältigen analoge Medien ihre Informationen ausgehend von einer Quelle, dem Original, durch wiederholte Druck- oder Prägeprozesse, unter denen sowohl die Kopien als auch das Original leiden können: es ist ein materieller Verlust winziger Art, eine Art Abrieb, der bei jedem Kopiervorgang stattfindet. Entsprechend kostbar ist das Original, es stellt die einmalige Manifestation eines stattgefundenen Geschehens dar.«19 Demgegenüber ist natürlich zu betonen, dass auch diese verlustfreie Kopierbarkeit digital kodierter Daten nur eine Möglichkeit, ein Ideal ist, das in der Alltagspraxis nur selten zu beobachten ist. Lev Manovich hat zu recht darauf hingewiesen, dass aufgrund der in der Praxis verwendeten Kompressionsverfahren der Datenverlust in digitalen Medien oftmals immens ist und noch höher als bei Analog-Medien ausfallen kann.20 Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass verlustfreies ›Kopieren‹ in digitalen Medien zumindest möglich ist, während in Analog-Medien der ›Abrieb‹ einfach aus physikalischen Gründen nicht verhindert werden kann. In digitalen Medien ist daher alles Kopie oder alles Original. Hierin liegt das eigentlich Neue,21 das Beunruhigende digitaler Medien. Der genannte ›Abrieb‹ analoger Medien wird zum Garant filmischer Authentizität und wird als solcher in die Ästhetik digitaler Bilder re-integriert: »With the help of special algorithms, the straight edges of computer-generated objects are softened. Barely visible noise is added to the overall image to blend computer and film elements.«22 Eine Ästhetik der Störung (noise) müsste genau bei solchen Bruchstellen ansetzen, an denen Störungen ihren Status als dem medialen Vollzug radikal heterogene Alterität verlieren und in Zeichenphänomene transformiert werden. Was einstmals als Wahrnehmungsstörung medialer Transparenz im Wege stand, wird nun zu ästhetischer Strategie und es ist kaum überraschend, dass sich diese Dynamik am deutlichsten in Zeiten eines Medienumbruchs zeigt. Um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben: Erst im Kontrast zu digital generierten Bildern wird die ästhetische Valenz der Materialität des Analog-Films sichtbar, um dann 19 Hoberg 1999 (wie Anm. 6), S. 29. 20 Manovich 2001 (wie Anm. 5), S. 54–55. 21 Dies ist auch nur insofern neu, als dass digitale Medien in ihrer Indifferenz gegenüber Kategorien wie Original und Kopie erst jetzt mit jener ›Entauratisierung‹ ernst machen, die Walter Benjamin im Kunstwerkaufsatz bereits anhand analoger Reproduktionsmedien aufgewiesen hat. 22 Manovich 2001 (wie Anm. 5), S. 202. E XZESSIVE B ILDLICHKEIT 269 semiotisiert in das neue Medium re-integriert zu werden, indem zum Beispiel künstlich hinzugefügtes Filmkorn natürlich keine Störung im informationstheoretischen Sinne mehr ist, sondern als Inszenierung auf diese nunmehr ikonisch verweist. Medienumbrüche machen somit Störungen als Materialität der Kommunikation nicht nur sichtbar, sondern auch ästhetisch disponibel. Aber sind diese Beispiele nicht geradezu überdeutliche Präzedenzfälle einer selbstreferenziellen, zum Spektakel gewordenen Inszenierung jener von Dieter Mersch postulierten medialen »Überschreibungswut«, die ihr eigenes Versagen durch die Anhäufung von special effects zu überblenden versucht? »Medienkultur erfährt daran ihre Monstrosität. Indem sich das mediale Konstrukt nirgends selbst ins mediale Kalkül fügt, produziert es seine unablässige Forcierung. Diese ist dessen interner Verfehlung geschuldet. Es gibt eine ›Wut‹ der Überschreibung, der Umformatierung und Konvertierung in andere Medien, die ihr Versagen zu kompensieren trachtet. [...] Kein Medium geht im anderen auf; vielmehr wuchert an seinen Rändern die Vervielfältigung, der Sturz in die ›Überblendung‹ (Virilio).«23 Der theoretische Gegner wird hier unmissverständlich klar: digitale Medien. Die »Wut« digitaler »Überblendungen« münde, dieser Diagnose zufolge, in »Turmbauten aus Mediatisierungen«,24 in der schließlich »sämtliche disparate Formate unters einheitliche Schema des Digitalen« gepresst werden.25 In digitalen Medien kommt die Entwicklung medialer Überschreibungswut somit an ihren apokalyptischen Kulminationspunkt: »Sie projizieren nicht Wahrnehmungen, sondern verrechnen Marken: leere Zeichen oder Signifikanten, deren Referenz ausfällt und die nur mehr als ›reine formale Systeme‹ funktionieren. Ihr Formalismus rechnet mit Ziffern, nicht mit Zeichen, weshalb es verfehlt wäre, den Computer, sei es ›semiotisch‹ oder ›symbolisch‹, als ›Text-Maschine‹ zu apostrophieren. Nicht die Sprache bildet sein Paradigma, sondern die Syntax.«26 23 Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002, S. 68. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 75. Tatsächlich ist es ein wichtiger Unterschied, ob man in Bezug auf digitale Medien von ›symbolischen‹ oder ›semiotischen‹ Maschinen spricht. Während Lucia Santaella vom Computer als einer »semiotischen Maschine« sprechen kann, weil sie das triadische Zeichenmodell von Charles Sanders Peirce inklusive Interpretant innerhalb des Funktionsgefüges des Computers aufweist – siehe Lucia Santaella: Der Computer als semiotisches Medium. In: Winfried Nöth, Karin Wenz (Hg.): Medientheorie und die digitalen Medien, Kassel 1998, S. 121–159 – entspricht der Begriff ›symbolisch‹ in diesem Zusammenhang einer offeneren Perspektive, die Symbolisches im Einklang mit Lacan, nicht mit ›Zeichen‹ gleichsetzt. Eine Symbolische Maschine ist deshalb eben nicht bereits Text-Maschine. Denn während es gerade der Witz des Symbolischen ist, nicht auf Semantiken angewiesen zu sein, sind Zeichen und Texte ohne die Ebene des Sinns nicht konstruierbar. 270 M ARKUS R AUTZENBERG Mit dem Begriff der ›Marke‹ ist indes der Verweis auf Jacques Derridas »Ultrastrukturalismus«27 verbunden, der innerhalb der medienkritischen Positionen nicht nur Dieter Merschs zusammen mit der Funktionsweise digitaler Medien und der Kybernetik als entscheidende Erbsünde und Überbietung des neuzeitlichen Rationalismus innerhalb der Mediengeschichte verortet wird.28 In einer Art medienhistorisch gewendeten ›Dialektik der Aufklärung‹ mündet die Rationalisierung und Mathematisierung der Frühen Neuzeit seit Alberti und Descartes dieser Argumentation nach in die Barbarei schrankenloser Formalisierung, die sich im digitalen Medium dann als ›Universelle Diskrete Maschine‹ tyrannisch manifestiere. Die Logik dieser historischen Erzählung fängt stets – das heißt spätestens seit Heideggers »Zeit des Weltbildes« – bei Descartes an und setzt sich fort in »der Formalisierung von Naturgesetzen, die deren Prinzipien auf die Entwicklung und Dynamik des Technischen anwendbar macht. [...] Ihr Ideal findet sich in einerSynopsis, deren ästhetische Basis die Geometrie der Zentralperspektive als Theorie mimetischer perfectio darstellt.«29 In diesem fortan radikal okulozentristischen ›Zeitalter der Repräsentation‹ (Foucault) kulminiere die »Despotie der Präsentmachung«30 dann in Jeremy Benthams Panopticum, »als Phantasma totaler Kontrolle«.31 Analog-Medien verdanken sich dieser Logik zufolge noch dem Paradigma dieser Repräsentation, indem die Präsenz, wenn auch in stark defizitärer (weil mediatisierter) Form immerhin noch im medialen Artefakt als Spur eines einstmals Anwesenden eingezeichnet bleibt. Das Basisargument hierbei ist, wie schon zu sehen war, dass analog hergestellte medientechnische Artefakte wie Fotografien oder Tonbandaufzeichnungen qua Spur oder Abdruck immer noch, wenn auch nur parasitär, ihre Existenz dem Abgebildeten verdanken, also mit ihrem Referenten indexikalisch verbunden bleiben. Sei es als optochemische Reaktion in der Fotografie, sei es als Einschreibung von Schallwellen auf einem Wachszylinder. Dass innerhalb einer solch mimetisch-indexikalischen Repräsentationslogik nicht einmal mehr Sprache und Schrift als Medien konzipiert werden können, bleibt ein offenes Problem einer solchen Argumentation. 27 Gemeint ist Derridas Überbietung der strukturalistischen Zeichentheorie, die François Dosse als Derridas »Ultrastrukturalismus« bezeichnet. Siehe François Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Band 2: Die Zeichen der Zeit 1967–1991, Frankfurt am Main 1997, S. 30–48. Im Zentrum steht hier die Derridasche Abkopplung von Signifikant und Signifikat, die das ›Spiel der Zeichen‹ gegenüber der Ebene des Sinns autonomisiert. Siehe Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: ders.: Die Schrift und die Differenz, [Paris 1967], übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt am Main 1994, S. 422–443. 28 Siehe zu dieser Medienkritik grundlegend: George Steiner: Von realer Gegenwart, [London 1989], übers. von Jörg Trobitius, München 1990. 29 Mersch 2002 (wie Anm. 23), S. 70. (Hervorhebung im Original.) 30 Ebd., S. 71. 31 Ebd. E XZESSIVE B ILDLICHKEIT 271 Selbst Lev Manovich, dessen Theoriearchitektur und Perspektive denkbar weit von denen Dieter Merschs oder George Steiners entfernt sind, sieht in den digital generierten Bildern die Vorwegnahme einer Zukunft, die in reiner Formalisierung mündet und das ›Reale‹ körperlicher Präsenz hinter sich gelassen hat. Vielleicht könnte sich aber auch die Vermutung begründen lassen, dass sich bereits in der vermeintlich präsenzvergessenen »Überschreibungswut« digitaler Medien längst eine Irritation sedimentiert hat, die umso insistierender wird, je mehr sich die digital generierten Bilder einem ›Realismus‹ annähern, der noch zu Zeiten von Terminator 2 undenkbar war. Lev Manovich hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Rede vom ›Realismus‹ digitaler Bilder stets Fotorealismus gemeint ist. Das ist deshalb von entscheidender Bedeutung, da die Vergleichmaßstäbe hier, im Gegensatz zum oben zitierten Satz von Alexander Kluge, intermedial angelegt sind und nicht auf einer wie auch immer gearteten ›objektiven‹ Realität beruhen: »For what is faked is, of course, not reality but photographic reality, reality as seen by the camera lens. In other words, what computer graphics have (almost) achieved is not realism, but rather only photorealism – the ability to fake not our perceptual and bodily experience of reality but only its photographic image.«32 Während in Terminator 2 (Abb. 1) die computergenerierte Version einer menschlichen Gestalt aufgrund der damaligen technischen Beschränkungen weder auch nur einigermaßen realistisch animiert noch texturiert werden konnte, haben heutige Versuche in dieser Richtung bereits ein völlig anderes Niveau erreicht. Auffällig an einem vollständig digital generierten, derart am Vorbild des Fotorealismus orientierten Film wie Beowulf (Abb. 2) – es gibt hier keine einzige fotografische Filmaufnahme, weder analog noch digital – ist die Überschärfe eines jeden noch so kleinen Details. Jede Hautfalte, jedes Barthaar, der kleinste Schweißtropfen und noch das subtilste Wechselspiel von Hautoberfläche, Pigmentierung und Lichtreflexion ist in aller hyperrealen Deutlichkeit zu erkennen. All das verdankt sich komplexer Algorithmen, die heute in der Lage sind, diverse Textur-Layers ineinander zu schichten, um damit die Gesetze der Optik möglichst exakt zu simulieren. Dazu kommt, dass die Auflösung eines solchen Bildes im Gegensatz zum analogen Filmbild frei skalierbar ist und somit Detailtiefen erreicht werden können, wie sie keinem Analog-Film je zur Verfügung standen. In der Konvergenz dieser und anderer Faktoren ergibt sich eine ›Promiskuität des Details«,33 die diejenige analoger Fotografie bereits weit übersteigt. In der noch recht kurzen Geschichte der digital cinematography griff diese Promiskuität des Details sehr schnell auf den Bildraum über. Das so genannte compositing erlaubt es, ein Bild aus einer Vielzahl disparater Elemente in im Prinzip beliebiger Fülle zusammenzustellen. Das Bild ist nicht mehr an die vorgefundenen Gegebenheiten eines Drehorts gebunden: In Star Wars: 32 Manovich 2001 (wie Anm. 5), S. 200. 33 Jean Baudrillard: Videowelt und fraktales Subjekt. In: Ars Electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 113–133; hier S. 116. 272 M ARKUS R AUTZENBERG Abb. 1: Still aus Terminator 2, USA 1991. Abb. 2: Still aus Beowulf, USA 2007. E XZESSIVE B ILDLICHKEIT Abb. 3: Still aus Star Wars: Episode II, USA 2001. Siehe auch Farbtafel XV. Abb. 4: Still aus Casshern, Japan 2004. Siehe auch Farbtafel XV. 273 274 M ARKUS R AUTZENBERG Episode II (USA 2001) wurde einer Szene am Ufer des Comer Sees eine Reihe von Wasserfällen hinzugefügt. In dem einer ähnlichen Ästhetik folgenden japanischen Film Casshern (Japan 2004) dissoziiert die Fülle an Objekten mitunter den Bildzusammenhang bis fast an den Rand der Abstraktion. Der daraus entstehende Eindruck ist unübersehbar der eines überwältigenden Kitschs (siehe Abb. 3 und 4). Einer der ersten Mainstream-Filme, der von der Aufnahmetechnik bis zur Postproduktion komplett digital produziert wurde, ist Vidocq (Frankreich 2001). Hier wird eine digitale Kamera auch zur Aufnahme von Realschauplätzen und Akteuren genutzt. Auch hier lässt sich die Promiskuität des Details und des Bildraums beobachten, die von der Bildkomposition noch forciert wird (Abb. 5). Digitale Filmkameras kennen von sich aus keinen Tiefenunschärfe-Effekt, wodurch der Bildvordergrund ebenso scharf gestellt werden kann wie der Horizont. Gleichzeitig können extreme Nahaufnahmen mit schnellen Bewegungen kombiniert werden. Der Effekt auf einer Kinoleinwand ist überwältigend, geradezu physisch spürbar. Die Fülle der Bildinformationen gerät hier zu einem Vexierbild aus Bildrausch und Bildrauschen, in dem zuweilen nichts mehr zu sehen ist, außer einer mit aller Gewalt zur Schau gestellten Sichtbarkeit selbst. Vidocq ist eine visuelle tour de force, die neben der erwähnten absoluten Tiefenschärfe auch noch auf schnelle Schnitte, entfesselte Kamera und eine Überfülle innerhalb der mise en scène setzt, um jene Wahrnehmungsüberwältigung zu erzielen, die offenbar das erklärte Ziel des Regisseurs war.34 Und immer wieder extreme Großaufnahmen, die aus Gesichtern amorphe Fleischmassen aus Sekreten, Schmutz und Haaren machen, die aus dieser Nähe nur von digitalen Kameras im Fokus gehalten werden können (Abb. 6): »Baudrillard [hat] in einer aperçuhaften Bemerkung aus Videowelt und fraktales Subjekt die Wirkungen von Vergrößerungen als Zerstörung des Erotischen gebrandmarkt: ›Aus nächster Nähe betrachtet, gleichen sich alle Körper und Gesichter. Die Großaufnahme eines Gesichts ist ebenso obszön wie ein von nahe beobachtetes Geschlechtsteil. [...] Der Promiskuität des Details und der Vergrößerung des Zooms haftet eine sexuelle Prägung.‹ Das Bestechende der Beobachtung läßt sich an Reklamebildern demonstrieren: Das extreme Blow Up läßt die Haut zum Objekt eines vulgären Voyeurismus werden. Es reduziert die präsentierten Körper auf die Frivolität einer Nacktheit ›ohne Blöße‹.«35 In weniger eleganten Formulierungen wird daher mit einer gewissen Folgerichtigkeit mitunter 34 In den Zusatzmaterialien der DVD zu dem Film Vidocq findet sich ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Zitat des Regisseurs Pitof: »Ich will mit der menschlichen Wahrnehmung arbeiten und versuchen, etwas aufzubauen, etwas Physisches. [...] Ich wollte den Zuschauer auf physiologische Weise überraschen und es gibt immer Leute, die finden, dass die Bilder hässlich sind. Deshalb gab es wirklich extreme Reaktionen, das denke ich zumindest. Ich konnte zum Beispiel lesen ›Wie hässlich!‹, ›Scheußlich!‹, ›Zum Kotzen!‹...« Original-Ton Pitof, Quelle: Zusatzmaterial der deutschen DVD 2006, Interview mit dem Regisseur. 35 Mersch 2002 (wie Anm. 23), S. 100. E XZESSIVE B ILDLICHKEIT Abb. 5: Still aus Vidocq, Frankreich 2001. Abb. 6: Still aus Vidocq, Frankreich 2001. 275 276 M ARKUS R AUTZENBERG von »Digitalpornos« gesprochen.36 Und tatsächlich nimmt diese Argumentation eine wichtige Spur auf. Während Baudrillard und Mersch im obigen Zitat noch von analoger Fotografie ausgehen, ist in den genannten Beispielen der digital cinematography ein Überbietungsgestus sichtbar, der einen medienhistorischen Übergang markiert. In der Promiskuität des Details und im Kitsch überfüllter Bildräume wird die visuelle ›Obszönität‹ bis an jene Grenze getrieben, die in Ekel umschlägt. Hier zeigt sich jene Maßlosigkeit digitaler »Überschreibungswut«, die auf der Bildebene sichtbar wird und im Modus des Ekels in einen Präsenzeffekt umschlägt. Winfried Menninghaus hat in seiner wegweisenden Studie zum Begriff des Ekels von einer »Hyper-Realität des Ekelhaften«37 gesprochen, die somit zuletzt noch mit der viel zitierten Hyper-Realität digitaler Medien in Beziehung zu setzen ist. Ekel ist »eine sich aufdrängende Präsenz«38 auf deren Ausschluss die Ästhetik seit der Mitte des 18. Jahrhundert basiert: »Das ›Ästhetische‹ ist das Feld jenes ›Gefallens‹, dessen schlechthin anderes der Ekel ist: so lautet seine kürzeste, einzig unumstrittene und dennoch fast völlig vergessene Basisdefinition.«39 Jedoch: »Eine genaue Lektüre der ›klassischen‹ ästhetischen Theorie führt gleichwohl auf unerhört komplizierte Beziehungen zwischen ›Ekel‹ und ästhetischem ›Gefallen‹. Die überraschendste Entdeckung ist diese: wie allzu ›lautere Süßigkeit‹ steht das Schöne geradezu grundsätzlich und von sich aus in Gefahr, an sich selbst in ein Ekelhaftes umzuschlagen – sofern seine ›Reinheit‹ nicht durch etwas, das nicht (nur) schön ist, kontaminiert und ergänzt wird.«40 Der Schlüsselbegriff ist hier der Sättigungs- oder Überdrussekel, der sich aus einem Zuviel ergibt. Hier kann selbst das reine Schöne zum Vomitiv werden, solange nicht etwas hinzukommt, das die Perfektion irritiert und damit in Bewegung versetzt. Die Antwort der klassischen Ästhetik: »Als Remidium gegen die ekelhafte Sättigung, als ein Anti-Vomitiv wird die berühmte Unendlichkeit des Ästhetischen erfunden: als eine reflektierende Erfahrung nämlich, die sich niemals schließen und daher auch niemals vollständig sättigen kann.«41 Im digitalen Bild ›nistet‹ sich auf eine vergleichbare Weise der Überdrussekel zum Beispiel im Furor der Promiskuität des Details ausgerechnet in jenes Medium ein, dessen Charakteristikum es ja sei, als »symbolische Maschine« eben jene Unabschließbarkeit des 36 »Eine Metapher drängt sich geradezu auf: Alles auf der Leinwand zu zeigen ist eben nicht mehr sinnlich, sondern geradezu pornographisch. Diese Digitalpornos stellen eine Verarmung der Filmsprache dar: Denn sie lassen außer Acht, daß die eindrucksvollsten Bilder immer noch in den Köpfen der Zuschauer entstehen – und nicht auf der Leinwand.« Christian Gierke: Der digitale Film, Hamburg 2000, S. 138. (Hervorhebung im Original.) 37 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 2002, S. 164. 38 Ebd., S. 7. 39 Ebd., S. 15. 40 Ebd. 41 Ebd. E XZESSIVE B ILDLICHKEIT 277 Signifikantenuniversums zu verbürgen, die in ihrer spielerischen Unverbindlichkeit bereits Kants Ästhetik als Abwehr gegen die andrängende Präsenz des Ekels errichtet hatte. Jenseits von Zusammenbrüchen und schlichten Dysfunktionalitäten zeigt sich so im visuellen Ekel digitaler Bilder auf ästhetischer Ebene das Widerfahrnis einer Alterität, die noch in jene kühle Zeichenwelt ekstatisch hineinragt, für die digitale Medien gemeinhin gehalten werden. »Noch der medial simulierte Ekel nämlich schlägt eine Brücke zum dunklen, ›dichten‹ und ›intensiven‹ Kontinent elementarer körpervermittelter (Selbst-) Wahrnehmung.«42 Ähnlich wie sich die Kamera der Lumières in der Frühzeit des Kinos allein an der Bewegung der Blätter und der Einfahrt eines Zuges delektieren konnte, schwelgen die Macher der digital cinematography noch in den reinen Möglichkeiten des neuen Mediums, dessen Neuigkeit allein so in den Bann schlägt, dass sie sich noch selbst genügt. Ein Ende dieser Entwicklung ist indes absehbar. In der die Grenze zum Ekel mitunter bereits überschreitenden Dichte visueller Überfülle ist innerhalb der digital cinematography bereits eine Bewegung zu spüren, die über das Medium Film hinausdrängt, das die mediale Spezifität des Digitalen nicht mehr fassen kann und daher aisthetisch sozusagen aus ›allen Nähten platzt‹. Diese noch recht metaphorische Maßlosigkeit ästhetischer Strategien in der digital cinematography konvergiert zuletzt nämlich mit den sehr konkreten medientechnischen Bedingungen digitaler Bilder, die ins Zentrum des Interesses der Bildwissenschaften führt. Denn der Begriff des Bildes muss – und das ist eines der wichtigsten Anliegen der sich ausdifferenzierenden Bildwissenschaften von W.J.T. Mitchell bis Gottfried Boehm – insbesondere angesichts der elektronischen Medien in Richtung zunehmender Dynamisierung modifiziert werden. In diesem Sinne muss es als Anliegen der Bildwissenschaften betrachtet werden, den Bildbegriff in Richtung von Konzepten dynamischer Bildlichkeit zu erweitern. Bildlichkeit meint dann im strengen, bereits enger medientheoretischen Sinne eine bestimmte Verfasstheit des Bildes, die mit dem cartesianischen Konzept des statischen Bildes gemäß Albertis Fenstermetapher nicht vereinbar ist und für die medialen Ermöglichungsgrundlagen von Bildern selbst gilt. Mit Blick auf die elektronischen Medien Video, Fernsehen und Computer definiert Yvonne Spielmann daher: »Mein Vorschlag, bei der Diskussion von Video von einem Transformationsbild zu sprechen, setzt bei der Beschreibung der prozessualen Herstellungsverfahren von elektronischer Bildlichkeit an. Diese beinhalten Verfahren der Schichtung, der parallelen und unterschiedlichen Bearbeitungen verschiedener Bildsegmente, Stillstand, Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen und Transfigurationen, welche die Umkehrbarkeit einschließen. Mit Transformation sind somit flexible, instabile, nicht-fixierte Formen des Bildes gemeint. Diese werde ich als Bildlichkeit bezeichnen.«43 42 Ebd., S. 25. 43 Yvonne Spielmann: Video. Das reflexive Medium, Frankfurt am Main 2005, S. 12. 278 M ARKUS R AUTZENBERG Begriffe wie ›Transformationsbild‹ und ›Bildlichkeit‹ verweisen dabei zugleich auf die multisensuale und multimediale Verfasstheit ikonischer Prozessualität. Auf ein Konzept des Sehens und des Bildes also, das somit weder auf das Auge noch auf die dem Modell des menschlichen Sehapparates nachgebauten Apparate, Instrumente und Darstellungstechniken beschränkt bleiben kann. Die zentralperspektivische Zurichtung des Bildes und des Betrachters im Sinne des Heideggerschen Gegen-Standes in »Die Zeit des Weltbildes«44 erweist sich so als relativ kurze Episode in einer Geschichte des Sehens, die letztlich auch den ontologischen Status von Bildern folgenreich hinterfragt, was dann in letzter Konsequenz sogar zu einer Neubeurteilung der Grenzverläufe zwischen mentalen und materiellen Bildern wie bei W.J.T. Mitchell führen kann: »...] contrary to common belief, images ›proper‹ are not stable, static or permanent in any metaphysical sense; they are not perceived in the same way by viewers any more than are dream images; and they are not exclusively visual in any important way, but involve multisensory apprehension and interpretation.«45 Hierin liegt die eigentliche Maßlosigkeit des digitalen Bildes begründet, die in vielen Formen analoger Bildlichkeit von der Anamorphose46 bis zum Medium Video ihre Vorläufer hat und sich in der exzessiven Bildlichkeit der digital cinematography spiegelt. Die ästhetische Maßlosigkeit des digitalen Mainstreamkinos ist somit eine Reflexion ihrer medientechnischen Ermöglichungsgrundlagen, die ihrerseits den Rahmen cartesianisch-albertinischer Bildkonzeptionen sprengen. 44 »In der Vorausberechnung wird die Natur, in der historischen Nachrechnung wird die Geschichte gleichsam gestellt. Natur und Geschichte werden zum Gegenstand des erklärenden Vorstellens. [...] Nur was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt als seiend. Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst, wenn das Sein des Seienden in solcher Gegenständlichkeit gesucht wird. Diese Vergegenständlichung des Seienden vollzieht sich in einem Vor-stellen, das darauf zielt, jegliches Seiende so vor sich zu bringen, daß der rechnende Mensch des Seienden sicher und d. h. gewiß sein kann.« Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes [1936]. In: ders.: Holzwege, Frankfurt am Main 1995, S. 75–115; hier S. 87. (Hervorhebung im Original.) 45 W. J.T Mitchell: Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago 1986, S. 13–14. 46 Siehe zur Anamorphose als Form prozessualer Bildlichkeit: Kyung-Ho Cha, Markus Rautzenberg: Im Theater des Sehens. Anamorphose als Bild und philosophische Metapher. In: dies. (Hg.): Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie, München 2008, S. 7–23. 16 Architektur ohne Maßstab Digitale Visualisierungen im Entwurfsprozess NICOLE E. S TÖCKLMAYR Heute erfordern immer komplexere Architekturgeometrien neue Darstellungsbilder, da die klassische Trias Grundriss, Schnitt und Ansicht den Entwurf nur begrenzt wiedergibt. Die durch die fortschreitende Digitalisierung veränderten Rahmenbedingungen innerhalb der zeitgenössischen Architekturpraxis haben zu einer Vielzahl von bis dahin unbekannten Bildern geführt. Was viele digitale Visualisierungen gemeinsam haben, ist der fehlende Maßstab: Architektonische Entwurfsbilder verlieren ihre Vergleich- und Messbarkeit, gleichzeitig werden sie durch ihre Statusänderung zu Artefakten, deren Ästhetik und Darstellung sich durch Methode und Technik des Entwurfs modifizieren. Die theoretischen Überlegungen dieses Beitrages werden mit einer Analyse des von Zaha Hadid Architects realisierten ›phæno‹ in Wolfsburg veranschaulicht, da in diesem Fall digitale Entwurfsbilder der gebauten Realität gegenübergestellt werden können. phæno und Zaha Hadid 1 Der Bilbao-Effekt hatte sich als Begriff noch gar nicht durchgesetzt, als 1998 in Wolfsburg die Idee für ein »Science Center« entstand.2 Knapp ein Jahr später fiel die Entscheidung zur Realisierung des Baus, die mit einem internationalen Architekturwettbewerb3 initiiert wurde und 23 Einreichungen4 nach sich zog. Im Januar 2000 wählte die aus Architekten, Museumsspezialisten und stadtpolitischen Entscheidungsträgern zusammengesetzte Wettbewerbsjury,5 das Projekt von Zaha 1 Zaha Hadid Architects’ phæno wird hier exemplarisch untersucht. Der Paradigmenwechsel innerhalb der bildlichen Darstellungsmöglichkeiten und -varianten des Architekturentwurfs lässt sich mittlerweile schon in der dritten postdigitalen Generation der Architekturavantgarde beobachten. Das Beispiel Zaha Hadid und Zaha Hadid Architects bietet jedoch die Möglichkeit, verschiedene Mediennutzungen und deren Einfluss innerhalb ihrer Architektur auch an realisierten Gebäuden zu überprüfen. 2 Christoph Stölzl: Von der Idee zur Realisierung. In: ders. (Hg.): Phæno. Die Experimentierlandschaft, Wolfsburg 2005, S. 6–25; hier S. 11. 3 Ebd. 4 Ebd., S.15. Neben Zaha Hadid Architects waren unter anderem COOP Himmelb(l)au (Wien), Enric Miralles/Benedetta Tagliabue (Barcelona), Scogin Elam & Bray (Atlanta) und Chris Wilkinson (London) im Wettbewerb mit einem Beitrag vertreten. 5 www.phaeno.de/76.html (Letzter Zugriff: 22. August 2008). 280 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR Hadid Architects, nach überwundenen Eingangsschwierigkeiten, auf den ersten Platz: »In Wahrheit ist die Realisierung von Zaha Hadids einzigartigem Entwurf ein Abenteuer ganz eigener Art gewesen. Die traditionellen Methoden der deutschen Architektur halfen zunächst nicht weiter. Bevor ein Gebäude gebaut wird, muss es gezeichnet werden. Die Zeichnung dient der Klärung der Form, der Konstruktion und der Materialien. Die notorisch ungewöhnlichen Darstellungsweisen der Architektin strapazierten aber auch gewiefte Fachleute. Diese wahrnehmungsbezogene Darstellung machte es dem Preisgericht und dem Bauherrn nicht leicht, das Bauwerk in seiner zeichnerisch vorweggenommenen Wirklichkeit zu erkennen und die technischen Konsequenzen korrekt einzuschätzen.«6 Schon ein Jahr nach der Wettbewerbsentscheidung wurde das Projekt umfangreich publiziert7 und später, während der Bauphase, zudem ausgestellt.8 Die kontinuierliche Weiterentwicklung und Detaillierung des Entwurfs lässt sich daher gut am veröffentlichten Bildmaterial verfolgen. Neben Grundrissen, Schnitten und Ansichten präsentierten Zaha Hadid Architects in ihrer Wettbewerbseinreichung eine Reihe von verschiedenen Bildern auf großformatigen Paneelen, die die Entwurfsidee und das Entwurfskonzept sichtbar machten. Die Entwurfsidee wurde in Form von Handskizzen (Abb.1) fixiert und in der Folge strategisch konkretisiert. Das Entwurfskonzept basierte auf einem großen Baukörper, der von mehreren konischen Stützen (»cones«) getragen werden sollte. In drei in Abfolge gezeigten Schritten (Abb. 2) wurde die gestalterische Form aus den städtebaulichen Sichtachsen der Umgebung hergeleitet, die eine optische Verbindung von Innenstadt und VW-Autostadt schaffen sollte.9 Auf dem fast dreieckigen Grundstück neben dem Bahnhof wurden die definierten Konturen des Entwurfs grafisch festgehalten, die Umrisse von neun »cones« im nächsten Ausschnitt als Fläche verdichtet und mit den gestaltgebenden Sicht- und Blickverbindungen ergänzt. Ein Maßstabssprung fokussierte die auf zehn erweiterten konischen Stützen, deren Schnittlinienverlauf Höhe und Ausrichtung markierten. Die planimetrisch definierten Bodengrundflächen der »cones« wurden anschließend dreidimensional weiterentwickelt, deren Formgebung ein Einzelbild aus der Konzeptanimation illustrierte: Eine zweidimensionale Fläche wurde mit einem räumlichen Gitternetz überlagert und in mehreren Schritten an verschiedenen Punkten dreidimensional in die Tiefe transformiert (Abb.3). 6 Stölzl 2005 (wie Anm. 2), S. 20. 7 Zaha Hadid Architects: Science Centre Wolfsburg. In: El Croquis 103 (2001), S. 198–213. 8 Pläne, digitale Visualisierungen und Modelle wurden während der Bauphase unter anderem in den Ausstellungen »Latente Utopien. Experimente der Gegenwartsarchitektur« in Graz (2002) und »Zaha Hadid. Architektur, Architecture« im Museum für angewandte Kunst Wien (2003) und auf der 9. Internationalen Architekturausstellung der Biennale Venedig (2004) ausgestellt. 9 Zaha Hadid Architects 2001 (wie Anm. 7), S. 198. A RCHITEKTUR O HNE M ASSSTAB 281 Abb. 1: Zaha Hadid: phæno. Konzeptskizze, 1999. Die aus diesem Prozess resultierenden sich nach unten verjüngenden Volumina und das modulierte Gitternetz lassen sich heute im realisierten Gebäude sowohl in den konischen Betonraumstützen als auch am freiliegenden Raumfachwerk aus Stahl in der Ausstellungshalle wiederfinden. Die Animation des Konzepts fungierte als Phasendiagramm und diente als Illustration der konzeptuellen Formgebung und nicht die der softwarebedingten Formgenerierung.10 Der Einsatz von Software unterstützte den Entwurfsprozess und erweiterte die Visualisierungsmodi für die Architektur, die zu »notorisch ungewöhnlichen Darstellungsweisen«11 führen können: Die Intentionen und Qualitäten des ausformulierten Entwurfs wurden mit einem Rendering12 (Abb. 4) in einer von der VW-Autostadt her nordseitig 10 Zu Formfindung, Formgebung und Formgenerierung in der zeitgenössischen Architektur siehe als Einführung Carolin Höfler: Form und Feld. In: Bildwelten des Wissens 3.2 (2005), S. 64–73. Für eine detaillierte Beschreibung von Algorithmen im digitalen Architekturentwurf siehe Kostas Terzidis: Algorithmic Architecture, [Oxford, Burlington 2006], Oxford, Burlington 22007. 11 Stölzl 2005 (wie Anm. 2), S. 20. 12 »Rendering« ist als terminus technicus in der Computervisualistik und auch innerhalb der Architekturdarstellung etabliert, wird jedoch außerhalb der Fachkreise oft als Computerbild oder als Computersimulation bezeichnet. Ein Rendering ist ein zweidimensionales Pixelbild eines dreidimensionalen digitalen Entwurfs, das durch drei Prozesse hervorgebracht wird: die Modellierung, die Komposition einer Szene und das Rendern des Modells innerhalb einer Szene. Die Modellierung bezeichnet das Erstellen von einem oder mehreren dreidimensionalen Objekten mit NURBS (Non-Uniform Rational B-Splines) oder Mesh (Polygonnetz). Anschließend werden diese digitalen geometrischen Modelle in einer Szene zusammengestellt. Dabei werden den Objekten Farben und/oder Materialien zugeordnet und Lichtquellen sowie Kameraeinstellung (Brennweite, Position des Augpunktes und der Bildebene, die zusammen jene Perspektive angeben, aus der die Szene berechnet wird) definiert. Die Szene wird dann in Form von Projektionen des Modells auf eine virtuelle zweidimensionale Bildfläche durch einen Algorithmus berechnet. Abbildung und Detaillierungsgrad des digitalen Bildes hängen von den definierten Einstellungen (Helligkeit, Kontrast, Schatten, Transparenz, Farbtiefe, Bildauflösung und so weiter) innerhalb der Softwareapplikation ab. Aus einem digitalen 3D-Modell des Entwurfs lassen sich so beliebig viele Renderings mit unterschiedlichen Parametern errechnen. 282 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR Abb. 2: Zaha Hadid Architects: phæno. Ohne Titelangabe, ohne Jahresangabe. A RCHITEKTUR O HNE M ASSSTAB 283 Abb. 3: Zaha Hadid Architects: phæno. Einzelbild aus der Konzeptanimation, 2000. gesehenen Froschperspektive präsentiert. In undefinierter Präsenz schwebte das Gebäude ohne erkennbare Bodenhaftung im dimensionslosen Raum. Die nicht sichtbare Grundebene wurde nach hinten gekippt, die Weitwinkelaufnahme lenkte den Blick auf die Untersicht der zukünftigen Experimentierlandschaft phæno. Transparente Bodenverläufe, die vom Vorplatz abschüssig in das Zentrum der »cones« geführt wurden, markierten wie Bewegungsspuren die Dynamik des Entwurfs. Dem Rendering inhärent war die Überprüfung möglicher Blick- und Funktionsbeziehungen inner- und außerhalb des Gebäudes, die als ästhetische Information in Bildform gebracht wurden. Doch die Darstellungen des Entwurfs in nicht tradierten und nicht den realen Bedingungen entsprechenden Perspektiven entziehen sich mangels präziser Beschreibungen und Bezeichnungen einer konstruktiven Kommunikation. Für das Projekt phæno erwies sich dieser Umstand jedoch als Gewinn. Mit originärer Architektur, in unkonventionellen Bildern imaginiert, sollte explizit ein neues Wissenschaftsbild installiert werden, mit dem eine in ihrer Art einmalige Wissenschaftsvermittlung transportiert werden soll. Das auf zehn »cones« aufgelagerte mit den Ausmaßen von 145 m × 130 m × 97 m und 16 m hohe Gebäude wurde im November 2005 eröffnet. Den Versuch, das Bauwerk formal zu definieren, beweisen die Pressestimmen, die es hymnisch mit UFO und Raumschiff titulierten.13 Der Baukörper scheint, in der Nacht intensiviert durch dramaturgisch eingesetzte Beleuchtung, zu schweben. Für Zaha Hadid verkörpert das phæno (Abb. 5) ein 13 Siehe unter anderem www.zeit.de/2005/47/Phaeno (Letzter Zugriff: 22. August 2008). www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,386530,00.html (Letzter Zugriff: 22. August 2008). www.welt.de/print-wams/article135147/Das_Ufo_aus_Beton_ist_gelandet.html (Letzter Zugriff: 22. August 2008). 284 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR Abb. 4: Zaha Hadid Architects: phæno. Froschperspektive, Rendering, 2001. Bauwerk, in dem sich viele ihrer methodologischen Entwurfstechniken und Ideen manifestieren.14 Jahrelang wurde sie ausschließlich als »Paper Architect«15 innerhalb der Architekturszene wahrgenommen und entwickelte ihre Architektur zuerst in und durch Gemälde und Zeichnungen. Dass Architektur nur in Bilder und nicht in konkrete Gebäude münden kann, dass branchenfremde Möglichkeiten und Techniken genutzt werden, um Architektur mit und in Bildern zu entwickeln und darzustellen, ist in der Architekturgeschichte nichts Neues. Bekanntestes Beispiel in der historischen Entwicklung der Architektur ist sicherlich Giovanni Battista Piranesi, der, abgesehen von der Umgestaltung der Malteserkirche Santa Maria del Priorato in Rom, als virtuoser Kupferstecher in kunsthistorischer Erinnerung geblieben ist. Er experimentierte in seinen Bildern jedoch stets als Architekt, wie die Signaturen in seinen Arbeiten bezeugen, und nicht als Künstler.16 Einem »piranesischen« Verlauf ihrer Karriere konnte sich Hadid entziehen,17 doch hatte sie fast fünfzehn Jahre lang keine Gelegenheit, ihre Gebäudeentwürfe zu realisieren. 14 www.guardian.co.uk/artanddesign/2007/oct/17/architecture3 (Letzter Zugriff: 22. August 2008). 15 »Paper Architect« wird eine Person genannt, die in Architektur ausgebildet ist, jedoch bisher nur die Möglichkeit hatte, Ideen, Konzepte und Entwürfe auf Papier, Leinwand oder Bildschirm zu artikulieren. Giovanni Battista Piranesi kann dementsprechend als der erste berühmte »Paper Architect« bezeichnet werden. 16 Siehe Werner Oechslin: Von Piranesi zu Libeskind. Erklären mit Zeichnung. In: Daidalos 1 (1981), S. 15–19. Siehe dazu Bruno Reudenbach: G. B. Piranesi. Architektur als Bild, München 1979. 17 2004 erhielt Zaha Hadid mit dem seit 1979 jährlich verliehenen Pritzker Prize die höchste Auszeichnung der Architektur. A RCHITEKTUR O HNE M ASSSTAB 285 Ende der 1970er Jahre begann Zaha Hadid, ihre Architekturentwürfe im Stil der russischen Suprematisten zu visualisieren. Sie entwickelte diese Entwurfskonzeption weiter und begann, auf großformatigen Acrylgemälden mit verschiedenen Ausformulierungen projektiver Geometrien in verformten Perspektiven zu experimentieren. Nicht nur der Entwurf, sondern auch die Darstellung verlangte in ihren Augen eine neue Sichtweise und Interpretation von Architektur. Zaha Hadid sieht in ihren Gemälden nicht primär Repräsentationen von Gebäudeentwürfen, die zwar gemalt sind, doch über eine »artifizielle Präsenz«18 des zukünftigen Bauwerks hinausgehen: »There are a lot of images and messages in one painting.«19 Für Hadid beinhalten diese aufwendig ausgearbeiteten Gemälde die Möglichkeit, Perspektive und Isometrie in einem Bild zu kombinieren, um sich durch diese Gestaltverformungen dem Gebäudeentwurf anzunähern.20 Die Gemälde stellten allerdings nicht einen Ersatz von Plan und Schnitt dar, der Entwurf konnte nur nicht durch traditionelle Darstellungsmittel entwickelt werden, weil sie keine geeignete Orientierung für den Entwurfsprozess boten.21 Obwohl diese Darstellungstechnik viele Erkenntnisse für die weitere Entwicklung von Hadids Architektur sichtbar machte und zu einem prägnanten Erkennungsmerkmal ihrer Entwürfe wurde, trug sie zugleich auch einen Nachteil in sich, da die Architektin nun fälschlicherweise als Künstlerin wahrgenommen wurde.22 Die letzten drei Einzelausstellungen von Zaha Hadid fanden alle in etablierten Kunstmuseen statt und wurden in diesem Umfeld nicht nur von einem Fachpublikum gesehen. 2003 präsentierte sie ihre Arbeiten im Museum für angewandte Kunst in Wien, 2006 im Guggenheim Museum in New York und 2007 im Design Museum in London. In Wien flankierten eingangs großformatige Acrylgemälde aus den 1980er und frühen 1990er Jahren eine speziell für die Ausstellung geschaffene Installation. Im anschließenden Ausstellungsraum wurde die Präsentation durch gemalte Entwürfe fortgesetzt, um erst nachfolgend auf Hadids konkrete Architekturprojekte in Form von Skizzen, Plänen, Renderings und Modellen zu kommen. Die retrospektiv angelegte Ausstellung in New York war ähnlich konzipiert: Die Gemälde dienten im Guggenheim Museum als visuelle Initiierung einer kontinuierlichen Abfolge entlang der spiralförmigen Rampe in der Rotunde, die die gezeigten Gattungen Malerei, Modell, Plan und Rendering größtenteils voneinander trennte. Die gezeigten Arbeiten im Design Museum in London boten optisch, durch die Raumsituation und die Ausstellungskonzeption, eine angemessenere Verbindung der Mediennutzungen in den Schaffensphasen von Hadid. Allen drei Ausstellungen ist gemein, dass die chronologische Trennung der 18 Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005. 19 Zaha Hadid, Ivan Margolius: Paintings as Architectural Storyboards: Zaha Hadid in Conversation with Ivan Margolius. In: Architectural Design 73.3 (2003), S. 14–32; hier S. 21. 20 Ebd., S. 16. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 21. 286 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR medialen Instrumentarien der präsentierten Entwurfsprojekte den unbeabsichtigten Anschein evozierte, dass Zaha Hadid Architektinund Malerin ist, dies jedoch nie die Intention der Architektin war. Neben Zeichnungen, Gemälden, Modellen und Renderings wird der Architekturentwurf immer auch und mit Grundrissen und Schnitten entwickelt. Die einzelnen Medien beeinflussen und bereichern in wechselseitiger Reflexion und Durchdringung den Werkzyklus von Hadid. Zaha Hadids Entwurfs- und Darstellungstechniken wurden in den späten 1980er Jahren differenzierter. Gemeinsam mit ihrem Büro schuf sie in dieser Zeit durch die Erforschung23 und Verknüpfung experimenteller Gestaltfindungen einen Katalog an möglichen Entwurfs- und Darstellungsverfahren. Anfang der 1990er Jahre begannen Zaha Hadid Architects mithilfe des Computers ihre Entwürfe zu entwickeln und zu visualisieren. Der Einsatz von bis dahin ungeahnten Möglichkeiten das Formen- und Darstellungsrepertoire umfassend zu erweitern, wurde jedoch mit einem Qualitäts- und Effektverlust erkauft. Die Software macht es zwar möglich, den Entwurf aus verschiedenen Blickperspektiven zu betrachten, doch die Bildintensität und Leuchtkraft des Bildes auf dem Bildschirm lässt sich nicht auf das ausgedruckte Bild übertragen.24 Die Adaptionen von Software im Entwurf und die daraus resultierenden Projekte erweisen sich trotzdem nicht als eine Zäsur in den Arbeiten des Büros. Patrik Schumacher, langjähriger Büropartner von Zaha Hadid, unterteilt das bisherige Gesamtwerk von Zaha Hadid und Zaha Hadid Architects in prä- und (post)digital, sieht zugleich jedoch auch eine kontinuierliche Entwicklung in den Entwürfen.25 Denn trotz und gerade wegen des Einsatzes von Computerprogrammen sind sie als charakteristische Arbeiten erkennbar und »Like all the tools she has used, the computer helps Hadid become more Hadid.«26 Denn letztlich hat sich die Arbeitsweise ihres Büros mit der Einführung digitaler Medien nicht geändert. In Skizzen wird nach wie vor die Grundidee zu Papier gebracht, die von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anschließend konkretisiert und detailliert werden.27 Viele dieser Skizzen formulieren oft nur eine 23 Erforschung (Research) ist in der zeitgenössischen Architekturavantgarde ein bedeutender Bestandteil des Entwurfsverfahrens. Siehe dazu die Beiträge in: Daidalos 69/70 (1998/1999). Zaha Hadid konkretisiert ihre Überlegungen zu Research in einem Interview mit Brigitte Felderer: Research & Invention. In: Christian Reder (Hg.): Lesebuch Projekte. Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne, Wien 2006, S. 51–65. 24 Mohsen Mostafavi, Zaha Hadid: El Paisaje como Planta (una conversación con Zaha Hadid. Landscape as Plan (a conversation with Zaha Hadid). In: El Croquis 104 (2001), S. 6–35; hier S. 17. 25 Patrik Schumacher: Digital Hadid. Landscapes in Motion, [Turin 2004], Basel 2004, S. 6. 26 Joseph Giovannini: In the Nature of Design Materials: The Instruments of Zaha Hadid’s Vision. In: The Solomon R. Guggenheim Foundation New York (Hg.): Zaha Hadid, New York 2006, S. 23–32; hier S. 32. 27 Aaron Betsky: Einführung. Jenseits des rechten Winkels. In: Zaha Hadid: Das Gesamtwerk, [London 1998], übers. von Laila Neubert-Mader, Stuttgart 1998, S. 6–14; hier S. 13. A RCHITEKTUR O HNE M ASSSTAB 287 abstrakte Idee, die mitunter erst später in ein mögliches Projekt übersetzt wird. Heute digitalisiert Zaha Hadids Büro ihre skizzierten Linien am Computer, um sie in der Folge digital weiter zu entwickeln. Die ausgedruckten Formannäherungen werden dann in mehrstufigen Arbeitsschritten von Hadid immer wieder modifiziert.28 Das über die Jahre hin entwickelte Repertoire, das fortlaufend erweitert, abgewandelt und auch infrage gestellt wird, hat durch den Einfluss des Computers zwar an Variationsbreite gewonnen, doch der Entwurfsprozess selbst hat sich nicht verändert.29 Der Computer hilft Zaha Hadid nicht, ihre Ideen zu kreieren, sondern er wird als Werkzeug betrachtet, das »helps me think seriously about form.«30 Bild, Maßstab und Wissenschaft im Architekturentwurf Bilder werden im architektonischen Entwurfsprozess verwendet, um Ideen zu entwickeln, zu artikulieren und schließlich zu präsentieren. Der Architekturentwurf wird über diese nonverbalen Praktiken, durch die Umschreibung des Entwurfsgedankens in und mit Bildern, transportiert und kommuniziert. In den 1990er Jahren begann sich mit den neuen Medien31 ein in der Architektur bisher kaum gebräuchliches Instrumentarium zu etablieren. Nach anfänglichen Experimenten32 kommt Software heute systematisch im architektonischen Entwurfs- und Visualisierungsprozess zur Anwendung. Die geometrisch und programmatisch immer komplexer werdenden Architekturprojekte erfordern neue Darstellungsformen, da Grundriss, Schnitt und Ansicht in Kombination mit Perspektiven und Modellen den Entwurf nur begrenzt wiedergeben. Die Architekturpraxis des digitalen Zeitalters hat neue Bilder entwickelt, durch die neuen bildgebenden Verfahren lassen sich für die Architektur epistemische und ästhetische Erfahrungen gewinnen, die sich nur auf diesem Wege erreichen lassen. Mit dieser Novität stellt sich auch die Frage ihrer Rezeption neu, da die Grenzen zwischen digitalen algorithmischen Prozessen und kreativer Entwurfsdarstellungen immer mehr verwischen werden. 28 Yoshio Futagawa, Zaha Hadid: Interview with Zaha Hadid. In: GA Document 99 (2007), S. 8–15; hier S. 9. 29 Ebd., S. 10. 30 Ebd. 31 Für einen Überblick siehe Gerhard Schmitt: Architectura et Machina. Computer Aided Architectural Design und Virtuelle Architektur, Wiesbaden 1993. Gerhard Schmitt: Information Architecture. Basis and Future of CAAD, [Turin 1998], Basel 1999. Pierluigi Seraino: History of Form*Z, [Turin 2002], Basel 2002. 32 Beispielhaft siehe Greg Lynn: Animate Form, New York 1998. Luca Galofaro: Digital Eisenman. An Office of the Electronic Era, [Turin 1999], übers. von Lucinda Byatt, Basel 1999 und Architectural Design 70.3 (2000). 288 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR Die fortschreitende Digitalisierung der Architekturdarstellung verändert das Bild im Architekturentwurf fundamental und lässt sich nicht mit bislang vorherrschenden Architekturdarstellungen vergleichen. Die Frage nach dem Status der neuen Bildlichkeit von digitalen Architekturentwürfen kann nur durch das Wissen über den Prozess ihrer Herstellung beantwortet werden. Renderings, digitale Fotomontagen und Diagramme weisen zwar je nach Architekt unterschiedliche formale Stile auf, doch gehören sie denselben Strategien medialer Sichtbarmachung an, da sie unter ähnlichen Bedingungen und mit derselben Software hergestellt werden. Derartige Entwurfsvisualisierungen haben jedoch einen anderen Zweck als Pläne, die als konkrete Vorlage für die Realisierung eines Bauwerks dienen und sind an keinerlei Normen oder Konventionen gebunden. In der zeitgenössischen Architekturavantgarde werden Diagramme und Renderings genutzt, um Entwürfe zu entwickeln. Mit ihnen werden Ideen, Theorien und Konzepte generiert und visualisiert, sie sind Teil eines Prozesses, in dem der Entwurf kreiert und kommuniziert wird. Digitale Architekturentwurfsdarstellungen sollten jedoch nicht mit der Repräsentation oder dem Bild eines Gebäudes verwechselt werden. Sie sind die Sichtbarmachung der im Entwurf implizierten Theorie und der Entwurfsstrategie im Entwurfsprozess und kommen als Instrument der Formfindung und Formgebung in Gebrauch, ohne selbst schon die endgültige Form darzustellen. Gleichzeitig basieren diese Darstellungen auf einer hermeneutischen Analyse des genius loci, die die Parameter für weitere Bilder innerhalb des Entwurfs definieren. Digitale Architekturvisualisierungen funktionieren stets nur in Beziehung zueinander und summieren sich am Ende einer Bildfolge zum endgültigen Entwurf. Antoine Picon konstatiert in diesem Zusammenhang, dass das architektonische Bild, sobald es isoliert wird, seine Funktion verliert: Bilder müssen immer in Richtung anderer Bilder fließen.33 Schon tradierte architektonische Entwurfsdarstellungen, also Grundrisse, Schnitte, Ansichten und Perspektiven, müssen deskriptiv und narrativ gelesen werden. Einzig die Kombination aller Darstellungen eines Entwurfs kann zu einem Gesamtbild des dreidimensionalen Entwurfs führen, dessen Räumlichkeit mit nur einem Teilaspekt verloren geht.34 Treffend beschrieb Robin Evans 1986 das ambivalente Verhältnis von Architektur und Bild: Indem Architekten – im Gegensatz zu Künstlern – nie direkt am »Werk« tätig sind, sondern sich immer über das Bild als ein Zwischenmedium an den Entwurf herantasten müssen, ist die Übersetzung des Entwurfs in ein kon- 33 Antoine Picon: Architektur und Wissenschaft: Wissenschaftliche Exaktheit oder produktives Missverständnis. Architecture and the Sciences: Scientific Accuracy or Productive Misunderstanding? In: Ákos Moravánszky, Ole W. Fischer (Hg.): Precisions. Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst. Architecture between Sciences and the Arts, Berlin 2008, S. 48–81; hier S. 69. 34 Siehe Rudolf Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, [Berkeley 1977], übers. von Hans Hermann, Köln 1980, S. 61. A RCHITEKTUR O HNE M ASSSTAB 289 kretes Gebäude immer schwierig.35 Drei Jahre später kam Evans schließlich zu der Überzeugung: »Architects do not make buildings; they make drawings of buildings.«36 In der Architektur bergen diese Zwischenmedien ein Dilemma: Da zu keiner Zeit direkt am »Endprodukt« gearbeitet wird, ständig zwischen verschiedenen Maßstäben changiert wird, kann trotz zahlreicher Pläne, Bilder und Modelle der reale Maßstab des zukünftigen Gebäudes letztlich nie vollkommen richtig eingeschätzt werden.37 Mit der Differenzierung des Entwurfs, die nicht chronologisch erfolgen muss, ändern sich die Maßstäbe: Von der städtebaulichen Einordnung des Entwurfs in Lagepläne über die Konzeption in Entwurfspläne, zur Ausformulierung in Baupläne bis hin zur definitiven Präzisierung in Detailpläne. Nachdem jedoch das Bauwerk vorrangig kein Kunstobjekt38 ist, sondern immer im Sinne eines Gebrauchsgegenstandes, nutzbar sein muss, ist der Mensch letztlich das physische Maß in der Architektur.39 Die digitale Darstellung des zukünftigen Gebäudes in Plan und Bild hat unterschiedliche Parameter zur Ermittlung des Maßstabs. Während Pläne immer maßstäblich40 sind und selbst bei nichtmetrischer Skalierung durch Bemaßung lesbar sind, sind perspektivische Renderings nie objektiv.41 Farbintensitäten, Materialeigenschaften, Objekttransparenz, Definierung des Augpunktes, Brennweiten der Kamera und Licht- wie Schatteneinstellungen bieten ein ganzes Spektrum von Manipulationsmöglichkeiten und machen es schwierig, die Dimensionen der 35 Robin Evans: Translations from Drawing to Building. In: ders.: Translations from Drawing to Building and Other Essays, [London 1986], London ²1997, S. 153–193; hier S. 156. 36 Robin Evans: Architectural Projection. In: Eve Blau, Edward Kaufman (Hg.): Architecture and Its Image. Four Centuries of Architectural Representation, Montreal 1989, S. 18–35; hier S. 21. 37 Zaha Hadid bemerkte 2007 in einem Interview anlässlich ihrer Ausstellung im Design Museum London, dass es immer eine »nice surprise« ist, wenn man ein geplantes Gebäude in seinem realisierten Ausmaß sieht. Siehe http://zahahadidblog.com/movies/2007/11/19/ zaha-hadid-interview-part-4-121007#more-412 (Letzter Zugriff: 22. August 2008). 38 Die kontinuierlich geführte Debatte, ob die Architektur nun näher bei der Kunst oder mehr bei der (Natur)Wissenschaft zu verorten ist, wurde in den letzten zehn Jahren durch folgende Publikationen geprägt: Peter Galison, Emily Thompson (Hg.): The Architecture of Science, Cambridge (Mass.), London 1999. Antoine Picon, Alessandra Ponte (Hg.): Architecture and the Sciences. Exchanging Metaphors, New York 2003. Ákos Moravánszky, Ole W. Fischer (Hg.): Precisions. Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst. Architecture between Sciences and the Arts, Berlin 2008. 39 Für Raumhöhen, Türbreiten, Stufenhöhen und Rampenneigungen, um nur einige Vorgaben zu nennen, gelten auf das menschliche Maß genormte Mindestdimensionen. 40 In der digitalen vektorbasierten Darstellung wird grundsätzlich 1:1 gezeichnet. Die Definition der Skalierung kommt erst beim Ausdruck zum Tragen. 41 Der jahrhundertealte Diskurs, ob die »illusionistische« Perspektive das adäquate Mittel ist, um Architektur darzustellen, hat sich in der Renaissance zu einem ideologischen Theorienstreit entwickelt. Siehe dazu Werner Oechslin: Geometrie und Linie. Die Vitruvianische »Wissenschaft« von der Architekturzeichnung. In: Daidalos 1 (1981), S. 20–35. 290 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR dargestellten Architekturentwürfe in Renderings adäquat zu erfassen. Der Verlust von Lesbarkeit und Maßstab wird oft schon im Entwurf selbst deutlich, da dessen Darstellung am Computerbildschirm nicht erkennen lässt, ob es sich um »molecules, spaceships, planets, or constellations«42 handelt. Identifizierbare Formen müssen als visuelle Maßstäbe in Relation gesetzt werden, um das Ausmaß des zukünftigen Gebäudes bewerten zu können. Ohne bildliche Äquivalenzen wie Menschen,43 Fahrzeuge44 oder Treppenstufen45 verliert die digitale Architekturvisualisierung ihren Maßstab46 und damit ihre Lesbarkeit. Nach Vilém Flusser werden durch die »Digitalisation« alle Kunstformen zu präzisen Wissenschaften.47 Jean Baudrillard, der mit Flussers Theorien argumentiert, registriert mit dem Einzug des Computers in die Architektur den digitalen Entwurf als ein, durch Software determiniertes »technisches Dispositiv«.48 Die Tatsache, dass in der Architektur gestalterische Möglichkeiten immer schon von den angewandten Verfahrenstechniken beeinflusst waren, hat sich mit dem Einzug des Computers nicht geändert. Die Software gibt zwar das Setting (als Werkzeug) vor, die operativen Entscheidungen trifft jedoch nach wie vor der Architekt. Wenn wissenschaftliche Forschung als ein zweistufiges Verfahren mit Experiment und der daran anschließenden Theoriefindung verstanden werden kann, dann gleichen die Entwurfsprozesse der zeitgenössischen Architekturavantgarde dem modus procedendi der Wissenschaft. Ausgangspunkt dieses Prozesses ist die Problemformulierung, die Entwurfsaufgabe. Der Architekt bestimmt das Experiment, analog oder digital, und findet mit und durch dieses zu einer Gestalt der Form.Allein die Experimentbestimmung,egal ob in derWissenschaft oder in der Architektur, benötigt einen kreativen Akt, um am Ende die »ausgewerteten« Ergebnisse in eine Theoriefindung kumulieren zu lassen. Die Entwurfsstrategie in der Architektur mündet damit in eine praktizierende Entwurfstheorie der Architektur.49 42 Antoine Picon: Architecture, Science, Technology, and the Virtual Realm. In: ders., Alessandra Ponte (Hg.): Architecture and the Sciences. Exchanging Metaphors, New York 2003, S. 292–313; hier S. 307. 43 Hierbei werden Flächen mit menschlichen Umrissen oder in Photoshop »freigestellte« Fotografien von Menschen, beide Möglichkeiten werden mit einer 180 cm Durchschnittskörpergröße angesetzt, als Staffage im Bild platziert. 44 Dimensionen von Fahrzeugen können wegen ihrer, auf den Mensch angepassten, Dimensionen, als visueller Vergleich dienen. 45 Höhen von Treppenstufen variieren immer zwischen 12 und 20 cm. 46 Türhöhen, Fensteröffnungen oder Nebengebäude sind, wegen ihrer heterogenen und nicht genormten Erscheinungsformen, als visueller Maßstab ungeeignet. 47 Vilém Flusser: Digitaler Schein. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt am Main 1991, S. 147–159; hier S. 158. 48 Jean Baudrillard: Architektur: Wahrheit oder Radikalität?, übers. von Colin Fournier, Maria Nievoll und Manfred Wolff-Plottegg, Graz 1999, S. 25. 49 Die Entwurfstheorien von Zaha Hadid Architects lassen sich bei Patrik Schumacher, der sich auf Imre Lakatos und Thomas S. Kuhn beruft, nachlesen. Für einen Überblick und eine Auswahl an Texten siehe www.patrikschumacher.com (Letzter Zugriff: 22. August 2008). A RCHITEKTUR O HNE M ASSSTAB 291 In der Produktion von Prozessen und deren Sichtbarmachung innerhalb der Entwürfe lassen sich so Äquivalenzen zur Wissenschaft finden.50 Das Entwurfsverfahren und die Bildgenese können mit ausreichenden Fachkenntnissen um die softwarebedingten Operationen und Optionen anhand der visuellen Dokumente überprüft werden. Dass das Wissen um die spezifischen Kriterien, die Entscheidungen zur Formgebung und in Folge zur Sichtbarmachung definieren, wird evident, denn nur so lassen sich digitale Architekturbilder in ihrem ästhetischen Potenzial bewerten. Die Methodologie, offen gelegt mit dem bildlich festgehaltenen Entwurfsprozess, muss für einen wissenschaftlichen Anspruch sichtbar gemacht werden und wiederholbar sein. Für die Architektur gelten hier andere Parameter, denn eines hat sich in der Geschichte der Architekturpraxis nicht geändert: Die Entwurfsbewertung erfolgt immer nach funktionalen und ästhetischen Kriterien. Mit der Präsentation der Entwurfsidee, die über eine reine Darstellung hinausgeht, wird die Entwurfsphilosophie im Bild zur Anschauung gebracht und als visuelle Argumentation kommuniziert. Nicht nur die definierte Gestalt als Endergebnis, sondern auch Teilergebnisse von Entwurfsstudien, verkörpert in Modellen, Diagrammen und Renderings, verweisen in Veröffentlichungen51 auf die konzeptionelle und strategische Formgebung. Neben normierten Plandarstellungen etablieren sich damit neue Darstellungskonventionen mit Hilfe von digitalen Bildern, die durch ihre argumentative Bedeutungsverschiebung überdeterminiert sind. Grundrisse, Schnitte, Ansichten, Renderings und Diagramme in unterschiedlichen Skalierungen und Detaillierungen vereinen die Entwurfsidee, die Entwurfsstrategie und den Entwurfsprozess und machen ästhetische Leitbilder sichtbar. Auch wenn der Computer Entwürfe und Visualisierungen geometrisch und programmatisch erst möglich macht,52 zu einem »besonders kreativen Feld der Computerkunst«, wie es Jürgen Paul 1990 zu diagnostizieren versuchte,53 hat sich die Architektur nicht entwickelt. Seit der Einführung der digitalen Medien54 instrumentalisiert die Architekturpraxis branchenfremde Software, wie heute 50 Siehe Gottfried Boehm: Zwischen Auge und Hand: Bilder als Instrumente der Erkenntnis. In: Jörg Huber, Martin Heller (Hg.): Konstruktionen – Sichtbarkeiten, Zürich 1999, S. 215–227; hier S. 227. 51 Exemplarisch siehe Ben van Berkel, Caroline Bos, UN Studio: Move, Amsterdam 1999. Reiser + Umemoto: Atlas of Novel Tectonics, New York 2006. Ali Rahim: Catalytic Formations. Architecture and Digital Design, London, New York 2006. 52 Für frühe digitale Architekturvisualisierungen, die aber noch nicht dem heutigen Rendering gleichgesetzt werden können, siehe Joseph Deken: Computer Images. The State of the Art, London, New York 1983. 53 Jürgen Paul: Der Architekturentwurf im 20. Jahrhundert als kunsthistorisches Arbeitsfeld. In: Stefan Kummer, Georg Satzinger (Hg.): Studien zur Künstlerzeichnung. Klaus Schwager zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1990, S. 308–321; hier S. 312. 54 Siehe William J. Mitchell: Computer-Aided Architectural Design, New York 1977. Alfred M. Kemper (Hg.): Pioneers of CAD in Architecture, Pacifica 1985. 292 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR Abb. 5: phæno. Fotografie, 2008. beispielsweise Maya,55 deren Optionen zur Sichtbarmachung allerdings zuerst einen neuen Bildbegriff erfordern.56 Eine Neukontextualisierung, wie sie in den 1960er und 1970er im Umfeld der Kybernetik 57 erfolgte, als Wissenschaftler als Pioniere der Computerkunst rekrutiert wurden,58 lässt sich in der Architektur dann lokalisieren, wenn das digitale Entwurfsbild auf seine visuelle Erscheinung reduziert und isoliert wird. phæno im phæno 59 Im Mittelpunkt einer im März 2007 im phæno eröffneten Sonderausstellung stand ein 1 m × 1,5 m großer Holografie-Großdruck, der die gebaute Architektur als Raumschiff im Anflug zur Erde illustrierte (Abb.6). In dynamischem Weitwinkel 55 Die Software für 3D-Modellierung, Animation, visuelle Effekte und Rendering wurde ursprünglich von Alias Systems Corporation entwickelt und wird heute von Autodesk vertrieben. 56 Vgl. Barbara Nierhoff-Wielk: Ex Machina – Die Begegnung von Computer und Kunst. Ein Blick zurück. In: Wulf Herzogenrath, dies. (Hg.): Ex machina – frühe Computergrafik bis 1979. Die Sammlungen Franke und weitere Stiftungen in der Kunsthalle Bremen. Herbert W. Franke zum 80. Geburtstag, München 2007, S. 20–57; hier S. 22. 57 Einen aktuellen Überblick bieten unter anderem Wulf Herzogenrath, Barbara NierhoffWielk (Hg.): Ex machina – frühe Computergrafik bis 1979. Die Sammlungen Franke und weitere Stiftungen in der Kunsthalle Bremen. Herbert W. Franke zum 80. Geburtstag, München 2007. Christoph Klütsch: Computergrafik. Ästhetische Experimente zwischen zwei Kulturen. Die Anfänge der Computerkunst in den 1960er Jahren, Wien 2007. 58 Claus Pias, Gabriele Werner: Kunst und Kybernetik. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Claus Pias. In: Bildwelten des Wissens 5.1 (2007), S. 77–86; hier S. 83. 59 Ich danke an dieser Stelle der phæno GmbH in Wolfsburg und Dietmar Öhlmann von Syn4D GmbH in Braunschweig für die hilfreichen Informationen. A RCHITEKTUR O HNE M ASSSTAB 293 Abb. 6: Syn4D: phæno. Rendering des Hologramms, 2007. Siehe auch Farbtafel VII. ist das phæno über dem hell schimmernden Planeten in den von Sternen erleuchteten kosmischen Raum gesetzt, die Vertiefungen der Kassettendecke sind in blassem Blau illuminiert, die vom Boden gelösten »cones« glühen rot wie Antriebe. Andreas Ruby sieht bereits in der Gestalt von Zaha Hadids Architektur etwas Maßloses, indem er den von der Skizze zum Gebäude transformierenden Entwurf, dem auf die Erde aufsetzenden Raumschiff gegenüberstellt. Er argumentiert, dass schon in ihren Bildern die Formen grenzenlos im Raum schweben, indem es »kein Oben und kein Unten, kein Vorne oder Hinten« gibt.60 Das Hologramm,61 das seinen Platz in der Dauerausstellung fand, macht eine einzigartige Verdoppelung der Präsenz des Entwurfs sichtbar: Die bildliche Darstellung des phæno wird gleichzeitig zu einem Exponat im phæno. Der dreidimensional entwickelte und im Gebäude materialisierte Entwurf findet als in einen 60 Andreas Ruby: Multiple Horizonte. Oder: Wie man Gebäude landen lässt. Über ein Leitmotiv in der Architektur von Zaha Hadid. In: Peter Noever (Hg.): Zaha Hadid. Architektur, Ostfildern-Ruit, Wien 2003, S. 59–62; hier S. 59. 61 Auf der Grundlage des, von Zaha Hadid Architects zur Verfügung gestellten, digitalen 3DModells des Entwurfes, definierte Dietmar Öhlmann (Syn4D) die räumliche Position, Perspektive und Animation. Das mit Texturen und Beleuchtungen ausgearbeitete und in Szene gesetzte, digitale 3D-Modell bildete die Basis, um die Parameter für die Kamerafahrt in 294 N ICOLE E. S TÖCKLMAYR digitalen Rahmen gesetzte Abbildung in die gebaute Architektur zurück. Die Betrachtung des phæno von einer, unter der normalen Augenhöhe liegenden südwestseitigen Perspektive, ähnlich der Froschperspektive (Abb. 4) aus der Entwurfsphase, hat eine interessante Konsequenz zur Folge: Durch die vollkommen losgelöste Darstellung des Architekturentwurfs vom städtebaulichen Kontext, gibt es keine Möglichkeit, Rückschlüsse auf den tatsächlichen Maßstab und auf die zu Grunde liegende Bedeutung, des Objektes einerseits und des Bildes andererseits, zu ziehen. Hier zeigt sich, dass die digitale Visualisierung mit ihrer signifikanten Ästhetik, zu einer Bedeutungsverschiebung führt, wodurch der architektonische Entwurf nicht mehr als Architektur erkennbar ist. Die Reduktion auf piktorale Effekte des digitalen Architekturbildes verändert dessen Status und dessen epistemische Funktion. Durch diese Verschiebung wird das architektonische Bild zu einem Artefakt transformiert und impliziert damit eine Veränderung der Wahrnehmung von Form und Gestalt.62 Die digitale Visualisierung des architektonischen Entwurfs entzieht sich jedoch nicht per se ihrer Maßstäblichkeit. Erst wenn es auf seinen ästhetischen Eigenwert reduziert und isoliert wird, kann das Architekturbild seine ursprüngliche Bedeutung verlieren. Das digitale Architekturbild erscheint erst durch diese Artefaktbildung maßlos. 2.500 verschiedenen Perspektiven zu rendern. Diese errechneten Einzelbilder wurden danach mit einer speziellen Software in ihre einzelnen Pixel zerlegt und in einem holografischen Pixel (»sub-holograms«) zusammengefasst. Die »sub-holograms« summierten sich anschließend zu jenem holografischen Fenster, das heute im phæno ausgestellt ist. 62 Eine nichtrepräsentative Umfrage am 29. März 2008 im phæno führte zu folgendem Ergebnis: Neun von zehn Personen (Kinder und Erwachsene) identifizierten im Hologramm ein Raumschiff und nicht das phæno als Raumschiff. Die zehnte Person hatte vor meiner Befragung die Bildunterschrift gelesen. 17 An den Grenzen des Darstellbaren Bilder in der neueren astrophysikalischen Bildgebung J AMES E LKINS In letzter Zeit haben sich die Astrophysiker schlechte Rezensionen von der Kunstszene eingehandelt, weil sie »pretty pictures – hübsche Bilder«, wie die Wissenschaftler sie nennen, verbreitet haben: Frisierte Versionen von legitimen Fotografien mit intensivierten oder verfälschten Farben. Hübsche Bilder verkaufen sich gut als Kunstkalender und helfen offensichtlich, die Öffentlichkeit auf unbemannte Weltraummissionen aufmerksam zu machen. Aber solche Bilder haben auch eine weitere Entfremdung zwischen seriösen Kunstschaffenden und seriösen Wissenschaftlern bewirkt. Um das Auseinanderdriften dieser beiden Sphären soll es im folgenden Beitrag gehen.1 Die schlechte Reputation der Astronomie Die Ästhetik der »pretty pictures« der Astronomie wurde von dem Kunsthistoriker Sam Edgerton und dem Wissenschaftssoziologen Michael Lynch untersucht und sie kamen zu dem Schluss, dass Astrophysiker, die solche Bilder produzieren, nicht nach irgendeiner bestimmten Ästhetik vorgehen.2 Auch wenn dem so ist, so haben doch die Farben und die Gestaltung der hübschen Bilder der Astronomen den Science-Fiction Taschenbuchumschlägen, Maxfield Parrish, Fantasy-Kunst, Hollywood Spezialeffekten und den grellen Farben der Illustriertenbilder ab den 1950er Jahre sehr viel zu verdanken – Bilderquellen, die so gut wie nichts mit der zeitgenössischen Kunst zu tun haben – außer vielleicht als Zitate. Auch engagierte Amateurastrofotografen, die teure CCD Kameras, ›gas-hypered‹ Filme und leistungsstarke Teleskope benutzen, versuchen, ihren Bildern soviel Farbe und Dramatik wie möglich zu geben. 1 Dieser Aufsatz ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel ›Astronomy‹ meines jüngsten Buches: James Elkins: Six Stories from the End of Representation. Images in Painting, Photography, Astronomy, Microscopy, Particle Physics, and Quantum Mechanics, 1980–2000, Stanford 2008, S. 87–116. 2 Die Arbeit von Edgerton und Lynch wird behandelt in James Elkins: The Domain of Images, Ithaca 1999, S. 10–12. 296 J AMES E LKINS Einige seriöse Künstler haben versucht, Astronomiebilder zu bearbeiten, aber sie sind ein heimtückisches Modell. 2006 zeigte Thomas Ruff einige vorgefundene Bilder von Sternenfeldern in monumentalem Format, aber ihrer ursprünglichen Zusammenhänge beraubt, wirken sie lediglich dekorativ und vielleicht auch ein wenig erhaben.3 Selbst Vija Celmins nüchterne und ehrgeizige Gemälde von Sternenfeldern können hoffnungslos kitschig wirken, wenn dem Betrachter bewusst wird, dass die Pünktchen oder Farbtupfer nicht auf Larry Poons oder Georges Seurat zurückgehen, sondern vielmehr auf Sky and Telescope.4 Die Sternenfeld-Gemälde von Celmins sind verlockend, weil sie einige Sterne unscharf werden lässt, und dies ihre Bilder wie Nahaufnahmen von schwebenden Teilchen in Seifenlauge aussehen lässt. Aber ihre Gemälde von Galaxien sind genau das: astronomische Bilder, die zufällig auf Leinwand gemalt sind. (Ich finde, Celmins beste Arbeiten behandeln Sujets, die nicht durch astronomische hübsche Bilder infiziert sind, wie zum Beispiel gemusterte Meereswellen und anonyme Abschnitte von Kies oder Erde.) Die gleichen Schwächen plagen seriöse Fotografen, die von NASA-Negativen hergestellte astronomische Bilder und ›art prints‹ verwenden, wie bei Michael Light.5 Manche Fotografien von Light sind unheimlich; ihre »prinzipielle nicht-von-dieser-Welt-Qualität« ist »das Schwarz, das vom Weltall in die Bilder hineinsickert«,6 wie ein Kritiker schrieb. Aber die meisten sind peinliche Übertragungen gewöhnlicher spätromantischer Landschaftsmalerei und -fotografie auf Sujets wie Mondspaziergänge. Das Weltall verträgt sich nicht gut – oder noch nicht – mit den zentralen Themen der Malerei. In den wunderbaren Worten von T.J. Clark: »Von den Resten der Wissenschaft wird die Malerei selten satt«.7 Zuviel des Nachthimmels wurde für Hollywood-Weltraumopern und überdramatisierte Public Relations Bemühungen kooptiert, um für die seriöse Malerei nützlich zu sein. Im Herbst 1979 hat Carl Sagan bei einem Vortrag an der Cornell University die ersten Ergebnisse der Voyager Mission zum Jupiter vorgestellt. Er sagte, für ihn übertreffen die Aufnahmen des großen roten Flecks auf dem Jupiter bei weitem die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts – wie ich mich erinnere, sagte er etwa: »diese [Fotos] sind viel schöner als alles, was Künstler produziert haben« –, aber die Bilder, die er zeigte, 3 Bevilacqua La Masa Foundation, Galleria di Piazza San Marco, Venedig, 16. Juni – 15. Oktober 2006. 4 Judith Tannenbaum (Hg.): Vija Celmins, Philadelphia 1992. James Lingwood (Hg.): Vija Celmins, Madrid 1996. Auch enthalten in Miho Akioka, Bernard Borgeaud, et al. (Hg.): Another Photography: Rethinking the Concept of Photography, Tokyo 1996, S. 28–34. 5 Eine Kunstfotografin, zum Beispiel, die Bilder aus der Astronomie verwendet, ist Pamela Bannos. Siehe Pamela Bannos, Farhad Zadeh: Imaging and Imagining Space, A Collaboration Between Art and Science, Evanston 2001. 6 Oliver Morton: Rezension von Michael Light: Full Moon, London 1999. In: Times Literary Supplement, 20. August 1999, S. 16 –17; Zitat S. 16. 7 Timothy J. Clark: Farewell to an Idea. Episodes from a History of Modernism, New Haven, London 1999, S. 215. A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 297 Abb. 1 a–b: Oben: Gravitationslinse im Hubble Deep Field South, HDFS 2232509-603243. Unten: Mathematisches Modell der Gravitationslinse. standen in keinem Zusammenhang mit der Malerei und taugten daher nicht einmal als Modelle. Die sämigen Strudel von giftigem Gas waren sehr beeindruckend, aber sie haben mehr Ähnlichkeit mit marmorierten Vorsatzblättern des 18. Jahrhunderts oder Hippie-Zeichentrickfilmen der 1960er Jahre, als mit der Abstraktion des 20. Jahrhunderts.8 So bizarr und öde die Bilder auch sein mögen – und sie 8 Zum Beispiel: vraptor.jpl.nasa.gov/voyager/images/redspotx.gif. http://voyager.jpl.nasa.gov/ science/images/2.jpg (Letzter Zugriff: 10. Oktober 2007). 298 J AMES E LKINS halten sich gut, in dem Sinn, dass es immer noch nichts Vergleichbares gibt – sie haben keinen formalen Bezug zur Malerei. Jenseits des Giftbrunnens von Sentimentalität und Sensationalismus gibt es eine wahrhaftig schöne Wüste von astronomischen Bildern, die nicht versuchen, hübsch zu sein. Viele sind aus Versuchen hervorgegangen, zunehmend lichtschwächere Objekte in zunehmend größeren Entfernungen zu sehen. Die Umrisse sind so schwach, dass Filme oder CCD-Festplatten sie kaum aufzeichnen; Bilder, die weit entfernt sind von den stürmisch strudelnden Galaxien der NASA-Pressemitteilungen. Professionelle Astronomiefachzeitschriften publizieren selten Farbfotografien von Himmelsobjekten, weil Farbe preiswerter in schwarz-weiß kodiert werden kann; und sie halten sich äußerst selten mit den bekannten Objekten auf – Andromeda, Krebsnebel, Pleijaden oder Pferdekopfnebel –, die immer noch die Einbildungskraft der Menschen beschäftigen. Es ist nicht leicht, einen Eindruck von der visuellen Fragilität solcher Objekte zu vermitteln. Selbst in einer klaren Nacht kann das Auge die Dunkelheit nicht weit genug durchdringen, um die Hellsten von ihnen zu sehen. Sie sind nicht nur jenseits des normalen Sehvermögens, sie sind weit außerhalb davon, um viele Größenordnungen. Sie sind auch zu klein um gesehen zu werden, weil sie so weit entfernt sind. Es gibt viel wunderbares schwaches Licht am Nachthimmel, das man mit bloßem Auge sehen kann – beispielsweise das Leuchten des Nachthimmels und das Zodiakallicht – aber die Objekte, um die es hier geht, gehören nicht dazu.9 Die Bilder, die Astrophysiker interessieren, werden von sehr teuren Instrumenten eingefangen, und wir bekommen sie, ähnlich wie Kant seine Bilder von Vulkanen und anderen Naturwundern, über Bücher vermittelt. Mathematik und Unendlichkeit Als Kant eine seiner Arten des Erhabenen mathematisch nannte, meinte er nicht, dass Algebra involviert sei, sondern dass die bloße Größenordnung von Objekten, wie die des Sternenhimmels, mathematische Konzepte beschwören, die der Intuition unzugänglich sind, wie die Leere und die Unendlichkeit.10 Der grundsätzliche Unterschied zwischen Kants Beispielen und wirklichen Bildern ist, dass Bilder – auch wissenschaftliche Abbildungen – nie dem Unendlichen nahe kommen. Im Grunde versuchen wissenschaftliche Bilder, unfassbare Objekte mittels Mathematik der realen Welt zu umfassen. Dinge wie Sterne haben – in den wunderbaren Worten von Burke ausgedrückt – »eine Art Unendlichkeit«, aber sie ist mess9 Die verschiedenen Lichter des Abendhimmels sind beschrieben in: James Elkins: How to Use Your Eyes, New York 2000, S. 212–217. 10 In diesem Zusammenhang siehe die sorgfältigen Darstellungen in Louis Roy: Kant’s Reflections on the Sublime and the Infinite. In: Kant-Studien 88 (1997), S. 44–59 und Malcolm Budd: Delight in the Natural World: Kant on the Aesthetic Appreciation of Nature, Part III: The Sublime in Nature. In: British Journal of Aesthetics 38 (1998), S. 233–250. A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 299 bar kleiner als das Unendliche.11 Dies ist Grund genug, sich das Erhabene abzuschminken, selbst wenn es außerhalb der postmodernen Kunst breite Verwendung fände. Der Gravitationslinseneffekt ist mein erstes Beispiel aus der Astronomie: Gravitationslinsen kommen zum Beispiel vor, wenn das Licht von einer entfernten Galaxie durch die Masse einer zweiten davorliegenden Galaxie abgelenkt wird, die näher zum Betrachter liegt. Nach den Formeln von Einstein wird die nähere Galaxie als Linse fungieren, biegt sie doch das Licht von der Hintergrund-Galaxie um sich; im Idealfall wird das Bild der ferneren Galaxie in vier Teile fragmentiert (das ›Einsteinkreuz‹), aber häufiger zerfällt das Bild in viele unregelmäßige Teile. Die Konfigurationen der Linse können durch dezidiert endliche Mathematik studiert werden. Die Abbildung 1a ist ein kleines Detail aus einem »deep-sky image« einer extrem lange belichteten Himmelsregion, Hubble Deep Field South genannt. In diesem Ausschnitt liegt eine orangefarbene ellipsenförmige Galaxie auf der gleichen Sichtlinie wie eine bläuliche Galaxie, die viel weiter weg ist. Die entferntere Galaxie erscheint um die Ränder der näheren Galaxie herum, wie ein Bild, das durch das runde Glasstück einer Flasche gekrümmt wird. Die großen Pixel zeigen an, dass dieses Bild nahe an der Grenze der Auflösung des Teleskops ist. Rennan Barkana, Roger Blandford und David Hogg vom Institute for Advanced Study in Princeton haben das Bild durch weitere Reduktion analysiert – eine typische mathematische Strategie. Sie nehmen an, dass die Galaxie im Vordergrund vollkommen sphärisch ist und der bläuliche Streifen oben rechts in vier Komponenten aufgeteilt werden kann: Sie beschriften die Komponenten im Uhrzeigersinn A, B, C (der schwächere längliche Streifen) und D.12 Sie ignorieren den blauen Punkt oben links und postulieren, dass eine spätere Untersuchung diesen erfassen könnte. Mit diesen Vereinfachungen testen sie verschiedene mathematische Modelle, um herauszufinden, welches Modell mit den Daten am besten übereinstimmt, »den besten Fit produziert«. Mit anderen Worten: Sie fangen wieder bei Null an, indem sie die Einsteinschen Gleichungen mit Zahlen füttern, um so zu versuchen, das Teleskopbild möglichst gut reproduzieren zu können. Gravitationslinsen beinhalten exakte relativistische Gleichungen, die auf ungenaue Linsen (die Linsen-Galaxien bestehen aus Sternen; sie sind daher ›grobkörnig‹ und weisen keine perfekte Übereinstimmung mit mathematischen Modellen auf ) und unvollständigen Beobachtungen (diese Galaxie wird nur durch ein paar 11 Edward Burke: A Philosophical Enquiry, hg. von Adam Phillips, Oxford 1990, S. 71: »Besides, the stars lye in such apparent confusion, as makes it impossible on ordinary occasions to reckon them. This gives them the advantage of a sort of infinity.« 12 Rennan Barkana, Roger Blandford, David Hogg: A Possible Gravitational Lens in the Hubble Deep Field South. arxiv.org/abs/astro-ph/9812273v2, 7. Januar 1999 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). Die Linse ist auch kurz besprochen in Barkana and Hogg: Gravitational Lensing of High Redshift Sources. arxiv.org/abs/astro-ph/0001325v1, 19. Januar 2000 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 300 J AMES E LKINS Abb. 2: Das Hubble Deep Field North (HDF-N), Ausschnitt. Hundert Pixel repräsentiert und nicht durch die Sterne und Staubpartikel, aus denen sie besteht) angewandt werden. Innerhalb dieser Grenzen sagen die Gleichungen voraus, dass eine Gravitationslinse multiple Bilder produzieren wird, die durch Winkelabstände proportional zur Quadratwurzel der Linsenmasse getrennt sind.13 Je genauer die Linse modelliert wird, desto besser die Schätzung der Anzahl und Positionen der Bilder. 13 Zur Geometrie von Gravitationslinsen siehe Joachim Wambsganss: Gravitational Lensing: A Universal Astrophysical Tool. arxiv.org/abs/astro-ph/0012423v1, 20. Dezember 2000 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). Eine interessante Meditation über verwandte optische Phänomene bietet Lawrence Mertz: Excursions in Astronomical Optics, New York 1996, S. 128 –137. A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 301 In diesem Fall trifft eines der astronomischen Modelle das Phänomen ziemlich genau (Abb. 1 b). Das mathematische Modell der Linsengalaxie wird hier teilweise visualisiert als Tangentialkaustik (die kleine Sternenform in der Mitte) und als eine sie umgebende kritische Kurve (das punktierte Oval). Die Gleichungen sagen fünf gebrochene Bilder der Hintergrundgalaxie voraus (dargestellt als kleine offene Kreise). Dabei wäre das Bild in der Mitte zu schwach, um sichtbar zu sein, da es in direkter Linie mit dem Zentrum der Linsen-Galaxie läge und das Bild unten links können sie nicht entdecken, weil seine Intensität unterhalb der Nachweisgrenze liegt.14 Die übrigen drei Bilder (oben rechts) stimmen perfekt überein: Die mit x markierten Stellen zeigen die tatsächlichen Positionen der Bilder A, B und D. Barkana, Blandford und Hogg sind sogar in der Lage vorherzusagen, dass andere Galaxien, die nicht in diesem Bild zu sehen sind, an der Linsen-Galaxie ziehen und sie dabei verzerren.15 Auf diese Weise wird ein Objekt, das so klein und verschwommen ist, dass man es kaum analysieren kann, noch weiter reduziert, bis der Fit mit der zur Verfügung stehenden Mathematik akzeptabel ist.16 Was hier am Werk ist, ist nicht eine abstrakte Unendlichkeit im Sinne Kants sondern eine Reihe spezieller Beobachtungen und Gleichungen. Die Wissenschaftler wären die Ersten, die zustimmen würden, dass mit einer höheren Auflösung und der Möglichkeit, schwächere Helligkeiten zu erfassen, die Mathematik die Objekte präziser abbilden könnte; doch in diesem Bereich – zwei Objekte auf der halben Distanz des sichtbaren Universums – wird keine Mathematik völlig adäquat sein. Die gelbe Galaxie – ein nahezu unvorstellbares Objekt – ist gerade noch zu sehen, und sie verdeckt die blaue Galaxie, die noch mysteriöser, noch weniger gut sichtbar und noch weiter entfernt in den ›unendlichen‹ Weiten des Weltraums ist. Das schmucke Diagramm ist ein Zeugnis menschlicher Unzulänglichkeit, denn es liefert uns das Beste, was die Mathematik zu bieten hat. Die nicht-kantische Aussage, die ich hier treffen möchte, lautet: Dieses Bild ist nicht interessant, weil es eine Begegnung mit der Unendlichkeit darstellt, sondern weil es sich auf etliche spezifische Gleichungen und auf die spezifischen Bedingungen der Beobachtung stützt – diese Trübung, diese Schwäche, diese relativen Entfernungen. Das Bild und die Grafik scheitern auf ergreifende und präzise Weise in zweifacher Hinsicht. Das farbige Bild ist gerade noch scharf genug, um etwas erkennen zu können, um zu beweisen, 14 Der zentrale Punkt ist eine Singularität mit unendlicher Dichte, daher gibt es formell keinen fünften Punkt in diesem Modell. Mein Dank gilt Rennan Barkana für die Klarstellung. 15 Für andere Beispiele siehe insbesondere: P. Wozniak et al.: The Optical Gravitational Lensing Experiment Monitoring of QSO 2337+0305. arxiv.org/abs/astro-ph/9904329v2, 26. April 1999 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 16 Auf der anderen Seite kann die Mathematik sehr leicht das Beobachtbare übertreffen, wenn ausschließlich ideale Bedingungen (anders als reale irreguläre Galaxien) in Betracht gezogen werden. Siehe K. S. Virbhadra, George Ellis: Schwarzschild Black Hole Lensing. arxiv.org/ abs/astro-ph/9904193v1, 15. April 1999 (v2 vom 19.1.2000) (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). Die Autoren weisen darauf hin, dass es im Bereich eines schwarzen Lochs multiple, teilweise unaufgelöste Bilder des gesamten Universums geben wird. 302 J AMES E LKINS Abb. 3 a–b: Oben: Sternbilder der südlichen Hemisphäre, Sternbild Tukan im Zentrum (Kasten). Mitte: Das Sternbild Tukan mit dem HDF-S-Gesamtgebiet (Kasten). Unten: Die einzelnen Bereiche der HDFS-Bilder. A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 303 dass es da draußen etwas zu sehen gibt. Zwei kleine x treffen ins Schwarze und eines verfehlt knapp das Ziel. Zwei offene Kreise gehen verloren; es gibt keine Beobachtungen, die ihnen entsprechen. Die Pixel und die kleinen Kreise und Sternchen werden von speziellen Bildanalyseprogrammen und Berechnungen vorausgesagt: Ein echtes mathematisches Regime der Interpretation, ohne das Erhabene und ohne Unendlichkeit. The Hubble Deep Fields Wenn die Geschichte der Bilder des späten 20. Jahrhunderts nicht so einseitig auf die bildenden Künste ausgerichtet wäre, würden die Aufnahmen, die zusammen als Hubble Deep Field (HDF) bekannt sind, als eines der zentralen Werke dieser Epoche gelten. Es ist ein Bild – eigentlich ein Aggregat von Einzelbildern – von einem winzigen Stück Himmel in der Nähe des Sternbildes des Großen Wagens. Die Idee war, das Hubble Space Telescope (HST) auf einen Bereich des Himmels zu richten, der weit von hellen Sternen entfernt ist, um zu sehen, was das HST aufnimmt, wenn die Kameras eine maximale Zeit offen bleiben. Für mehr als hundert Stunden blickte das HST ins Weltall und lieferte ein erstaunliches Bild, das voll mit schwachen Galaxien gefüllt war – schwächer als jemals zuvor gesehen (Abb. 2).17 Das originale Hubble Deep Field wurde im Dezember 1995 erstellt. Im Oktober 1998 wurde das gleiche Verfahren für eine kleine Himmelsregion der südlichen Hemisphäre angewandt; daraus resultierte Hubble Deep Field South (HDFS). Wieder lieferte ein anscheinend leeres Stück Himmel Bilder von Tausenden von schwachen Galaxien. HDF-N und HDF-S sind sehr kleine Bereiche des Himmels, die für mich fast an der Grenze meiner Vorstellungskraft liegen. HDF-S wurde auf das Sternenbild Tukan gerichtet (im Rahmen von Abbildung 3a). Diese Ansicht entspricht mehr oder weniger dem, was man sähe, wenn man einen wolkenlosen Nachthimmel von einem Ort südlich des Äquators betrachtet. Abbildung 3b, ist eine Großaufnahme von Tukan; der kleine Rahmen zeigt die ungefähre Position von HDF-S. Der Kasten in Abbildung 3b ist eine Vergrößerung der gerahmten Region, in der sich drei winzige lineare Bereiche befinden: Einer hat die Form einer Treppe und zwei sind quadratisch. Zusammen sind sie die Teile des Himmels, die von HDF-S abgebildet wurden. Der winzige quadratische Rahmen genau in der Mitte lieferte das Bild in Abbildung 4. Jede Bild-Platte gibt Tausende von Galaxien wieder, wo vorher keine gefunden wurden. Die Bewohner dieses entfernten Reichs sind ausgesprochen merkwürdig. Hellere Objekte wie nahe Galaxien mit scheinbaren Helligkeiten der Magnitude 19 17 Siehe die HDF-N Webseite: www.stsci.edu/ftp/science/hdf/hdf.html. Die Deep Fields hielten den Rekord für die ›tiefsten‹ Aufnahmen fast fünf Jahre lang. Seitdem hat die Advanced Camera for Surveys (ACS) empfindlichere Bilder geliefert. 304 J AMES E LKINS Abb. 4: Eine der HDF-S-Fotografien, aufgenommen mit der Hubble-STIS-Kamera. oder 20 sind meist elliptisch, spiral- oder balkenförmig; das heißt, sie haben voraussagbare, geordnete Formen. Ab sehr schwachen Helligkeiten der Magnitude 25 wird fast ein Drittel der Objekte ›eigenartig‹.18 Es gibt »Kopf-und-SchwanzGalaxien, die wie Kaulquappen aussehen«, und alle möglichen asymmetrischen Objekte, darunter eines mit »einem roten Kern« umringt von »vielen blauen Kno18 Roberto Abraham et al.: Galaxy Morphology to I = 25 Mag in the Hubble Deep Field. In: Monthly Notes of the Royal Astronomical Society 279 (1996), L 47. Preprint: arxiv.org/ abs astro-ph/9602044v1, 9. Februar 1996 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). Zu den jüngsten Versuchen einer Klassifizierung zählt Roberto Abraham, Michael Merrifield: Explorations in Hubble Space: A Quantitative Tuning Fork. In: Astronomical Journal 120 (2000), S. 2835–2842. A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 305 ten« (Abb.5).19 Diese Galaxie ist sichtbar in Abbildung 2 in der oberen Mitte, wo sie zwischen vielen anderen nicht klassifizierbaren Objekten erscheint. Es gibt nur einige wenige bekannte »Kaulquappen-Galaxien« im näheren Universum, aber mehrere Dutzend sind in Abbildung 4 und Abbildung 5 zu sehen.20 Anfangs waren die Astronomen perplex: Sie waren nicht sicher, ob es sich bei diesen Objekten um Protogalaxien handelt oder um ältere Galaxien, die durch Kollisionen und Gezeitenkräfte zerrissen wurden. Die zwei Deep Fields waren eine erstaunliche Leistung. Hinsichtlich der Informationen, die sie lieferten, und abgesehen von ihrem verblüffenden Inhalt, sind sie zwei der komplexesten Bilder aller Zeiten. Dutzende von Wissenschaftlern arbeiten beständig an der Auswertung der Daten, was nach wie vor hilfreich ist für die Bewertung kosmologischer Modelle.21 Die schwächsten Galaxien bleiben schwer fassbar – schwierig zu analysieren und sogar schwierig zu zählen.22 Am Ende des sichtbaren Universums Der wunderbarste Sehakt im Zusammenhang mit dem HDF-N war der Versuch, jenseits der schwächsten Galaxien auf der Bild-Platte zu sehen – etwas auszumachen in den schwarzen Regionen zwischen den schwach leuchtenden Flecken am äußersten Ende des sichtbaren Universums. Anscheinend reichten die Deep FieldBilder bis zu einem Bereich, in dem die Sicht abfällt und die Mauer der »Staubauslöschung« genannt wird.23 Was wäre, wenn man dort zwischen den schwarzen Pixeln etwas wahrnehmen könnte? Das HST hatte seine Grenze erreicht, aber würde ein besseres Teleskop (das schon in der Planungsphase war) weiter sehen können? Würden sich die schwarzen Leeren in winzige Lichter auflösen und mit noch weiter entfernten Galaxien füllen? Ging das sichtbare Universum weiter oder bot das HDF-N eine Ansicht des äußersten Endes des sichtbaren Universums? Es war klar, dass die Leere zwischen den schwächsten Lichtern im HDF-N nicht vollkommen leer ist, weil es kein einheitliches Tiefschwarz ist. Es ist vielmehr eine Reihe von Pixeln mit leicht unterschiedlichen Farben und Leuchtstärken. 19 Sidney van den Bergh et al.: A Morphological Catalogue of Galaxies in the Hubble Deep Field. arxiv.org/abs/astro-ph/9604161v1, 26. April 1996, S. 5–6 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 20 Ein Beispiel ist NGC 3991. Siehe crux.astr.ua.edu/gifimages/ngc3991.gif. Zitiert nach van den Bergh 1996 (wie Anm. 19), S. 6. www.astr.ua.edu/gifimages/ngc3991.html (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 21 Richard Ellis: The Hubble Deep Field: Introduction and Motivation. In: arxiv.org/abs/ astro-ph/9708075v1, 8. August 1997 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008 ). 22 Siehe zum Beispiel Dan Maoz: The Detectability of High-Redshift Ellipticals in the Hubble Deep Field. arxiv.org/abs/astro-ph/9704173v2, 5. Oktober 1997 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 23 Gerhardt Meurer: The Case for Substantial Dust Extinction at z ≈ 3. arxiv.org/abs/astro-ph/ 9708163v1, 18. August 1997 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 306 J AMES E LKINS Abb. 5: HDF-N 3-312, eine mögliche Protospirale mit asymmetrisch gelegenem rötlichen Kern, eingebettet in eine Struktur mit blauen Knoten. Wenn man einen Teil des HDF-N stark vergrößert und alle leuchtenden Stellen ignoriert, sieht man nur ein Meer verschiedenfarbiger Pixel – blau-schwarz, schwarz, grün-schwarz, rot-schwarz: Es gibt keine einheitliche Dunkelheit zwischen den entferntesten Galaxien. Könnte dieses schwache Funkeln in weitere Galaxien aufgelöst werden? Astronomen hatten versucht, diese Frage zu lösen, ehe es die HDF-Bilder gab, indem sie den ›schwarzen‹ Hintergrund zwischen Sternen untersuchten, der immer aus unentdeckten schwachen Galaxien bestand, die mit ihrer Umgebung verschwammen. 1974 untersuchte S.A. Shectman fotografische Platten, die größere Abschnitte des Himmels abdeckten, und fand Hinweise, dass ganze Galaxienhaufen sich in den anscheinend flachen schwarzen Feldern verstecken.24 1988 wurden bei einer weiteren Untersuchung Hinweise gefunden, dass 24 Stephen A. Shectman: The Small-Scale Anisotropy of the Cosmic Light. In: Astrophysical Journal 188 (1974), S. 233–242. A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 307 es in einem scheinbar vollkommen schwarzen Hintergrund »einen Rest Oberflächenhelligkeit« gab, was auf bislang nicht gesehene Galaxien-Populationen jenseits der Grenzen des Bildes hinweisen könnte.25 Das HST brachte dann den Beweis, dass es tatsächlich Galaxien gibt, die vorher nicht zu sehen waren. Die Frage war, ob das HDF-N ebenfalls einen Hinweis auf mögliche Entdeckungen in der Zukunft liefern konnte oder ob sein Hintergrund wirklich eine formlose Leere darstellt. In einem Beitrag aus dem Jahr 1997 nannte Michael Vogeley vom Princeton University Observatory das unvollkommene Schwarz ›Extragalactic Background Light‹ (EBL) und untersuchte es, indem er das ganze Licht subtrahierte, das die Erde von Lichtquellen innerhalb der Grenzen des sichtbaren Universums erreichen könnte.26 Als erstes entfernte er alle sichtbaren Galaxien aus dem HDF-N, mitsamt den umliegenden Bereichen, die zur Schätzung der Größe der Galaxien benutzt worden waren. Diese Bereiche waren bereits zweimal so groß wie die scheinbaren Größen der Galaxien. Zusätzlich löschte er nochmal doppelt so große Ellipsenbereiche um die bereits entfernten Galaxien, sodass auch Pixel gelöscht wurden, die weit in die umliegende Dunkelheit reichten. Insgesamt subtrahierte Vogeley gut dreißig Prozent der Bildpixel. Als nächstes definierte er eine ›WinkelAutokorrelationsfunktion‹, die im Wesentlichen einzelne nebeneinander liegende Bereiche miteinander verglich, um zu sehen, wie die Helligkeit fluktuierte. Wenn (x) die Oberflächenhelligkeit ist, ist die Autokorrelationsfunktion –2 C(Θ) = 〈µ(x) µ(x + 0-)〉 − µ – wobei µ = 〈µ(x)〉 die mittlere Oberflächenhelligkeit des Himmels wiedergibt und ein Winkelmass der Entfernung auf der Platte ist. Wenn es Objekte gibt, die »unterhalb der Detektionsgrenzen der tiefen optischen Bildgebung« liegen, so Vogeley, könnten diese aus ihren statistischen Signaturen in dem »objekt-bereinigten ›Himmel‹« erschlossen werden.27 Vogeley folgerte, dass, wenn das HDF-N ein angemessenes Beispiel für den ›Himmel‹ zwischen Galaxien ist, es dann die Mehrzahl aller Galaxien einschlösse. Schwächere Galaxien könnten wohl in der Dunkelheit versteckt sein, aber nicht viele. Die einzigen Objekte, die sich jenseits der schwächsten Galaxien im HDF-N befinden könnten, würden eine »extrem niedrige Oberflächenhelligkeit« haben und wären groß und diffus. Bei der Auflösung des HDF-N sind diese schwer fassbaren 25 J.A. Tyson: Deep CCD Survey: Galaxy Luminosity and Color Evolution. In: Astronomical Journal 96 (1988), S. 1–23; Zitat S. 1. 26 Michael Vogeley: Fluctuations in the Extragalactic Background Light: Analysis of the Hubble Deep Field. arxiv.org/abs/astro-ph/9711209v1, 18. November 1997 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 27 Ebd., S. 3; die Autokorrelationsfunktion ist dort auf S. 6. 308 J AMES E LKINS Abb. 6: ›Wolken‹ im HDF-N. Objekte »konfusionbegrenzt«: Ihre Bilder überlappen einander, so dass es schwierig ist, sie voneinander zu lösen. Wenn die Auflösung des Bildes erhöht werden könnte, wären vielleicht jene flüchtigen Objekte aufspürbar. Vogeley führt aus, dass paradoxerweise terrestrische Teleskope bessere Chancen haben, sehr große schwache Objekte zu suchen, da ihre Kameras mehr vom Himmel sehen. Objekte, die »viel größer als mehrere Bogenminuten sind«, wären leichter mit anderen Arten von Teleskopen auszumachen. Mit HST wurde bis zum Ende des Universums von Galaxien geschaut. Jenseits könnte es ausgedehnte schwache Lichter geben, aber keine Galaxien mehr. Dennoch ist es schwierig, den Gedanken zu unterdrücken, dass Formen in jener Dunkelheit latent sind. Die ›Himmel‹ der Bilder wie bei HDF-N sind alles andere als beschauliche gemalte Kulissen. Sie changieren und brodeln mit Farben: Sie scheinen zu leben, sich zu bewegen. Für mich gibt es nichts Unheimlicheres als diese ›sommerlichen‹ Szenen vom Ende des sichtbaren Universums. Insbesondere, wenn die Bilder farbig sind, wie die Abbildung 6: Es sieht fast genau so aus wie ein azurblauer Himmel, dunkelblau, wo der Himmel nahe am Zenit ist. Es kann auch aussehen wie ein Himmel mit fliehenden Wolken. Die Abbildung 6 ist ein Ausschnitt von Abbildung 2 (oben rechts). Die Farben sind unecht, aber plausibel, weil die vom Teleskop aufgenommenen Wellenlängen mit Rotverschiebung farbkorrigiert sind und in die bekannten blauen, A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 309 grünen und roten Kanäle zurückgeführt wurden, die im computergestützten Display verwendet werden. Wissenschaftler nennen diese Bilder häufig ›true-color‹, in Anführungszeichen, oder ›pseudo-color‹.28 Einen der tiefsten Blicke in den Weltraum zeigt das Zusatzfoto in Abbildung 4. Wenn man es genau betrachtet – zum Beispiel die Ecke oben links – sieht man dieselben ungleichmäßigen Wolken, die den unheimlichen Eindruck erwecken, dass es sich hier wirklich um den Sommerhimmel mit Zirrus- und Kumuluswolkenfetzen handelt. Abbildung 7 zeigt eine Vergrößerung der Ecke oben links in Abbildung 4 und bringt einen »Abendhimmel« zum Vorschein, wie er bei Vollmond aussieht. In den schwarzen Bereichen zwischen den »Wolken« sieht der Himmel ruhig aus. Abbildung 7 ist eine Vergrößerung des Abschnitts im Rahmen, aber kontrast- und helligkeitsverstärkt sieht das Muster alles andere als beliebig aus. Schwarze wurmähnliche Formen schlängeln sich um kleine helle Punkte und es scheint, als ob es hier noch mehr gibt, das darauf wartet, gesehen zu werden.29 Es hat einige Versuche gegeben, in diese verschwommene Dunkelheit zu blikken. Einer davon ist der Beitrag »Diffuse Dark and Bright Objects in the Hubble Deep Field«, verfasst Ende 1997 von Changbom Park und Juhan Kim, beide vom Department of Astronomy der National University in Seoul.30 Sie fanden »winzige Lichtpunkte«, die »in ausgedehnten Hintergründen eingebettet« waren. Laut ihren Angaben sahen sie Formen, die sehr variabel sind, gar nicht wie die verifizierten Galaxien; Park und Kim nannten sie »Galaxien im Prozess aktiver Sternenformation und Fusion«, »Urgalaxien« oder »protogalaktische Objekte«. Weiter fanden sie glatte dunkle Formen, wo der »Himmel« dunkler als die umliegenden Bereiche ist; diese interpretierten sie als »dunkle Wolken« zwischen den »protogalaktischen Objekten«.31 Park und Kim fanden die Objekte, indem sie den Himmel abdeckten, wie Vogeley es getan hatte, und dann die Pixel glätteten, um zu sehen, was dabei herauskommen würde. Eine Routine zur Glättung verschmiert Pixel über einer bestimmten Fläche; Park und Kim wählten ein 20-Pixel-breites Weichzeichnen, das 0,8 Bogensekunden entspricht. Auf diese Weise vermeiden sie, Objekte aufzunehmen, die zu einer einzelnen Galaxie gehören und erhöhen gleichzeitig das Signal-Rausch-Verhältnis. Ihre erste Untersuchung fand 5.359 Objekte, die sie dadurch eingrenzten, indem sie nur jene anschauten, die eine hohe Rotverschiebung aufwiesen. Sie berechneten, dass diese Objekte bei z = 3,6 eine absolute 28 Van den Bergh 1996 (wie Anm. 19), S. 6. 29 Diese Bilder wurden mit Photoshop gemacht, aber die gleichen Resultate können mit den NASA FITS Originaldateien und professioneller Software wie ImageJ oder Ouroboros erzielt werden. 30 Changbom Park, Juhan Kim: Diffuse Dark and Bright Objects in the Hubble Deep Field. arxiv.org/abs/astro-ph/9712039v1, 3. Dezember 1997 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 31 Ebd., S. 1–2. 310 Abb. 7: Ausschnitt von Abbildung 4. J AMES E LKINS A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 311 Helligkeit MV von –14 ~ –16 haben müssen – viel schwächer als die am weitesten entfernten Galaxien. Diese dunklen Wolken und Protogalaxien sind so blass und so verschmolzen mit dem Hintergrundlicht, dass man sie nicht sehen kann, wenn man bloß die Bilder betrachtet. Park und Kim liefern eine erstaunliche Abbildung, die angeblich die Objekte zeigt, obwohl mein Auge darauf nichts erkennen kann (Abb. 8). Jede Reihe betrifft ein einzelnes Objekt in drei verschiedenen Wellenlängen. Die Bilder sind Differenz-Karten, die das Erscheinen der Objekte zeigen, sobald über 4 Pixel (0,16 Bogensekunden) und 100 Pixel (4,0 Bogensekunden) geglättet wurde. Die Grafiken an der rechten Seite geben den Verlauf der Oberflächenhelligkeit über das in Bogensekunden vermessene Feld wieder. Die obersten drei Objekte werden als hell und die untersten drei als dunkel eingestuft (zu beachten ist das negative Vorzeichen der Oberflächenhelligkeit [surface brightness, –SB]). Die obersten drei Reihen sind Park und Kims acht-, dreizehnt- und achtzehnt-hellstes Objekt, wovon jedes angeblich ein Viertel der Breite des Bildes einnimmt. Aber sind sie wirklich da? Ich habe kein Problem damit, dass eine mathematische Analyse Objekte entdecken kann, die mein Auge nicht sieht, die Autoren jedoch bieten auch eine phänomenologische Beschreibung: »Die meisten dieser Objekte«, sagen sie, »sind mit vielen, dem Rauschen ähnlichen Blendungen gesprenkelt und zeigen ausgedehnte Hintergründe. Manche sind sehr lang gestreckt mit ausstrahlenden Verbindungen und scheinen sich im Prozess der Fusionierung zu befinden.« Es ist klar, dass diese Objekte – falls sie überhaupt wahrnehmbar sind – keine hellen Kerne haben und »vielfältig«, unregelmäßig und vielfarbig sind (weil ihre Bilder in den drei Wellenlängen nicht zusammenpassen).32 Sicher, wenn dies einzelne Objekte sind, dann sind sie ungleichmäßig und vielfarbig; aber nichts anderes von ihnen ist sichtbar, denke ich, ohne mathematische Hilfe. Unweigerlich werden zukünftige Bilder diese verschwommenen Wolken in weniger verschwommene auflösen. Die Instrumente der nächsten Generation, einschließlich des Next Generation Space Telescope, sind zum Sehen vager Wolken, Halos, »verbliebener unaufgelöster Quellen«33 konstruiert und vielleicht sogar zum Sehen von »Teilchen des Urnebels«, die bis 1026 Kilogramm wiegen.34 Wenn die Analyse in Beiträgen wie von Park und Kim stimmt, werden viele solcher Objekte »konfusionbegrenzt« bleiben, irreparabel verschwommen, einfach weil sie ihrer 32 Ebd., S. 8. 33 Siang Peng Oh: Observational Signatures of the First Luminous Objects. arxiv.org/abs/ astro-ph/9904255v1 20. April 1999, S. 1 (Letzter Zugriff: 1.Oktober 2008). Für die nächste Generation von Instrumenten siehe Torsten Böker, Ronald Allen: Imaging and Nulling with the Space Mission. In: Astrophysical Journal Supplement Series 125 (1999), S. 123–142. 34 Carl Gibson: Dark Matter at Viscous-Gravitational Schwarz Scales: Theory and Observations. In: Hans Volker Klapdor-Kleingrothaus (Hg.): Proceedings of the International Workshop on Dark Matter in Astro- and Particle Physics, River Edge 1997, S. 409–416. 312 J AMES E LKINS Abb. 8: Sechs helle Objekte (Reihe 1- und sechs dunkle Objekte (Reihen 4-6) im HDF-S. Die ersten drei Spalten zeigen die Objekte bei unterschiedlichen Wellenlängen. A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 313 Natur nach keine diskreten Objekte sind.35 Mit dem HDF-N »schauen wir jetzt auf die Grenze des Universums der Galaxien« hinüber in eine Region, die keine ordentlich begrenzten Objekte mit ordentlich benennbaren Formen besitzt wie die üblichen runden, elliptischen und Balkengalaxien. Selbst »unregelmäßig«, die allumfassende letzte Kategorie der Klassifizierung von Galaxien, beschreibt diese Objekte nicht, weil sie nicht diskret sind in der Weise, wie es unregelmäßige Galaxien sind, die um viele Male ihrer eigenen Länge voneinander getrennt sind. Diese Objekte sind nahezu formlos, und sie kommen ihrerseits aus einem Universum, das noch älter und formloser ist – ein Universum just an der Grenze dessen, was der Astrophysiker Piero Madau als »dark age«, das dunkle Zeitalter des Universums, bezeichnet, bevor es ionisierte und mit Sternen aufleuchtete.36 Uninteressante Unendlichkeit Es könnte den Anschein haben, dass dieses das Ende der sichtbaren oder darstellbaren Objekte ist. Aber die schlecht definierten »Wolken« in den HDF-Bildern sind nicht die entferntesten Dinge, die schon gesehen wurden.37 In anderen Bereichen des Nachthimmels gibt es Quasare, die signifikant weiter entfernt sind. Obwohl der größte Teil des Sternenlichts im Universum sich in der Epoche 1 ≤ z ≤ 2 entwickelte (z ist die Maßeinheit der Rotverschiebung), sind Objekte in noch weiteren Entfernungen bekannt. Mehrere Objekte sind bei z > 5 bekannt und es werden dauernd neue Rekorde aufgestellt. Diese Objekte sind außergewöhnlich interessant für die Kosmologie, nicht aber merkwürdigerweise als Bilder. Wegen ihrer unvorstellbaren Entfernungen sind die meisten »wie Punkte«, das heißt, sie können nicht als Formen aufgelöst werden. Indem sie über verschiedene Regionen der Welt verstreute Radioteleskope koordinierten, ist es Astronomen gelungen, detaillierte Bilder von ein paar dieser sehr entfernten Objekte zu erstellen. Anfang 1999 publizierten Astronomen, die die Technik der Very Long Baseline Interferometry benutzten, ein Bild des Quasars, der damals als der entfernteste bekannte radio-laute Quasar galt, mit einer Rotverschiebung von z = 4,72 (Abb. 9, links). 35 Ihre Ergebnisse wurden nicht angezweifelt, jedoch sind sie jetzt durch neuere Deep Field Bilder überholt und durch Pläne für das Next Generation Space Telescope. In jüngster Zeit hat einer der Autoren die räumliche Verteilung in HDF Bildern untersucht: Changbom Park, Richard Gott III, Y.J. Choi: Topology of the Galaxy Distribution in the Hubble Deep Fields. arxiv.org/abs/astro-ph/0008353v1, 23. August 2000 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 36 Siehe Piero Madau: Starlight in the Universe. arxiv.org/abs/astro-ph/9902228v1, 16. Februar 1999, S. 1 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008), S.2 für die »mögliche Existenz einer großen Population von noch unentdeckten schwachen Galaxien bei hohen Rotverschiebungen.« 37 Für ein weit entferntes Objekt in dem HDF-S, siehe M. Stiavelli et al.: VLT and HST Observations of a Candidate High Redshift Elliptical Galaxy in the Hubble Deep Field South. xxx.lanl.gov/abs/astro-ph/9812102v1, 4. Dezember 1998 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). J AMES E LKINS 314 1428+423 h 1428+423 h Abb. 9: Ein radiolauter Quasar in einer Entfernung von z = 4.72. Links: VLBI-Grafik (Darstellung mit radioastronomischer Messmethode ›Very Long Baseline Interferometry‹ VLBI) Rechts: Basislinienlängen-Grafik. Dieser Quasar, sagen die Autoren, »ist vielleicht die leuchtendste stabilste Quelle im Universum«, aber er sieht »fast unaufgelöst« aus – er sieht ein wenig länglich aus, ist aber einer perfekten Kreisform so nahe, dass er genauso gut eine Punktquelle sein könnte.38 Es ist eine physische Tatsache, dass das am weitesten entfernte Objekt am schlechtesten zu sehen ist, und wahrscheinlich das am wenigsten interessante oder einfachste Bild liefern wird; und doch ist dieses Bild in seltsamer Weise fesselnd, dieses flache, farblose Bild eines Objekts, das ferner ist als fast alles, was gesehen werden kann. Es liegt um Größenordnungen jenseits unseres Sehvermögens ohne Sehhilfe und ebenso jenseits optischer Wellenlängen (dieses ist ein Radiobild, das so abgebildet wurde, dass es wie ein optisches Bild aussieht); außerdem ist es jenseits der Leistungsfähigkeit jedweden sehtauglichen Apparates (acht über den Globus verteilte Radioantennen wurden gebraucht, um es zu sehen). Die rechte Seite von Abbildung 10 ist ein Diagramm der Informationen, die die acht Radioteleskope lieferten: Es vergleicht die Stärke des Signals (die Amplitude) mit der »Basislinienlänge«, den Abständen zwischen den Antennen, gemessen in Wellenlängen der Radioemission. Die im Diagramm von links nach rechts langsam abfallende Kurve signalisiert, dass der Quasar aufgelöst worden ist – gerade noch. Der Plot demonstriert auch, wie kontraintuitiv der Prozess ist, dessen Resultat das linke Bild zeigt. Es ist schwer, sich etwas vorzustellen, das vom normalen Sehen oder einfacher Bildgenerierung weiter entfernt ist. 38 Zsolt Paragi et al.: VLBI Imaging of Extremely High Redshift Quasars at 5 GHz. arxiv.org/ abs/astro-ph/9901396v1, 28. Januar 1999, Preprint S. 3 und S. 6 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). Der Beitrag erschien später in Astronomy and Astrophysics 348 (1999), S. 910. Ein weiteres Beispiel ist Wil van Breugel et al.: A Radio Galaxy at z = 5.19. arxiv.org/abs/ astro-ph/9904272v1, 21. April 1999 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 315 Abb. 10: Eine Galaxie in einer Entfernung von z = 6.68. Obere Reihe: Optische Scheibe; zweite Reihe: Spektrograf im Querschnitt; dritte Reihe: Segmentationskarte mit der angedeuteten Emissionslinie der Galaxie A; untere Reihe: Spektrograf im Querschnitt mit Emissionslinien außer der entfernten Emissionslinie von Galaxie A. 1999 war eines der entferntesten Objekte im Universum eine Galaxie bei z = 6,68, aufgenommen von einem Team unter der Leitung von der Astronomin Hsiao-Wen Chen.39 Seitdem ist dieser Rekord einige Male gebrochen worden, aber die Bilder solcher Objekte sind sehr beständig: Die Objekte sind sowohl sichtbar – sie sind eindeutig aufgezeichnet worden – als auch unsichtbar – es gibt fast nichts zu sehen. Der obere Streifen in Abbildung 10 ist ein normales Foto (als Negativ reproduziert) des Objekts, das als A gekennzeichnet ist. Es ist zwei Pixel breit und zwei Pixel hoch. B ist eine andere, nähere Galaxie. Was könnte näher der Unsichtbarkeit sein als diese vier fragilen Pixel? Sie sind das verschwindende Objekt am Ende der Berechnung, der letzte Term in der Reihe der Helligkeiten. Die oberste Reihe in Abbildung 10 ist in einer länglichen Form abgeschnitten, damit sie zu den nächsten drei Bildern passt, die Spektren der gleichen Region zeigen. Das HST macht gelegentlich Aufnahmen mit einer »Spektroskopie ohne Schlitz«, in der die Spektren der Objekte von links nach rechts über das Feld geschmiert sind. Das zweite Bild enthält die Spektren aller Objekte im oberen Bild, aufgespaltet nach Wellenlänge. (Das Bild benötigt keine farbliche Darstellung, da die horizontale Position eines Pixels einer Bandbreite von Wellenlängen entspricht; Farben können von einer Skala abgelesen werden wie jede andere Eigenschaft.) Der Pfeil im zweiten Kasten zeigt auf die Hauptemissionslinie für Gala39 Hsiao-Wen Chen, Kenneth Lanzetta, Sebastian Pascarelle: A Spectroscopically Identified Galaxy of Probable Redshift z = 6.68. arxiv.org/abs/astro-ph/9904161v1, 14. April 1999 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). Diese Observation wurde später angezweifelt. Siehe Hsiao-Wen Chen et al.: The Unusual Spectral Energy Distribution of a Galaxy Previously Reported to be at Redshift 6.68. arxiv.org/abs/astro-ph/0011558v1, 30. November 2000 (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2008). 316 J AMES E LKINS Abb. 11: Senkrecht aufgenommene Luftaufnahme des nördlichen Scherungsrands des antarktischen Eisstroms auf dem Ross-Eisschelf. xie A: Sie ist ebenfalls zwei Pixel hoch und der ganze zwei-Pixel-Streifen links und rechts gehört ebenso zum Spektrum von Galaxie A. Hsiao-Wen Chen und ihr Team haben anschließend eine Bildanalysesoftware benutzt, um das geglättete Dispersionsbild in einzelne Emissionslinien aufzugliedern. Der dritte Streifen in Abbildung 10 oben ist die daraus resultierende »Segmentierungskarte«, in der die Emissionslinie für Galaxie A aus dem Rest ihres Spektrums herausgepickt ist. Gleich darunter rechts befindet sich eine Emissionslinie der Galaxie B und eine weitere ist auf halbem Wege und auf der gleichen Ebene in der Segmentierungskarte zu sehen. Die helleren Galaxien im oberen Bereich des Originalbildes erscheinen dort als gestreute Flecken. Der untere Streifen zeigt das Gleiche wie der zweite, nur sind hier alle Quellen außer Galaxie A subtrahiert. Die Autoren sagen, dass dieses Ergebnis »robust gegen Bildverarbeitung« ist, das heißt, ihre verschiedenen Verfahren, inklusive das Segmentierungsprogramm mit dem schrägen Namen SExtractor, können modifiziert werden, produzieren aber dennoch das gleiche Ergebnis. Aus diesen winzigen Beweisstücken erstellen die Autoren die Grafik eines gut differenzierten »Kontinuumspektrums« (der Bereich links von der Emissionslinie), A N DEN G RENZEN DES D ARSTELLBAREN 317 eine einzelne starke Emission, und eine »statistisch nicht signifikante, aber suggestive Absenkung« gegen Ende des Spektrums.40 Diese drei minimalen Beweisstücke reichten aus, um der Galaxie ihre hohe Rotverschiebung zuzuweisen, und sie – ab dem 15. April 1999 – zum entferntesten Objekt des Universums zu machen. Es ist faszinierend, diese minimalen Bilder anzuschauen und sich Gedanken über das Objekt zu machen, das sie halb kaschieren. Die Autoren interpretieren die einzelne Emissionslinie um λ = 9334 als Lyman alpha, (Lyα). Wenn dieses Objekt normal und nah wäre, wäre Lyα bei λ = 1216: So aber ist dies ein Hinweis auf eine enorme Rotverschiebung – vom Ultraviolett durch das ganze sichtbare Spektrum hindurch bis zum Infrarot –, die das Objekt in einer unvorstellbaren Distanz in Raum und Zeit verortet. Noch bemerkenswerter in diesem Kontext ist die einfache Tatsache, dass die Emissionslinie die Signatur eines bestimmten atomaren Zustands ist: Die Spektrogramme bringen uns nicht nur eines der am weitesten entfernten Objekte, das bekannt ist, nahe, sie sagen auch etwas über die Atome in diesem Objekt. Die Absenkung am Ende des Spektrums liefert noch mehr ätherische Information: Sie erzählt uns etwas über die im Weltraum zwischen uns und der Galaxie vorhandenen Atome. Die Verdunkelung des Spektrums wird als Licht interpretiert, das vom »Ly α-Wald« neutraler Wasserstoffatome im interstellaren Raum absorbiert wird. Wie bizarr werden diese Darstellungen, wenn sie an ihrem Limit sind. Ihre Trübheit hat eine eigene Faszination, als ob Transzendenz insgeheim langweilig wäre. Wenn das letzte und am schwersten fassbare Objekt in einem Bild eingefangen wird, erweist es sich wahrscheinlich als grau, trüb und fast tot. Schwindelgefühle Die Intuition kapituliert, wenn die Größenordnung einen bestimmten Punkt überschritten hat. Dieser Moment kann Schwindelgefühle verursachen, wenn Verstehen in Besorgnis übergeht. Ein einfaches Beispiel ist die Szene in dem Film Men in Black, in der die Frau wie versteinert auf die Galaxie an Orions Katzenhalsband blickt. Im Besitz einer Bandbreite von Größenordnungen zu sein, kann das Schwindelgefühl unterdrücken: Das winzige Bild der fernen Galaxie kann desorientierend wirken, aber es wird gestützt durch die vielen Messungen, die seine tatsächliche Entfernung bestimmen. In anderen Fällen ist das Schwindelgefühl akuter. Was zum Beispiel ist das in Abbildung 11? Es ist kein Bild vom Weltraum, so viel steht fest, weil es oben unscharf wird. Es könnte etwas sehr Kleines sein – die geringe Tiefenschärfe ist ein Anzeichen dafür – aber unten gibt es eine Reihe merkwürdiger Kratzer, die vollkommen scharf sind. Das Bild hat auch unten links eine kleine Gradeinteilung, wie sie in der Mikroskopie oder Archäologie verwendet wird. Für mich sieht das 40 Hsiao-Wen Chen 1999 (wie Anm. 39), S. 5. 318 J AMES E LKINS Bild klein aus und wenn ich es nicht im Kontext gesehen hätte, würde ich auf eine Skala von einem Millimeter oder so tippen. In Wirklichkeit aber ist es sehr groß: Es ist eine Luftaufnahme vom Ross-Schelfeis in der Antarktis. Die Messskala ist einen Kilometer lang und die kleinen hakenförmigen Kratzer unten sind Spalten. Das Bild wurde aufgenommen, um zu zeigen, wie sich eine chaotische Region von Eisbrüchen zwischen zwei glatten Bereichen – zwei der fünf Eisströme der Region – entwickelt.41 Es ist keine kleine strukturierte Fläche in Nahaufnahme, sondern eine große kalte Fläche, die sich weit unter der Kameralinse befindet. Einige Künstler spielen mit Unsicherheiten von Größenordnungen. Bei dem Allover-Stil von Pollocks Gemälden kommt dies vielen Betrachtern in den Sinn und das gleiche gilt für Bilder von Rothko, Stellas Frühwerke, Martin und Umberg. Als ich diese Fragen zuerst betrachtete, dachte ich, dass das Schwindelgefühl eine radikale Version der Unsicherheit über den Schwellenwert sein könnte, weil es eine besonders intensive Erfahrung des Erhabenen zu produzieren scheint. Oder, dachte ich, das Schwindelgefühl könnte ein Art Krankheit des Erhabenen sein, weil es die Erfahrung zu schnell und zu stark verursacht. Doch das Bild in Abbildung 11 sollte man eher als einen abschließenden Grund verstehen, warum das Erhabene nicht geeignet ist für die Analyse von Wissenschaftsbildern – und der Grund ist die kleine Messskala unten links. Alle diese Bilder zeichnen sich durch die schrittweise und gemessene Ablegung von Intuition aus und nicht durch ein plötzliches Einströmen unfassbarer Erfahrungen. Übersetzung: Gloria Custance und Fiona Laudamus. 41 R.B. Alley, I. M. Whillians: Changes in the West Antarctic Ice Sheet. In: Science 254 (15. November 1991), S. 959–963; hier Abb. 3, S. 961. G EORDNET / UNGEORDNET 18 Von maßlosem Wuchs Grenzen der Wahrnehmung und Bilder, die Tumore zeigen MARCEL F INKE Tumore, so schreibt Karl Rosenkranz in seiner ›Ästhetik des Häßlichen‹ (1853), seien keine ästhetischen Objekte, sondern Kuriositäten. Die Darstellung von Wucherungen und Auftreibungen des Leibes scheint deshalb auf Kontexte jenseits der Kunst festgelegt. Dass eine solche Trennung selbst im 19. Jahrhundert nicht zwingend war, wird anhand eines außergewöhnlichen Beispiels diskutiert. Die Rede ist von einer aus 116 Bildnissen bestehenden Serie von Ölgemälden, die Patienten mit enormen Geschwülsten wiedergeben. Hervorgegangen sind diese aus der Kooperation des chinesischen Malers Lam Qua und des US-amerikanischen Missionsarztes Peter Parker. Es soll gezeigt werden, dass die Maßlosigkeit dieser Bilder nicht aus dem maßlosen Wuchs der abgebildeten Tumore resultiert, sondern aus der Eigenart dieser Porträts, unentwegt ihre ästhetischen und kontextuellen Rahmungen zu überschreiten. Mediales Vorspiel: Aktuelle Bilder einer Geschwulst von enormem Ausmaß Im Juni 2007 berichteten Presseagenturen weltweit über das Schicksal des 31jährigen Chinesen Huang Chuncai. Aufsehen erregte der junge Mann, weil sein Kopf von einem gigantischen Tumor entstellt wurde. Die Meldungen und Videos über Huangs Zustand fanden bald ihren Weg in die Blogosphäre. Dort wurde schnell ein eingängiger Name für den Patienten gefunden: Man bezeichnete ihn als Elefantenmann und bezog sich damit auf einen der berühmtesten pathologischen Fälle des ausgehenden 19. Jahrhunderts.1 Zudem blieb nur selten unerwähnt, dass die 23 Kilogramm schwere Geschwulst alle bis dato erfassten Gesichtstumore übertraf. Das Medieninteresse war groß und riss auch im Januar 2008 nicht ab, als sich der Patient einer zweiten Operation in der chinesischen Stadt Kanton (Guangzhou) unterzog. Ein Fernsehteam begleitete den von medizinischen Eingriffen 1 Zum Fall des Elephant Man (Joseph Merrick) siehe Gunnar Schmidt: Anamorphotische Körper. Medizinische Bilder vom Menschen im 19. Jahrhundert, Köln 2001, S. 92–97. 322 M ARCEL F INKE geprägten Lebensabschnitt Huangs und produzierte einen Film mit dem reißerischen Titel I am the Elephant Man.2 Die Muster der Präsentation ähneln sich in fast jeder Darstellung des Falls, ganz gleich, ob es sich um Internetblogs, Artikel der Printmedien oder TV-Dokumentationen handelt. Die Berichte kontrastieren vor allem die bäuerliche Herkunft Huangs mit dem Umfeld seiner chirurgischen Therapie. Immer wieder zeigen ihn die Bilder in der artifiziellen Umgebung einer modernen Spezialklinik und immer wieder heben die Beiträge dessen Herkunft aus einem abgelegenen südchinesischen Dorf hervor. Ferner wird betont, dass die Geschwulst in der Abgeschiedenheit der Provinz seit dem vierten Lebensjahr Huangs ungestört wachsen konnte, weil die Mittel der modernen westlichen Medizin fehlten. Dass der hier skizzierte Zusammenhang von Darstellbarkeit und Heilbarkeit, von asiatischem Elend und westlichem Segen, teratologischem Wundern und medizinischem Interesse, ländlicher Abgeschiedenheit und globaler Aufmerksamkeit, ausuferndem Wuchern und medialer Fixierung keine zeitgenössische Besonderheit ist, sondern historische Vorgänger von gleicher Komplexität hat, davon handelt der folgende Text. Maßloser Wuchs und die Maßlosigkeit der Bilder Im Zeitraum von 1836 bis etwa 1851 entstand in Kanton (Guangzhou) ein 116 Ölgemälde umfassendes Korpus an Patientienporträts.3 Hervorgegangen sind diese Bildnisse aus einer Zusammenarbeit des chinesischen Malers Lam Qua (1801– 1860er Jahre) und des US-amerikanischen Missionsarztes Peter Parker (1804– 1888). Allesamt zeigen diese Bilder Patienten mit Großpathologien, die in Parkers Missionsklinik in Kanton behandelt wurden. In diesem Bildkorpus kristallisiert sich eine komplexe historische Situation: Die Gemälde spiegeln die Bemühungen um eine Christianisierung Chinas ebenso wider wie die Imagination einer fremden Kultur; sie erzählen gleichermaßen von der Ausprägung eines medizinischen Blicks wie sie an das prekäre Verhältnis von Wahrnehmung, Sichtbarkeit und Darstellbarkeit des (versehrten) Körpers erinnern. Entscheidend ist zudem, dass es in diesen Bildern zu einem ungewöhnlichen Zusammentreffen von Kunst und Medizin kommt, insofern sie im Genre des klassischen Porträts die Entstellung des Körpers durch Geschwülste vor Augen führen. 2 Die Dokumentation wurde erstmals im April 2008 auf dem englischen Sender Channel 4 ausgestrahlt. Siehe www.channel4.com/science/microsites/B/bodyshock/elephant_man/ (Letzter Zugriff: 17. November 2008). 3 Eine umfangreiche Galerie der Gemälde stellt die Website der Medical Historical Library der Yale University zur Verfügung. Siehe www.med.yale.edu/library/historical/parker/ (Letzter Zugriff: 17. November 2008). VON M ASSLOSEM W UCHS 323 Die Abbildung von Deformationen des Leibes beschränkt sich historisch keineswegs auf den Bereich der wissenschaftlichen Illustration. Stattdessen ist sie ebenso in Ölgemälden, Schnitzwerken oder Flugblättern anzutreffen, die gänzlich anderen Kontexten als der Medizin entspringen.4 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stellte sich die Frage nach der Darstellbarkeit von pathologischen Konditionen indes neu. Als Beispiel dafür kann Karl Rosenkranz gelten, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Diskussionen retrospektiv reflektiert und erstmalig eine explizite Ästhetik des Häßlichen (1853) verfasst.5 In seinem Versuch, die Lehre vom Hässlichen im Sinn einer »ästhetischen Pathologie«6 zu formulieren, setzt er sich wiederholt mit dem Problem der Verbildlichung von Missbildungen auseinander. Rosenkranz schließt krankheitsbedingte Malformationen nicht per se von jedweder Art von Darstellung aus, sondern weist ihnen ihren angemessenen Ort zu. Im anatomischen oder pathologischen Atlas seien noch Abbildungen der scheußlichsten Verwachsungen vertretbar – Objekte künstlerischen Ausdrucks seien sie hingegen nicht: »Krankheiten, die zwar nicht infam sind, sondern mehr nur den Charakter der Kuriosität haben, der sich in seltsamen Deformitäten und Auswüchsen kundgibt, sind auch nicht ästhetische Objekte, wie z. B. die Elephantiasis, die einen Fuß oder Arm schlauchartig anschwellen läßt, so daß seine Form ganz verloren geht.«7 Für Rosenkranz ist es der Exzess der Bildungsfähigkeit des Körpers, der dessen »von innen sich entwickelnde Maßbestimmtheit«8 transgrediert und dadurch ästhetisch hässliche (Un-)Formen hervorbringt. Für eine künstlerische Darstellung disqualifizierten sich Geschwülste, weil sie die sinnvolle Gestalt des Körpers durch die Maßlosigkeit ihres Wachstums deformierten, noch bevor die Maßregeln ästhetischer Gestaltung wirksam werden könnten. Es ist diese grundsätzliche Spannung zwischen versehrtem Körper und den Modi seiner Darstellung, die auch Lam Quas Patientenporträts kennzeichnet. Im Folgenden soll erörtert werden, welche Funktionen diesen Abbildungen des maßlosen Wuchses in ihrem historischen Kontext zukamen und inwiefern die Maßlosigkeit dieser Bilder als Moment einer spezifischen visuellen Argumentation zu begreifen ist. 4 Einführend siehe Helmut Vogt: Das Bild des Kranken. Die Darstellung äußerer Veränderungen durch innere Leiden und ihrer Heilmaßnahmen von der Renaissance bis in unsere Zeit, München 1969. 5 Karl Rosenkranz: Die Ästhetik des Häßlichen, [Königsberg 1853], Leipzig 1996. 6 Karl Rosenkranz: Carrieres Ästhetik [1860]. In: ders.: Neue Studien, Bd. 4, Leipzig 1878, S. 427– 439; hier S. 435. 7 Rosenkranz 1996 (wie Anm. 5), S. 256. 8 Ebd., S. 27. 324 M ARCEL F INKE Bilder als Schnittstellen: Chinesische Tumore und amerikanische Skalpelle Die monografische Literatur zu Lam Quas Patientenporträts ist von Unsicherheiten und blinden Flecken geprägt: Dies gilt für die Eingrenzung des Korpus, die Rekonstruktion seines Entstehungskontextes,9 für die biografischen Ausführungen zu beiden Akteuren sowie die Schilderung ihrer Kooperation gleichermaßen.10 Der chinesische Maler Lam Qua wurde vermutlich zwischen 1801 und 1809 geboren und entstammt wohl einer Familie aus Kanton, aus der bereits ein oder zwei Künstler hervorgegangen waren.11 Eine erste Ausbildung in traditionellen chinesischen sowie in westlichen Darstellungsweisen erfuhr er möglicherweise in der Werkstatt des Malers Spoilum, der mit Lam Qua verwandt war und bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts Ölgemälde für den Handel mit dem Westen produzierte.12 Mitte der 1820er Jahre bildete sich Lam Qua bei dem englischen Maler George Chinnery fort, der sich seit 1825 in der Küstenstadt Macao angesiedelt hatte.13 Spätestens seit dem Beginn der 1830er Jahre stand Lam Qua in Kanton einer eigenen Werkstatt vor, die vorrangig Bilder für den Export nach Europa oder die Vereinigten Staaten von Amerika anfertigte.14 Aufgrund seiner Ausbildung war er demnach von vornherein in westlichen Maltechniken und Repräsentationsmodi geübt. Er hatte zudem ständig Kontakt zu Kunden und Auftraggebern aus dem westlichen Ausland. 9 Einführend siehe Sander Gilman: Lam Qua and the Development of a Westernized Medical Iconography in China. In: Medical History 30 (1986), S. 57– 69. Larissa Heinrich: The Afterlife of Images. Translating the Pathological Body between China and the West, Durham 2008, S. 39 –71. 10 Zum Werdegang Lam Quas siehe Jack Lee: Some Problems in Studying the Identity of Lamqua. In: Besides. A Journal of Art History and Criticism 2 (1999), S. 127–150. Patrick Conner: Lamqua. Western and Chinese Painter. In: Arts of Asia 29.2 (1999), S. 46–64. Zu Peter Parker siehe George Stevens: The Life, Letters, and Journals of the Rev. and Hon. Peter Parker [1896], Wilmington 1972. Edward V. Gulick: Peter Parker and the Opening of China, Cambridge 1973. Christoffer H. Grundmann: Gesandt zu heilen. Aufkommen und Entwicklung der ärztlichen Mission im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1992, S. 143–176. 11 Siehe Lee 1999 (wie Anm. 10), S. 129. 12 Siehe Patrick Conner: The Enigma of Spoilum and the Origins of China Trade Portraiture. In: Magazine Antiques (März 1998), S. 418–425. 13 Einführend hierzu Patrick Conner: Chinnery and Lamqua. In: ders.: George Chinnery 1774– 1852. Artist of India and the China Coast, Suffolk 1993, S. 263–267. Albert Ten Eyck Gardner: Cantonese Chinnerys. Portraits of How-Qua and other China Trade Paintings. In: Art Quarterly 16 (1953), S. 305–324. 14 Siehe Carl L. Crossman: Lam Qua. »Handsome Face-painter«. In: ders.: The Decorative Arts of the China Trade. Paintings, Furnishings, and Exotic Curiosities, Suffolk 1991, S. 72–104; hier S. 100 –104. Eine zeitgenössische Schilderung in Charles T. Downing: Fan-Kuei oder Der Fremdling in China, [London 1838], Leipzig 1841, S. 45–49. VON M ASSLOSEM W UCHS 325 Einer der US-Amerikaner, mit denen Lam Qua ab etwa 1835 in Verbindung stand, war der 1804 in Framingham (Massachusetts) geborene Peter Parker.15 Dieser hatte sich zu Beginn der 1830er Jahre in New Haven an derYale School of Medicine und der Yale Divinity School sowohl in Medizin als auch Theologie ausbilden lassen. 1834 schloss er sein Medizinstudium ab und wurde nur wenig später zum presbyterianischen Pfarrer ordiniert. Vom American Board of Commissioners for Foreign Mission wurde Parker nach China entsandt, wo er im Oktober 1834 in Kanton eintraf. Dort eröffnete er im November 1835 ein Missionshospital, in dem chinesischen Patienten unentgeltlich westliche Behandlungsmethoden angeboten wurden.16 Das Ziel dieser Unternehmung war allerdings nicht allein die Bekämpfung von physischem Leid, sondern ebenso die Öffnung und Christianisierung Chinas. Institutioneller Ausdruck dieser Bestrebungen wurde die 1838 von Parker mitgegründete Medical Missionary Society in China (MMS).17 Die umfangreiche Serie von Lam Quas Patientenbildnissen, die in Kooperation mit Parker ab Anfang 1836 entstand, war folglich in einen Kontext von medizinischer Praxis, westlichem Bekehrungswillen und wirtschaftlichen Interessen eingebettet. Auf die Frage, wie es letztlich zur Zusammenarbeit kam, gibt es bisher keine befriedigenden Antworten: So wird unter anderem davon ausgegangen, dass Parker sein medizinisches Wirken dokumentieren wollte; dass er Material für die Werbung um Unterstützung seiner ärztlichen Mission und der MMS benötigte; dass Lam Qua die Bilder aus Dankbarkeit für die philanthropische Arbeit des Hospitals oder aus Bewunderung für die Fähigkeiten der westlichen Medizin malte. Eine weitere Hypothese geht davon aus, dass sich Lam Qua erkenntlich zeigte, weil sein Neffe Kwan Ato in Parkers Klinik zum Mediziner ausgebildet wurde.18 Die letztere Vermutung ist jedoch teilweise unberechtigt. Kwan Ato wurde frühestens Ende 1836 als Schüler zugelassen – die Zusammenarbeit zwischen Lam Qua und Parker ist aber bereits früher anzusetzen. Als Beleg kann das Gemälde Akae herangezogen werden, das um den Jahreswechsel 1835/36 ausgeführt wurde (Abb. 1). Die Datierung ist möglich, weil die Nummer der Krankenakte des porträtierten Mädchens bekannt ist. Anhand der dort notierten Daten wird ersichtlich, dass der Kontakt zwischen Lam Qua und Parker recht schnell nach Eröffnung des Hospitals im November 1835 zustande 15 Einen Überblick über die Biografie Parkers gibt Christoffer H. Grundmann: Parker, Peter. In: Biographical Dictionary of Christian Missions, hg. von Gerald H. Anderson, New York 1998, S. 516. 16 Zur Geschichte des Hospitals siehe William W. Cadbury, Mary H. Jones: At the Point of a Lancet. One Hundred Years of the Canton Hospital 1835–1935, Hong Kong 1935. 17 Zu Parkers Wirken im Kontext der medizinischen Mission des 19. Jahrhunderts siehe Jonathan Spence: The China Helpers. Western Advisers in China 1620 –1960, London 1960, S. 34–56. Informationen zur MMS und deren ideologischen Strategien finden sich in Grundmann 1992 (wie Anm. 10), S. 158–176. 18 Siehe Crossman 1991 (wie Anm. 14), S. 84–87. Gilman 1986 (wie Anm. 9), S. 62. 326 M ARCEL F INKE Abb. 1: Lam Qua: Porträt Akae, 1836, Öl auf Leinwand, 61 × 46 cm, Yale University, Harvey Cushing / John Hay Whitney Medical Library. Siehe auch Farbtafel X. gekommen war. Akae wurde bereits am 27. Dezember 1835 als Patientin in die Klinik aufgenommen und schon am 19. Januar 1836 durch einen chirurgischen Eingriff von ihrem Gesichtstumor befreit.19 Das Porträt Akae bildete den Auftakt für die erste Phase der Herstellung des Korpus, die im Juni 1840 aufgrund der Verschärfung des Opiumkrieges ein Ende fand. Nach zweijähriger Schließung wurde Parkers Hospital im November 1842 wiedereröffnet, was eine Fortsetzung der Bildserie ermöglichte. Noch unsicherer als der exakte Beginn der Kooperation ist 19 Siehe Peter Parker: Ophthalmic Hospital at Canton. First Report. In: Chinese Repository 4.10 (1836), S. 461–473; hier S. 467–469. VON M ASSLOSEM W UCHS 327 Abb. 2: Joshua Reynolds: Omai, 1776, Öl auf Leinwand, 236,2 × 144,8 cm, The Castle Howard Collection. deren Ende: Während die bisher als die spätesten Beispiele angesehenen Gemälde vermutlich in die Jahre 1847 und 1848 zu datieren sind, lassen schriftliche Quellen eine Fortdauer bis in die frühen 1850er Jahre vermuten.20 Die genaue Anzahl der medizinischen Porträts ist ebenfalls nicht mit Gewissheit zu nennen. Die Angaben schwanken innerhalb der Literatur zwischen immerhin 110 und zirka 200 Gemälden. Derzeit ist von insgesamt 116 Patientenbild- 20 Jüngst wurde eine Notiz Parkers publiziert, aus der hervorgeht, dass dieser Lam Qua im Jahr 1851 für »Gemälde von Tumoren« 25 Dollar zahlte. Siehe Stephen Rachman: Memento Morbi. Lam Qua’s Paintings, Peter Parker’s Patients. In: Literature and Medicine 23.1 (2004), S. 134 –159; hier S. 143. Larissa Heinrichs Angabe, die Kooperation habe bis 1855 gedauert, ist indes nicht belegt. Heinrich 2008 (wie Anm. 9), S. 52. 328 M ARCEL F INKE nissen auszugehen.21 Allen Zählungen ist jedoch gemein, dass sie nur die in Öl auf Leinwand ausgeführten Porträts erfassen. Es existieren darüber hinaus auch Arbeiten in anderen Techniken, von denen nicht bekannt ist, ob es sich um Vorstudien handelt oder um Kopien der Tafelbilder.22 Die Einzelbildnisse zeigen etwa 55 männliche und 25 weibliche Chinesen mit Geschwülsten im Kopfbereich, mit Tumoren der Brust, Wucherungen an Bauch oder Rücken, elephantiastischen Schwellungen oder Missbildungen der Gliedmaßen. Innerhalb der Serie kommen nur wenige Ganzkörperdarstellungen und nur sporadisch narrative Bildräume vor. Solche Kompositionen beschränken sich auf den Beginn der Serie bis etwa Ende 1836 und weisen deutliche Parallelen zur englischen Porträtmalerei des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf. So scheint die Anlage des bereits erwähnten Porträts Akae (1835/36) auf Joshua Reynolds GemäldeOmai (1776) zu rekurrieren, das ebenfalls eine orientalistische Thematik aufweist (Abb. 1 und 2). Den Großteil der Bildnisse zeichnet hingegen eine Fokussierung auf die pathologische Kondition sowie ein neutraler Hintergrund aus. Die Patienten werden vor einem unbestimmten dunklen Fond platziert, wobei das erkrankte Körperteil auf den Betrachter hin orientiert ist. Neben leicht ins Profil gedrehten oder frontalen Ansichten existieren Darstellungen, die den Patienten entweder von der Seite, mit dem Rücken oder aber in Simultanansicht von sowohl vorne als auch hinten zeigen. Die Porträts sind mehrheitlich als Brust- oder Hüftstücke ausgeführt. Die Fehlbildungen werden zumeist gleichberechtigt neben den gesunden Partien des Körpers präsentiert – eine Aussage, die sich mit Blick auf den medizinischen Kontext auch vice versa formulieren ließe. Neben der Kontrastierung des erkrankten Bereichs mit dem ansonsten gesunden Aussehen der Patienten ist ferner eine gewisse Inszenierung der Geschwülste festzustellen. Oft sind diese von der Draperie der wie ein Vorhang aufgezogenen Kleidung der Modelle eingefasst. Eine Anonymisierung der Patienten wird nur selten vorgenommen. Selbst in Darstellungen, in denen die Art der Erkrankung die Abbildung des Kopfes unnötig erscheinen lässt, sind individuelle Gesichtszüge wiedergegeben. 21 Schätzungen auf 110 Gemälde finden sich in der Literatur bis in die 1990er Jahre. Zuletzt Conner 1993 (wie Anm. 13), S. 303, Anm. 19. Diese Angaben können als widerlegt gelten. In der Regel wird nun von 114 Bildern ausgegangen. Siehe Heinrich 2008 (wie Anm. 9), S. 42. Eine Anzahl von 115 Gemälden nennt Gilman 1986 (wie Anm. 9), S. 61, Anm. 9. Singulär wird sogar von 200 Porträts gesprochen. Siehe Samuel C. Harvey: Peter Parker. Initiator of Modern Medicine in China. In: Yale Journal of Biology and Medicine 8 (1936), S. 225–241; hier S. 233. Die bis dato bekannten Bilder verteilen sich auf folgende Sammlungen: Yale Medical Historical Library (86), Gordon Museum des Guy’s Hospital in London (23), Johnson Art Museum der Cornell University (5), Countway Medical Library, Boston (1), Peabody Essex Museum, Salem (1). 22 Zwölf Aquarelle nach Parkers Patienten sind im Besitz der History of Medicine Library der Mayo Clinic, Rochester. Siehe Jack D. Key: Hog Lane Surgery (Ophthalmic Hospital, Canton, China). In: Minnesota Medicine 69.5 (1986), S. 283–291. Insgesamt 15 Gouachen befinden sich in der Sammlung des Wellcome Trust in London. VON M ASSLOSEM W UCHS 329 Die Mehrzahl der Bildnisse Lam Quas lässt sich auf Fallbeschreibungen beziehen, die Parker von seinen Patienten anfertigte. Diese Berichte dienten jedoch nicht nur der Dokumentation im Notizbuch des Arztes. Vielmehr wurden sie im Magazin The Chinese Repository veröffentlicht und einem größeren Publikum in Europa und den USA zugänglich gemacht.23 In einer dieser Beschreibungen findet sich eine Äußerung Parkers, die den Zusammenhang der Porträts mit den publizierten Notizen belegt. In seinem Report schildert er den Fall des Mädchens Lew Akin, das am 17. April 1837 in die Klinik aufgenommen und bereits zehn Tage später erfolgreich operiert wurde. Die Mitteilung beendet Parker mit den Worten: »I am indebted to Lamqua, who has taken an admirable likeness of the little girl, and a good representation of the tumor. The more interesting cases that have been presented at the hospital, he has painted with equal success [...].«24 An dieser Stelle erwähnt Parker neben seiner Kooperation mit Lam Qua auch, dass es sich bei dessen Gemälden um Darstellungen von »more interesting cases« handle. Mit dieser Bemerkung spielt er nicht nur auf die Besonderheit der spektakulären Missbildungen an. Er hält dies fest, weil sein Hospital ursprünglich als Augenklinik konzipiert und vielerorts angekündigt worden war. Nicht die chirurgische Entfernung von Geschwülsten war der intendierte Zweck des Krankenhauses, sondern die Wiederherstellung des Sehvermögens von Patienten mit Entzündungen der Augen oder Trübungen der Linse. Visuelle Wahrnehmung und Sichtbarkeit standen demnach buchstäblich im Zentrum von Parkers Unternehmung. Bilder von Tumoren: Sehen und Sichtbarmachen »The institution is ostensibly for the cure ofophthalmic diseases; all other affections are exceptions«, betont Parker noch im März 1839.25 Schon in seinem ersten Klinikbericht vom Jahresbeginn 1836 hatte er diese Ausrichtung des Hospitals dokumentiert und damit begründet, dass Erkrankungen der Augen in China reichlich und die einheimischen Heiler unfähig seien, diese vernünftig zu kurieren.26 Parker vertrat damit einen Standpunkt, der im Rahmen der medizinischen Mission in China weit verbreitet war und der sich in Form von Texten und Institutionen bereits niedergeschlagen hatte.27 23 Zur Rolle des Magazins bei der Verbreitung von Informationen über China und der Propagierung der christlichen Mission siehe Elizabeth L. Malcolm: The Chinese Repository and Western Literature on China 1800 to 1850. In: Modern Asian Studies 7.2 (1973), S. 165 –178. 24 Peter Parker: Ophthalmic Hospital at Canton. The Sixth Quarterly Report. In: Chinese Repository 6.1 (1837), S. 34–40; hier S. 39. 25 Peter Parker: Ophthalmic Hospital at Canton. The Ninth Report. In: Chinese Repository 7.11 (1839), S. 569–588; hier S. 587. (Hervorhebung im Original.) 26 Parker 1836 (wie Anm. 19), S. 462. 27 Siehe Heinrich 2008 (wie Anm. 9), S. 5. 330 M ARCEL F INKE Es ist jedoch weder die anfängliche Konzentration der ärztlichen Bemühungen Parkers auf ophthalmologische Eingriffe noch die vermeintliche Omnipräsenz von Augenleiden im China des 19. Jahrhunderts, die den Zusammenhang von physiologischem Sehen und Wahrnehmung für eine Auseinandersetzung mit den Patientenbildnissen interessant machen. Vielmehr lässt sich zeigen, dass das Augenlicht zu einem wichtigen Angelpunkt des bisher skizzierten Gefüges wurde. Es ermöglichte Parker, an Metaphern der Wahrnehmung auch Hoffnungen und Ansprüche der medizinischen Mission zu koppeln. Die Einschränkung des Sehens oder die Blindheit seiner chinesischen Patienten wurden wiederholt mit deren Unfähigkeit verknüpft, das Licht der christlichen Religion zu erkennen. Bereits vor seiner Ankunft in China im Jahr 1834 war Parker in diesem Sinn eingestellt. So notierte er, wenige Stunden bevor er Kanton erstmals erreichte: »The heavens have spread their azure canopy over our heads and the sun has scattered his bright beams over a vast region lying beneath a moral darkness that may be felt.«28 Die von Parker verwendete Trope der Dunkelheit war eine stehende sprachliche Wendung der christlichen Mission in China. Während generell darauf hingewiesen wurde, dass es Ziel sein müsse, das Licht des Evangeliums über dem dunklen Reich auszubreiten,29 gibt es zahlreiche Belege, dass der Medizin dabei eine wesentliche Rolle zukommen sollte. Mit Bezug auf Parkers Klinik betont beispielsweise ein Bericht im Boston Medical and Surgical Journal: »[...] physicians and surgeons, who are usually received with marks of distinction, as benefactors, in those benighted regions where moral darkness can never be dispelled, till the mild influences of Christianity are introduced by unobtrusive means.«30 Das Streben der ärztlichen Mission und Parkers medizinisches Wirken richteten sich darauf, die Chinesen im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinn sehend zu machen und ihnen die Augen für den christlichen Glauben zu öffnen. Die Verknüpfung der Überzeugung von der Überlegenheit der westlichen Medizin mit der Verbreitung der christlichen Heilsbotschaft kann wiederholt auch in Parkers Fallbeschreibungen nachgelesen werden. So schildert er 1836 die Behandlung eines Patienten mit grauem Star: »Another patient had been blind with a cataract in his left eye forty years, but on couching it, I found the retina still sensible to the light. A few days after, when I visited him, he seemed affected with the kindness shown to him [...]. He then enumerated the several favors which I had done him, and added in conclusion ›you must be a divine person.‹ This gave 28 Tagebucheintrag Parkers vom 26. Oktober 1836. Zitiert nach Stevens 1972 (wie Anm. 10), S. 103–104. (Meine Hervorhebung; M.F.) 29 Elijah C. Bridgman (Kanton) in einem Brief vom März 1835 an den Sekretär des American Board of Commissioners for Foreign Missions, Rufus Anderson: »[…] to pour out the light of the glorious gospel on this dark empire.« Zitiert nach Gulick 1973 (wie Anm. 10), S. 32. 30 Boston Medical and Surgical Journal 15 (1837), S. 384. (Meine Hervorhebung; M.F.) Zitiert nach Theron Young: A Conflict of Profession. The Medical Missionary in China 1835–1890. In: Bulletin of the History of Medicine 47.3 (1973), S. 250–272; hier S. 262. VON M ASSLOSEM W UCHS 331 me the opportunity, in correcting his mistake, to point him to our divine Saviour [...].«31 Auf faktischer Ebene versuchen derartige Äußerungen, die Effektivität der westlichen Medizin herauszustellen sowie den Eindruck zu schildern, den die erfolgreiche Behandlung auf den chinesischen Patienten machte, und die daraus resultierende Dankbarkeit mitzuteilen. Auf metaphorischer Ebene geht es jedoch darum, die generelle Heilbarkeit der Chinesen zu betonen und die Dringlichkeit ihrer Heilung deutlich werden zu lassen. Notwendigkeit und Machbarkeit der medizinischen Mission werden hier gleichermaßen angesprochen, wobei dem Sehen eine zentrale Stellung zugewiesen wird. Abgedruckt im Magazin The Chinese Repository sollten derartige Berichte die Wirksamkeit der missionarischen Arbeit über den Umweg des Skalpells belegen. Für eine entsprechende Verbildlichung boten sich Augenkrankheiten aber nur wenig an. Zwar machte der Mediziner seine Patienten in diesen Fällen wieder sehend, den Bildbetrachtern wäre in Darstellungen solcher Kuren aber nur wenig zu sehen gegeben worden. Den Trübungen der Linse oder einer inflammatorischen Rötung mangelt es letztlich an visueller Kraft, um in der gleichen Weise beredsam zu sein wie die Texte Parkers. Die Erkrankungen des Sehorgans bleiben für eine Abbildung uninteressant, denn auf der Oberfläche des Bildes wird besonders jenes sichtbar, das sich erkennbar in die Körperoberfläche des Patienten eingetragen hatte. Für Tumore, die sich als maßloser Wildwuchs unübersehbar am Leib manifestieren, gilt dies in besonderer Weise. In westlichen Schriften des 19. Jahrhunderts über die körperlichen Leiden und die Medizin in China wird neben den Pathologien des Sehapparates vor allem auf das Vorkommen krankhafter Wucherungen hingewiesen. Im medizinischen Fachblatt The Lancet wird dies 1840 beispielhaft formuliert: »Tumours of every sort, situation, and size, abound in southern parts of China. They are sometimes encysted, or steatomatous, but more frequently sacromatous, and are for a long time of so healthy a structure, that they seem to be natural appendages to the body.«32 Neben der Häufigkeit wird oft die monströse Größe der Geschwülste beschrieben. Die in China auftretenden Tumore erregten schon ihrer Dimensionen wegen Aufsehen und sie riefen im Westen wahre Schauspiele hervor, wie der Fall des Chinesen Hoo Loo verdeutlicht. Die Krankengeschichte von Hoo Loo vermittelt einen Eindruck von der Aufmerksamkeit, die dem doppelten Fremden – dem Chinesen und dem Tumor – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entgegengebracht wurde: In zeitgenössischen Berichten war es erneut die erklärte Unzulänglichkeit der chinesischen Heilkunde, die an den Anfang der Leidensgeschichte von Hoo Loo gestellt wurde. Von einer 25 Kilogramm schweren abdominalen Geschwulst geplagt, stellte sich die- 31 Parker 1836 (wie Anm. 19), S. 473. (Hervorhebung im Original.) 32 Tradescant Lay: Diseases among the Chinese. Tumours. In: The Lancet 888 (1840), S. 851– 853; hier S. 851. 332 M ARCEL F INKE Abb. 3: Lam Qua: Porträt Chú Shuniyh, 1840, Öl auf Leinwand, 61 × 46 cm, Yale University, Harvey Cushing / John Hay Whitney Medical Library. Siehe auch Farbtafel X. ser in einer Klinik in Macao vor. Da ein Eingriff dort nicht erfolgen konnte, unterstützte man die Reise des Patienten nach London, wo er imGuy’s Hospital behandelt wurde. Die eigentlich nur für Mediziner und Medizinstudenten öffentliche Operation entwickelte sich zu einer spektakulären Attraktion. Der chirurgische Eingriff lockte fast 1.000 Neugierige an, so dass noch vor dessen Beginn in ein größeres anatomisches Theater umgezogen werden musste.33 33 Removal of a Tumour fifty-six Pounds in Weight. In: The Lancet 398 (1831), S. 86–89. Siehe auch Meegan Kennedy: »Poor Hoo Loo«. Sentiment, Stoicism, and the Grotesque in British Imperial Medicine. In: Marlene Tromp (Hg.): Victorian Freaks. The Social Context of Freakery in Britain, Columbus 2008, S. 79–113. VON M ASSLOSEM W UCHS 333 Abb. 4: Poor Hoo Loo and His Tumour, 1831, Kupferstich. Es ist dieser bemerkenswerte Fall des Hoo Loo, auf den sich Parker dreizehn Jahre später in einem seiner Klinikberichte bezieht, da er ein ähnliches Krankheitsbild gleicher Ausprägung vor sich hat. In seinem Text informiert er über die Leiden eines 33jährigen Chinesen, der an einer krankhaften Schwellung des Hodensacks litt.34 Von diesem Fall ist ein Gemälde aus der Hand Lam Quas erhalten, das etwa im Mai 1840 ausgeführt wurde (Abb. 3). Das Bild stellt den Patienten und seinen Tumor auf eine Weise dar, die partiell eine vergleichbare Wiedergabe Hoo Loos zu zitieren scheint, die einen Artikel inThe Lancet illustrierte (Abb. 4). Dennoch bestehen auffällige Unterschiede: Die schematische Umrisszeichnung der Illustration besteht aus vier verschiedenen Einzeldarstellungen, die den Patienten mit der gewaltigen Geschwulst zeigen, den von der Wucherung befreiten Körper mit den vernähten Einschnitten sowie zwei Ansichten des exstirpierten Tumors. In Lam Quas Porträt liegt indes eine simultane Abbildung der Vorder- und Rückseite des stehenden Patienten vor. Wie in nahezu allen medizinischen Bildnissen 34 Peter Parker: Eleventh Report of the Ophthalmic Hospital at Canton. In: Chinese Repository 13.5 (1844), S. 239–247; hier S. 245. 334 M ARCEL F INKE Abb. 5: Lam Qua: Porträt Po Ashing (präoperativ), 1837, Öl auf Leinwand, 61 × 46 cm, Yale University, Harvey Cushing / John Hay Whitney Medical Library. Siehe auch Farbtafel XI. der Serie bleiben der Erkrankte und die Erkrankung als intakte Einheit erhalten. Eine histopathologisch informative Wiedergabe des erkrankten Gewebes wird hingegen in den Porträts nie gegeben, vielmehr bleibt der Blick des Betrachters stets auf die Ansicht der äußeren Morphologie der Geschwulst beschränkt. Auch lässt sich die im Rahmen der ärztlichen Mission immer wieder betonte Effektivität der westlichen Medizin mit derartigen Abbildungen nur gering verdeutlichen. Dies liegt darin begründet, dass die Gemälde den pathologischen Zustand festhalten, nicht aber das Resultat einer erfolgreichen chirurgischen Intervention. Im Korpus gibt es allerdings Bilder, die einen Ausweg aus dieser Situation andeuten, indem sie auf die visuelle Argumentationsstruktur des Vorher-Nachher zurückgreifen. Die Rede ist von Gemäldepaaren, die den Patienten Po Ashing sowohl im präoperativen als auch im postoperativen Zustand repräsentieren (Abb. 5 und 6).35 Die erste von beiden Darstellungen entstand im November 1836 und zeigt den jungen Mann mit einer massiven Geschwulst am linken Oberarm. Das dazugehörige Pendant gibt dessen Aussehen nach der Amputation des erkrankten Körperteils und der Abheilung der Operationsfolgen wieder. Solche Vorher-Nach35 Informationen über Po Ashing in Peter Parker: Ophthalmic Hospital at Canton. Fourth Report. In: Chinese Repository 5.7 (1836), S. 323–332; hier S. 329–331. VON M ASSLOSEM W UCHS 335 Abb. 6: Lam Qua: Porträt Po Ashing (postoperativ), 1837, Öl auf Leinwand, 61 x 46 cm, Yale University, Harvey Cushing / John Hay Whitney Medical Library. Siehe auch Farbtafel XI. her-Bilder eigneten sich besser, um nicht nur das pathologische Objekt zu dokumentieren, sondern auch die Rekonstruktion eines gesunden Zustandes zu visualisieren – selbst wenn dieser ein eingeschränkter bleiben musste. Die Porträts von Po Ashing sind zwar die einzigen bekannten Beispiele, die sich dieser Strategie bedienen. Sie müssen es aber nicht gewesen sein, folgt man zeitgenössischen Schriftquellen, die von Parkers Klinik und den Bildnissen Lam Quas berichten. Ein Artikel aus The Lancet macht beispielsweise folgende Angaben zur Präsentation der Gemälde: »The walls of the hall in the Canton hospital are decorated with pictures representing individuals with tumours before incision, and again without tumours after they had recovered their health. They were painted by Lamqua [...].«36 Und Parker selbst spricht vereinzelt davon, dass es sich um Gemälde von Kuren handle, das heißt nicht lediglich um Darstellungen erkrankter Personen.37 Weshalb aber 36 Lay 1840 (wie Anm. 32), S. 851. (Meine Hervorhebung; M.F.) Gleichlautende Aussagen auch in Downing 1841 (wie Anm. 14), S. 88–89. William Lockhart: Der ärztliche Missionar in China, [London 1861], Würzburg 1863, S. 106. 37 »[...] pointing to the paintings and illustrations of cures, suspended around the hall of the hospital [...].« Peter Parker: Thirteenth Report of the Ophthalmic Hospital at Canton. In: Chinese Repository 14.10 (1845), S. 449–461; hier S. 461. 336 M ARCEL F INKE im Korpus bisher keine weiteren Vorher-Nachher-Darstellungen zu finden sind, bleibt bis zu diesem Zeitpunkt unbeantwortet. Allein solche Äußerungen legen nahe, dass sich Parker durchaus darüber bewusst war, durch welche Mittel seine visuelle Argumentation an maximaler Eindrücklichkeit und Überzeugungskraft gewinnen konnte. So weit sich rekonstruieren lässt, erfüllten die Patientenbildnisse Lam Quas verschiedene Funktionen innerhalb des missionsärztlichen Handelns und der Agitation Parkers. Die oben angeführte Beschreibung des Aufenthaltsraumes seiner Klinik deutet an, dass die Gemälde ihre Betrachter zunächst unter jenen Chinesen fanden, die auf die Behandlung ihrer Leiden warteten. Allerdings scheinen die Porträts nicht nur morbide Dekoration gewesen zu sein. Wahrscheinlich dienten sie auch als Referenzobjekte, an denen sich während des Predigens der Zusammenhang von Kur und Christentum erläutern ließ.38 Die Darstellungen erfüllten damit im Missionskontext wesentliche Notwendigkeiten: Mit ihnen war es möglich, sowohl die Probleme der fremdsprachlichen Kommunikation abzumildern als auch das angenommene Bedürfnis der Chinesen nach sichtbaren Argumenten zu bedienen.39 Die Bedeutung der Bildnisse erschöpfte sich für Parker darin jedoch nicht. Die Verwendung der Gemälde blieb weder auf den Bereich der Klinik eingeschränkt, noch waren es allein chinesische Patienten, die als Adressaten der Bilder gesucht wurden. Zu vermuten ist zunächst, dass Parker die Abbildungen tatsächlich als Illustrationen für seine Fallberichte verwenden wollte.40 Darüber hinaus instrumentalisierte er die Porträts immer dann, wenn er damit Interesse für sein Wirken und die Arbeit der Medical Missionary Society wecken konnte: Auf einer Schiffsexpedition nach Japan im Jahr 1837 führte er einige der Bilder mit sich, um offizielle Gesandte des Landes von seinen philanthropischen Absichten zu überzeugen und dadurch Vertrauen zu gewinnen.41 Auch präsentierte Parker seine Gemälde während des Besuchs einiger Kommissare des obersten chinesischen Zollamtes im August 1839.42 Von besonderer Bedeutung ist der gezielte Einsatz von Lam Quas 38 Ebd. 39 Zur Funktion der Bilder als ocular evidence siehe Heinrich 2008 (wie Anm. 9), S. 4, 40–41, 51. 40 Aus einem Journaleintrag Parkers vom 22. Januar 1836 geht nach Edward Gulick hervor, dass der erste Klinikbericht mit einer Reproduktion des Gemäldes Akae hätte erscheinen sollen. Siehe Gulick 1973 (wie Anm. 10), S. 244, Anm. 28. Bis auf den letzten Report (1850), in dem zwei schematische Holzschnitte von Blasensteinen abgedruckt sind, wird jedoch keier der Klinikberichte von Illustrationen begleitet. 41 Parker in einem Brief vom 30. Juni 1837. Siehe Stevens 1972 (wie Anm. 10), S. 141. Ausführliche Informationen über die Expedition und die Verwendung der Bilder gibt Samuel W. Williams: Narrative of a Voyage of the Ship Morrison. In: Chinese Repository 6.5 (1837), S. 209–229; hier S. 211, 216, 224. 42 Parker in einem Brief vom 4. September 1839. Siehe Stevens 1972 (wie Anm. 10), S. 174– 175. VON M ASSLOSEM W UCHS 337 Tafelbildern im Rahmen einer Werbetour, die Parker nach seiner vorübergehenden Rückkehr in die USA ab 1840 begann. Während dieser Kampagne setzte er die Porträts wiederholt zur Bebilderung seiner Vorträge vor sowohl Laien- als auch medizinischem Fachpublikum ein.43 Parker scheint die Darstellungen seiner Patienten selbst dann noch zum Zweck der Belehrung genutzt zu haben, wenn er wie im Guy’s Hospital in London nur zufällig auf diese traf. So erfährt man aus seinem Tagebuch, dass er bei einem Besuch in der pathologischen Sammlung des Krankenhauses im Juni 1841 auf einige Kopien nach seinen Gemälden gestoßen sei. Vor seinen erstaunten Begleitern nahm er diese Gelegenheit zum Anlass, um über die Fallgeschichten und die erfolgreichen Operationen zu dozieren.44 Des Weiteren ist hervorzuheben, dass die Bildnisse Lam Quas in ein anatomisches Museum der Medical Missionary Society eingehen sollten und gelegentlich auch als Geschenke für besonders großzügige Förderer dieser Gesellschaft vorgesehen waren.45 Die Bedeutung von Lam Quas Patientenporträts als Bilder, die in eine Rhetorik anschaulicher Überredung eingebunden waren, wird anhand dieser Beispiele nachvollziehbar. Sie machen aber auch deutlich, dass nur selten von deren Gebrauch als Lehrmaterial, das heißt von einem denkbaren wissenschaftlichen Nutzen gesprochen wurde. Die Gemälde erscheinen deshalb zunächst als bloße Ästhetisierungen des maßlosen Wachstums von Tumoren, die aufgrund ihrer aufdringlichen Sichtbarkeit zu reinen Kuriositäten werden. Nach Stephen Rachman führt die Funktionslosigkeit der Wucherungen in Lam Quas Porträts zum Beispiel dazu, dass diese zu Abbildungen sonderbarer Phänomene werden, die man nur anstarren könne.46 Ein solches Urteil aber erinnert an das eingangs zitierte Diktum von Karl Rosenkranz und scheint selbst einer vermeintlichen Ästhetik des Monströsen zu unterliegen. Demgegenüber gilt es zu fragen, inwiefern diese 43 Parker bereiste zwischen Ende 1840 und Mitte 1841 zahlreiche Städte in den USA, England, Schottland und Frankreich, um für seine Unternehmung und die Arbeit der MMS zu werben. Siehe unter anderem Cadbury 1935 (wie Anm. 16), S. 68–75. Eine wichtige Einordnung dieser Kampagne in die Öffentlichkeitsarbeit der MMS leistet Grundmann 1992 (wie Anm. 10), S. 172–176. 44 Parker schreibt in seinem Eintrag vom 1. Juni 1841: »Found a collection of my patients in the Museum. Copies of the original.« Zitiert nach Gulick 1973 (wie Anm. 10), S. 105. 45 Schon die Gründungsstatuten der MMS halten die Einrichtung eines Museums fest – ein Plan, der nie umgesetzt wurde. Medical Missionary Society. Regulations and Resolutions. In: Chinese Repository 7.1 (1838), S. 32–44; hier S. 34. In seinem Bericht über die Kampagne kündigt Parker beispielsweise für die China Medical Missionary Society of Philadelphia an: »[...] it will expect in return such contributions [as] materia medica, paintings of remarkable diseases [...].« Zitiert nach Stevens 1972 (wie Anm. 10), S. 217. 46 Stephen Rachman: Curiosity and Cure. Peter Parker’s Patients, Lam Qua’s Portraits. In: Common Place 4.2 (2004), unpaginiert, www.common-place.org/vol-04/no-02/rachman/ (Letzter Zugriff: 17. November 2008). 338 M ARCEL F INKE Darstellungen an Traditionen der Repräsentation von Krankheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts partizipieren oder worin deren eigene Maßlosigkeit zu erkennen ist. Verbildete Körper: Ästhetiken des maßlosen Wuchses ab 1800 In einem wegweisenden Aufsatz über Lam Quas Bildnisse kommt Sander Gilman zu dem Schluss, dass diese allein vor dem Hintergrund einer Refunktionalisierung westlicher Strategien zur Darstellung von erkrankten Körpern in China zu verstehen seien.47 Diese Folgerung wurde durch Larissa Heinrichs Hinweis ergänzt, die Porträts stellten nicht nur ein anatomisches Gegenmodell zur funktionalen Körperauffassung der chinesischen Kultur dar, sondern seien zugleich als Muster der Repräsentation von Krankheit in China wirksam geworden.48 Beide Einsichten führen letztlich zu der Frage, wie sich die Ölgemälde zu den zeitgenössischen, westlichen Konventionen pathologischer Abbildung verhalten. Einer einfachen Einordnung widersetzen sich diese Darstellungen deshalb, weil sie nicht in einem dezidiert wissenschaftlichen Rahmen produziert und gebraucht wurden. Bei den Gemälden handelte es sich ja weder um Abbildungen aus anatomischen Atlanten noch Illustrationen aus medizinischen Fachpublikationen. Dennoch weisen sie zahlreiche Muster und Inhalte auf, die dort gleichermaßen anzutreffen sind. Überdies ist die Bildgeschichte der Pathologie zum Zeitpunkt der Entstehung der Patientenbildnisse noch kaum ein halbes Jahrhundert alt. Ein systematisches Abbilden von individuellen Krankheitserscheinungen setzte auch in Europa erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein, wobei frühe pathologische Werke entweder Präparate aus Sammlungen oder gar keine Illustrationen zeigen.49 Zwar finden sich auch vor 1800 Abbildungen von Tumoren und Malformationen, doch sind diese in medizinischen Atlanten oder Lehrbüchern nur marginal. Wucherungen und Geschwülste, wie sie in Lam Quas Gemälden zu sehen sind, hatten ihren Ort lange Zeit vorrangig in teratologischen Zusammenhängen.50 Um 1835 waren solche Missbildungen jedoch längst zu Objekten des medizinisch-pathologischen Interesses geworden: »Man darf sich von der Wucht der Deutlichkeit nicht täuschen lassen. Es geht nicht um Wunder, vor denen die Augen aufgerissen werden, der Mund aber erklärungslos verschlossen bleibt. Die ikonographische Samm- 47 48 49 50 Gilman 1986 (wie Anm. 9), S. 63. Heinrich 2008 (wie Anm. 9), S. 12, 114–133. Siehe Vogt 1969 (wie Anm. 4), S. 48. Schmidt 2001 (wie Anm. 1), S. 33. Siehe Marielene Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung. Von 1600 bis zur Gegenwart, München 1972, S. 124. Javier Moscoso: Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. Zur Naturalisierung der Monstrosität im 18. Jahrhundert. In: Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, S. 56–72. VON M ASSLOSEM W UCHS 339 lung herausragender Fälle entspricht nicht den vorwissenschaftlichen Wunderkammern [...]«, hält Gunnar Schmidt fest.51 Weder der Umstand, dass Parker und Lam Qua dazu neigten, vor allen Dingen Patienten mit Tumoren abzubilden, noch die Feststellung, dass dafür vorrangig besondere Ausprägungen ausgewählt wurden, scheint deshalb hinreichend, um die Gemälde als reine Kuriositäten zu deklassieren. Ganz im Gegenteil, denn die pathologische Abbildung des 19. Jahrhunderts kennzeichnet eine generelle Suche nach extremen morphologischen Phänomenen.52 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Patientenbildnisse Lam Quas weder als anachronistisch noch als besonders monströs. Wiewohl die Gemälde die Deformationen und das Morbide explizit fokussieren, handelt es sich bei ihnen keinesfalls um rein medizinische oder gar teratologische Darstellungen. Gerade weil sie sich aber sowohl in Traditionen der pathologischen Abbildung ab 1800 als auch in künstlerische Konventionen der Porträtmalerei einordnen lassen, scheinen sie unentwegt Grenzen der kategorialen Bestimmung zu überschreiten. Nicht nur, dass die Bilder den maßlosen Wildwuchs der Tumore stillstellen und auf diese Weise mit künstlerischen Mitteln den chirurgischen Eingriff vorwegnehmen, sie werfen letztendlich immer wieder die Frage danach auf, innerhalb welcher Grenzen sie selbst wahrgenommen wurden beziehungsweise werden sollten. Für Peter Parker jedenfalls ermöglichten sie die Lösung eines Problems: Die faktische wie metaphorische Einschränkung des Sehens unter den Chinesen konnte auf die Sichtbarkeit ihrer Geschwülste verschoben werden. Die Verbildung des Körpers wurde somit zum Ausgangspunkt von Verbildlichungen, die wesentlicher Bestandteil einer komplexen Argumentation waren, in der dem Visuellen eine wichtige Funktion zugewiesen wurde. Maßlos sind die Patientenporträts also nicht, weil sie Transgressionen der natürlichen Form des Körpers abbilden oder weil sie aufgrund der enormen Auswüchse kurios erscheinen, sondern weil sie stets sowohl ihre ästhetischen als auch kontextuellen Rahmungen in Frage stellen. 51 Schmidt 2001 (wie Anm. 1), S. 53. 52 Ebd., S. 44. Schmidt spricht sogar von einem regelrechten »Überbietungsdiskurs«. 19 Unschärfe als frühe Fotokritik Julia Margaret Camerons Frage nach dem Maß der Fotografie im 19. Jahrhundert M IRJAM B RUSIUS Ein mögliches Maß der Fotografie ist ihre Fähigkeit, Gegenstände und Personen in möglichst detailgenauer Entsprechung zum Referenten abzubilden. Unscharfe Fotografien streben der Funktion von Bildern, etwas eins-zu-eins abzubilden, radikal entgegen und stellen die Frage nach einer Bildwahrheit neu. Im unscharfen Bild wird das Primat der Ähnlichkeit aufgegeben; Suggestion tritt an Stelle einer präzisen Abbildung. Die englische Fotografin Julia Margaret Cameron setzte um 1850 Unschärfe in ihren Portraitfotografien genau zu jener Zeit ein, als die Fotografie begann, Schärfe als erstrebenswerte Norm zu etablieren. Mit ihrer frühen Verweigerung dieses Primats der Fotografie, stellt sie die Frage nach dem Maß der Fotografie neu. Erst im Verweigern des reibungslosen Dienstes der Kamera erfährt Cameron eine Bildwahrheit, die gleichzeitig eine frühe Kritik am Wahrheitsgehalt der Fotografie impliziert und das Medium sowie seine Funktionsweisen selbst zum Vorschein bringt. »What is focus?« Im Jahr 1864 stellte die britische Fotografin Julia Margaret Cameron (1815–1879) ihrem Freund, dem Astronomen John Herschel,1 in einem Brief eine recht eigentümliche Frage: »What is focus and who has a right to say what focus is the legitimate focus?«2 Mit ihrer drei Jahre später entstandenen Aufnahme des Adressaten scheint Cameron diese Frage erneut zu stellen; sie treibt sie ins Extrem und stellt gleichzeitig die Unmöglichkeit einer eindeutigen Antwort in den Bildraum: Auf der Fotografie ist Herschel in einer Frontalaufnahme mit einer leichten Kopfdrehung nach links bis zu den Schultern zu sehen (Abb. 1). Der Kopf ist zur Hälfte 1 Herschel war nicht nur Camerons Freund, sondern auch der künstlerische und technische Berater für ihre fotografischen Arbeiten. Cameron schenkte ihm ein Album mit zahlreichen Fotografien. Für eine Reproduktion siehe Colin Ford: The Herschel Album. An Album of Photographs by Julia Margaret Cameron presented to Sir John Herschel, London 1975. 2 Cameron in einem Brief an John Herschel am 31.12.1864. Ebd., S. 141. 342 M IRJAM B RUSIUS Abb. 1: Julia Margaret Cameron: Sir John Herschel, 1867, Albumen print. Siehe auch Farbtafel V. in starkes, fast grelles, von der rechten Seite kommendes Licht getaucht, das die Haarpracht auf dieser Seite zu einer weißen Masse verschmelzen lässt. Das Gesicht scheint einem Relief gleich aus der Bildoberfläche herauszutreten und erhält eine starke Dreidimensionalität. Grund dafür ist die scharfe Darstellung der Kinnpartie. Die Schärfe der Darstellung verringert sich zur Stirn hin. Am Kinn rücken die Struktur der Haut, Bartstoppeln sowie eine unauffällige Narbe haptisch in eine fast greifbare Nähe, die doch eigentümlich fern bleibt.3 Nichts könnte die Schärfe an dieser Stelle näher beschreiben als ihr unmittelbares Gegenteil, das sich direkt unter dem Kinn, wie mit einem Messer von diesem abgetrennt, in Form des weißen verwischten Rollkragens zeigt.4 Die optische Präsenz des scharfen Kinns nimmt in Richtung der Lippen, der nach unten gesenkten Mundwinkel und der Wangen etwas ab. Den Augen verlieh die Fotografin trotz einer leichten Abnahme der Schärfe einen starken Ausdruck, da die tiefen Furchen unter den Tränensäcken und oberhalb der Nase ihre Struktur bildlich beibehalten, die durch die Unschärfe 3 Siehe Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1963, S. 45– 64; hier S. 57: »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« 4 Dass es sich hierbei um Bewegungsunschärfe handelt – aufgrund der Art der Unschärfe wäre dies zu vermuten – kann ausgeschlossen werden, da der Hals kaum separat vom Kopf zu bewegen wäre. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 343 sogar noch verstärkt wird. Außerdem verleihen die Lichtreflexe in den Augen dem Blick einen irritierenden Effekt: Obwohl er eigentlich auf den Betrachter gerichtet ist, wird dieser von einem Dialog abgelenkt, da die Lichtreflexe auf den Raum der Entstehung des Fotos verweisen, der im Blick des Modells gespiegelt ist. Neben der Stirn, auf der die Falten Herschels wie mit einem Pinsel flüchtig aufgetragen erscheinen, ist auch die Nase unscharf abgebildet. Das Haar zeigt sich in einem seltsamen Nebeneinander von Schärfe und Unschärfe: Einerseits ist stellenweise nur eine verblendete weiße Fläche wie auf der rechten Bildhälfte zu sehen, andererseits sind auf der gegenüberliegenden Kopfhälfte einzelne Haarsträhnen bis ins feinste Detail erkennbar. Das Interesse lag bei dieser Fotografie offensichtlich nicht in einer präzisen Darstellung, sondern im Festhalten eines Ausdrucks, der in einer Aufnahme als gestochen scharfer, für sich stehender Moment so nicht zum Tragen kommen könnte. Unschärfe suggeriert hingegen eine Vor- und Nachzeitlichkeit der Momente. Camerons Fotografien, insbesondere ihre zahlreichen Portraits berühmter Zeitgenossen, zeichnen sich durch einen radikalen Einsatz von Unschärfe aus. Unschärfe spitzt die Frage nach dem Maß der Bilder, in diesem Fall nach dem der Fotografie, aufs Äußerste zu, wird doch im Fall der Fotografie Unschärfe in einem Medium verwendet, das zu dieser Zeit gerade im Begriff war, Schärfe als oberstes Maß zu etablieren. Die Fotografie galt seit jeher als das Medium, das den Maßstäben der Realität am besten gewachsen zu sein schien. Seit ihrer Erfindung strebte man ihre größtmögliche Schärfe und damit die größtmögliche Entsprechung des Abbilds mit dem Referenten an. Camerons frühe Unschärfe ist einerseits verständlicher, aber auch verwunderlicher, bedenkt man den Zeitraum, in dem ihre Arbeiten entstanden sind: Die Frühzeit der Fotografie war insbesondere in den Wissenschaften vom Streben nach Schärfe zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren geprägt. Damit einher gingen Versuche, das menschliche Auge zu überbieten. Camerons Arbeiten scheinen dem genau entgegenzustreben. In ihren Arbeiten kommt der Geist einer experimentellen Zeit zum Tragen, in der innerhalb der Fotografie die Ordnung eher die Ausnahme, das ungewollte Chaos hingegen die Regel war. Die Fotografie – zu dieser Zeit auf der Suche nach sich selbst – war Experimentierfeld für Wissenschaftler und Künstler zugleich. Wenn das Medium eine Eigendynamik entwickelte, wurde auch ein Wissenschaftler beim Gebrauch des Fotoapparats bisweilen unfreiwillig zum Künstler. Es wird zu fragen sein, ob einem Medium, das wenige Jahrzehnte zuvor erst erfunden worden war, ein Maß zugrunde liegen kann. The »picture which makes itself« Ein Blick auf die Ursprünge der Fotografie soll bei dieser Frage hilfreich sein. William Henry Fox Talbot, der Erfinder des bis heute angewandten positiv-negativ Verfahrens in der Fotografie, hatte seine fotografischen Experimente bereits mehrere Jahre, bevor er seine Erfindung des neuen Mediums 1839 bekannt gab, 344 M IRJAM B RUSIUS begonnen. Selbst nach 1839, als Daguerre in Frankreich seine zeitgleich entstandene fotografische Methode proklamierte, war noch nicht klar, um was es sich bei der Fotografie eigentlich handelte. War sie eine neue Kunst, wie Talbot sie zunächst nannte? Oder ein Werkzeug der Wissenschaft, wie ebenfalls Talbot die Möglichkeiten seiner Erfindung beschrieb? Talbots chemische Experimente folgten zunächst keinen Regeln. Die Maßstäbe des experimentellen Ausgangs waren nicht definiert, da sich der Ausgang im Ungewissen befand.5 Mit Peter Geimer erscheinen die zahlreichen teleologischen Fotografiegeschichten des 20. Jahrhunderts, die eine stets vom Zweck und vom optimalen Maß ausgehende Geschichtsschreibung der Fotografie verfolgen, in diesem Licht fraglich.6 Talbot veröffentlichte 1844 sein erstes mit Bildern illustriertes Buch »The Pencil of Nature«. Nach Talbot schreibt sich die Natur selbst in Form von Licht in die fotografische Platte ein. »The plates of the present work are impressed by Nature’s hand, impressed by the agency of light«,7 schrieb er über die in seinem Buch abgebildeten Fotografien. »[I]t is not the artist who makes the picture, but the picture which makes itself. All that the artist does is to dispose the apparatus before the object whose image he requires: he then leaves it for a certain time, greater or less, according to circumstances. At the end of the time he returns, takes out his picture, and finds it finished.«8 Nach Talbots Auffassung habe sich das Objekt selbst in die Kamera begeben. Die autopoietische Voraussetzung, die zu Beginn der Erfindung des Mediums gesetzt wurde und der menschlichen Hand sämtliche Kontrolle absprach, spitzt die Frage nach dem Maß der Fotografie in ihrer Komplexität noch weiter zu. Denn das Medium schien zunächst mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Viele von Talbots frühen Fotografien bleiben ikonografisch unbestimmt. Eine eindeutige Bestimmung des Bildinhaltes war jedoch nicht ihr Zweck, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Bilder überhaupt etwas zeigten.9 Der Bildinhalt war die Fotografie selbst. Keine vergleichbare mediale Vorgeschichte hätte Talbot dazu dienen können, technische und ontologische Maßstäbe für seine Bilder zu setzen. In den Worten Geimers: »Die im Pencil of Nature vorgeführten Produkte sind weder objektiv noch subjektiv. Und sie sind auch nicht beides zugleich [...]. Sie entstehen in einem erst noch zu beschreibenden Zusammenhang aus Chemikalien und ihren Effekten, Bibliotheken, Handgriffen Talbots, den Lichtverhältnissen 5 Siehe Peter Geimer: Fotografie und was sie nicht gewesen ist: fotogenic drawings 1834 –1844. In: Gabriele Dürbeck (Hg): Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung, Dresden 2001, S. 135–149; hier S. 135. 6 Siehe ebd., S. 135. 7 William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature, London 1844, o.S. (Introductory Remarks). 8 William Henry Fox Talbot: Brief an Jerdan William, Herausgeber der Zeitschrift Literary Gazette, 30. Januar 1839, The British Library, Talbot Collection. Transkribiert in »The Correspondence of William Henry Fox Talbot«, http://foxtalbot.dmu.ac.uk/index.html, Document number: 3782 (Letzter Zugriff: 11. November 2008). 9 Gail Buckland: Fox Talbot and the Invention of Photography, London 1980, S. 61. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 345 Englands im Jahr 1833, um nur einige Akteure der fotogenischen Zeichnung zu nennen. Anstelle von Objekten oder Subjekten ›selbst‹ zeigt sich ein Ensemble aus humanen und nicht-humanen Agenten, die immer schon vermittelt, miteinander verschränkt, aufeinander bezogen sind.«10 Geimer nennt es ein »Alternieren zwischen Erfindung und Entdeckung, Steuerung und magischer Selbstabbildung der Natur.«11 Dass die Erwartungen an den Ausgang des Bildes noch unbestimmt waren, wird in einer Passage im »Pencil of Nature« deutlich, in der Talbot den Zufall anklingen lässt, diesen aber als reizvoll bezeichnet: »It frequently happens, moreover – and this is one of the charms of photography – that the operator himself discovers on examination, perhaps long afterwards, that he has depicted many things he had no notion of at the time. Sometimes inscriptions and dates are found upon the buildings, or printed placards most irrelevant, are discovered upon their walls: sometimes a distant dial-plate is seen, and upon it – unconsciously recorded – the hour of the day at which the view was taken.«12 Talbot verweist nicht ohne Hintergedanken auf Zahlen und Inschriften, die auf Fotografien wie ›Queens College Oxford‹ zu entdecken sind. Denn die Fotografie sollte sich bald zu dem Medium entwickeln, anhand dessen Informationen nicht selten präziser wahrnehmbar waren als auf den abgebildeten Objekten selbst. In dieser Fotografie verweist das Ziffernblatt einer Uhr im Hintergrund auf den Zeitpunkt der Aufnahme, auch wenn sich der Fotograf währenddessen der Uhrzeit nicht bewusst war. Nach Geimer wurde die Fotografie somit »bereits 1844 tendenziell zum Messbild.«13 In seinem Buch »Out of the Shadows« zeichnete der Talbotforscher Larry Schaaf die gegenseitigen Einflüsse von Talbot und dem Astronomen Henry Herschel nach. Beide verband eine Leidenschaft für Licht, Schatten und Chemie. In seiner Untersuchung, die Herschels Beigabe zu den fotochemischen Experimenten betont, argumentiert Schaaf, »that the weather, petty politics, mothers, and rheumatism had as much to do with the invention and progress of photography as did any physical or artistic concern.«14 Fotografie, zum großen Teil dem Zufall überlassen, war zunächst also ein Resultat der Launen von Licht und Chemie, wie die frühe Aufnahme von Talbots Landsitz Lacock von 1835 zeigen (Abb. 2). Die Experimente von Herschel und Talbot durchliefen verschiedene Namen, die erst nach einigen Jahren in Herschels Terminus »Fotografie« mündeten. Bis dahin stand das Medium zunächst für eine Reihe von geglückten und missglückten Versuchen, deren Wesen schwer in Worte zu fassen war. Was die Fotografie war, geschweige denn, woran sie zu messen war, ließ sich kaum definieren. 10 11 12 13 14 Siehe Geimer 2001 (wie Anm. 5), S. 145. Ebd. Talbot 1844 (wie Anm. 7), o.S., Queens College Oxford, Plate XIII. Siehe Geimer 2001 (wie Anm. 5), S. 149. Larry Schaaf: Out of the Shadows. Herschel, Talbot and the Invention of Photography, New Haven 1992, Prelude S. xi. 346 M IRJAM B RUSIUS Abb. 2: William Henry Fox Talbot: Die Terrasse von Lacock Abbey, 1835, Kalotypie. Es verwundert daher nicht, dass Herschel als Zeuge der Anfangszeit der Fotografie zwei Jahrzehnte später ein erneuter Referenzpunkt für die Fotografen der Zeit wurde, nämlich im Zusammenhang mit Julia Margaret Cameron. In dem zu Beginn zitierten Brief an Herschel sprach Cameron den Wunsch aus, etwas Neues zu schaffen. »What is focus and who has a right to say what focus is the legitimate focus [? ...] My aspirations are to ennoble photography and to secure for it the character and uses of High Art by combining the real and Ideal and sacrificing nothing of the Truth by all possible devotion to Poetry and beauty. [...] Your eye can best detect and your imagination conceive all that is to be done.«15 Camerons radikaler Einsatz von Unschärfe war ungewöhnlich und ihre Fotografien daher, wie sie in dem Brief berichtete, in der Regel: »called and condemned as ›out of focus‹«.16 Mit der Frage »What is focus«, traf Cameron genau den Kern der Problematik. Was war überhaupt Fokus? Wo lagen die Standards? Eine genuin fotografische Terminologie war noch nicht etabliert.17 John Herschel entwickelte Begriffe wie Fotografie, Positiv und Negativ. Schärfe wurde zwar angestrebt – Talbot sprach mehrmals von einem »sharp image« – doch die Tiefenschärfe war als Begriff noch nicht thematisiert worden, da das Medium in der Theorie noch nicht erschlossen war und der Mensch sich seiner noch nicht vollständig bemächtigt hatte. Ein Medium wie die Fotografie, so auch der Fotograf Edward Steichen, könne überhaupt nicht beschränkt werden, bevor man nicht wisse, wel- 15 Cameron in einem Brief an Sir John Herschel am 31.12.1864. Zitiert nach Ford 1975 (wie Anm. 1), S. 141. 16 Ebd. 17 Siehe Heinz Buddemeier: Panorama – Diorama – Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970, S. 145. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 347 chen Sondergesetzen es unterliege.18 Nur zwanzig Jahre zuvor standen Fotografien primär für sich selbst, auf den Inhalt kam es weniger an. Camerons Frage nach dem Fokus wird vor diesem Hintergrund plausibel. Sie erteilte dem Anspruch der Fotografie eine Absage, an Exaktheit unübertreffliche Ergebnisse zu erzielen, bevor er sich etablieren konnte. Zufall und Absicht Über ihre frühen Portraits, wie beispielsweise das des Schriftstellers Henry Taylor von 1867, berichtet Cameron, dass sie unter schwierigen Licht- und Raumverhältnissen entstanden seien.19 Auf dem Frontalportrait, das Cameron von Taylor aufnahm, füllt der Kopf des Schriftstellers einen Großteil der Bildfläche aus (Abb. 3). Taylors Griff in den Bart rafft diesen zusammen und gibt den Blick auf sein Gesicht frei. In dem Portrait ist nichts, vielleicht am ehesten noch der Knöchel nach dem ersten Glied des rechten Zeigefingers fokussiert, der Rest ist, besonders Haare und Bart, unscharf. Durch die Unschärfe werden einzelne Punkte und Linien zu einem Ganzen gesammelt. Die Falten um Taylors linkes, besser beleuchtetes Auge sowie die borstig wirkenden Schnurrbarthaare erhalten daher in ihrer durch die »Bündelung« entstandenen Breite eine starke Intensität. Willi Warstatts Glaube, Unschärfe müsse eingesetzt werden, »indem sie das kleinste und unwesentliche Detail zusammenzieht und vereinfacht«,20 wird bei Cameron stellenweise in das Gegenteil verkehrt: Durch das »Zusammenziehen«, die Bündelung einzelner unscharfer Details wie Haarsträhnen, werden diese Stellen im Bild gerade nicht vereinfacht, wie Warstatt es nannte, sondern emphatisch in den Vordergrund gerückt. Der Blick Taylors ist verschleiert und unterstreicht den Eindruck des hohen Alters des Portraitierten. Von seinem Charakter zeugt die eben erwähnte, durch die Unschärfe erzeugte Verdichtung seiner Gesichtszüge. Camerons Fokussierungsstrategie folgt keinen logischen Prinzipien und verleiht genau dadurch den Bildern den Eindruck von etwas Unaufschlüsselbarem. Insbesondere die langen Belichtungszeiten machten das Fixieren eines scharfen Bildes schwierig. Camerons Unschärfe wurde daher von der einen Seite als beabsichtigt, von der anderen Seite als unbeabsichtigt beurteilt. Helmut Gernsheim, der durch seine einschlägige Monografie die Arbeiten Camerons nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Erinnerung rief, konstatierte als Erster, die Unschärfe in Camerons Bildern sei unab- 18 Siehe Enno Kaufhold: Bilder des Übergangs. Zur Mediengeschichte von Fotografie und Malerei in Deutschland um 1900, Marburg 1986, S. 159. 19 Brief Camerons an Herschel, 26.2.1864. Zitiert nach Colin Ford: Julia Margaret Cameron. 19th Century Photographer of Genius, London 2003, S. 46. 20 Willi Warstatt: Die künstlerische Photographie. Ihre Entwicklung, ihre Probleme, ihre Bedeutung, Berlin 1913, S. 36. 348 M IRJAM B RUSIUS Abb. 3: Julia Margaret Cameron: Sir Henry Taylor, 1867, Albumen print. Siehe auch Farbtafel V. sichtlich entstanden. Er macht hierfür zum einen die technische Ausrüstung, zum anderen Camerons mangelnde Bemühung um deren angemessene Handhabung verantwortlich.21 Ob das Bild scharf war oder nicht, habe für Cameron keine Rolle gespielt. Offensichtlich ist das Gegenteil der Fall.22 Cameron widmete der Frage, ob das Bild scharf oder unscharf sein sollte, immens viel Aufmerksamkeit, auch wenn sie von Problemen berichtete, den Fokus einzustellen.23 Die Fotografie der 1850er und 60er Jahre empfand sie jedoch als uninspiriert und als nicht wert, 21 Helmut Gernsheim: Julia Margaret Cameron. Her Life and Photographic Work, London 1948, S. 21. Gernsheim drückt sich in der überarbeiteten Version seiner Monografie etwas vorsichtiger aus und macht gelegentlich Zugeständnisse: »If we examine the portraits closely we find that the most important parts, i.e. the eyes, on which she focused, are usually best defined; receding parts, a hand or a book closer to the camera than the face, are unsharp, sometimes giving the picture the appearance of her having deliberately introduced a differential focus.« Helmut Gernsheim: Julia Margaret Cameron. Her Life and Photographic Work, New York 1975, S. 71. 22 Bisher wurde Gernsheim in dieser Radikalität nur von Lindsay Smith in Frage gestellt. Siehe Lindsay Smith: The Politics of Focus. Feminism and Photography Theory. In: Isobel Armstrong (Hg.): New Feminist Discourses, London, New York 1992, S. 238–262; hier S. 249 und dies.: Further Thoughts on »The Politics of Focus«. In: Dave Oliphant (Hg.): Gendered Territory. Photographs of Women by Julia Margaret Cameron, Austin 1996, S. 13–31. 23 Julia Margaret Cameron: Annals of my Glass House [1874]. In: Beaumont Newhall (Hg.): Photography. Essays and Images, New York 1980, S. 135–140; hier S. 135. Deutsche Übersetzung: Julia Margaret Cameron: Annalen aus meinem Glashaus [1874]. In: Wilfried Wiegand (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt am Main 1981, S. 155–168; hier S. 157. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 349 Kunst genannt zu werden.24 Die Unschärfe in Camerons Arbeiten hatte ihre Ursachen tatsächlich zunächst in Kamera und Linse.25 Zwar sei es laut dem Ergebnis einiger Untersuchungen zunächst technisch unmöglich gewesen, scharfe Bilder herzustellen. Camerons künstlerischer Geist war es jedoch, der den ästhetischen Reiz genau darin erkannte; in einer Ästhetik, die sich bewusst der Unschärfe verschrieb. Aus ihr gingen die ersten »Glücks- oder Zufallstreffer« hervor, die Cameron im folgenden Zitat beschreibt: »I believe that what my youngest boy [...] who is now himself a very remarkable Photographer told me, is quite true – that my first successes in my out of focus pictures were a fluke. That is to say that when focussing and coming to something which to my eye was very beautiful, I stopped there instead of screwing on the Lens to the more definite focus which all other Photographers insist upon.«26 Offen bleibt, ob Cameron die unter anderem technisch bedingten Unschärfen hätte vermeiden können, als sie sich 1866 neu ausgestattet hatte. Gernsheim bleibt weiterhin der Auffassung, dass hinter der Unschärfe keine Intention steckte.27 Tatsächlich ist es Camerons Sohn, der in seinen Aussagen dem tatsächlichen künstlerischen Ziel seiner Mutter am nächsten kommt: »It is a mistake to suppose that my mother deliberately aimed at producing work slightly out of focus. What was 24 Siehe Sylvia Wolf: Julia Margaret Cameron’s Women, Chicago 1998, S. 33. 25 Siehe Ford 2003 (wie Anm. 19), S. 42. Camerons Linse, »Jamin« genannt, wurde in Paris hergestellt. Auf Gebot Peter Henry Emersons wurde sie später von dem berühmten Linsenhersteller T.R. Dallmeyer begutachtet. 26 Cameron 1980 (wie Anm. 23), S. 136. 27 Ab 1866 war Cameron im Besitz der Rapid Rectilinear Linse von Dallmeyer. Von den beiden Kameras, die Cameron besaß, war die erste für Platten einer Größe von 11’’× 9’’, die spätere für 15’’× 12’’ Platten geeignet. Siehe Gernsheim 1975 (wie Anm. 21), S. 73. Sie war größer als nötig, um die Oberfläche der Platte zu decken. Dadurch war nicht nur die Vergrößerung der portraitierten Personen möglich, sondern auch der Effekt ein anderer – »magnifying the subject« (Julian Cox: »To startle the eye with wonder and delight.« The Photographs of Julia Margaret Cameron. In: ders., Colin Ford: Julia Margaret Cameron. The Complete Photographs, Los Angeles 2003, S. 41–79; hier S. 63), wie Cox das ästhetische Ziel treffend beschrieb. In Folge dessen wurde wiederum der Effekt verstärkt, der durch das Bewegen der Kamera oder des Modells zustande kam. Die Belichtungszeit bei Camerons Aufnahmen betrug zwischen 3 und 7 Minuten. Da sie nicht mit Kopfstützen arbeitete, war das Stillhalten eine enorme Anstrengung für ihre Modelle. Gernsheim schreibt daher einige Unschärfen der Bewegung der Menschen vor der Kamera zu, wobei diese Unterscheidung nicht einfach zu verifizieren beziehungsweise zu widerlegen ist. Die Unschärfe habe ihre Ursache demnach auch in der langen Belichtungszeit. Die lange Brennweite der Kamera, die sie für die großen Platten benötigte, reduzierte die Schärfentiefe – dies umso mehr, je näher Cameron an das Modell heranging. Die plastische Wirkung der Portraits, schreibt er der Brennweite ihres Objektivs zu, durch die sie gezwungen war, bei voller Öffnung zu arbeiten, um zu erträglichen Belichtungszeiten zu gelangen. Die offene Blende machte ebenfalls eine Schärfe im gesamten Bild unmöglich, so Gernsheim. Nach Gernsheim sei es eine Sache der Notwendigkeit und nicht der Intention, dass sie mit geöffneter Blende arbeitete. Gernsheim glaubt also, dass es sich auch später bei der Unschärfe nicht um einen absichtlich herbeigeführten Effekt handelt. 350 M IRJAM B RUSIUS looked for by her was to produce an artistic result, no matter by what means. She always acted according to her instinct; if the image of her sitter looked stronger and more characteristic out of focus, she reproduced it; but if she found that perfect clearness was desirable, she equally attained it.«28 Er fuhr fort: »[I]n photography, as in other art, the process is nothing, the final result everything.«29 Es wäre also ebenso falsch, in Camerons Aussagen eine sich ganz gegen Gernsheims Argumentation gerichtete bewusste Strategie des Fokussierens zu lesen und damit das Maß in der Unschärfe zu bestimmen.30 Der Fall ist vermutlich komplizierter als die beiden Parteien innerhalb der Cameronrezeption zu glauben scheinen; in anderer Hinsicht ist er aber auch einfacher. Um dem Problem gerecht zu werden, gilt es eine Haltung einzunehmen, die von Eindeutigkeiten im künstlerischen Schaffensprozess absieht. Eine Haltung, die die Unterscheidung von Technik und Ästhetik aufhebt und akzeptiert, dass beide im gleichen Moment zum Mittel für einander werden können. Vielleicht wäre eine fokussierte Fotografie für Cameron tatsächlich technisch unmöglich gewesen, hätte sie es gewollt. Entscheidend ist jedoch, dass sie sich die Launen der Kamera im richtigen Moment zu Nutzen machte. Cameron hatte von Beginn an realisiert, dass die Stärke ihrer Arbeiten in ihrem individuellen Stil und damit in dem Bruch mit Konventionen lag. Das geniale Moment bestand genau darin, Unschärfe gerade nicht mit einer weichzeichnenden Linse herzustellen, sondern die Manipulationsmöglichkeiten einer gewöhnlichen Kamera zu nutzen und diese aufzuzeigen. Die Kamera war für Cameron lebendig und die Botschaft lag nicht nur in den Bildern, sondern auch im Mediengebrauch des Apparats: »it has come to me as a living thing, with voice and memory and creative vigour«.31 Sie spielte mit ihrer künstlerischen Intuition, die gerade davon lebte, dass Technik und Imagination ineinander greifen, sich aneinander reiben, sich aufzuheben scheinen, um dann in einem Konsens zueinander zu finden. Camerons Frage nach dem Fokus stellt rhetorisch geschickt die Autorität der Schärfe und damit die Fotografie der Zeit in Frage. Das Maß, das die Fotografie zu dieser Zeit anstrebte – eine möglichst genaue Entsprechung zu dem, was sich vor der Kamera befand – wurde von Cameron boykottiert. Durch ihre Fotografien verleiht sie ihrem Zweifel an der Möglichkeit der Fotografie Ausdruck, reales Leben durch Detailtreue darstellen zu können. Ihr Denken und Handeln – beziehungsweise ihr Unterlassen – sind Anzeichen einer frühen Bildkritik. Die Frage nach dem Verhältnis von Schärfe und Unschärfe war Teil des täglichen Lebens Camerons, da beim Sehvermögen ihrer Familienmitglieder die Abweichung die Regel zu sein schien und so die Empfindung von ›Schärfe‹ ohnehin der individuellen Wahrnehmung unterlag. 28 29 30 31 Zitiert nach Gernsheim 1975 (wie Anm. 21), S. 71. Zitiert nach Mike Weaver: Julia Margaret Cameron 1815–1879, London 1984, S. 138. Siehe zum Beispiel Amanda Hopkinson: Julia Margaret Cameron, London 1986, S. 100. Cameron 1980 (wie Anm. 23), S. 135. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 351 Abb. 4: Julia Margaret Cameron: Carlyle like a rough block of Michel Angelo’s sculpture, 1867, Albumen print. »Like a rough block« Camerons Portrait des Historikers Thomas Carlyle zeigt das Modell in einer starken Nahaufnahme (Abb. 4). Der Kopf nimmt fast die gesamte Bildfläche ein, lediglich am unteren Rand sind der Kragen und im Hintergrund schemenhaft der Schulteransatz Carlyles zu erkennen. Carlyle blickt frontal in die Kamera, der Blick ist jedoch nur am linken Auge festzumachen, da sich die rechte Gesichtshälfte im Dunkeln befindet. Die Hell-Dunkel Grenze verläuft gerade auf dem Nasenrücken des Modells, wird aber am Bart und an den Haaren aufgehoben, die ebenfalls beleuchtet sind. In diesen beiden Zonen ist auch der Grad der Unschärfe am besten zu erkennen. Während der Bart der Kamera am nächsten ist und die Unschärfe sich sehr detailliert, nämlich an den Umrissen der einzelnen Barthaare selbst zeigt, verschwimmt die in einer hinteren Ebene befindliche Haarpracht zu einem Ganzen. Auch Nasenspitze und -rücken zeigen wenig Binnenstruktur der Haut, während diese auf den Wangen besonders deutlich zum Vorschein kommt. Bis auf diese Gesichtspartie wirkt der restliche Kopf des Historikers fast bossenhaft. Dies drückt Cameron selbst im Untertitel ihrer Fotografie aus: »Carlyle like a rough 352 M IRJAM B RUSIUS block of Michel Angelo’s sculpture.« Bei Michelangelos zahlreichen unvollendeten Skulpturen wäre zu fragen, ob sie gewönnen, wenn Michelangelo noch einen einzigen zusätzlichen Handgriff ausgeführt hätte.32 Der Grund für die Nichtvollendung mag in einer Unvereinbarkeit liegen: Der Zweifel an der Möglichkeit der Vollendung führte zu einem Zwiespalt zwischen Idee und Hand. Die Idee kann im Stoff nicht vollends sichtbar gemacht werden, daher muss die Vollendung in der Idee und nicht im Zuendeführen der künstlerischen Hand gesehen werden. Wenn Cameron Carlyles Portrait mit einem groben Block einer Skulptur Michelangelos vergleicht, so sieht sie möglicherweise in der Unvollendetheit die Sichtbarmachung einer Idee, die in ihrem Fall darin bestand, das Innere Wesen des Portraitierten zu erfassen. Auch beim Betrachten der Portraits Camerons ist zu fragen, ob sie sich an Ausdruck und Wirkungskraft selbst überträfen, wären sie durch die Kamera »vollendet« worden. Michelangelos Zwiespalt zwischen Idee und Hand wird bei Cameron zu einem Zwiespalt zwischen Idee und Apparat. Erst durch den Einsatz der Hand und das Nicht-Ausführen des technisch möglichen Ideals entsteht die Vollkommenheit des Portraitierten. Die Wirkung ist der von Michelangelos Skulptur ähnlich: In dem Versuch, das Nichtsichtbare sichtbar zu machen, scheitert das Kunstwerk, da die Idee die Materialität übertrifft. Erst in der Andeutung liegt das verborgene Wahre. Zum Zeitpunkt der Aufnahme befand sich Carlyle in Trauer um seine kurz zuvor verstorbene Frau, nach deren Tod er nie wieder schreiben sollte. Carlyles scharfer Intellekt und seine Stärke verbergen sich gerade in den Schatten des Portraits. Mit dem Portrait gelang es Cameron, nicht nur die Stärke und die Sturheit ihres Gegenübers festzuhalten, sondern auch seine Verletzbarkeit. Durch den Einsatz der Unschärfe wird sein paradoxer Charakter bildlich gemacht – in der Verschleierung geht die Eindeutigkeit des gebrochenen Menschen verloren, denn Unschärfe ist per se mehrdeutig.33 Bei Cameron lösen sich die unscharfen Stellen aus der Raumordnung heraus.34 Der Blick wird nicht auf dem Körper des Portraitierten gestoppt, sondern erhält eine neue Blickregie, die den Betrachter über das Bild schweifen lässt und seine Sehgewohnheiten sowie die geometrische Perspektive konterkariert. Cameron hat aber noch nicht für den Betrachter entschieden. Ihre Fotografien leben somit von 32 Siehe Herbert von Einem: Unvollendetes und Unvollendbares im Werk Michelangelos. In: Josef Schmoll (Hg.): Das Unvollendete als künstlerische Form, Bern et al. 1960, S. 69–82. Siehe auch den in eine ähnliche Richtung weisenden Aufsatz von Werner Koerte: Das Problem des Nonfinito bei Michelangelo. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 7 (1955), S. 293–302. 33 Zum Wesen der Unschärfe siehe Bernd Hüppauf: Die Wiederkehr der Unschärfe. In: Merkur Nr. 659 (März 2004), S. 211–219 und ders.: Zwischen Imitation und Simulation. Das unscharfe Bild. In: ders., Christian Wulf (Hg.): Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 254–277. 34 Siehe Smith 1992 (wie Anm. 22), S. 252. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 353 einer eigenen Topologie – der Raum wird geradezu negiert. Die Arbeiten fixieren die Momente, die in der visuellen Wahrnehmung sofort voneinander überlagert und daher vergessen werden.35 Medienkritik Es sind gerade die Leerstellen in Camerons Bildern, das Nicht-Zeigen von anderen Einzelheiten, die einen Einstieg in das Innere des Menschen ermöglichen.36 Die Leerstelle bezeichnet die Schnittstelle, an der das Medium Fotografie durch ihre Ontologie ins Bewusstsein des Betrachters drängt. Sie zwingt den Betrachter aufzufüllen und zu ergänzen, was nicht vorhanden ist. Gleichzeitig reflektiert Unschärfe die medialen Eigenschaften und die Konstruktion der Fotografie. Was mit Hilfe der Unschärfe und Camerons Verweisen auf den fotografischen Entstehungsprozess fotografiert wird, ist die Tatsche, dass man ein Foto macht.37 Das Problem lag bei Cameron, die häufig auch darauf verzichtete, Schmutz- und Staubpartikel von der fotografischen Platte zu entfernen, in der Unterscheidbarkeit: War das, was zu sehen war, Teil der Referenz oder eine Spur des fotografischen Vorgangs? Mit ihrem Einsatz von Unschärfe wird das Gegenteil von dem erreicht, was Medien sonst zu vermitteln versuchen. So findet Sybille Krämer den passenden Vergleich: »Medien wirken wie Fensterscheiben.«38 Sie würden ihrer Aufgabe umso besser gerecht, je durchsichtiger sie blieben. Nur im Rauschen, also in der Störung oder gar im Zusammenbrechen seines reibungslosen Dienstes, bringe das Medium sich selbst in Erinnerung. 35 Siehe Marlene Schnelle-Schneyder: Photographie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstellung im 19. Jahrhundert, Marburg 1990, S. 344. 36 Emerson schreibt über das Portrait im Sun Artist (1890): »One of her earliest works and one of the best. Recalls Leonardo da Vinci in its elaboration, lighting and sentiment. A great work in many ways.« Siehe Peter Henry Emerson: Mrs Julia Margaret Cameron. In: Sun Artist 5 (1890), S. 33–41. Zitiert nach Nancy Newhall: P. H. Emerson. The Fight for Photography as a Fine Art, New York 1975, S. 86. Siehe auch Ford 2003 (wie Anm. 19), S. 8384. Emerson war der erste, der in dieser Zeitschrift mehr als zehn Jahre nach Camerons Tod die Arbeiten der Fotografin lobte. Lukitsch bemerkt, dass Emersons Kritiken zu Camerons Arbeiten ein falsches Licht auf die Künstlerin warfen, da Emerson in Camerons Absicht, sich technisch von zeitgenössischen Arbeiten abzuheben, ein kommerzielles Interesse sah, während ihre Ambition einem ernsthaften Versuch entsprach, die Fotografie in künstlerischer Hinsicht zu verbessern. Siehe Joanne Lukitsch: Julia Margaret Cameron, Rochester 1986, S. 79. 37 »Ce qu’on photographie, c’est le fait qu’on prend une photo.« Denis Roche zitiert nach Philippe Dubois: L’acte photographique, Paris 1990, S. 5. 38 Siehe Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: dies. (Hg.): Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 73–94; hier S. 74. Siehe auch Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. »Understanding media«, Düsseldorf et al. 1968, S. 13. McLuhan wies bereits darauf hin, dass der Inhalt von Medien deren Eigenart verschleiere. 354 M IRJAM B RUSIUS Durch den radikalen Einsatz von Unschärfe erteilt Cameron der Prämisse von Talbot’s Zeichenstift der Natur eine Absage. Hatte Talbot noch die Abwesenheit der menschlichen Hand mit der Anwesenheit einer natürlichen Hand der Natur zu kompensieren gesucht, 39 setzt Cameron die menschliche Hand mit Emphase ein und erweckt die Kamera dadurch zum Leben. Camerons Aussage, dass sie das Objektiv stoppte, sobald ihr »etwas Schönes« ins Auge sprang,40 erklärt, warum Camerons Fotografien variierende Unschärfen aufweisen, warum sich Schärfe und Unschärfe in ihren Fotografien durchmengen und beide Komponenten auch ohne die andere einzeln auftreten; kurz, warum ein Maß losgelöst von den Launen der Künstlerin, der Kamera und der Chemie, in diesen Arbeiten so schwer zu bestimmen ist. Der Fokus sollte bei Cameron einsetzbar sein wie der Pinselstrich eines Malers oder die Meißelspuren eines Bildhauers. Der subjektive Ausdruck des Portraitierten stand für Cameron von Anfang an vor dem Ziel, möglichst detailgetreu abzubilden. Es galt also, das Medium mit den eigenen Ideen zu überlisten. Die anfangs unbeabsichtigte Unschärfe diente ihr als Mittel. Als Cameron ihre Kameraausrüstung austauschte, waren die technischen Möglichkeiten größer, die Unschärfe aber längst zu ihrem künstlerischen Markenzeichen geworden.41 Weder glaubte Cameron, die Fotografie würde die Realität repräsentieren noch diese verbessern. Die Kamera sollte die Dinge mit Leben erfüllen, das Innere der Dinge zum Vorschein kommen lassen. Die Arbeiten Camerons zeigen, dass der ›reine‹ Abdruck, die reine Spur in der Fotografie per se nicht möglich ist. In den Arbeiten Camerons zeigt sich die Fotografie noch als Ergebnis eines autopoietischen Verfahrens, das zwar stark dem Zufall überlassen wird, aber dennoch schon Kunst zu sein vermag.42 Der Raum des Überraschenden, Unerklärlichen und Unscharfen war trotz der zunehmenden Beherrschung des Apparates noch lange nicht erschöpft.43Die hybride Daseinsexistenz der Fotografie, das Changieren zwischen Wissenschaft und Kunst, zeigte 39 Siehe Talbot 1844 (wie Anm. 7), o.S. (Introductory Remarks). Ronald Berg: Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001, S. 40. Kelley Wilder: William Henry Fox Talbot and »the picture which makes itself«. In: Friedrich Weltzien (Hg.): Von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Bonn 2006, S. 189–197; hier S. 190 und Geimer 2001 (wie Anm. 5), S. 143 –144. 40 Siehe Anm. 26. 41 Siehe Wolf 1998 (wie Anm. 24), S. 33. Wenigstens ein zeitgenössischer Kritiker gelangte zu dieser Erkenntnis: »Mrs Cameron was the first person who had the wit to see that her mistakes were her success, and henceforward to make her Portraits systematically out of focus.« MacMillians’ Magazine, London, January 1866. Zitiert nach Gernsheim 1975 (wie Anm. 21), S. 64, 69. 42 Zum Hybridcharakter der Fotografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Jens Jäger: Das Wunder toter Nachahmung? Diskurse über Photographie um 1850. In: Friedrich Weltzien (Hg.): Von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Bonn 2006, S. 199–217; insbesondere S. 205, 210, 214–217. 43 Siehe ebd., S. 215. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 355 sich um 1850 als verwirrender und wunderbarer Spielraum.44 Bei Cameron werden die Übertragungsleistungen eines Mediums in Frage gestellt, dem man das Aussparen und Weglassen als Wesenseigenschaft keinesfalls zuschreiben wollte. Das Medium zeigt sich im Scheitern einer objektiven Repräsentation von Realität. In Camerons Arbeiten werden somit die Geltung der Fotografie und die Gleichgültigkeit der fotografischen Platte hinterfragt.45 Die Fotografie konnte in Camerons Augen erst dann zur Kunst werden, wenn sie auf ihren traditionellen Anspruch verzichtete, das Reale eins zu eins abzubilden. Eine neue Bildwahrheit Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vierzig Jahre nach Cameron, als sich die Schärfe als Norm etabliert hatte, wurden Schärfe oder Unschärfe die großen Parameter der Fotografie, die darüber entschieden, ob Fotografie Kunst sein konnte. Während Cameron noch einer Gruppe früher Fotografen angehörte, deren persönliches Anliegen es war, Kunst zu schaffen, formierten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts feste kunstfotografische Strömungen,46 die die Fotografie in die Tradition künstlerischer Bilder der Malerei stellten.47 Gleichzeitig ging es einigen von ihnen darum, Fotografien zu schaffen, die dem natürlichen Seheindruck näher kamen als scharfe Fotografien.48 Eine regelrechte Detailflucht begleitete die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die fotografische Sichtbarmachung von Details wie Falten, Narben und Furchen wurde als kalt, leblos und technisch bezeichnet. Der englische Fotograf Peter Henry Emerson und der Österreicher Heinrich Kühn haben, ebenso wie Cameron, die Frage nach dem Fokus in der Fotografie in ihren Bildern und darüber hinaus in ihren Schriften explizit thematisiert. Für 44 Siehe ebd. 45 Siehe Hermann Vogels Standpunkt: »Der Platte ist alles gleichgültig.« Hermann Vogel: Die chemischen Wirkungen des Lichts und die Photographie in ihrer Anwendung in Kunst, Wissenschaft und Industrie, Leipzig 1874, S. 125. Zitiert nach Peter Geimer: »Nicht von Menschenhand«. Zur fotografischen Entbergung des Grabtuchs von Turin. In: Gottfried Boehm (Hg.): Homo pictor, München et al. 2001, S. 156–172; hier S. 172. 46 Siehe zu einer Einordnung Camerons in die Fotografiegeschichte zum Beispiel Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 185–189 und zu Kühn und Emerson ebd., S. 293–297. Bei Wolfgang Baier wird Cameron nur kurz erwähnt, Wolfgang Baier: Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie, Leipzig 1980, S. 519–520. 47 Für einen ausführlicheren Überblick über die internationalen fotografischen Kreise der bildmäßigen Fotografie siehe ebd., S. 531–541. 48 Obwohl selbst Amateure, distanzierten sie sich dabei sowohl von der amateurhaften »Schnappschussfotografie« als auch von der professionellen wissenschaftlich-dokumentarischen Fotografie, die weiterhin scharf abbildete. 356 M IRJAM B RUSIUS Abb. 5: Peter Henry Emerson: Setting the bow net, 1886, Platinum print. Emerson diente Kunst und damit auch Fotografie der Reflexion über Wahrnehmung.49 Auf einer Fotografie von 1885 nahm Emerson vor allem einen Teil eines sich schräg über die Längsseite des Bildes erstreckenden Bootes, das Netz und etwas weniger scharf den Fischer mit seiner Frau in den Fokus (Abb. 5). Die Wasseroberfläche des mit Seerosen und Schilf bedeckten Sees ist unscharf. Vor dem Boot verleiht die Unschärfe der Wasseroberfläche der Spiegelung des Bootes und seiner Insassen einen besonders lebendigen Effekt, da eine Wasseroberfläche beim Betrachten kein unbewegtes Bild, sondern ein verschwommenes Ebenbild dessen zeigt, was sich in ihr spiegelt. Diese Tatsache wird von Emerson noch verstärkt. Er vertrat die Meinung, das Bild müsse ausgehend von einem zentralen scharfen Punkt seine Organisation erfahren, der Hintergrund solle dabei unscharf sein. Emerson war ein Kenner der Schriften Hermann von Helmholtz’, der die Eigenschaften des Auges untersuchte und über visuelle Wahrnehmung forschte. Wenn die Fotografie über Wahrnehmung reflektieren und sich dabei dem menschlichen Auge anpassen möchte, ist für Emerson darin eine Forderung nach einer 49 Bernd Stiegler behandelte vor allem die theoretischen Arbeiten Emersons bereits intensiv und erhellend im Zusammenhang mit wahrnehmungstechnischen Fragen der Unschärfe, wobei er auf die Bilder selbst weniger einging. Siehe Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die fotografische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2001, S. 85–96. Ders.: Paradoxien des ästhetischen Diskurses: P. H. Emerson. Die Fotografie zwischen Kunst und technischer Reproduktion. In: Charles Givel (Hg.): Die Eroberung der Bilder, München 2003, S. 256–269. Ders.: Die Ambivalenz der Fotografie. Peter Henry Emersons Naturalistic Photography for the Students of Arts. In: Fotogeschichte 96 (2005), S. 17–23 und ders.: Theoriegeschichte der Fotografie, München 2006, S. 142–153. Dort auch ein Kapitel zu Unschärfe ebd., S. 154 –169. U NSCHÄRFE ALS FRÜHE F OTOKRITIK 357 Abb. 6: Heinrich Kühn: Pflügender Bauer, 1904, Platindruck. Unschärfe des fotografischen Bildes notwendigerweise enthalten, da das Auge nicht alles scharf wahrnehme. Der entscheidende Punkt ist auch in Emersons Theorie das Bewusstsein für die Möglichkeiten des Fotografen, auf die Abbildungsverfahren einzuwirken und das vermeintlich objektive Aufzeichnungsverfahren bewusst zu manipulieren. Damit und mit seinen theoretischen Ansätzen gelingt Emerson eine ontologische Neudefinition der Fotografie.50 Kühns Anliegen war es, durch das Kamerabild das Empfinden des menschlichen Auges wiederzugeben. Auf dem Platindruck »Pflügender Bauer« von 1904 ist in der Mitte des Bildes ein Mann zu sehen, der einen Pflug vor sich herschiebt, neben dem eine weitere Person steht (Abb. 6). Der Mann befindet sich auf einer Wiese, die etwa die Hälfte des Bildraumes einnimmt und sich im mittleren Hintergrund zu einem Abhang senkt. Dahinter erstreckt sich von rechts unten ansteigend ein Berg. In der rechten oberen Bildecke ist ein Stück Himmel zu sehen. Die beiden Personen und der Pflug sind nur schemenhaft erkennbar. Nur die Umrisse und einige Lichtflecken weisen auf die Struktur ihrer Körper hin. Weitere Lichtflecken, die sich auf einzelnen Grashalmen befinden, sowie der lange Schatten, den der Pflug wirft, lassen auf einen sonnigen Sommertag schließen, ohne dass das Bild genauere Angaben und Einzelheiten vermitteln würde. Die Stimmung des 50 Siehe Stiegler 2005 (wie Anm. 49), S. 17. 358 M IRJAM B RUSIUS Bildraums lässt jedoch diesen Schluss zu; sie wäre in dieser Intensität nicht vorhanden, wären Details auf dem Bild erkennbar. Dass wir im Sonnenlicht nicht besser sehen, sondern schlechter, scheint die Botschaft Kühns zu sein. Das Bild muss unscharf sein, um die dem Auge darbietende Stimmung so lebendig wie möglich einzufangen. Als Befürworter von Unschärfe suchte Kühn die fotografische Gestaltung des menschlichen Seherlebnisses – die innere subjektive Wahrheit anstelle der objektiven Bildtreue. Jedoch sollte der Fotograf nicht ein einzelnes Sujet scharf hervorheben und den Rest unscharf abbilden, sondern vielmehr versuchen, »ein scharfes Grundbild durch ein weicheres zu überlagern«,51 da man so dem natürlichen Eindruck viel näher käme. Alle drei Fotografen, so unterschiedlich sie auch wirkten, setzten gleichzeitig neue Maßstäbe, die der Fotografie einen neuen Status der Repräsentation zuweisen, sobald sie sich einem neuen Begriff von Bildwahrheit anpasst, der gerade im Vagen das Eigentliche sieht. Unschärfe und Vagheit sollten im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in der Psychoanalyse Freuds sowie in der Philosophie von Peirce, Wittgenstein und Cassirer ihre Fortsetzung finden. Die Fotografie bahnte dieser neuen Art des Denkens den Weg. 51 Heinrich Kühn: Beiträge zur Frage der weichzeichnenden Objektive. In: Fotografische Rundschau und Mitteilungen 62 (1925), S. 34–38, 55–56, 75–77 und 96–100; hier S. 99. 20 Vermessen – fotografische ›Menscheninventare‹ vor und aus der Zeit des Nationalsozialismus MATTHIAS WEISS Schon bald nach ihrer Erfindung zählte man die Fotografie zu jenen bildgebenden Verfahren, mit deren Hilfe man entscheidend zur qualitativen Bestimmung und klassifizierenden Einordnung des Menschen beitragen zu können glaubte. Dies gilt nicht nur für anthropometrische Aufnahmen, die den Maßstab de facto ins Bild integrieren, sondern auch für all jene Fotografien, die auf ein vergleichendes Sehen ausgelegt sind. Ein kaum zu überschätzender Stellenwert kommt hierbei fotografischen Reihen zu, die die gezeigten Körper oder Gesichter unmittelbar zueinander in Beziehung setzen und in Form von Alben oder Büchern einem weiten Rezipientenkreis zugänglich waren. Der folgende Beitrag zeichnet deshalb in einem ersten Schritt das Entstehen von Reihenbildnissen und Bildnisreihen in außerkünstlerischen Kontexten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nach. In einem zweiten Schritt wendet er sich dann dem Einsickern beider Bildformen in die künstlerische Bildproduktion der Weimarer Zeit und ihrer Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten zu, die die den vorgängigen Reihen bereits immanente Blickposition in derart prekärer Weise zuspitzten, dass sie sich ins Paradoxe wendete – und damit von vornherein zum Scheitern verurteilt war. 1939 wurde ein Bildband in großer Auflage publiziert, der für ›deutsch‹ befundene Gesichter aneinanderreihte und so eine Genealogie zu schaffen suchte, die vom Kopf eines Germanen aus antik-römischer Zeit über Feldherren und Gelehrte bis zum Konterfei Adolf Hitlers reichte.1 Das vorrangig mit visuellen Mitteln geführte Argument, das historische Kontinuität und zugleich die ewige Gültigkeit alles Deutschen behauptet, tritt hier in seiner Konstruiertheit unverhüllt zutage. Subtiler wirksam werden dagegen Bildnisreihen, die nicht im Auftrag des Reichsministeriums für Propaganda, sondern im Rahmen oder zumindest im Umfeld volksund rassekundlicher Erhebungen entstanden. Gemeint sind die Fotografien von Karl Eschenburg, Enno Folkerts, Henry Koehn, Erich Retzlaff, Hans Retzlaff und Erna Lendvai-Dircksen. Betrachtet man diese Bilder als Einzelaufnahmen, so scheinen viele nicht ideologisch motiviert zu sein. Sie vermitteln vielmehr den Ein- 1 Das deutsche Führergesicht. 204 Bildnisse deutscher Kämpfer und Wegsucher aus zwei Jahrtausenden, München, Berlin 1939. 360 MATTHIAS WEISS druck von Porträts oder Trachtenstudien, die die Landbevölkerung der Dreißigerund Vierzigerjahre vermeintlich unverfälscht wiedergeben. Als solche wurden sie denn auch nach 1945 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und das zum Teil bis heute: Erich Retzlaffs Fotobuch Deutsche Trachten aus dem Jahr 1936 zum Beispiel wurde 1958 in nur leicht veränderter Form wieder aufgelegt.2 Eine erhebliche Zahl von Fotografien aus Karl Eschenburgs ebenfalls 1936 veröffentlichtem Oktavband Das ebene Land, der vorrangig Landschaftsbilder, aber auch eine Reihe von Köpfen aus dem Mecklenburgischen versammelt, wurde 2001 in einen aufwändig produzierten Quartband mit dem Titel Das alte Mecklenburg übernommen.3 Erna Lendvai-Dircksen wiederum, die 1932 Das deutsche Volksgesicht sowie zwischen 1939 und 1944 sechs Folgebände gleichen Titels publizierte,4 brachte 1961 eine Auswahl ihrer Kopfstudien als Ein deutsches Menschenbild. Antlitz des Volkes heraus.5 Eine abermals veränderte Auswahl ihrer Köpfe wurde 2003 verlegt.6 Diese unterscheidet sich von den anderen Neuauflagen allerdings insofern, als dass der Herausgeber nicht nur durch die Verwendung des ursprünglichen Titels, sondern auch in Vor- und Nachwort unverhohlen an das nationalsozialistische Gedankengut der Erstausgaben anknüpft. Anhand der Arbeiten von Erna Lendvai-Dircksen soll im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden, dass all die genannten Fotografien keineswegs harmlose oder politisch zu Unrecht vereinnahmte Porträts sind. Zu zeigen sein wird vielmehr, dass es sich um Typenbilder handelt, die das ihnen eigene propagandistische Sinnpotential eben nicht als Einzelbildnis, sondern erst im Zusammenwirken mit anderen Bildern, als Bildnisreihe entfalten.7 Mit in die Betrachtung einzubeziehen ist demnach, dass die Fotografien von Anfang an auf ein Erscheinen als Fotobuch hin konzipiert waren, weshalb schriftliche Kommentierungen und andere Parerga 2 Erich Retzlaff: Deutsche Trachten, Königstein im Taunus 1936. Neuauflage 1958. 3 Friedrich Griese: Das ebene Land. Mecklenburg. Bilder von Karl Eschenburg, München 1936. Wolfhard Eschenburg (Hg.): Das alte Mecklenburg in Photographien von Karl Eschenburg, Rostock 2001. 4 Erna Lendvai-Dircksen: Das deutsche Volksgesicht, Berlin [1932]. Die Folgebände erschienen zu den Regionen Schleswig-Holstein, Bayreuth [1939]; Mecklenburg und Pommern, Bayreuth [1940]; Tirol und Vorarlberg, Bayreuth 1941; Niedersachsen, Bayreuth 1942; Kurhessen, Bayreuth 1943; Böhmerwald, Bayreuth 1944. Beiträge zu Oberschlesien und Schwaben waren in Vorbereitung. Die nachweisbare Gesamtauflage betrug 55.000. Da nicht alle Bände Angaben zur Auflage enthalten, sind deutlich höhere Stückzahlen anzunehmen. Die Angaben folgen Thomas Friedrich: Erna Lendvai-Dircksen (1883–1962): Selbstständige Veröffentlichungen 1932–1961. In: Falk Blask, Thomas Friedrich (Hg.): Menschenbild und Volksgesicht. Positionen zur Porträtfotografie im Nationalsozialismus, Berlin 2005, S. 49–53. 5 Erna Lendvai-Dircksen: Ein deutsches Menschenbild. Antlitz des Volkes, Frankfurt am Main 1961. 6 Helmut Schröcke (Hg.): Das Deutsche Volksgesicht. Ein Bildwerk in 145 Bildnissen von Erna Lendvai-Dircksen, Tübingen 2003. 7 Auch wenn laut einschlägiger Lexika eine Scheidung der beiden Termini nicht üblich ist, soll ›Bildnis‹ in Ermangelung präziserer Begrifflichkeiten im vorliegenden Beitrag nicht synonym VERMESSEN 361 wie Satz und Typografie zu berücksichtigen sind. Besondere Wichtigkeit kommt jedoch dem bereits erwähnten, in der Forschung zu Lendvai-Dircksen bisher allerdings vernachlässigten Moment der Reihung zu, mit dem sich die Fotografin zum einen dem auf breiter Basis geführten volks- und rassekundlichen Diskurs ihrer unmittelbaren Gegenwart eingliederte, zum anderen aber an eine in außerkünstlerischen Kontexten längst etablierte Tradition anschloss, die auf ein vergleichendes Sehen zielte. Im Rahmen der hier vorgestellten ersten Überlegungen zu einem größer angelegten Forschungsprojekt scheint es deshalb geboten, die von LendvaiDircksen eingesetzten visuellen Strategien nicht nur in die Bildproduktion der Dreißiger- und Vierzigerjahre einzuordnen, sondern auch vor einem historisch deutlich weiter gefassten Horizont zu erörtern.8 Bildnisreihen und Reihenbildnisse in außerkünstlerischen Kontexten Fotografische Bildnisreihen, das heißt serielle Anordnungen von Aufnahmen verschiedener Personen, entstehen zunächst weder in einer künstlerisch noch in einer wissenschaftlich motivierten Fotografie, sondern im Bereich des privaten Gebrauchslichtbilds – nämlich in Form von Visitkartenporträts.9 Voraussetzung hierfür waren drei technische Neuerungen, die allesamt auf dasselbe Jahr datieren: 1851 stellte Frederick Scott Archer das sogenannte nasse Kollodiumverfahren vor, mit dessen Hilfe sich ein mehrfach verwendbares, fotografisches Negativ herstellen ließ; Louis Désiré Blanquart-Evrard brachte ein mit Albumin beschichtetes Papier auf den Markt, das Positivabzüge ermöglichte; und der aus Marseille stammende Fotograf Louis Dodéro ersann ein handlicheres Format als das bisher üblimit ›Porträt‹, sondern deutlich weiter verwendet werden, also auch kompositorisch analoge, in haltlich aber different besetzte Formen wie zum Beispiel das Typenbild bezeichnen. Diese Differenzierung scheint deshalb notwendig, weil gerade in Bezug auf die Einordnung oder den Status der Fotografien von Erna Lendvai-Dircksen und ihrer Kollegen in der Forschung keine einheitliche Terminologie verwendet wird. Ulrich Keller beispielsweise hält am Begriff des Porträts fest und differenziert über Attribuierungen wie ›weltanschaulich‹. Wolfgang Brückle hingegen konstatiert eine starke Konzentration der Fotografie jener Jahre auf Typus und Physiognomie. Ulrich Keller: Die deutsche Portraitfotografie von 1891 bis 1933. In: kritische berichte 2/3 (1977), S. 37–66; hier S. 41. Wolfgang Brückle: Kein Porträt mehr? Physiognomik in der deutschen Bildnisphotographie um 1930. In: Claudia Schmölders, Sander Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 131–155. 8 Gemeint ist das Teilprojekt A8 im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen, das sich mit Strategien der Erfassung, Formung und Einverleibung durch fotografische Menschenbilder auseinandersetzt. Für nähere Informationen siehe http://www.sfb-performativ.de/seiten/ a8_vorhaben.html (Letzter Zugriff: 23. Oktober 2008). 9 Zur Einführung siehe Jean Sagne: Porträts aller Art. Die Entwicklung des Fotoateliers. In: Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 103–123; besonders S. 109– 114. 362 MATTHIAS WEISS Abb. 1a–c: Unbekanntes russisches Atelier, Porträt Bernhard Cossmann, Moskau, vor 1870. Gustav und Arnold Overbeck, Porträt Eduard Bendemann, Düsseldorf, um 1870. R. Schade, Porträt Hermann Levi, Alexandersbad, nach 1870. Die drei Fotografien im Visitkartenformat stammen aus der Sammlung des Robert-Schumann-Hauses Zwickau. che, das sich sein Pariser Kollege André Adolphe Eugène Disdéri drei Jahre später patentieren ließ. Entscheidend an diesen Neuerungen war, dass sie die Produktionskosten erheblich senkten und damit das Fotografiertwerden für eine deutlich breitere Käuferschicht erschwinglich machten. Glaubt man den Äußerungen eines Zeitzeugen, so löste das neue Format bald nach seiner Einführung eine regelrechte »Visitkartenepidemie« aus.10 Anzumerken ist, dass die hier im Zentrum des Interesses stehende Serialität der Bildnisse zunächst kein erklärtes Ziel der cartes de visite war. Sie entstand gleichsam beiläufig, und zwar nicht nur durch die zur Massenproduktion notwendigen Standardisierungen der technischen Abläufe, sondern auch durch die immer gleiche Motivwahl und die Art der Aufbewahrung, nämlich das Sammeln in Steckalben. Die Stereotypisierung solcher Fotografien (Abb. 1a–c) ist allerdings nicht allein auf die Einfallslosigkeit der Atelierfotografen oder die Genügsamkeit ihrer Kundschaft zurückzuführen. Sie diente vielmehr dazu, dem Zugehörigkeitsgefühl der Porträtierten zu einer bestimmten sozialen Gruppe Ausdruck zu verleihen und dabei eine Homogenität zu behaupten, die mit der sozialen Wirklichkeit nur bedingt korrespondierte: Mit Hilfe von Visitkartenfotografie und Steckalbum gelang es, zumindest auf einer symbolischen Ebene die Gleichheit aller Bürger 10 So die Zustände im Wien des Jahres 1860 laut: Bericht von A. L. Schrank vom 26.12.1860. In: Photographisches Archiv 2 (1861), S. 19. Gleiches galt wohl für Berlin, wo eine »PorträtVisiten-Kartomanie« grassierte. Kladderadatsch 12 (1860), Bild 182, 183. Beides zitiert nach Wolfgang Baier: Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie, München 1977, S. 507. VERMESSEN 363 herzustellen und sie zugleich von anderen, nicht bürgerlichen Gesellschaftsschichten abzugrenzen.11 Das Visitkartenbild ist seiner Funktion nach also einerseits ein Porträt, das die Individualität der abgelichteten Personen sichtbar machen soll, andererseits jedoch arbeiten die Standardisierung des Bildvokabulars und das durch die Präsentationsform zusätzlich betonte Serielle dem Ausdruck von Individualität entgegen. Oder, positiv gewendet: Im Visitkartenporträt sind Individualität und Serialität unauflöslich ineinander verschränkt – und das notwendigerweise. Durch Kleidung, Habitus, Attribute und nicht zuletzt durch die Verwendung des Visitformats werden Bürger und Bürgerinnen als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppierung ausgewiesen, während die Kenntlichkeit ihrer Gesichtszüge zumindest graduell der Individualisierung dient. Denn trotz aller Gleichheit muss sichergestellt sein, dass auf der Fotografie gerade dieser Bürger oder jene Bürgerin zu sehen ist, soll die soziale Verortung und Vergewisserung gelingen.12 Erste Ansätze einer intentionalen Systematisierung finden sich in der kriminologischen Fotografie, die zum Zeitpunkt ihres Aufkommens kurz nach 1860 allerdings kaum vom bürgerlichen Visitporträt zu unterscheiden war.13 Dies hatte in erster Linie pragmatische Gründe: Solange die Polizeistationen weder über eigene fotografische Apparaturen noch über die entsprechenden Kenntnisse zu deren Bedienung verfügten, brachte man straffällig Gewordene in das nächstgelegene Atelier, wo sie der Fotograf in den üblichen Kulissen aufnahm. Die Ergebnisse wurden dann in weniger schmuckreiche, aber den privat gebrauchten durchaus ähnliche Alben gesteckt. Dass dies ein kaum angemessenes Verfahren sei, bemängelte man bald. Deshalb begann man, Kriminelle in kulissenlosen Ateliers zu fotografieren – wobei sich diese radikale Reduktion des Ambientes abermals als symbolischer Akt, nämlich als Ausgrenzung aus der bürgerlichen Lebenssphäre, 11 Timm Starl: Die Physiognomie des Bürgers. Zur Ästhetik des Atelierporträts. In: ders.: Im Prisma des Fortschritts. Zur Fotografie des 19. Jahrhunderts, Marburg 1991, S. 25–48. Lars Blunck: »The Most Abominable Things Ever Produced In Art« – Aufstieg und Niedergang der Visitkartenfotografie. In: Ekaterini Kepetzis, Stefanie Lieb, Stefan Grohé (Hg.): Kanonisierung, Regelverstoß und Pluralität in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main et al. 2007, S. 164 –181. 12 Die in der einschlägigen Literatur anzutreffende Behauptung, dass Visitkartenporträts jeglicher Individualität entbehren, mag der heutigen Betrachtung geschuldet sein. Siehe etwa Starl 1991 (wie Anm. 11), S. 43. Vor dem Hintergrund, dass sie in privaten Alben gesammelt wurden und die Betrachter die Dargestellten namentlich benennen konnten, ist diese These kaum zu halten. Relativierend ließe sich sagen, dass bei einem Übermaß an Regulierung, wie sie für das Visitkartenporträt kennzeichnend ist, das Gesicht gleichsam zu einem letzten Rest des Individuellen gerät. 13 Zur Einführung siehe Susanne Regener: Ausgegrenzt. Die optische Inventarisierung des Menschen im Polizeiwesen und in der Psychiatrie. In: Fotogeschichte 38 (1990), S. 23–38; hier S. 24–26. Weiterführend Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktion des Kriminellen, München 1999, besonders S. 27–63. 364 MATTHIAS WEISS als Ausschluss von einem auch und gerade im Visitkartenporträt als bürgerlich definierten Formenkanon begreifen lässt. Zugleich sorgte die extreme Vereinfachung des Umfeldes für eine Konzentration auf Körpermerkmale und Gesichtszüge der Fotografierten, der wie schon der Standardisierung der cartes de visite eine gegenläufige Bewegung innewohnt. So diente das Fotografieren von Kriminellen zum einen der Identifizierung, weshalb es das Individuelle eines Gesichts unbedingt herausstreichen musste. Zum anderen aber nahm es die Suche nach dem vorweg, was alle diese Gesichter vermeintlich miteinander verband: für typisch befundene Merkmale der ›Verbrecherphysiognomie‹. Seit dem Ende der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts begann man auch in anderen Disziplinen wie der Psychiatrie, der Anthropologie, der Ethnologie und der Volkskunde, die systematische Erfassung und Vermessung des Menschen mit Hilfe fotografischer Mittel massiv voranzutreiben, wobei man nicht nur Bildnisreihen, sondern auch Reihenbildnisse – sprich: Abfolgen verschiedener Fotografien ein und derselben Person – produzierte. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass der in jenen Jahren einsetzende und bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts fortdauernde, regelrechte Erfassungswahn in der Herausbildung wissenschaftlicher Diskursivität wurzelt, wie sie sich bereits im 18. Jahrhundert maßgeblich entfaltet. Aus dem Streben, die Natur und alle ihre Erscheinungsformen zu katalogisieren, zu kategorisieren und in ein interdependentes Ordnungssystem zu überführen, resultierte nicht nur der für ethnologische wie anthropologische Forschungsvorhaben zentrale Begriff ›Rasse‹,14 sondern auch die Idee der Enzyklopädie, die die Gesamtheit allen Wissens verfügbar machen und verfügbar halten soll.15 Maßgeblicher noch ist im Rahmen des hier Diskutierten das Aufkommen von Bildkompendien, die ihrerseits auf eine vollständige Erfassung, Vergleichung und nicht zuletzt bewertende Einordnung angelegt sind. Bündelt und erläutert die Enzyklopädie das Wissen der jeweiligen Zeit in möglichst umfassender und erschöpfender Weise, so bauen Bildkompendien zwar ebenfalls auf einem breiten und differenzierten Kenntnisstand auf, explizieren diesen jedoch nicht in gleicher Weise, sondern führen ihn latent, als verborgenes Substrat mit sich. Bezogen auf das Erfassen und Vermessen des Menschen speist sich dieses Wissen aus verschiedenen Quellen, darunter allen voran die Physiognomik, die aus den Gesichtszügen eines jeden Aussagen über dessen mentale und charakterliche Konstitution ableiten zu können meinte; die Kraniologie (später Phrenologie), die aus 14 Zur Geschichte des Begriffs siehe Stefan Lorenz, Werner Buselmaier: Artikel ›Rasse‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, Basel 1998, Sp. 25–29. Gudrun Hentges: Die Erfindung der ›Rasse‹ um 1800 – Klima, Säfte und Phlogiston in der Rassentheorie Immanuel Kants. In: Birgit Tautz (Hg.): Colors 1800 / 1900 / 2000: Signs of Difference, Amsterdam, New York 2004, S. 47–66. 15 Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftlichen Begriffs, Bonn 1977. Fritz Schalk: Artikel ›Enzyklopädie‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1972, Sp. 573–575. VERMESSEN 365 Abb. 2: Dreiteilige Aufnahme eines jungen Mannes in Vorder-, Seiten- und Rückenansicht, 1929, Fotografie aus einem anthropometrischen Lehrbuch. der Schädelform Rückschlüsse auf die seelisch-geistige Verfassung des Beobachteten zu ziehen können glaubte; die Anthropometrie oder näherhin die Somatometrie, die den gesamten unbekleideten Körper des Menschen unter Zuhilfenahme eines ausgeklügelten Regelwerks metrisch wie numerisch bestimmen und in einer vergleichenden Systematik darzustellen versuchte (Abb. 2); und nicht zuletzt die Trachten- und Kostümkunde, die den bekleideten Körper aus seinem Umfeld isolierte und ebenfalls einem vergleichenden Sehen unterzog. Durchaus im Bewusstsein um die Polemik des Begriffs sollen solche in wissenschaftlichen Kontexten entstandene Bildwerke im Folgenden nicht Alben oder Atlanten,16 sondern ›Inventare‹ genannt werden, da der Begriff nicht nur Bestandsaufnahmen bezeichnet, sondern auch auf besitzrechtliche Ansprüche verweist.17 Inventare sind demnach Listen, mit deren Hilfe Eigentum systematisch und mit Anspruch auf Vollständigkeit erfasst, geordnet und verwaltet wird, weshalb es mit eben diesem Begriff 16 Zur Verwendung des Begriffes ›Atlas‹ siehe Lorraine Daston, Peter Gallison: Das Bild der Objektivität. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 29–99; besonders S. 30–36. 17 Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Band 1, Berlin 1993, S. 590, Lemma ›Inventar‹. In der einschlägigen Literatur zur fotografischen Erfassung des Menschen werden die Begriffe ›Inventar‹ und ›Inventarisierung‹ immer wieder verwendet, die im Folgenden erläuterte Problematik dieser Begrifflichkeiten scheint allerdings nicht ausreichend reflektiert. 366 MATTHIAS WEISS Abb. 3a–b: Sébah, Syrien, 1873, Fototypie. Carl von Haeberlin, Asiaten, 1884/85, Holzstich auf Velinpapier, schablonenkoloriert (Münchner Bilderbogen Nr. 57, hg. von Kaspar Braun und Friedrich Schneider, Detail). Die in Holz gestochene Frauenfigur ist eine Übernahme aus der gut zehn Jahre zuvor angefertigten Fotografie. Siehe auch Farbtafel IV. gelingt, die den wissenschaftlich motivierten Bildnisreihen immanente Blickposition von Produzent und Rezipient nicht nur zu benennen, sondern auch im Gedächtnis zu halten. Bildinventare dienen der Inbesitznahme, dienen der Aneignung und damit nicht zuletzt der Beherrschung des jeweiligen Bildgegenstandes, und zwar mit visuellen Mitteln.18 Diese auf Machterlangung und Machterhalt ausgerichtete Strategie lässt sich als Verschränkung zweier Aspekte des Performativen fassen, wobei der eine Aspekt die Bedingung des anderen ist: Spricht man von der ›Performance‹ eines Menschen, so kann dies eine Aufführung, aber auch eine messbare Leistung, eine bestimmbare Qualität bezeichnen.19 Diese vermeintliche Messbarkeit ermöglicht das Erstellen eines Ordnungs- und Normierungssystems, das nicht nur der Verortung des Anderen, sondern auch der Verortung des Selbst 18 Zur Indienstnahme fotografischer Inventarisierungsvorhaben als koloniale Unterwerfungsstrategie siehe zum Beispiel Elizabeth Edwards: Andere ordnen. Fotografie, Anthropologien und Taxonomien. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 335–355. Kerstin Gernig: Zur Inszenierung eines historischen Typenkanons. Narrative und ikonographische Muster ethnographischer Darstellungen. In: dies. (Hg.): Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, S. 272–295. 19 So verwendet in Jon McKenzie: Performance und Globalisierung. In: Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi, Jens Roselt (Hg.): Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 226–244. Ausführlicher in ders.: Perform or Else. From Discipline to Performance, London et al. 2001. VERMESSEN 367 Abb. 3c–d: Carl von Haeberlin, Tirol, 1903/05, Holzstich auf Velinpapier, schablonenkoloriert (Münchner Bilderbogen Nr. 125, hg. von Kaspar Braun und Friedrich Schneider, Detail). Hans Retzlaff: Schwälmer Tracht. Brautpaar mit Brautjungfern, 1934, Fotografie. Das Bildvokabular fotografischer Inventare entspricht dem der grafischen, der Medienwechsel bürgt jedoch für eine vermeintlich ungebrochene Wiedergabe von Wirklichkeit. Siehe auch Farbtafel IV. dient. Durch das Akzeptieren und Ausagieren solch einer im fotografischen Bild antizipierten Ordnung oder Norm aber lässt sich soziale Wirklichkeit konstituieren, was seinerseits als spezifisches Merkmal des Performativen gilt.20 Handelte es sich bei den in frühen ›Menscheninventaren‹ eingesetzten Bildverfahren um Zeichnungen und Druckgrafik, so wurden diese im ausgehenden 19. Jahrhundert durch Fotografien ersetzt. Dies geschah allerdings nicht schlagartig, sondern nur allmählich, weil die frühen technischen Gegebenheiten das Produzieren von Fotobänden aufwändig und teuer machten, so dass es noch bis in die Achtzigerjahre erschwinglicher schien, fotografische Vorlagen in Stiche zu übertragen (Abb. 3a–b). Für die Argumentationslogik der Bildinventare war der sich anbahnende Medienwechsel allerdings von derart einschneidender Bedeutung, dass man 20 Diese von Theoretikern wie Judith Butler, Pierre Bourdieu oder Slavoj Žižek vertretene Position wird referiert und weitergeführt in Sybille Krämer, Marco Stahlhut: Das »Performative« als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. In: Paragrana 1 (2001), S. 35–64; hier S. 45– 47. Erika Fischer-Lichte: Artikel ›Performativität/performativ‹. In: dies., Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 234–242; hier S. 234. 368 MATTHIAS WEISS zunehmend auf das jüngere Medium setzte. Zwar übernahm man für die fotografischen Inventare das Bildvokabular ihrer grafischen Vorläufer und führte dieses im Grunde unverändert fort (Abb. 3c–d). Zugleich aber verbürgte der Einsatz von Fotografien die nun unverfälschte Wiedergabe von Wirklichkeit. Diese aus heutiger Sicht kaum mehr zu teilende Einschätzung beruhte auf mehreren eng miteinander verknüpften Faktoren, die sich im Begriff der ›Kronzeugenschaft‹ zuspitzen lassen: Im Gegensatz zu früheren Verfahren war die Anwesenheit des Modells im Moment der Bildproduktion unbedingt notwendig; das heißt, diejenigen, die auf der Fotografie zu sehen sind, waren nicht nur anwesend, sondern in ihrem Sosein unmittelbar an der Bildwerdung beteiligt. Hinzu kam die Annahme, dass das zeitliche Zusammenfallen von dargestelltem Ereignis (dem Modellstehen) und dem Augenblick seines Bildwerdens mangelnde Erinnerungsleistungen von Seiten des Künstlers als Fehlerquelle ausschloss. Vor allem aber maß man der Fotografie und mithin auch den fotografischen Bildinventaren aufgrund des Einsatzes einer technischen Apparatur, die den Bildgegenstand in Form von Spuren aus Licht und Schatten auf das Negativ bannte und damit das Entstehen des Bildes vermeintlich von der Einflussnahme seines Produzenten löste, Authentizität und Unwiderlegbarkeit zu.21 Bildnisreihen und Reihenbildnisse als künstlerische Strategie In einem dezidiert künstlerischen Zusammenhang entstehen fotografische Reihenbildnisse und Bildnisreihen erst in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Bemerkenswert sind beispielsweise die Porträtfolgen von Josef Albers, der ab 1928 sein privates Umfeld fotografierte und seine Aufnahmen von Familienmitgliedern, Freunden und Bauhauskollegen auf Tafeln arrangierte.22 Scheint Albers Vorgehen der Einsicht geschuldet, dass sich das Einzigartige eines Gesichtes gerade nicht mit nur einer einzelnen, sondern allenfalls mit einer ganzen Folge von Momentaufnahmen erfassen lässt, so ist das etwa zur gleichen Zeit Gestalt annehmende Lebensprojekt von August Sander formal wie konzeptionell stärker an den oben dargelegten wissenschaftlichen Verfahren orientiert. Sander stand eine soziologisch ausgerichtete Bildnisreihe, eine Typologie der deutschen Bevölkerung vor Augen, 21 Dieses in der gegenwärtigen Debatte als ›indexikalisch‹ bezeichnete Moment des lichtbildnerischen Prozesses umschrieb William Henry Fox Talbot schon 1844 mit der Metapher des von der Natur geführten Zeichenstiftes. William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature, London 1844. Zur Terminologie der Gegenwart siehe Rosalind Krauss: Anmerkungen zum Index, Teil 1. In: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2002, S. 140–157. 22 Siehe Marianne Stockebrand (Hg.): Josef Albers. Photographien 1928–1955, München 1992, Tafeln 6–12, 14–15. Wie Reihenbildnis und Bildnisreihe wurde auch das Ordnungssystem Tafel, das ein simultanes Sehen mehrerer Fotografien ermöglichen soll, nicht im künstlerischen, sondern im wissenschaftlichen Kontext entwickelt. VERMESSEN 369 die laut erster Konzeption mehr als 45 Mappen umfassen sollte. 60 seiner Fotografien wurden 1929 unter dem Titel Antlitz der Zeit in Buchform publiziert.23 Schwieriger einzuordnen sind die von Helmar Lerski angelegten Reihen. Mit dem 1931 veröffentlichten Bildband Köpfe des Alltags hatte wohl auch er nicht das Individuelle, sondern das Typische im Blick.24 Ganz den Stilmitteln der Neuen Sachlichkeit verpflichtet und konsequenter als Sander an der Neukonzeption des Fotobuchs und damit an einer bis dahin ungekannten Sukzession der Bilder interessiert,25 versammelt Lerski in seinem Band anonyme, in den Legenden lediglich durch Berufsangaben unterschiedene Männer und Frauen in extremer Nahsicht. Fünf Jahre später stellte er dieser Bildnisreihe ein Reihenbildnis entgegen. Verwandlungen durch Licht bestand aus 175 Aufnahmen, die abermals in äußerst eng gewählten Ausschnitten das Gesicht nur eines Modells wiedergaben.26 Die verschiedenen Blickwinkel, vor allem aber die unterschiedlichen, teils auf dramatische Effekte abzielenden Beleuchtungssituationen verdeutlichen, dass es Lerski in dieser Arbeit nicht darum ging, mit Hilfe der Kamera charakterliche Eigenschaften des Fotografierten ins Bild zu setzen. Ziel schien es viel eher zu sein, die Tektonik menschlicher Gesichtszüge und das auf ihr sich abzeichnende Spiel des Lichts in all seinen Facetten einzufangen. Eigentliches Thema der Aufnahmen ist damit weniger die gezeigte Person beziehungsweise dessen individuelle Persönlichkeit als vielmehr die immensen Gestaltungsmöglichkeiten des fotografischen Apparats und damit nicht zuletzt die schöpferische Kraft desjenigen, der ihn zu bedienen versteht. Um so erstaunlicher ist es, dass Lerski unmittelbar vor den Verwandlungen durch Licht viel Mühe in ein unvollendet gebliebenes Arbeitsvorhaben steckte, das zumindest in seiner grundsätzlichen Konzeption den Inventarisierungsversuchen von Erna Lendvai-Dircksen und ihren Kollegen befremdlich nahe steht: Gleich nach dem Erscheinen der Köpfe des Alltags reisten Lerski und seine Frau – beide waren selbst Juden – nach Palästina, um mit der Kamera jüdische »Urtypen« aufzuspüren.27 Vor Augen stand den beiden wohl ein Kompendium voller Gesichter, 23 August Sander: Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts, München 1929. Revidierte Neuauflage 2003. 24 Köpfe des Alltags. Unbekannte Menschen, gesehen von Helmar Lerski. 80 Lichtbilder, Berlin 1931. 25 Hanne Bergius: Die neue visuelle Realität. Das Fotobuch der 20er Jahre. In: Kunst- und Ausstellungshalle der BRD (Hg.): Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870–1970, Köln 1997, S. 88–102. Einen reich illustrierten Überblick bieten Martin Parr, Gerry Badger: The Photobook: A History, 2 Bände, New York 2004/2006. 26 Die Verwandlungen durch Licht wurden zu Lebzeiten Lerskis nicht publiziert. Eine Auswahl ist ediert in Ute Eskildsen (Hg.): Helmar Lerski: Verwandlungen durch Licht, Freren 1982. Komplett ediert sind die erhaltenen Motive in Florian Ebner: Metamorphosen des Lichts. Die »Verwandlungen durch Licht« von Helmar Lerski, Göttingen 2002. 27 So Helmar Lerski in einem Schreiben an seinen Verleger Charles Peignot. Zitiert nach Fotografische Sammlung Museum Folkwang (Hg.): Helmar Lerski, Lichtbildner, Essen 1982, S. 370 MATTHIAS WEISS die »alle Merkmale edler, reiner Rasse tragen« sollten.28 Sowohl begrifflich als auch bezüglich der zum Einsatz gebrachten visuellen Strategien schlossen demnach beide Künstler, Lerski und Lendvai-Dircksen, an einen in außerkünstlerischen Zusammenhängen seit Langem etablierten Diskurs an, der in ihrer unmittelbaren Gegenwart allerdings nicht nur eine prekäre Zuspitzung, sondern auch eine immense Popularisierung erfuhr. Zeugnis hiervon legt beispielsweise die ab 1929 in mehreren Auflagen und einem handlichen Format publizierte Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes ab, die ihr schriftlich vorgetragenes und auf Allgemeinverständlichkeit bedachtes Argument mit Bildnisreihen zu untermauern suchte.29 Zunächst ohne explizit an diesen rassekundlichen Diskurs anzuschließen, versuchte Erna Lendvai-Dircksen bereits in ihrer ersten Buchveröffentlichung, vermeintlich typische Merkmale aus den Physiognomien einer bestimmten Bevölkerungsgruppe herauszuarbeiten.30 Das deutsche Volksgesicht wurde 1932 von der Kulturellen Verlagsgesellschaft Berlin herausgegeben. Den schwarzen Schutzumschlag des Oktavbandes füllt zu etwa zwei Dritteln das Profil eines älteren Mannes. In weißer Fraktur ist darüber der Nachname der Verfasserin, darunter der Buchtitel gesetzt. Der Einband ist mit beigefarbenem Leinen überzogen. Der hier in schwarzer Fraktur gedruckte Titel füllt beinahe das gesamte Format und wird oben wie unten von einem waagerechten Strich in gleicher Stärke begleitet. Der Block ist 240 Seiten stark. Einführung und Begleittexte sind ebenfalls in Fraktur gesetzt, es wurde aber eine andere Type verwendet als auf Einband und Umschlag. Der Textteil eröffnet mit einem Zitat aus Hölderlins Hyperion, mit dessen Hilfe Lendvai-Dircksen recht unverblümt ihrem Anliegen Ausdruck verleiht, ein Werk von ewiger Gültigkeit und Dauer vorzulegen.31 In der gut zehn Seiten umfassenden Einführung, deren Sprunghaftigkeit und Redundanz in deutlichem Gegensatz zur stringenten Durchbildung der anschließenden Fotografien steht, stellt die Verfasserin den Grundgedanken ihres Buches vor. Das Gesicht der Landbevölkerung, so Lendvai-Dircksen, sei im Gegensatz zu dem der Stadtbewohner ein naturgegebenes, nämlich ein nicht von der inneren, sondern von der äußeren Natur 28 29 30 31 14 (mit Abbildung). Weitere Abbildungen finden sich ebd., S. 68–79. Das Projekt entstand wohl vor dem Hintergrund der Zionistenbewegung. Eine eingehende Untersuchung steht noch aus. So Anneliese Lerski im Begleittext zu zwei Aufnahmen jemenitischer Juden, die die Zürcher Illustrierte Zeitung 1932 abdruckte. Zitiert nach Museum Folkwang 1982 (wie Anm. 27), S. 15. Hans F[riedrich] K[arl] Günther: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1929. Durch mehrere Neuauflagen erreichte das Buch 1933 eine Auflagenhöhe von 18.000, 1941 gar von 243.000 Exemplaren. Zur – heute kaum mehr – umstrittenen Einordnung der Künstlerin siehe Claudia Gabriele Philipp: Erna Lendvai-Dircksen (1883–1962). Verschiedene Möglichkeiten, eine Fotografin zu rezipieren. In: Fotogeschichte 7 (1983), S. 39–56. »Ich wünschte um alles nicht, daß es originell wäre! Denn Originalität ist uns ja Neuheit; und mir ist nichts lieber, als was so alt ist wie die Welt!« Lendvai-Dircksen [1932] (wie Anm. 4), S. 1. Zur Hölderlinrezeption im Nationalsozialismus von akademischer Seite siehe Heinz VERMESSEN 371 Abb. 4: Erna Lendvai-Dircksen, Buchdoppelseite aus Das deutsche Volksgesicht mit fotografischen Kopfstudien einer alten Frau und eines Kleinbauern aus dem Westerwald, 1932. geformtes. Dieses für ›echt‹ und ›wahr‹ befundene Gesicht, so warnt sie, sei allerdings in seinem Fortbestand gefährdet. Das Buch soll also ausdrücklich – ganz im Sinne eines anthropologischen Inventarisierungsunterfangens – als Bestandsaufnahme einer gefährdeten Spezies verstanden werden, die Lendvai-Dircksen als »Volksmensch« bezeichnet.32 Zuletzt führt sie aus, warum ihre Wahl vornehmlich auf die Gesichter betagter Menschen gefallen ist. Sie nennt zwei Gründe: Zum einen finde sich vollendete Form erst in alten Gesichtern, denen sich Leben und Natur sichtlich eingeschrieben hätten. Und zum anderen sei die Jugend bereits dem Prozess der Verstädterung unterworfen, ihre Physiognomie fremden, dem eigentlichen Lebensumfeld feindlich gegenüberstehenden Einflüssen ausgesetzt. Otto Burger: Die Entwicklung des Hölderlinbildes seit 1933. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 18 (1940), S. 101–122. Iduna. Jahrbuch der Hölderlingesellschaft, 1. Jahrgang, Tübingen 1944 (Nachdruck Amsterdam 1967). Zur Einordnung aus historischer Perspektive und unter Berücksichtigung von Schul- und Feldlektüre siehe Bernhard Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten, Marbach 1983. 32 Lendvai-Dircksen [1932] (wie Anm. 4), S. 5. Von rassifizierendem Gedankengut distanziert sich Lendvai-Dircksen zu diesem Zeitpunkt, wenn sie schreibt, dass die Wissenschaft diese Frage noch keiner endgültigen Klärung hätte zuführen können und das Volkstum als Lebensgemeinschaft eigener Formung mit »Rasseform« nichts zu tun habe. Ebd., S. 8. 372 MATTHIAS WEISS Der anschließende Hauptteil des Buches umfasst 140 schwarz-weiße Kupfertiefdrucktafeln. Dieser besteht überwiegend aus Gegenüberstellungen meist kurzer Texte auf der linken Seite und einer das Format füllenden Fotografie auf der rechten, die in unregelmäßigen Abständen mit doppelseitig angeordneten Bildern wechseln. Doppelseiten, die nur Texte enthalten, sind die Ausnahme. Bei den Fotografien, die neusachliche Gestaltungsmittel wie extreme Nahsicht oder Betonung der Diagonalen aufweisen (Abb. 4) und damit in ein irritierendes Spannungsverhältnis zum Traditionsbewusstsein der Typografie treten,33 handelt es sich zu etwa vier Fünfteln um Kopfstudien. Sie zeigen Bewohner unterschiedlicher Regionen, von der nordfriesischen Insel Föhr bis hinunter in den oberbayerischen Ort Mittenwald und wieder hinauf in die hessische Schwalm. Die Begleittexte sind inhaltlich wie formal heterogen. Sie reichen von einem Spruch aus der Edda oder den Versen eines schwäbischen Volksliedes über allgemeine Einlassungen der Verfasserin zum jeweiligen Landstrich bis hin zu Erlebnisberichten über die Begegnung mit einzelnen Modellen. Die letzte Seite füllt noch einmal ein Zitat aus Hölderlins Hyperion, das das Einswerden mit der Natur als höchstes Glück beschreibt.34 Ähnlich wie bei wissenschaftlichen Inventarisierungsmaßnahmen oder auch in August Sanders Antlitz der Zeit bleiben die für Das deutsche Volksgesicht fotografierten Menschen anonym. Neben der regionalen Zuordnung werden in den Bildunterschriften oder den Begleittexten lediglich der Beruf oder das verwandtschaftliche Verhältnis zu einem der anderen Modelle benannt. Ein wesentlicher Unterschied allerdings ist, dass in Das deutsche Volksgesicht die Fotografien selbst in der Regel keine Rückschlüsse auf die lokale oder temporale Verortung der Dargestellten zulassen. Während Sander sein Gegenüber im persönlichen Umfeld, in Stand und Lebenssituation entsprechender Kleidung oder mit charakteristischem Arbeitsgerät zeigt und damit als soziales Wesen ausweist, isoliert Lendvai-Dircksen die Dargestellten zum überwiegenden Teil aus ihrem Umfeld, indem sie deutlich näher heranrückt und den Hintergrund aufhellt, abdunkelt oder im Unscharfen verschwimmen lässt, was den Fokus stärker auf die Gesichtszüge lenkt. Unterstrichen wird dies durch die Tatsache, dass in die häufig harmlosen, ja teilweise unbeholfen anmutenden Erläuterungen immer wieder physiognomisch und rassekundlich grundierte Beobachtungen einfließen. Die Kopfstudie einer leicht vornüber gebeugten, den Betrachter fest ins Auge fassenden Spreewälderin fortgeschrittenen Alters beispielsweise veranlasst Lendvai-Dircksen, asiatische Ein- 33 Zur Verwendung der Fraktur als ›deutsche‹ Schrift und ihrer Diffamierung als »Schwabacher Judenlettern« siehe Albert Kapr: Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schrift, Mainz 1993, S. 78–84. 34 »Eines zu sein mit allem was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heitre Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfeldes gleicht«. Lendvai-Dircksen [1932] (wie Anm. 4), S. 240. VERMESSEN 373 Abb. 5: Erna Lendvai-Dircksen, Buchdoppelseite aus Das deutsche Volksgesicht mit fotografischer Kopfstudie einer Frau aus dem Spreewald, 1932. Der Text auf der linken Seite lautet: »Dieser Kopf muß neben dem Ausdruck auf seine seltsame Formbildung angesehen werden. Es ist ein asiatischer Zug darin. Vogel und Eidechse sehen aus den blanken Augen hervor, die wiederum auch etwas vom Schimmer großer Halbedelsteine haben. Die Stirn steigt leicht und geschwungen unerwartet hoch, die Ohren legen sich flach an und machen die Linie mit. Eine Wachheit liegt in dem Ausdruck, die mit dem Leben spannenden Kontakt hält. Dämonisches Gesicht.« flüsse zu vermuten und den direkt in die Kamera gerichteten Blick mit dem eines Vogels oder Reptils zu vergleichen (Abb. 5).35 Dem statischeren, weil streng achsensymmetrisch ins Bild gesetzten Gesicht eines Kleinbauern aus Westfalen attestiert sie den Ausdruck von Gehorsam, Kraft und Opferbereitschaft deutscher Soldaten.36 Und in den Zügen eines gedankenverloren über den Betrachter hinwegschauenden Mädchens von der Mosel macht sie ein »südlich lebhaftes Temperament« in Einheit mit einer tiefen Nachdenklichkeit aus, deren Ursprung sie in römischen Vorfahren oder dem klimatischen Widerstreit von rauem Berg und sanftem Tal vermutet.37 All diese Zuschreibungen bemühen allerdings nicht nur physiognomische Klischees, sondern resultieren zuvorderst aus der fotografischen Inszenierungsleistung von Lendvai-Dircksen, deren Einflussnahme auf Körperhaltung, Lichtsetzung und Bildausschnitt die entsprechenden Gesichter überhaupt erst kreiert. Hinzu kommt, dass die Fotografien in ihrer seriellen Reihung eine 35 Ebd., S. 96–97. 36 Ebd., S. 132–133. 37 Ebd., S. 192–193. 374 MATTHIAS WEISS Abb. 6a: Erna Lendvai-Dircksen, Buchdoppelseite aus Das deutsche Volksgesicht mit fotografischen Kopfstudien eines Mädchens und eines jungen Mannes aus Holstein, 1932. ganz eigene Rhetorik entfalten. Zwar zeigt Lendvai-Dircksen ›deutsche‹ Gesichter in erdenklicher Vielfalt. Im Ganzen geht es ihr aber darum, aus all diesen Gesichtern ein Volksgesicht zu formen – ähnlich wie die auf Durchschnittsgesichter zielenden Kompositbildnisse von Francis Galton, nur dass die Überlagerung im Fall von Das deutsche Volksgesicht nicht vom Fotografen vorweggenommen ist, sondern vom Betrachter erblättert werden muss.38 Macht bereits der erste Band deutlich, dass Erna Lendvai-Dircksen das menschliche Gesicht als Austragungsort ideologischer Auseinandersetzung begreift, so verstärkt sich dies in der Zeit nach 1933. Bruchlos fügten sich die sechs Folgebände von Das deutsche Volksgesicht in die Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten ein, was sich exemplarisch anhand des ersten aufzeigen lässt.39 Äußerlich ist das 38 Dieser Vergleich bietet sich insbesondere an, weil Galton die zur Herstellung seiner Kompositporträts verwendeten Einzelbildnisse zu einem Buch ordnete, das er dann Seite für Seite abfotografierte. Francis Galton: Inquiries into Human Faculty and its Development, London 1883, S. 8–19; hier S. 9. Siehe auch S. 339–363 (Appendix B). 39 Gleichsam den Eroberungsfeldzügen der Wehrmacht folgend, erweiterte Lendvai-Dircksen die Reihe um Bände mit dem Titel Das germanische Volksgesicht. Bei Kriegsende lagen drei Einzelbände zu Flandern, Bayreuth 1942; Norwegen, Bayreuth 1942; und Dänemark, Bayreuth 1943 vor. Ein weiterer zu den Niederlanden war konzipiert. Mit einer Stückzahl von 39.000 erreichte der Teilband zu Flandern die höchste Auflage. VERMESSEN 375 Abb. 6b: Erna Lendvai-Dircksen, Buchdoppelseite aus Das deutsche Volksgesicht. Schleswig-Holstein mit fotografischen Kopfstudien einer Jungbäuerin und eines Jungbauern aus dem Hitler-Koog, 1939. Die erläuternde Bildunterschrift lautet: »Im Anbruch einer neuen Zeit fertig geworden, ist der Hitler-Koog eine Neusiedlung im Sinn rassischer Auswahl der Besten.« 1939 unter dem Titel Das deutsche Volksgesicht. Schleswig-Holstein vom Gauverlag Bayerische Ostmark in Bayreuth publizierte Buch dem Vorgängerband recht ähnlich. Es hat einen schwarzen Umschlag, dessen obere drei Viertel das Bildnis eines jungen, hellhaarigen Mannes füllt. Der Einband ist mit beigefarbenem Leinen überzogen,Verfassername und Titel sind in dunkelbrauner Fraktur ins obere Drittel geprägt. Die für Umschlag und Einband gewählte, weich geschwungene Fraktur ist im Inneren durch eine geradlinigere, kantigere ersetzt. Der Block ist 72 Seiten stark. Texte und Abbildungen haben in mancherlei Hinsicht eine Radikalisierung erfahren. Der Tonfall der Textanteile ist schärfer, gleichzeitig wurde das verbale Argument zugunsten visueller Evidenz zurückgedrängt: Die Einleitung umfasst nur eine Seite und ist in ihrer Wortwahl noch pathetischer, noch martialischer als in Das deutsche Volksgesicht. Gleich in den ersten Zeilen wird dem im Nordseeraum beheimateten Menschen ein »natürliches Herrentum« zugeschrieben, »Kampf« und »Freiheit« sind die zentralen Vokabeln. Den Schluss bildet die Formel »Blut und Boden«, die einen inneren Zusammenhang zwischen Landschaft und physiognomischer Bildung ihrer Bewohner behauptet und zugleich den aggressiven Subtext von Rassenhygiene und Landnahme transportiert, den 376 MATTHIAS WEISS ihr nationalsozialistische Ideologen wie Richard Walther Darré implementierten.40 Es folgen 63 ganzseitige Aufnahmen in schwarz-weiß, die nur sporadisch von kurzen Texten unterbrochen werden. Hinzugetreten sind indes Bilder von Landschaften und Gehöften sowie einige mehrzeilige Legenden, die die Reihung der Bilder nur unerheblich stören. Inwiefern auch die Fotografien als solche eine Radikalisierung erfahren haben, lässt sich anhand der Gegenüberstellung des für Das deutsche Volksgesicht ausgewählten Paares aus Holstein (Abb. 6a) mit einem Jungbauernpaar aus dem HitlerKoog (Abb. 6b) veranschaulichen.41 Vor allem in kompositorischer Hinsicht weisen beide Doppelseiten bemerkenswerte Parallelen auf: Hier wie dort sind Mann und Frau einander zugewendet und mit einfachen, kragenlosen Hemden oder Blusen bekleidet. Jeweils links befindet sich vor dunklem Hintergrund ein weiblicher Kopf im Dreiviertelprofil, wobei die Augen sowie das geflochtene und aufgesteckte Haar der Frau aus dem jüngeren Band deutlich heller sind als das der anderen. Ähnliches gilt für die beiden fast vollständig im Profil wiedergegebenen Männerköpfe auf der jeweils rechten Seite. Zeigt die ältere Fotografie vor hellem Hintergrund einen Mann mit dunklen Augen und dunklem, kurz geschnittenem und gescheiteltem Haar, so präsentiert die jüngere vor dunklem Hintergrund einen kurzhaarigen Blonden mit heller Regenbogenhaut. Dass die Fonds von Jung-Bäuerin und Jung-Bauer im Tonwert einander angeglichen sind, verstärkt den Eindruck, es handele sich bei den einander Zugewandten tatsächlich um ein Paar. Auffällig ist zudem, dass das Mädchen und der junge Mann aus Holstein etwas angestrengt einen Punkt außerhalb des Bildformats fixieren, während die beiden anderen zwar ebenfalls in die Ferne blicken, aber völlig in sich zu ruhen scheinen. Beide Gesichter erstrahlen in einem sanften Licht, was ihren Zügen nicht nur mehr Klarheit, Ernst und Reife, sondern geradezu etwas Ort- und Zeitloses verleiht. Mit visuellen Mitteln wird hier demnach eine Vorbildlichkeit formuliert, deren Zukunftsgerichtetheit sich nicht zuletzt im verbalen Kommentar zu den beiden Fotografien unmissverständlich artikuliert. Denn laut Bildunterschrift stehen diese Frau und dieser Mann aus dem gerade fertig gestellten Hitler-Koog an der Schwelle einer neuen Zeit und sind dazu auserkoren, durch selektive Fortpflanzung den Bestand des von den Nationalsozialisten über alle anderen gestellten ›nordischen Menschen‹ zu sichern. Als performativ erweisen sich die Fotografien aus Das deutsche Volksgesicht also nicht nur, weil sie die Mess- und Normierbarkeit des Menschen postulieren, sondern auch weil sie unverhohlener Maßstab eines optimierbaren 40 Richard Walther Darré: Neuadel aus Blut und Boden, München 1930. Zur historischen Einordnung siehe Matthias Eidenbenz: »Blut und Boden«. Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R. W. Darrés, Bern et al. 1993. Gustavo Corni, Horst Gies: »Blut und Boden«. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers, Idstein 1994. 41 Ein Koog ist eine zum Schutz vor Überflutungen mit einem Deich umgebene Niederung in Küstennähe. VERMESSEN 377 ›Volkskörpers‹ zu sein behaupten. Damit werden die Bilder zu Handlungsanweisungen, die im Verbund mit vielen anderen Maßnahmen dazu beitragen wollen, einen neuen, den nationalsozialistischen Vorstellungen entsprechenden Menschen zu schaffen. Gerade dieses Bildpaar ist es demnach, an dem sich die paradoxe und damit von vornherein zum Scheitern verurteilte Blickkonzeption in den Bildnisreihen von Erna Lendvai-Dircksen verdeutlichen lässt. Zum einen überhöht die Künstlerin ein mit fotografischen Mitteln sorgsam vermessenes Menschenbild sowohl mythisch als auch utopisch, womit es eine ewige Gültigkeit beansprucht, die den Betrachter zwangsläufig ausschließt. Und zum anderen manifestieren sich in eben diesem Menschenbild im selben Moment Distinktions- beziehungsweise Zugehörigkeitskriterien der unmittelbaren Gegenwart, die im Betrachter den Wunsch und das Streben nach Identität wachrufen sollen, in ihrer Uneinlösbarkeit aber nichts als Vermessenheit sind. Oder, mit anderen Worten: Zwar übernehmen die ›Menscheninventare‹ von Erna Lendvai-Dircksen von ihren wissenschaftlichen Vorläufern sowohl die Idee der Klassifizierbarkeit des Menschen als auch das Klassifikationskriterium ›Rasse‹ und spitzen diese im Sinne nationalsozialistischer Ideologie zu. Zugleich aber unterscheiden sie sich maßgeblich, weil sie nicht als Devianzinventare konzipiert sind, die den wie auch immer gearteten ›Anderen‹ ausgrenzen, indem sie nur den von einer zuvor festgesetzten Norm Abweichenden zeigen, die Betrachterposition aber im Unsichtbaren belassen und damit gleichsam unausgesprochen als Definitionsmacht artikulieren. Wirksam werden sollten die im privaten Umfeld zirkulierenden Bildbände vielmehr wie das auf ungezählte Steckalben verteilte Corpus von Visitfotografien, das eine sich zusammengehörig fühlende Gemeinschaft – hier das Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts, dort die von den Nationalsozialisten eingeforderte ›Volksgemeinschaft‹ – nicht nur abbildete und bestätigte, sondern überhaupt erst zu generieren half, und das obwohl die Betrachterposition de facto eine externe ist. Solch eine Fotografie aber befindet sich nicht im Modus des »So-ist-es-gewesen«.42 Sie propagiert ein uneinholbares ›Sowird-es-sein‹. 42 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, S. 86–87. 21 Von der Fotografie als Weltsprache zum Theater der Realität Anmerkungen zur »Family of Man« im Museum of Modern Art S ILKE WALTHER Der Essay untersucht rhetorische Strategie und Inszenierung der New Yorker Erstpräsentation der »Family of Man« von 1955 vor dem Hintergrund einer durch Printmedien und populäre visuelle Kultur der dreißiger bis fünfziger Jahre vorselektierten, universalistisch gedachten Fotografie. Benjamins als Triumph der Fotoreproduktion über bürgerliche Museumsrituale gedachter Auraverlust wird durch kuratorische Ausnutzung des institutionellen und (massen-) medialen Kontexts sowie der theatralischen Potentiale einer temporären Ausstellung relativiert. Der Beitrag verfolgt exemplarisch den Transformationsprozess, der die in den Bezugsrahmen eines topischen Rundgangs gestellten Bilder aus diversen Fotoarchiven zu einer symbolischen (Welt- beziehungsweise Makro-) Ordnung mit damaligem Wahrheitsanspruch fügte. Als Weltbildkonstruktion im Museumsraum heute Denkmal des Kalten Krieges, bietet dieses Beispiel Anlass, ontologische und technologische Bildbegriffe durch Einbezug der Orte um dreidimensionale Bildlichkeit zu erweitern. Benjamins Thesen zum Ausstellungswert in der Massenkultur lassen den Übergang zur sozialrevolutionären Kollektivrezeption als gesetzmäßig erscheinen; nur aus alten Porträtfotos winkte für ihn die Aura noch herüber.1 Seine Warnung vor »photographische[m] Schöpfertum« der Propagandisten muss Edward Steichen, der seit 1947 die Fotoabteilung am Museum of Modern Art New York leitete, verfehlt haben. War er das Genie, das nach einer Vision des belgischen Malers Antoine Wiertz die Fotografie einst am Genick packen werde? Als Schöpfer fiktiver Bildwelten für Condé Nasts Hochglanzjournale und Porträtist internationaler Prominenz war der Mitbegründer von Camera Work ein Altmeister amerikanischer Foto- 1 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1998, S. 21. 380 SILKE WALTHER grafie, als er sich ab 1942 dem kuratorischen Dichten widmete.2 Von den circa 40 Foto-Ausstellungen, die der Reserve-Kommandant und Kriegsfotograf der Navy zusammenstellte, wurde »The Family of Man« diejenige, an der sich die Geister schon 1955 schieden: Die Museumsschwelle sei bis zur unerträglichen Flachheit gesenkt worden, notierte der Kritiker Jacques Barzun. Wer ›Photography as Art‹ erwartet hatte, fühlte sich von visuellen Urlauten aus ›Instinkt und Gefühl‹ bedrängt.3 Die von Abraham Lincoln geborgte Familien-Metapher betitelte eine aus schwarz-weißen Fotoabzügen komponierte Ideenschau, deren politische Unkorrektheiten seit Barthes’ Ideologiekritik bis zur postkolonialen Fotokritik vielfach analysiert wurden.4 Nach den vielen Mythen um diese Ausstellung stiftete das Pressebild eines Publikums in St. Louis die erste Idee, nach der Kurator Steichen, Assistent Wayne Miller und die Fotografin Dorothea Lange aus zwei Millionen Fotos ca. 10.000 Kontaktabzüge sichteten, von denen nach Veto des Designers Paul Rudolph 509 nach einem Scale-Modell auf 37 Themensektionen der Ausstellung verteilt wurden. Der expansive Zug kommerzieller Bildarchive, die hierzu durchsucht wurden, prägte den Slogan »The Greatest Photographic Exhibition of all Time«. Doch ohne die ab 1954 geplante Auslandstournee und den Vertrieb des in 38 Sprachen übersetzten Katalogs wäre die Popularisierung fotorealistischer Bildlichkeit begrenzter geblieben.5 Die Weltläufigkeit der Fotografie wurde, wie Sekula und Sandeen anhand der Wanderausstellung im Kalten Krieg belegten,6 in Übereinstimmung 2 Antoine Joseph Wiertz (1806–1865), zitiert nach Benjamin: »Wenn die Daguerreotypie, dieses Riesenkind, herangewachsen sein wird; wenn all seine Kunst und Stärke sich wird entfaltet haben, dann wird der Genius es plötzlich mit der Hand am Genick packen und laut rufen fen: Hierher! Mir gehörst du jetzt! Wir werden zusammen arbeiten!«, in: Benjamin 1998 (wie Anm. 1), S. 47–64; hier S. 63. 3 Jacques Barzun: The House of Intellect. In: Time Magazine 11.06.1956, zitiert nach Eric Sandeen: Picturing an Exhibition. The Family of Man and 1950s America, Albuquerque 1995, S. 19. 4 Siehe Barthes’ »La Grande Famille des Hommes« zur Pariser »Family of Man«. In: Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957]. Nachdruck in: Jean Back und Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Marburg 2004, S. 271–276. Der kulturwissenschaftliche Tagungsband erschien zur Reinstallation der »Family« als Weltkulturerbe im Château de Clervaux, Luxemburg. 5 Steichen wollte 3000 Fotos, Rudolph »at most [...] four hundred«. Zitiert nach Mary Anne Staniszewski: The Power of Display, Cambridge 1998, S. 240. Der erste Katalog, ediert von John Mason, New York 1955, gibt »503 pictures from 68 countries« wieder. Soweit nicht anders vermerkt, folgen alle weiteren Seitenangaben der aktuellen Paperback-Katalogversion von 1986: Museum of Modern Art (Hg.): The Family of Man, New York 102006. Artur Witmans Zuschauermenge (St. Louis Post Dispatch), siehe ebd., S.109, ist Emblem des auf »audience response« zielenden Ausstellungskonzepts, das Steichen seit 1942 verfolgte. Lincolns »great family of men« (Rede vom 12.2.1861 an deutsch-amerikanische Arbeiter) wurde zur Integrationsformel, siehe Sandeen 1995 (wie Anm. 3), S. 17–19 und S. 159. 6 Sekula betont den politischen Zweck der Ausstellung als »capitalist tool« im Dienst eines »photo colonialism«. Siehe Allan Sekula: The Traffic in Photographs. In: Art Journal 41.1 F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 381 mit kulturpolitischen Zielen der U.S. Information Agency (USIA) durch simultane Verbreitung von vier Kopien der MoMA-Version und reduzierter Foto-Sets von den USA und Westeuropa ausgehend international demonstriert. Am Ende der ›Weltreise‹, die die Grenze zu kommunistischem Territorium für ein bilaterales Gipfeltreffen 1959 überschritt, sollen weltweit 9 Millionen Besucher die große »Family of Man« oder gekürzte Sets in verschiedenen Präsentationsformen gesehen haben. 1966 schenkte die US-Regierung das letzte Set Steichens Heimat Luxemburg, wo es seit 1994 in einer Dauerausstellung im Schloss Clervaux zu besichtigen ist.7 Wird im Folgenden die MoMA-Ausstellung von 1955 zum Ausgangspunkt, so ist damit keine Ausblendung bisheriger wissenschaftlicher Analyse, wie im erfolgsorientierten Museumsmarketing zu Clervaux, intendiert. Rekonstruktionen der New Yorker Ausstellung sollten nicht bei der Würdigung von Design und szenografischem Genie stehen bleiben, sondern rezeptions- und medienästhetische Aspekte mit der Konstruktion und Vermittlung von Weltbildern durch Museumsinstallationen verbinden. Um 1930 schien diese Form der (Re-)Präsentation für Benjamin obsolet. Dass die Assimilationskraft des ›bürgerliche(n) Produktionsund Publikationsapparat(s)‹ wie die Macht der aktivierenden Ästhetik – die er aus der Filmrezeption ableitete – durch populistische Fotoausstellungen bewiesen würde, ahnte er nicht.8 Die kuratorische Strategie, so die These, ähnelt einer Reklame, in der Einstellung und Blickführung hinter dem Pseudo-Dokumentarischen und parallelisierenden Montagen verborgen sind. Resultat ist ein ›Theater der Realität‹, in dem Fotos als Elemente einer symbolischen, kollektiven Ordnung eine höhere Wahrheit über den Menschen vermitteln sollten.9 (1981), S. 15–23; hier S. 16. Zur kulturpolitischen Funktion des MoMA als Ideologiefabrik im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg siehe Staniszewski 1998 (wie Anm. 5), S. 224– 225. Christopher Phillips: Der Richterstuhl der Fotografie. In: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie, Frankfurt am Main 2002, S. 291–333; hier S. 313. 7 Zur »grössten Photoausstellung aller Zeiten« siehe www.tourisme-clervaux.lu (Letzter Zugriff: 19. 11. 2007). Zur Moskauer »Family« in der US-National Exhibition (1959) siehe Sandeen 1995 (wie Anm. 3), S. 95–125. Jack Masey, Conway Morgan: Cold War Confrontations, Baden (Schweiz) 2008, S. 152–183. Die Wanderausstellung zog nach USIA große Mengen an: 116.000 in Dallas; 311.000 in Chicago; ca. 200.000 in New York; 621.000 in Japan; 1,5 Mio. in Indien. Siehe Celia Lury: Prosthetic Culture. Photography, Memory, and Identity, London, New York 1998, S. 41–75. 8 Walter Benjamin: Der Autor als Produzent [1934]. In: ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002, S. 231–247; hier S. 239. Ich stütze mich auf das restaurierte FotoSet in Clervaux und auf die 2007 während der Pariser Steichen-Retrospektive im Musée Jeu de Paume gezeigte filmische Rundgangssimulation der New Yorker »Family« von 1955. 9 Der Begriff ›Theater der Realität‹ (mit Bezug zu Museumsinszenierungen des 19. Jahrhunderts) bei Monika Faber: Das Museum als Domäne zwischen Rationalität und Phantasie. In: Henrich Förster (Hg.): Sammler und Sammlung oder das Herz in der Schachtel, Köln 1998, S.148. Durch filmartige Montage, vereint mit Vorzügen räumlicher Inszenierung unter Rückgriff auf das Panorama, eignet sich die Metapher »Realitätstheater« hier, um Steichens und Sandburgs Idee eines lebhaften »spectacle« über menschliche Existenz zu umschreiben. 382 SILKE WALTHER Von der ›Universalsprache Fotografie‹ zu den Bildern einer Ausstellung Das populäre Fotografieverständnis der Ausstellung ist vorsemiotisch und fällt hinter Einsichten in die Komplexität fotografischer Abstraktion zurück, die 1.000 Aufnahmen derselben Teetasse Steichen in seiner Phase der Straight Photography lehren konnten. Eine Planungsskizze zur Ausstellung (1954) und Pressetexte bemühen Topoi der Kunsttheorie und Fotoliteratur des 19. Jahrhunderts: Fotografie wird, wie um 1850, als ›Universalsprache‹10 definiert, die (da gegenstandsgebunden) überall auf der Welt verständlich sei. Sie wird nicht von der Seite des Bildproduzenten, sondern von der Distributions- und Rezeptionsseite, fotounspezifisch und in Anlehnung an alte Mimesis- und Spiegelmetaphern bestimmt. Steichens ›extrovertierter Bildbegriff‹11 wie auch sein im Museumskontext wenig plausibler Kommunikationsbegriff sind auf die wirkmächtige Synthese von Werbung, Wahrnehmungspsychologie und Ausstellungsdesign zurück zu führen, die er mit Herbert Bayer für die patriotische Fotoschau »The Road to Victory« 1942 entwickelte.12 Phillips bezeichnete die illustrative Methodik semiotisch als ›Dekontextualisierungskampagne‹, in der Fotos zugunsten einer kontrollierten Aussage aus ehemaligen Zusammenhängen gerissen und im neuen frame umkodiert werden. Mit einem Griff in Bild- und Museumsarchive hatte Steichen in der Ausstellung »Portrait of America« (1950) die Vielheit amerikanischer multitudes als organische Einheit inszeniert. Für die »Family of Man« wurde das ›Portrait-in-Photographs‹ der Amerika-Allegorie mit dem Bildfolge-Konzept der »Road to Victory. A Procession of Photographs of the Nation at War« kombiniert, um eine vom Atomkrieg simultan bedrohte, globale Familie als ›kollektives Phantasma‹ in der 10 »Museum of Modern Art Plans International Photography Exhibition, 31.01.1954«, Planungsskizze, MoMA-Archiv, zitiert nach Sandeen 1995 (wie Anm. 3), S. 155: »We are concerned with photographs [...] that demonstrate the importance of the art of photography in explaining man to man across the world, his dreams, aspirations, mirroring the flaming creative forces of love and truth and the corrosive evil inherent in the lie [...] It is essential to keep in mind the universal elements and aspects of human relationships and the experiences common to all mankind rather than situations that represent conditions exclusively related or peculiar to a race, an event, a time, or a place.« Karl Paweks »Weltsprache« ist in Steichens Diktion technisch erzeugte Universalsprache, Mittel modernster Massenkommunikation: »the caveman communicated by visual images. The invention of photography gave visual communication its most simple, direct, universal language.« Edward Steichen: On Photography. In: Nathan Lyons (Hg.): Photographers on Photography, New York 1966, S. 106–108; hier S. 107. Zum Mythos Universalsprache siehe Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie, Bd. 3, München 2006, S. 24. 11 Gemeint ist ein in Kenntnis alltäglicher Print- und Massenmedien geprägter, anwendungsorientierter Bildbegriff. Siehe Willibald Sauerländer: Iconic turn? Eine Bitte zum Ikonoklasmus. In: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn, Köln 2004, S. 407–426. 12 Bayers Konzept bündelte Bild, Grafikdesign, Texte, Architektur zum »apex of all media and powers of communication.« Siehe Herbert Bayer: Aspects of Design of Exhibitions [1961]. Zitiert nach Staniszewski 1998 (wie Anm. 5), S. 245. F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 383 visuellen Sprache der ›popular photography‹ zu komponieren.13 Porträthafte likeness bezog sich nicht auf das Verhältnis zwischen Mensch und Abbild, sondern auf eine allgemeine Charakterisierung: Die Fotografie habe als witness in 100 Jahren selbst ein ›Porträt‹ aufgezeichnet, das allen Menschen Aufschluss über das Menschsein, ihre Verbundenheit und Gleichheit als große Familie zu geben vermöge.14 Jenseits von Historie, Kultur oder Ethnie sollte das Bildgedächtnis »universal elements and aspects of human relationships«, »experiences common to all« 15 sichtbar machen, somit Gemeinschaft offenbaren statt Gesellschaft zeigen. Walt Whitmans Mikroeinheiten des Volkskörpers in Leaves of Grass, »common (wo-)man«, entsprechen über 500 Menschenbilder, unter denen die von Benjamin erwähnten, auratischen alten Porträtfotos jedoch rar sind. Ideenvermittlung und »erkenntnismäßig dirigierte Selektion«16 leiteten die Bildauswahl. Bevorzugt wurde ein abbildungstreuer, ohne Unschärfe oder ungewöhnliche Perspektive auskommender Realismus. Ästhetik und Themen der Ausstellung sind stark mit dem Fotojournal und dessen narrativem Modell, dem Picture-Essay, verflochten.17 Über 200 Fotos hatten amerikanische Fotografen als Urheber. Der Blick auf China, Afrika, Asien und Russland war durch die Bildreportage des internationalen Fotojournalismus für Life (105 Fotos), National Geographic, Fortune,Vue und Ladies’ Home Journal gefiltert. Den Strom des ›optischen Bewusstseins‹ der Zeit zu spiegeln, war Life-Ethos. Im Zweifel folgten die Kuratoren der Logik des meistpublizierten Fotos. Dies gilt auch für die Dokumentationen der Farm-Security-Administration-Kampagne, deren symbolisches und ikonisches Potential Steichen seit 1942 nutzte. So war Dorothea Langes ›Wanderarbeiterin‹ bereits durch Life mit dem Untertitel »Poverty sits in the green fields« populär geworden.18 Wie die Bildreporter des Fotomagazins strebten künstlerische Dokumentaristen nach dem perfekten Bild (Sujet, Stil und ›narratives‹ Potential) und setzten alle verfügbaren Mittel zur Kontrolle des Resultats ein. 13 Der Begriff »kollektives Phantasma« aus: Michaela Ott: U. a. Hollywood. Phantasma. Symbolische Ordnung in Zeiten des Blockbuster-Films, München 2005, S. 137. 14 »The family unit is the root of mankind, and we are all alike.«. Edward Steichen: Photography. Witness and Recorder of Humanity [1958]. In: Peninah R. Petruck (Hg.): The Camera Viewed. Writings on Twentieth-Century Photography, Bd. 2, New York 1979, S. 3 –10; hier S. 5. Sandburgs Vers im Entrée der Ausstellung reduzierte Männer, Frauen und Kinder konsequent auf das Phänomen »All Men«, siehe Staniszewski 1998 (wie Anm. 5), S. 238. 15 Planungsskizze, MoMA-Archiv, zitiert nach Sandeen 1995 (wie Anm. 3), S. 155. 16 Karl Pawek, zitiert nach Kemp 2006 (wie Anm. 10), S. 19. 17 Der Editor von Look: »Storytelling [...] done by related pictures arranged in some form of continuity, accompanied by a subordinate text«. Siehe Mary Panzer: Things as they are. Photojournalism in context since 1955, London 2005, S. 9. Zur Bewusstseinsstrom-Mimikry in Life siehe Beaumont Neuhall: Geschichte der Fotografie, München 1998, S. 269. 18 Archivlegende im MoMA: »Wanderarbeiterin mit Kindern, Nipomo, California, 1936«. Zum Bildtitel in Life siehe Panzer 2005 (wie Anm. 17), S. 17. 384 SILKE WALTHER Das Verhältnis zwischen Originalabzug des Künstlers und Steichens Ausstellungsbild ist insoweit kompliziert, als die Frage nach einem Ursprungsbild hier irrelevant ist und die meisten FSA-Publikationen nach dem Willen der Urheber schon ›cropped pictures‹ zeigten. Die Formate der Ausstellungsbilder reichen von 10 × 13 cm bis zu ›photo murals‹ von 3 × 5 Metern. Größe und Bildausschnitt ergaben sich nach Position und erwünschter Wirkung. So wurde Ben Shans »Hilfsbedürftige in Arkansas« so vergrößert, dass der magere Körper der Frau ins Auge springt. Ihre Kinder im Hintergrund fehlen im Ausstellungsbild, nicht jedoch im Originalabzug Shans. Mit dem Layout des Foto-Essays teilte Steichens Neuedition den sogenannten ›Dreifuß‹ der Dokumentaristen: Bild, Legende und Text – nun an den Ausstellungswänden. Die neue Einbettung ließ Maude Callen, die Krankenschwester aus William Eugene Smiths Life-Reportage, zur modernen Caritas in der Sektion »Grief and Pity« werden. Aus Robert Franks Serie über Bergarbeiter in Wales (1951) wurde die Aufnahme eines in den Schacht hinaufblickenden Grubenarbeiters zum Sinnbild für Spiritualität.19 Fotos aus MoMA-KinderfotoRetrospektiven wurden beigemengt. Neben der Transparenz der Fotografie war ihr Vergleich mit einem Spiegel Teil einer ›bildpragmatischen‹ Emotionsstrategie, die durch Dokumentaristen und Kriegsfotografen der Zwischenkriegsjahre verfeinert worden war. Der Glaube an die unbestechliche Linse der Aufklärungsfotografie wurde durch zwei Weltkriege aktualisiert. Steichen folgte der humanistischen Haltung David Douglas Duncans, Autor des Fotobuchs This is War!. Dieser wollte die Schrecken des Krieges als Reflex in den Gesichtern der vom Krieg Betroffenen vermitteln. Das von Duncan inspirierte Empathiekonzept erklärt die Häufung frontal gegebener Menschengesichter. In der Collage aus neun ›Faces of War‹ der Sektion »Terror and Pressure« hing zu Beginn der Ausstellung ein Spiegel. Die Mienen von je drei Männern, Frauen und Kindern sollten ringsherum die Folgen kriegerischer und atomarer Zerstörung ›kommunizieren‹, darunter das besorgte Anlitz Captain Fentons ohne Funkkontakt während einer Gegenoffensive in Korea (1950).20 Die 19 Abbildungen in: Museum of Modern Art 2006 (wie Anm. 5). Bildlegende in Ausstellung und Katalog: »U.S.A. Ben Shan, F. S.A.«, abgebildet S. 150; »U.S.A. Dorothea Lange«, S. 151. Langes Titel »Migrant Mother, Pea Picker’s Camp at Nipomo« wird wie alle ursprünglichen Bezeichnungen der Urheber unterdrückt. Franks Arbeiter hat den Subtitel »Wales, Robert Frank«, daneben der Bibelvers: »Behold, this dreamer cometh«, siehe ebd. S. 155. Zu William Eugene Smiths Fotoessay »Nurse Midwife Maude Callen eases Pain of Birth, Life, and Death« siehe Panzer 2005 (wie Anm. 17), S. 135 sowie Bodo von Dewitz (Hg.): Geschichte der Fotoreportage, Göttingen 2001. 20 Duncans »This is War! A Photo-Narrative« (New York 1951) sei die größte Anklage gegen den (Korea-)Krieg, die je von der Fotografie erhoben wurde, siehe Edward Steichens Autobiographie: Ein Leben für die Fotografie, Düsseldorf, Wien 1965, Kapitel 13. Zur Bildpragmatik siehe Bernd Stiegler: Theorie der Photographie, München 2006, S. 323–325. Zum »participant observer«-Dokumentarstil siehe Susanne Holschbach: Im Zweifel für die Wirklichkeit. Zu Begriff und Geschichte dokumentarischer Fotografie. In: Sigrid Schnei- F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 385 Universalsprache funktionierte als modernisierte Rhetorik der Leidenschaften oder, mit Niklas Luhmann gesprochen, als ›indirekte Kommunikation‹ per Gestik, Mimik und Blick, um den Betrachter klassisch anzurühren. Hinter ›audience participation‹ und einem medientechnisch aufbereiteten Platonismus blitzt die alte Allianz von Sehen und Glauben auf.21 Kunst der Illusion: Zur Weltbildkonstruktion im Museumsraum Der fensterlose Ausstellungsraum ist nach Brian O’Doherty der ideale Ort zur Projektion unserer Paranoia und zweifellos wurde »The Family of Man« vor der Katalogrezeption für ein fiktives Kollektiv aus common viewers nach dem bewährten Modell propagandistischer Ausstellungen konzipiert, in denen sich der Einzelne als Teil eines größeren Zusammenhangs erleben durfte.22 Das ›frame-up‹ der Installationskunst setzte neben Text-, Bild- und grafischen Zeichen auf eine durch Farbe, Beleuchtung und Größenvariation lebhaft wirkende Inszenierung, deren Anspielung auf unterhaltende picture show und Film schon Zeitgenossen auffiel (Abb. 1). In Kontrast zum Film aktivierte erst der Akt des Sehens, der mit Benjamin oft als zerstreute Rezeption charakterisiert wird, die Montage aus Einzelbildern: Ausstellungsbesucher erhielten von keinem Standort aus den vollen Überblick, sondern bewegten sich durch Rudolphs panoramisches Gefüge aus transparenten Fotovorhängen, halbkreis- und spiralförmigen Stellwänden und einer Flucht aufeinander folgender Galerie-Kabinette (Abb. 2).23 Die ungerahmten, aufgezogenen Exponate hingen nicht auf Augenhöhe an der Wand, sondern wie Elemente eines piktorialistischen Teppichs in dichten Gruppen wechselnder Formate an Stellwänden, Metallgerüsten, karussellartigen Aufbauten und frei schwingend von der Decke. Einige kippten vornüber, schwebten über den Köpfen oder ragten orthogonal wie Schilder in den Raum. Partizipation bestand darin, der, Stefanie Grebe (Hg.): Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien, OstfildernRuit 2004, S. 23–30, zur Betroffenheitsstimulierung hier S. 27. 21 Zu Bild und Blick und dem »Dreifuß« siehe Milton Meltzer: Dorothea Lange. A Photographer’s Life, New York 1978, S. 296. Zum (bald entfernten) Spiegel der »Faces of War« siehe Abbildung 6. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 319. 22 Monroe Wheeler, Direktor der Ausstellungsabteilung, Memo vom 13.5.1942 zu Steichens und Bayers Konzept, MoMA-Archiv. Siehe Staniszewski 1998 (wie Anm. 5), S. 333, Anm. 27. 23 Da Massenpublikum und Film im Kunstwerk-Essay (1936) auf einander bezogen sind, wird die zerstreute Wahrnehmung gern für diese Ausstellung angenommen, was jedoch ältere Formen einer aktivierenden Ästhetik (vom Landschaftspark bis zum Diorama) im Sinne der deterministischen Ausschließlichkeit Benjamins verdrängt. Zum Verhältnis von frameup und Installation siehe Mieke Bal: Looking in. The Art of Viewing, Amsterdam 2001, S. 187. Zu Rudolphs »Good Design« und Filmprojektion im MoMA siehe Staniszewski 1998 (wie Anm. 5), S. 241. Eine Ton-Untermalung blieb wie Steichens Idee eines Fotoramas im Innenhof des Museums unrealisiert. 386 SILKE WALTHER Abb. 1: Louis Mandé Daguerres’ Diorama während einer Vorführung in Paris 1822. Zeitgenössischer Stich eines unbekannten Künstlers. Besucher zum Nachvollzug des ›Kamerablicks‹ zu animieren, was von einer auf Analogie und Gegenüberstellung basierenden Hängung ablenkte.24 Ein transparenter ›screen made of photographs‹ mit Liebespaaren bot im ersten Raum den Durchblick auf Ansel Adams’ monumentalisierte Ansicht des Mount Williams als Dekor der Rückwand im Saal der menschlichen Beziehungen (Abb. 3).25 Die in früheren Ausstellungen erprobte Zusammenschau naher und entfernter Gruppen – Herbert Bayers’ »expanded vistas« – sollte die Wirkung steigern und Sinnbezüge vervielfachen. Sukzessives Sehen und vergleichendes (Form-)Sehen 24 »travel and see what the camera saw«. Carl Sandburg im Katalogvorwort zu The Family of Man, New York 1955, o.S. Kritiker Mac Kenna über den Holzfäller an der Decke: »he [the viewer] has to get in the same position as the photographer [...] on his back !«. Zitiert in: American Photography. A Critical History 1945 to the Present, selected by Jonathan Green, New York 1984, S. 49. Zur Vorgeschichte der bipolaren Montage in »Kunst und Rasse« siehe Timm Starl: Der ewige Mensch. In: Jean Back und Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Marburg 2004, S. 122–139. 25 Adams kritisierte die Vergrößerung als »wallpaper«. Zitiert nach Monique Berlier: Family of Man. Readings of an Exhibition. In: Bonnie Brennen (Hg.): Picturing the Past. Media, History and Photography, Urbana, Chicago 1999, S. 206–231; hier S. 220. Zu Bayers »vista«Konzept siehe Staniszewski 1998 (wie Anm. 5), S. 241. Zum Ausstellungsraum siehe Brian O’Doherty: In der weißen Zelle, Berlin 1990, S. 15 und S. 89. Zur Aufhebung der Bildgrenze siehe allgemein Rudolf Arnheim: Grenzen und Rahmen. In: ders.: Die Macht der Mitte, Köln 1989, S. 65–86; hier S. 70. F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 387 Abb. 2: Blick in den Eingangsbereich der New Yorker ›Family of Man‹ im Obergeschoss des Museum of Modern Art. Fotograf: Ezra Stoller 1955. erzeugen in der Summe die ›oneness of mankind‹ als optischen Eindruck und gefühlte Kohärenz.26 Ohne die jeder Sektion als Motto beigefügten Zitate und Bibelverse, die wie ein vielstimmiger Chor der Weisen einen Konsens in ethischen und politischen Grundwerten suggerieren, bliebe die Bedeutungszuweisung durch Themengruppen (Abb. 4) partikular.27 »We shall be one person!« tönen die Pue26 Die menschlichen Bande sollten Betrachter angesichts der »hazards of life in the nuclear world« emotional stärken. Steichen, zitiert nach Sandeen 1995 (wie Anm. 3), S. 2–3. 27 Zu den Sprüchen der Wandtafeln siehe Museum of Modern Art 2006 (wie Anm. 5) sowie John Szarkowski: The Family of Man. In: ders.: The Museum of Modern Art at Mid-Century. At Home and Abroad, New York 1994, S. 13–35. 388 SILKE WALTHER Abb. 3: Ausstellungsbesucher vor der transparenten Reihe der ›Liebespaare‹, New York 1955. Foto: National Archives, Washington. bloindianer der Liebespaar-Sektion, während der archaische Prolog hinter dem Eingangstor neben »Let there be light!« eine Teleskopaufnahme Orions, eine Eiszeit-Maske, den Torso einer Schwangeren und das Wandbild eines ins Meer strömenden Flusses als Entstehung der Welt vorführte. Auf die Urzeit folgte eine in die Kleinfamilie gespiegelte, zyklische Geschichte des Menschen (Liebe, Zeugung, Geburt, Kindheit, Jugend, Arbeit, Ernährung, Bildung und Erziehung, Beziehungen, Tanz, Musik und Spiel, Alter und Tod), die mit einer euro-amerikanischen Fortschrittsgeschichte (Technik, Wissenschaft, Atomenergie, Justiz, United Nations) verwoben wurde. Der dritte Teil ist im Vergleich mit dem fiktiven Familienalbum zwischen Liebespaaren und Kindererziehung unsystematischer und kulminiert mit Atomforschung und Bombe als Wendepunkt der Zivilisation. Die antipodische Struktur von Leben und Tod prägt das emotionale Chiaroscuro der Reihung und zentriert sich im Familiensaal und in der Explosionszelle. Teil vier bringt die Rückkehr stabilisierender Einheiten. Aus einer UN-Versammlung ragten Ehepaare verschiedener Länder, die den Betrachter mit ernstem Blick fixierten, unterlegt vom ins Englische übersetzten Ovid-Vers: »We two form a multitude«. Ein Wald von Kinderfotos und William Eugene Smiths Kinder beim F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 389 Abb. 4: Rundgang und Themensektionen der ›Family of Man‹ im Museum of Modern Art in New York 1955. 390 SILKE WALTHER Abb. 5: Der Zentralraum der ›Family of Man‹, New York 1955. Ausstellungsfoto von Ezra Stoller, Esto Photographics. allegorischen »Walk into Paradise« (1946) symbolisierten die Zukunft und Kontinuität der Menschheit.28 Sichtachsen und Anordnung verstärkten die blickführenden Perspektiven der Aufnahmen. Gruppierungen aus Menschenmengen, Paaren und wenigen Einzelfiguren erzeugen eine insgesamt absurde Matrix, die Carl Sandburg als »multiplication table of living breathing human faces« umschrieb. In den Menschenmeeren sah Sekula eine »regressive Sehnsucht«29 nach Aufgehen im Gesamtkörper, Merkmal vieler Gesamtkunstwerke der ästhetischen Moderne. Besucher konnten sich im monumentalen Ausschnitt einer Menge, die Queen Elizabeth II. zujubelt, wieder erkennen. Fotografie ist für die Masse da und zeigt Menschen in Massen – im Theater, in öffentlichen Versammlungen und beim Feiern. Sie ist, in Abkehr von Beaumont Newhalls Betonung der künstlerischen Werte des Originalabzugs, ein Emblem der Masse.30 Das Individuum ist hier auch als Bild nicht autonom, 28 Der Dualismus aus naturgesetzlichem und vom Mensch gestalteten Leben wurde der früheren Ausstellung »Airways to Peace« (1945) entlehnt. Zu Smiths Allegorie siehe Marc-Emmanuel Mélon: Die Familie des Mannes. In: Jean Back und Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Marburg 2004, S. 56 –79; hier S. 56. 29 Sandburg, Vorwort in: Museum of Modern Art 2006 (wie Anm. 5), o. S. Allan Sekula: Zwischen dem Netz und dem tiefen, blauen Ozean. Den fotografischen Bildverkehr neu überdenken. In: Jean Back und Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): The Family of Man 1955– 2001, Marburg 2004, S. 140 –187; hier S. 168. »Die Masse ist eine Matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten [Kunstwerken gegenüber, S. W.] neugeboren hervorgeht«. Siehe Benjamin 1998 (wie Anm. 1), S. 39. Luhmann 1997 (wie Anm. 21), S. 478. 30 Zu Newhalls Ausstellungen am MoMA bis 1947 siehe Phillips 2002 (wie Anm. 6), S. 307. F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 391 Abb. 6: Ring-around-the-rosy-Bilderkarussell, Todes-Stellwand und Feiningers ›Fifth Avenue Crowd‹ der Sektion ›Human relations; Death‹. Ausstellungsfoto von Ezra Stoller, Esto Photographics. sondern funktional auf ›familiäre‹ Verbünde, ein Netz des Gleichförmigen bezogen. Die kleinste stabilisierende Einheit in diesem Kosmos bilden heterosexuelle Paare verschiedenen Alters als Keimzelle der Familienlebens: »Whereever you turned in the exhibition, you saw this grouping of family.«31 Im Anschluss an eine spiralförmige Stellwand zu Schwangerschaft und Geburt, aus der Henry Callaghans Porträt seiner nackten, schwangeren Frau wieder entfernt wurde, folgte nach Müttern und Vätern mit Kind der Zentralraum mit ›Familienporträts‹, einer zu umrundenden Foto-Skulptur auf weißem Kies (Abb. 5). Großfamilien aus Sizilien, Botswana, Japan und Bauernfamilien aus der Farm Security-Fotokampagne, die in »Road to Victory« intakte ›American Communities‹ symbolisierten, sind nach dem Schema einer Allegorie der Erdteile zu einer repräsentativen Globalfamilie zusammen montiert. Alle Gruppenporträts eigneten sich durch den Blick der Abgelichteten in die Kamera für die Emotionsstrategie der Kuratoren: Die per Blickkontakt aufgebaute ›Kommunikation‹ folgt rhetorischen Strategien religiöser Andachtsbilder. Mit den vielen Kinderfotos der Ausstellung, Interludium zwischen ernsten Themen, tritt die Fotografie wie in Wayne Millers Nachfolgeprojekt »Die Welt ist jung« (1958) den Unschuldsbeweis an: Der Kinderblick auf die Welt ist wie das 31 Steichen 1979 (wie Anm. 14), S. 161. 392 SILKE WALTHER unbefangene Kamera-Auge. Ein Reigen aus 18 Agenturfotos mit tanzenden Kindern suggeriert Ringelreihen um den Globus (Abb. 6). Der Schüttelreim »Clasp the hands and know the thoughts of men in other lands« lässt weltweite Verständigung selbst im Kalten Krieg als Kinderspiel erscheinen. Die Kreisfigur wird auf der gegenüberliegenden Raumseite zum Sinnbild des Lebenszyklus. Zwei halbrunde Stellwände mit Begräbnis- und Totenklageszenen werden von einem Wandbild mit Andreas Feiningers »Fifth Avenue Crowd« hinterfangen. Die Kontextualisierung eröffnet auch hier endlose Manipulationsmöglichkeiten: Aus einem Moment großstädtischer New Yorker Hektik wird ein Symbol der Transitorik des individuellen Lebens.32 Im dritten Teil, der eine Auswahl kriegerischer, gesellschaftlicher Konflikte präsentiert, können gruppierte Ähnlichkeit und dramatische Steigerung nicht über logische Schwächen hinwegtäuschen.33 Die Deportation der Bewohner des Warschauer Ghettos durch ein SS-Kommando, fotografiert von einem unbekannten deutschen Soldaten, war während der Nürnberger Prozesse publik geworden. Flankiert von Ansichten dürrer Menschen zur Linken und durch Stuhlbeine oder politische Staatsgrenzen ihrer Freiheit beraubter Babys und (Nord-)Koreanerinnen illustrierte es als Teil einer L-Komposition »Man’s Inhumanity to Man«.34 George Sands Entrüstung über (soziale) Ungerechtigkeiten zur Zeit des Second Empire war neben eine die rechte Hand gen Himmel erhebende Frau im umkämpften Gazastreifen montiert. Der Gestus erhobener Hände verbindet die deportierten Juden und sich ergebenden Zivilisten formalästhetisch zu einer Dreiergruppe (Abb. 7). Die auf dem Rücken gefesselten Hände der Opfer von Exekutionskommandos und Lynchjustiz bilden hierzu gestische Pendants und lassen Riwkin-Bricks Palästinenserin zum bekrönenden Klageweib über Gewalt und Terror werden. Die industrielle Massenvernichtung europäischer Juden wird durch andere Bilder übergangen, da das agitatorische Spiel auf der emotionalen Klaviatur der Betrachter ein Gefühl der Verbundenheit und Identifikation erzeugen sollte. Der Blick in den Spiegel der Fotografie musste Differenzierung zugunsten eines Refrains inhaltlicher und formaler Ähnlichkeiten ausschließen. Rigorose Vertreterinnen der Aufklä32 Zum Kontext siehe Yves Michaud: Kritik der Leichtgläubigkeit. Beziehungen zwischen Bild und Realität. In: Hartwig Fischer (Hg.): Covering the Real. Kunst- und Pressebild von Warhol bisTillmans, Köln und Basel 2005, S. 26–33; hier S. 31. Es handelt sich um Fotos (inter-) nationaler Bildagenturen. Das Kobo Deishi-Zitat »Flow, flow, flow, the current of life is ever onward« (Texttafel) und die nachfolgende »Kraft durch Glauben«-Sektion stützen meine Deutung. 33 »We can’t overlook the differences, but unless we arrange these pictures so that they stress the alikeness [...] we have lost out.« Edward Steichen. In: James Nelsons Wisdom: Conversations with the Elder Wise Men of Our Day, New York 1958, hier zitiert nach Sandeen 1995 (wie Anm. 3), S. 2–3. 34 Siehe Abbildung. 1, »Guide« (1955) dieses Beitrags. Der Life-Artikel über die New Yorker Ausstellung titulierte 1955 analog zu den Nürnberger Prozessen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 393 Abb. 7: Detail der Hängung in der Sektion ›Man’s Inhumanity to Man‹. Museum of Modern Art 1955. rungsfotografie wie Lee Miller und Margaret Bourke-White sind daher nicht mit ihren Aufnahmen deutscher Konzentrationslager, sondern mit Kinderfotos oder malerischen Dreieckskompositionen wie »Trauernde Frauen mit Kind« in das Bildkonglomerat eingegangen.35 Das Foto eines von Südstaaten-Rassisten gelynchten jungen Mannes wurde nach zwei Wochen wieder aus der Ausstellung entfernt, obwohl es sich nur indirekt, mit einem Dokument entfesselter Selbstjustiz von 1937, auf die Rassentrennung in den USA bezog. Da die um Balance bemühte visuelle Strategie letztlich ein Vertrauensverhältnis zwischen Betrachter und der im Bild erscheinenden Welt zu fördern suchte, passten Schockfotos nicht zum psychologischen Identifikationsmodell. Bilder, die ästhetische und ethische Normen sprengten oder im Sinne des später von Roland Barthes formulierten punctum die Aufmerksamkeit zu sehr von der harmonischen Massenkomposition auf das Inkommensurable oder nicht 35 Zur Shoa siehe Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Verleugnete Bilder. In: Jean Back und dies. (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Marburg 2004, S. 80–99. Die Bildlegenden in Museum of Modern Art 2006 (wie Anm. 5), S. 146: »Bourke-White, India« und S. 166–168: »Riwkin-Brick, Israel; German photographer unknown, Warsaw Ghetto«. 394 SILKE WALTHER Abb. 8: Blick auf die Collage ›Faces of War/under terror and pressure‹ mit dem Spiegel. Ausstellungsfoto von Ezra Stoller, Esto Photographics. Rationalisierbare abzogen, sind daher nicht in die Foto-Gemeinschaft aufgenommen oder rasch entfernt worden: »Death Slump at Mississippi« war wie das Foto der Judendeportation in Warschau kein Werk engagierter Aufklärungsfotografie, sondern wurde als Ausstellungsbild nachträglich als solches präsentiert.36 Mit dem späteren kulturkritischen Verdacht, wonach die Bildrhetorik der »Family of Man« mit der Logik des US-Wirtschaftssystems eng verflochten sei, war Steichen schon 1959 in Moskau konfrontiert, wo die Ausstellung im Rahmen der National Exhibition dem russischen Publikum die Universalität amerikanischer Kultur und Konsumgüterindustrie näher bringen sollte. Anlass des Disputs war ein Life-Foto der Sektion »Famine and Hardships«, das 1946 während der Hungersnot in Hunan entstand. Der Chairman der sowjetischen Handelskammer setzte seine Entfernung durch, weil er darin eine Denunziation der Volksrepublik sah: In kapitalistischen Staaten spielen Kinder, in China hungern sie. In der Sendereihe »Meet the Press« äußerte Steichen am 13. September 1959, die Sowjets hätten das Foto zur antikommunistischen Propaganda aufgebauscht und verwies auf daneben 36 »Death Slump« war ein Erinnerungsfoto aus Tätersicht, das am 14.2.1955 aus der Ausstellung entfernt wurde. Zur theoretischen Basis des Schockfotos siehe Kemp 2006 (wie Anm. 10), S. 106 –108. F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 395 hängende Bilder von Indern, die keinen Protest erregten.37 Diese Fotos stammten unter anderem aus Werner Bischoffs Bildreportage von 1951 und bildeten in New York 1955 eine turmartige Collage von Hungernden, ein Andachtsbild realen Elends, das dem Besucher das Leiden anderer in ästhetisch gebändigter Form ›kommunizierte‹.38 Gemäß dieser einseitigen Perspektive wurden Konflikte der Nachkriegsjahre zu Ansichten bedrohter oder unterdrückter Freiheit an für die USA strategisch wichtigen Brennpunkten der Welt. Der Arbeiteraufstand in der Berliner Stalinallee 1953 wird zur Volkserhebung gegen die Sowjets nach dem Schema ›David gegen Goliath‹, Steinewerfer gegen Panzer. Ein von Homer Page fotografierter Südafrikaner, Symbol des vom Apartheid-System um seine Menschenrechte Betrogenen, lässt Dorothy Normans Bildunterschrift fragen, wer auf seiner Seite sei. Die visuelle Parallelisierung wird durch beigefügte Quotations an den Wänden unterstützt. Sophokles’ Frage, wer das Opfer sei, lässt den hinter einer Stellwand am Durchgang zur Bombenexplosion separierten toten US-Soldaten in Korea nach vorherigen Ansichten von Gewalt und Rassentrennung zum Märtyrer eines symbolischen Kriegs zur Durchsetzung einer demokratischen Ordnung in einer noch unbefreiten Welt erscheinen (Abb. 8). Der Mythos des objektiven Kamera-Auges war mit Robert Capas berühmten Aufnahmen toter Soldaten durch Life kultiviert worden, so dass das Foto der US-Coast Guard hier als Zeugnis unerschrockener Aufklärungsfotografie missverstanden werden konnte. Der massenhafte Tod moderner Kriegsführung wird in Memorialbilder individueller Soldatentode übersetzt: Mathew Bradys Sezessionssoldat im Todesschlaf auf der konvexen Stellwand der Grab- und Beweinungsszenen bildet das Pendant zur Rückenansicht des gefallenen Soldaten, dessen Gesichtsausdruck im Sand verborgen ist.39 Bertrand Russells Warnung vor einer möglichen Totalvernichtung menschlichen Lebens stimmte Besucher nach ins Zeitlose verschobenen Ansichten konventioneller Kriege auf das sublime Bomben-Kabinett ein, in dem das Life-Farb37 »We are not concerned with photographs that border on propaganda of or against any ideologies« – Steichens Replik auf die Frage, ob die Entfernung ihm eine Strophe seines Bildgedichts raube. Edward Steichen (Interview), zitiert nach Louis Kaplan: American Exposures. Photography and Community in the 20th Century, Minneapolis 2005, S. 73. Bischoffs Reportage für Paris Match erschien am 14.7.1951 unter dem Titel »La Faim. Le monde ferme les yeux sur un des plus grands problèmes de l’actualité«. Siehe Dewitz 2001 (wie Anm. 19), S. 254. 38 Zur Logik der Ästhetisierung mittels Fotografie siehe Benjamin 1998 (wie Anm. 1), S. 62– 64. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München, Wien 2003, S. 111–113. 39 Bildtitel »USA. Mathew Brady, ca. 1861« und »Eniwetok. Raphael Platnick PHC.United States Coast Guard«. Siehe Museum of Modern Art 2006 (wie Anm. 5), S.139 und S.180 – 181. Life druckte Capas fallenden Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg 1937 neben einer Pomadereklame und seinen neben der eigenen Blutlache liegenden G.I. (1945) ohne das im Augenblick des Todes entstellte Gesicht. Siehe Lury 1998 (wie Anm. 7), S. 41–75. Staniszewski 1998 (wie Anm. 5), S. 222. Zur Illustrierten als »Fenster auf den Krieg« siehe Sontag 2003 (wie Anm. 38), S. 40. 396 SILKE WALTHER Abb. 9: Joan Miller mit ihren Kindern vor dem farbigen Transparent des WasserstoffbombenRaums der New Yorker ›Family of Man‹. Privates Ausstellungsfoto von Wayne Miller, 1955. foto einer Wasserstoffbombenexplosion aus der US-Testreihe »Operation Ivy« (1954) als farbenprächtige Illumination nach Art eines Dioramas den Klimax des Rundgangs bildete.40 Positioniert wie ein Mönch am Meer, konnte der Betrachter im erhabenen Schauspiel der Strahlen- und Wolkenbildung die abstrakte Idee des universalen Todes reflektieren (Abb. 9). Dieser ist wie die Fotografie ein guter Demokrat, denn er macht alle gleich und vollendet die symbolische ›essential oneness of mankind‹. Hatte »Road to Victory« noch den Mythos des gerechten Kriegs gepflegt, war dieser nach Nagasaki und Korea beschädigt. In Hiroshima, wo 1956 eine Kopie der New Yorker Version zu sehen war, wurden echte Dokumentationen des US-Bombenabwurfs zugefügt, die nach Steichens Einwand entfernt wurden: Die von der Fotografie zu leistende, vermeintlich kulturfreie Kommunikation ›from man to man across the world‹ erwies sich als einseitige Übertragung; Antworten teilnehmender Beobachter aus aller Welt wurden im MoMA nicht erwartet.41 40 Life druckte es unter dem Titel »5-4-3-2-1 and the Hydrogen Age is upon us« am 12.4.1954 im Bericht über US-Atomtestläufe im Pazifik. Das Foto wurde bewusst nicht in den Katalog aufgenommen. Es existiert ein Ausstellungsfoto Wayne Millers von diesem Raum, abgebildet o.S. in Sandeen 1995 (wie Anm.3). 41 Planungsskizze, MoMA-Archiv, Sandeen 1995 (wie Anm. 3), S. 155. F OTOGRAFIE ALS W ELTSPRACHE 397 Fazit: Vom MoMA in die Welt – Grenzen der Reproduzierbarkeit von Weltbildern Die Fotoinstallation erweist sich vor diesem Hintergrund als spätmoderne Variante einer Monumentalmalerei aus fotografischen Versatzstücken, ein panoramaartiges ›Gesamtbild‹, dessen formale Analogien den neoplatonischen Durchblick auf das Wesentliche fördern sollten. Der inhaltliche Konservatismus wird durch die Struktur der ästhetischen Anordnung unterstützt.42 Gegenüber Newhalls Jubiläumsretrospektive der Fotografie als Kunst (1937) würdigt Steichen den Nutzen einer Fotografie, die zivilisatorische Errungenschaften ihrer Erfindernationen und ein durch den Filter von Life-Fotografen bezeugtes, ›reales‹ Leben aufzeichnet. Dieser Aspekt eines Bildgedächtnisses wurde mit moralischen bis agitatorischen Impulsen verbunden. Die Integration bereits populärer Magazinfotos kann als Distanzierung vom Hochkunst-Museum zugunsten eines massenkompatibleren Ausstellungstypus gelten. Von einer Verschränkung des Kunstraumes mit der Lebenswirklichkeit von 1955 kann nicht die Rede sein: Das Kaleidoskop wechselnder Fensterblicke ist keine ›abbildungsrealistische Repräsentation der Gegenwart‹. Die im Dokumentarstil gehaltenen Fotos eröffneten vielmehr, wie Andreas Haus an anderem Beispiel zeigte, ein ›Vorstellungsangebot aus der Außenwelt‹, um ›Bewusstsein und Weltwahrnehmung‹ der Betrachter zu stimulieren.43 Die Kuratoren selbst hegten keinen Zweifel an Universalität und Gültigkeit von Botschaft und Medium, doch ihr vom Fotojournal der Kriegsjahre sich herleitender Optimismus bezüglich der Reichweite und Verständlichkeit ihres Entwurfs fand nicht überall ein Echo. Unbegeisterte Reaktionen außerhalb der USA stützen die Hypothese, dass oberflächliche Vertrautheit mit dem Bildhaushalt der US-Journale den Idealfall identitätsstiftender Rezeption darstellte. Die topische, schriftsprachliche Rahmung der Fotos stand von Anbeginn im Widerspruch zum Glauben an eine dort eingebrannte universale, humanistische Bedeutung. Gerade die semantische Uneindeutigkeit des einzelnen Fotos wurde ausgenutzt. Transformiert zum Ausstellungsbild, erhielten minderwertige Reproduktionen eine der Benjaminschen Aura des Kunstwerks nahe Präsenz. Der Dokumentarstil lenkte von Kontingenz und Zeichenhaftigkeit des fotografischen Bildes ab. Die Gefahr dieser Gleichsetzung von Fotografie, Realismus und Objektivität hat Pierre Bourdieu als affirmativen Zirkel beschrieben: »Indem sie der Photographie Realismus bescheinigt, bestärkt die Gesellschaft sich selbst [...], daß ein Bild der Wirklichkeit, das der Vorstellung entspricht, die man sich von der Objektivität macht, tatsächlich objektiv ist.«44 42 Die Metapher »Gesammtbild« wurde 1860, bezogen auf ein universalgeschichtliches »Textgemälde« von Lübke verwendet, siehe Wilhelm Lübke: Lebenserinnerungen, Berlin 1891, S. 149. 43 Andreas Haus, Reinhard Matz: Steichens ›The First Picture Book‹ 1930/2000. In: Jean Back und dies. (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Marburg 2004, S. 226 –255; hier S. 252. 44 Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst, Hamburg 2006, S. 89. 398 SILKE WALTHER Als eine ›ins All montierte Konservenbüchse‹ zog die »Family« bis zu ihrem Abgang von der weltpolitischen Bühne 1962 ihre Bahnen, ohne die Funktion einer Bilderbrücke zwischen auseinanderdriftenden Machtblöcken in West und Ost zu erfüllen.45 Unter Hinweis auf berühmte Meister der Fotografie und die Globalisierung der Bilder bemüht man sich in Clervaux, Steichens Foto-Allegorie neue Relevanz zuzuschreiben. Als Besucher könnten wir uns fragen, ob und unter welchen Rahmenbedingungen wir glauben wollen, was wir sehen. 45 Benjamin fordert die Entlarvung einer künstlerischen, in die Totalität strebenden »Photographie, die jede Konservenbüchse ins All montieren, aber nicht einen der menschlichen Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auftritt«. Benjamin 1998 (wie Anm. 1), S. 62. I NNEN / AUSSEN 22 InsideOut Inversionen des Sehens K ARIN L EONHARD Im Wenden und Drehen werden Bilder maßlos, es sei denn, man unterstellt ihnen, dass sie sich in einem homogenen, isotropen Raum befinden und auch beim Richtungswechsel keinem Qualitätenwechsel unterliegen. Am Schluss liegt es deshalb an den kaum wahrnehmbaren Verschiebungen und Kleinigkeiten – an Minutien –, dass Seherlebnisse einmalig werden. Ebenso wie ein rechter Handschuh beim Umstülpen zum linken wird, verändert sich die Identität von Sehen und Gesehenem beim inversiven Akt des Sehens grundsätzlich. Unser Auge hat sich selbst einmal von einer Außenhaut zu einem konkaven Innenraum und Rezeptor gewandelt. Das verkehrte Verhältnis von Innen und Außen wird im Zentrum des Beitrags stehen. Denn die Veränderung bei der Umkehrung ist nicht zuletzt ein Indiz für die Unmittelbarkeit des Mediums, das visuelle Wahrnehmungen jedes Mal neu herstellt und zu sichtbaren Ereignissen werden lässt. Ich zeige ein Bild, das mich beschäftigt (Abb. 1): In Giuseppe Penones Guanto von 1972 blicken wir auf ein Händepaar und zugleich auf zwei linke Hände. Penone hat den dünnen Latexabzug seiner linken Hand wie einen Handschuh umgestülpt und seiner rechten übergezogen. Die feinen Papillarlinien der Hautoberfläche werden so nach außen gekehrt und erscheinen als inverses Relieffeld auf der anderen Hand. Vor allem auf der Innenfläche bilden die Hautleisten, wie man die individualisierenden Linien auch nennt, feine Falten, und für einen Augenblick ist man nicht imstande zu sagen, ob diese Falten nicht bereits solche des dünnen geschobenen Materials des Handschuhs sind. Dieser aber liegt dem Körper so eng wie eine zweite Haut an, und die darauf sichtbaren Wirbel, Bogen, Schleifen und Doppelschleifen, die, wie wir ja wissen, jeweils individuell geometrische Muster bilden, formen den Counterpart der linken Hand. Würde man beide Handflächen zusammenführen, so kämen sie wie Positiv- und Negativform ineinander zu liegen, sie würden sich ergänzen, man könnte buchstäblich sagen, dass sich hier die Linke selbst die Hand gibt. Die Linien und Rillen der einen Innenseite scheinen durch die Grate der anderen erst eingedrückt worden zu sein, aber natürlich ist das Umgekehrte der Fall. Umkehrungen sind hier überhaupt der Fall.1 1 Germano Celant: Giuseppe Penone, Bristol 1989. Giuseppe Penone: 1968 –1998, Santiago de Compostela 1999. Carolyn Christov-Bakargiev: Arte Povera, London 1999, S. 146–153. Philippe Piguet: Giuseppe Penone, principe vital. In: L’œil 558 (2004), S. 20–21. Catherine Grenier: Giuseppe Penone, Paris 2004. 402 K ARIN L EONHARD Abb.1: Giuseppe Penone: Guanto, 1972. C-Print auf Kodak-Papier. Siehe auch Farbtafel I. Als Minutien (von lat. Minutiae, »Kleinigkeiten«) werden die Endungen und Verzweigungen der Papillarleisten des menschlichen Fingerabdrucks bezeichnet. Diese charakteristischen Punkte der Hautrillen sind für jeden Menschen und Finger einmalig, aber sie sind in der Vertauschung ja mitgewandert und haben in diesem Moment auch ihre Individualisierungsleistung abgegeben. In der neuen Haut, in der Penones Hand steckt, wird sie zur linken, obwohl sie der Form nach eine rechte sein muss. Die Form und die Haut, die sie umschließt (und durch die wir die Form erst sehen), so lernen wir also, sind zwei gänzlich verschiedene Dinge. Die Haut als Grenze des Körpers, und damit die Grenze selbst, kann, wenn man sie vom Körper wie eine Hülle abstreift und dabei umkehrt, sicherlich noch immer als die Haut des Körpers gelten, aber sie kann nun nicht mehr über den Körper gezogen werden, ihn nicht mehr bedecken. Wie ein umgestülpter rechter Handschuh paradoxerweise allenfalls noch über eine linke Hand passt, niemals aber über eine rechte, so wird jede invertierte Hülle, jede derart vollzogene Häutung für den weiteren Gebrauch des Körpers, von dem sie einmal stammte, nutzlos. Man kann keine stärkere Differenz in der Ähnlichkeit herstellen als durch Inversionen. Denn das Problem, dass zwei Figuren verschieden sein können, obwohl man nichts in einer Figur finden kann, was es nicht auch in der anderen gäbe, ist ein Problem inkongruenter Gegenstücke. I NSIDE O UT 403 Da es unmöglich ist, durch Messungen an der einen Figur irgendein geometrisches Merkmal zu finden, das nicht auch der anderen zukommt, sind sie also nicht verschieden aufgrund einer individuellen Bestimmung, sondern nur aufgrund einer solchen, die jede Figur in Bezug auf etwas anderes vorweist. Leibniz hat dazu bekanntlich gefunden, dass solche inkongruenten Gegenstücke lediglich als verschieden angesehen werden können, wenn sie zusammen angeschaut und auf etwas Drittes bezogen werden: »Kongruent sind diejenigen, die nicht unterschieden werden können, wenn sie für sich betrachtet werden […] sie können nur durch die Position oder die Relation auf etwas anderes in einer gegebenen Position unterschieden werden.«2 Das konsequenteste Gedankenexperiment – nämlich: Was würde passieren, wenn das gesamte Weltall plötzlich umgedreht würde, so dass jedes Ding zu seinem kongruenten Spiegelbild würde? – führt Leibniz zu dem Schluss, dass es keine Möglichkeit gibt, eine solche Veränderung zu entdecken, weil man beide kongruente Universen mit einem dritten Objekt nicht vergleichen kann. Messbar ist der Unterschied jedenfalls bis zuletzt nicht, er bleibt ein anschaulicher. Bei Kant sind es als Beispiel nochmals zwei Hände, eine linke, eine rechte, die ihrer inneren Beschaffenheit und Bestimmung gemäß vollkommen ähnlich sind, aber ihren äußeren Verhältnissen nach so verschieden, dass »der Handschuh der einen Hand […] nicht auf der andern gebraucht werden«3 kann. Eine rechte Hand kann nicht an sich, sondern nur in Bezug zu einer linken Hand bestimmt werden: »Wir können daher auch den Unterschied ähnlicher und gleicher, aber doch incongruenter Dinge […] durch keinen einzigen Begriff verständlich machen, sondern nur durch das Verhältnis zur rechten und linken Hand, welches unmittelbar auf Anschauung geht.«4 Es passt dann, ironisch anzumerken, wenngleich der Kontext ein völlig anderer ist, dass das Universum noch nach einer von Salvador Dalís letzten verbürgten Aussagen ein umgestülpter Handschuh ist. Auch unsere visuelle Wahrnehmung ist von Inversionen durchzogen. Es scheint zum Beispiel zunächst nicht unbedingt geraten, will man dem menschlichen Gesichtssinn seine Vorrangstellung im Reich der Sinne sichern und das Auge als herrschendes, Erkenntnis stiftendes Organ bestimmen, auf seine eigene Entwicklungsgeschichte einzugehen. Tatsächlich gehört dieser Teil der phylogenetischen 2 Gottfried Wilhelm Leibniz: Mathematische Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, 7 Bde., Berlin, Halle an der Saale 1849–1863, ND Hildesheim 1971; hier Bd. VII, S. 263: »Congrua sunt quae nullo modo discerni possunt, si per se spectantur […] sola igitur positione discerni possunt seu relatione ad aliquod aliud jam positione datum.« Eine gute Zusammenfassung des LinksRechts- Problems und einen Überblick über die Grundpositionen geben die Beiträge in James van Cleve, Robert E. Frederick (Hg.): The Philosophy of Left and Right. Incongruent Counterparts and the Nature of Space, Dordrecht, Boston, London 1991. Zu einer Engführung der Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert siehe Karin Leonhard: Über Links und Rechts und Symmetrie im Barock. In: Stephan Günzel (Hg.): Topologie, Bielefeld 2007, S. 135–151. 3 Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, hg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin et al. 1902ff., Bd. IV, S. 286. 4 Ebd. 404 K ARIN L EONHARD Ausformung und Organisation des visuellen Wahrnehmungsapparats zu den Leseerlebnissen meines Schulunterrichts – noch heute bin ich von der Lektüre in medizinischen Handbüchern gleichermaßen fasziniert wie schockiert. Man kann dort lesen, dass die Entstehung des Auges sich wesentlich von der Bildung anderer Organe unterscheidet. Sie erfolgt nämlich aus dem Gehirn selbst, das sich während des embryonalen Stadiums an zwei Stellen nach außen stülpt. Die beiden so entstandenen Vorwölbungen wachsen weiter in Richtung Oberfläche des Organismus und bleiben nur mehr durch den Sehnerv mit dem Hirn verbunden. Im Anschluss beginnt sich die Haut nun wiederum nach innen einzustülpen und mit den Gehirnteilen zu vereinigen, indem sie zwei Linsen formt. Zwei Schälchen umschließen letztlich die Linse und das Auge wird durch das Aufreißen der Haut (Augenspalt) sichtbar. Man muss sich den Zusammenhang zwischen Auge und Gehirn in etwa wie folgt vorstellen: »Die drei Hirnhäute (die äußere harte Gehirnhaut, die mittlere Spinnwebshaut und die innere, weiche Gehirnhaut) wölben sich bei der Bildung des Auges mit nach außen. Dabei bildet die harte Hirnhaut den weiß sichtbaren Teil des Auges. Die Spinnwebshaut, die das Gehirn umschließt, findet sich als Aderhaut auf der Rückseite der Netzhaut wieder. Sie ernährt das Auge. Ein Augenarzt, der durch die Pupille ins Auge blickt, sieht eigentlich direkt auf das Gehirn seines Patienten.«5 Durch Abschnürungen und Einstülpungen hat sich das Augenpaar vom embryonalen Neuroektoderm abgesondert. Um diesen Vorgang zu verstehen, ist es notwendig, ihn sich in den einzelnen Schritten klar zu machen. In der dritten Entwicklungswoche entsteht die Augenanlage, noch bevor sich die Neuralwülste geschlossen haben: Ihre Herausbildung beginnt als eine Art Furche in der Medullarplatte, als Augen- oder Sehgrube (Fovea optica). Bald schon wandelt sie sich zur primären Augenblase um. Ihr Hohlraum, der sogenannte Sehventrikel, steht über den Innenraum des Augenblasenstiels zu diesem Zeitpunkt in breiter Verbindung mit dem Ventrikel des Vorderhirns. Der Augenblasenstiel wird zum Sehnerv. Bis hierin haben wir es mit blasenartigen Abschnürungen zu tun, die vollplastisch auftreten. Blasen aber verfügen allenfalls über eine geringe strukturelle Komplexität und damit über eine minimale potentielle Sehkraft. Diese kann sich erst entwickeln, wenn man eine Blase zum Beispiel durch Eindrückung in einen Rezeptor oder Bildschirm (medizinisch: in einen Becher) verwandelt. Beim menschlichen Embryo geschieht dies etwa ab der vierten Entwicklungswoche, jetzt berührt die distale Wand der Augenblase das Ektoderm. Hier entsteht die Linsenanlage als Verdickung des Ektoderms (Linsenplakode). »Die primäre Augenblase wandelt sich in den Augenbecher um, das Kernstück des Sehorgans, dem sich alle anderen Gewebe hüllenartig angliedern. Im weiteren verdickt sich die distale Wand der Augenblase zum Netzhautdiskus und stülpt sich konkav in den Hohlraum der Augenblase ein. Durch die Umstülpung kommen zwei Wände des ursprünglichen Augenbläschens in Kontakt: innere 5 http://www.zirm.net/Entwicklung-des-Auges.821.0.html (Letzter Zugriff: 19. Januar 2009). I NSIDE O UT 405 Abb. 2: Seziertes Ochsenauge mit eingestülpter Retina und blindem Fleck. und äußere Wand des Augenbechers. Die äußere Wand wird zum Pigmentepithel, die innere hinten zur Retina und vorne zu Ziliarepithel und Irisrückseite. Durch diesen Stülpungsvorgang stehen die Photorezeptoren lichtabgewandt nach außen: Inversion der Netzhaut. Gleichzeitig bildet sich aus der Linsenplakode eine grübchenartige Vertiefung, die der Augenbecher umgreift.« Dann geschieht das Ungeheuerliche. »Das Linsengrübchen tropft in den Augenbecher und schließt sich vom distalen Ektoderm ab, das die Hornhaut (Cornea) bildet.«6 Visuelle Wahrnehmung verläuft von dem Augenblick an inversiv, in dem die äußere Wand der Augenblase sich konkav in den Hohlraum einstülpte und zur Netzhaut wurde (Abb.2). In den Handbüchern kann man nachlesen, dass man sich die Fovea wie mit dem Daumen eingedrückt entstanden denken kann, so dass alle Schichten, mit Ausnahme der Sinneszellenschicht, nach der Seite verschoben sind. Die Verschiebung ist zum einen notwendig, um das Licht möglichst ungehindert an die Rezeptoren dringen zu lassen. Vor allem aber bedeutet es, dass sich die Retina einmal am äußeren, hervortretenden Ende der Sehblase befand und erst durch Einstülpung zu dem inneren Bildschirm umkehrte, als den wir sie kennen, ihre Photorezeptoren sind dadurch lichtabgewandt angeordnet. Die Existenz des blinden Flecks erfolgt genau aus dieser Inversion der Netzhaut des Auges. Neben 6 Anton Waldeyer: Anatomie des Menschen, hg. von J. Fanghänel, F. Pera, F. Anderhuber, R. Nitsch, Berlin, New York 172003, S. 552. 406 K ARIN L EONHARD den damit verbundenen Vorteilen für die Sehleistung entsteht nämlich der Nachteil, dass die Nervenfasern innen abgehen und die Sinneszellenschicht irgendwo durchbrechen müssen, um das Auge verlassen zu können. An dieser Stelle ist das Auge blind. Der blinde Fleck existiert, weil die Fasern der Sehnerven auf der Seite des Augeninneren an den Sehzellen ansetzen, ein Stück weit im Inneren des Auges verlaufen und dann an einer Stelle, in der Papille, gemeinsam gebündelt aus dem Auge heraus austreten. An dieser Stelle befinden sich keine Lichtrezeptoren und das Gesichtsfeld erscheint gestört, durchbrochen. Würden die Augen anders aufgebaut sein, würden beispielsweise die Fasern der Sehnerven an der lichtabgewandten Seite der Lichtrezeptoren ansetzen und direkt vom Auge weg in das Gehirn verlaufen (wie dies zum Beispiel bei Tintenfischen der Fall ist),7 so gäbe es diesen blinden Fleck nicht, er ist Ergebnis der Verdrehung von Innen und Außen im ontogenetischen Prozeß der Augenentwicklung von Wirbeltieren, und das heißt: der Netzhaut als Ausstülpung des Gehirns. Das paradoxe Phänomen, dass sich unser Auge an jener Stelle selbst ausblendet, an der es eigentlich am schärfsten sehen sollte, kann noch anders formuliert werden: Die Fovea centralis mit der höchsten Dichte an Sehzellen liegt nicht auf der Augenachse, sondern etwas versetzt über dem Sehnerveneintritt – hier findet die feinste Ortsauflösung des Bildes statt. Das menschliche Auge verfügt deshalb notgedrungen über zwei Achsen, eine visuelle und eine physiologische Augenachse, und wenn ein Optiker ihm ein so nachlässig gearbeitetes Instrument verkauft hätte, schrieb Hermann von Helmholtz einmal angesichts der Mängel unseres Augenapparats, würde er sich berechtigt halten, es ihm zurückzugeben. Ein Optiker würde beispielsweise sofort versuchen, die beiden Achsen zu vereinheitlichen und die Fovea in die Mitte zu rücken. Die biaxiale Struktur erscheint jedoch als notwendige Folge der Inversion der Retina. Sie spannt sich auf zwischen den Polen des schärfsten und des blinden Sehens. In unserer Netzhaut sind Innen- und Außenseite vertauscht worden, und wenn in Penones umgedrehtem Guanto die Papillenlinien auf der Oberfläche reliefartig hervortreten, wo sie doch eigentlich zurückweichen sollten, so entwirft die retinale 7 Einen Angriff auf den Bau des Auges, vor allem die Inversion der Retina startete Richard Dawkins: The Blind Watchmaker, London 1991. Zur Demonstration siehe außerdem: http:// www.youtube.com/watch?v=lEKyqIJkuDQ (Letzter Zugriff: 26. Januar 2009). Weiterführend: Carl Wieland: Seeing Back to Front: Are evolutionists right when they say our eyes are wired the wrong way? In: Creation 18.2 (1996), S. 38–40. Anonymus: An Eye for Creation: An interview with eye disease researcher Dr G. Marshall, University of Glasgow, Scotland. In: Creation 18.4 (1996), S.19–21. P.W.V. Gurney: Our Inverted Retina – is it really bad design?. In: Journal of Creation 13 (1999), S. 37–44. Sowie außerdem Jonathan Sarfati: Origin of Life: The Chirality Problem. In: Journal of Creation 12 (1998), S. 263–266. Zum Vergleich der Wahrnehmung von Menschen und Tieren siehe zum Beispiel James Elkins: The Object Stares Back: On the Nature of Seeing, New York 1997. Ders.: How To Use Your Eyes, New York 2000. I NSIDE O UT 407 Nervenfaserschicht ihr Relief aus feinen Linien und Graten auf der Innen- statt auf der Außenseite der Netzhaut. Unsere Netzhaut ist, wenn man so will, selbst ein umgestülpter Handschuh, der nun das Innere des Augapfels auskleidet, anstatt ihn äußerlich zu bedecken und seitdem einen Makel hat: nämlich ausgerechnet an der ausgezeichnetesten Stelle des lichtvollen Organs vollkommen lichtunempfindlich zu sein. Diese Dialektik des Sehens, die in jeder Wahrnehmung eine Nicht-Wahrnehmung, in jeder Ähnlichkeit eine Unähnlichkeit, in jedem Anwesenden etwas Abwesendes vermutet, hat sich mit Entdeckung des blinden Flecks durch Pater Edme Mariotte im Jahr 1668 sowohl augenphysiologisch wie wahrnehmungstheoretisch gefestigt und zu weit reichenden Konsequenzen geführt.8 Eine davon wäre, der Durchlässigkeit von Blick und Bild abzusagen und an seiner Statt eine Dynamik der Verschiebung zuzulassen, die den Bildern ihre Unvollständigkeit zugesteht, die Außenwelt also quasi optisch uneinholbar macht und den Abbildern, obwohl sie uns so ähnlich erscheinen, eine Differenz unterstellt. Es meint nicht, dass unsere visuelle Wahrnehmung grundsätzlich versagt, sondern dass ihr ein motivierender Impetus eingeboren ist, der dazu antreibt, immer neue Bilder zu erstellen und eine Sichtbarkeit aufzubauen, die einer eigenen Logik folgt und mit der grundsätzlichen Abwesenheit des Dargestellten umgehen lernt. Was man gewinnt, ist die Anwesenheit der Darstellung, und das heißt: die Präsenz des Bildes. Man muss sich den unglaublichen Moment vorstellen, in dem das Auge sehend wurde, indem die äußere Hülle zum Augenspalt aufriss.9 Wir sind es so sehr gewohnt, den visuellen Wahrnehmungsapparat als optisches Gerät zu verstehen, dass wir uns den Augapfel wie eine Lochkamera zuweilen metallisch hart oder doch irgendwie als abgeschlossen und der Umwelt gegenüber als resistent imaginieren. Unser Auge ist seit seiner Mechanisierung im 17. Jahrhundert so oft mit einem Zimmer verglichen worden, und die Pupille mit einem Fenster, durch das 8 Auszüge aus einem Brief Mariottes, in dem erstmals der blinde Fleck beschrieben wurde, hg. von Jean Pecquet, in: Nouvelle Decouverte Touchant la Veüe, Paris 1668. Siehe dazu Peter Bexte: Blinde Seher. Die Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts, Amsterdam, Dresden 1999. 9 Folgen wir den letzten Schritten bis zur Vollendung des Augenpaares. Die lichtsensitive Retinaschicht benötigt einen Anschluss an das zentrale Nervensystem: »Im mittleren Bereich der ventralen Augenblasenwand entwickelt sich im weiteren vom Augenbecherrand bis zum Sehstiel die Augenbecherspalte als Einfaltung. Der Augenbecher wird vom Rand her spaltförmig geöffnet, wobei die tiefste Stelle des Spaltes den Ort des späteren Sehnervenabgangs (Papilla nervi optici) markiert. Die Augenbecherspalte erlaubt den Eintritt der embryonalen Gefäße und ermöglicht den retinalen Ganglienzellen Anschluß an das zentrale Nervensystem zu gewinnen, ohne dass die Optikusfasern nach vorne über den späteren Pupillenrand hinweg zur Augenbecherbildung wachsen müssen. Je mehr Axone sich hier anschichten, umso enger wird das Lumen des Augenbecherstiels (des späteren Sehnervs). Sobald diese Vorgänge abgeschlossen sind, verschließen sich die Lippen der Augenbecherspalte.« Waldeyer 2003 (wie Anm. 6), S. 552. 408 K ARIN L EONHARD Abb. 3: Kristallflüssigkeit eines sezierten Ochsenauges auf einer Petrischale. die Lichtstrahlen eindringen, dass Bilder, die beispielsweise seine weiche gallertartige Masse suggerieren, wie eine Bedrohung auf uns wirken können. Denn Augen können ausfließen. Sie verfügen über kein festes Gehäuse, sondern sind ein Gebilde aus eingestülpten Häuten und feuchtem Gewebe. Sie werden schnell formlos. Die präparierten und sezierten Ochsenaugen, die die optische Forschung von jeher begleitet haben, geben uns davon ein Beispiel (Abb. 3). Luis Buñuel hat dem embryonalen Riss zum Augenspalt, der Lebewesen sehend macht, ein unvergessliches Pendant – als dessen ideologische Inversion – mitgegeben (Abb. 4). Hier schneidet ein Rasiermesser durch den in seinen Wimperkranz und die Lider eingebetteten Augapfel. Es tut der Wirkung keinen Abbruch zu wissen, dass im Film an dieser Stelle ein Rinderauge durchtrennt wurde – zu oft haben wir von dem Schnitt durch den Augball im wörtlichen und übertragenen Sinn gelesen und gehört, um ihn jetzt nicht empathisch am eigenen Körper zu erfahren. Die Blendung, die cineastisch zu einem »cutting« wird, verwandelt das Auge zurück in gallertartige Flüssigkeit und versenkt es in Dunkelheit. Immer mehr wird deutlich, dass die Gewebeschichten und Häute innerhalb des Augapfels nicht einfach nur wie Schiebewände fungieren, die Kammern abtrennen und die Kristallflüssigkeit an ihrem Platz halten, sondern Teil der Anordnung selbst sind. Das Auge folgt einem gewickelten oder ineinander gefalteten Schichtenmodell, bei dem sich Innen- und Außenflächen nicht mehr deutlich trennen lassen – die I NSIDE O UT 409 Abb. 4: Still aus Luis Buñuel: Un chien andalou, Frankreich 1928/1929. Sehanlage ist Aus- und Umstülpung des Gehirns, erst Grube, dann Bläschen, dann Becher, der sich langsam schließt, um erneut aufzureißen und den Augapfel freizulegen. In seinem Buch Berliner Kindheit um neunzehnhundert hat sich Walter Benjamin einmal gewundert, wie im Aufrollen eines Strumpfs zugleich der Inhalt verschwindet. In einer Kommode, in der »Hemden, Schürzen, Leibchen« aufbewahrt werden, befindet sich auch ein Paar eingeschlagener Strümpfe, mit denen er spielt. Das Spiel besteht darin, in die zusammengerollten Strümpfe zu greifen und den inneren Strumpf herauszuziehen. Verblüfft muss der Erzähler feststellen, dass der äußere Strumpf, den er »die Tasche« nennt, in der der innere Strumpf steckt, nach dem Herausziehen des Inhalts nicht mehr da ist. Denn der Strumpf – das ist Strumpf und Tasche zugleich. Sobald man am Beutel als der Form und vermeintlichen Hülle zupft, löst er sich auf und wird zum langen Schlauch, wieder zurückgerollt und eingestülpt macht sich der Strumpf seinen eigenen Beutel. Benjamin bemerkt, dass ihn dieses Spiel gelehrt habe, »dass Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes« dasselbe sind. »›Das Mitgebrachte‹ und die Tatsache sind eines. Eines – und zwar ein Drittes: jener Strumpf, in den sie beide sich verwandelt hatten.«10 10 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1972–1986; hier Bd. IV, S. 284. Siehe auch Heinz Eidam: Strumpf und Handschuh. Der Begriff der nichtexistenten und die Gestalt der unkonstruierbaren Frage – Walter Benjamins Verhältnis zum »Geist der Utopie« Ernst Blochs, Würzburg 1992. Cornelia Zumbusch: Benjamins Strumpf. Die Unmittelbarkeit des Mediums und die kritische Wendung der Werke. In: Amália Kerekes, Nicolas Pethes, Peter Plener (Hg.): Archiv – Zitat – Nachleben. Die Medien bei Walter Benjamin und das Medium Benjamin, Frankfurt am Main et al. 2005, S. 11–36. Philipp Ekardt: Strumpf – Krinoline – Rüsche. Benjamins Bekleidungs-Modelle. In: Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten (Hg.): Visuelle Modelle, München 2008, S. 85–100. 410 K ARIN L EONHARD Die Häutungen und Umkehrungen in diesem Spiel bewirken ein Umdenken dessen, was als Grenze den Inhalt markiert. Denn es geht nicht mehr darum, die Wahrnehmung als etwas zu verstehen, das einen Kontakt zur Außenwelt herstellt. Das Bild ist keine Grenze zwischen Innen- und Außenraum, vielmehr ist es ein »›Drittes‹, das die Opposition von Form und Inhalt, Zeichen und Bedeutung aus der Fassung bringt. Als Drittes ist das Bild eine paradoxe Figur, die sich allenfalls an der Grenze aufhält und als ununterscheidbare Mitte zwischen Diesseits und Jenseits fungiert. Vom Bild gilt es mit Derrida zu sagen: ›Das Bild ist mehr sehend als sichtbar. Das Bild schaut uns an, betrifft uns.‹«11 Es ist zu einer solchen »agency« befähigt, sobald es nicht nur als Abbild, sondern als Medium in Erscheinung tritt, das heißt, die Innen- und Außenbezüge des Bildes werden aus dem Gravitationszentrum der Medialität heraus konstruiert. Die schöne Hari in Andrej Tarkowskis Solaris war ein solches aus der Medialität gespeistes Bild gewesen. Ihre ständige Wiedergeburt aus dem Plasma des Weltraumozeans kommt einem komplexen Bildgebungsverfahren gleich, das sich im Laufe der Zeit immer weniger auf die Existenz eines äußeren Pendants beruft, das bildlich nachgeahmt wird, als auf die Ereignishaftigkeit der Bildgebung an sich. Hari will sich bald nicht mehr als Imitat verstehen, sondern als ›Drittes‹, das heißt als sichtbares Ereignis selbst, das wahrgenommen wird. Die Unmittelbarkeit des Mediums begleitet ihre visuelle Erscheinung, so dass es ganz plausibel ist, wenn ihr Kleid keine Öffnung kennt und ihre Haut wieder nachwächst – als bildliche Hülle, die sich spiralartig um den Körper legt beziehungsweise ein- und ausrollen lässt (Abb. 5 und 6). Damit ergibt sich die Frage nach der visuellen Grenze als epistemologische Dimension. Denn die mediale Oberfläche markiert nicht nur die Oberfläche, sondern den Inhalt selbst, wie der Strumpf, der sich zur Tasche einund ausstülpt. Hari ist weder ein Lebewesen aus Fleisch und Blut noch ein Simulakrum, sondern eine mediale Performanz, die uns bei der Betrachtung unter die Haut geht. Diese Bilder betreffen uns, weil die mediale Grenze keine binäre Logik, keine Trennung in Vorder- und Rück- beziehungsweise Innen- und Außenseite kennt oder den Ort der Wahrnehmung in einen Bild- und einen Betrachterraum aufspaltet, sondern diese immer aufs Neue wendet und dreht. Hülle und Verhülltes sind dasselbe, sagte Benjamin angesichts der Tasche, die zum Strumpf wird, und vergleicht die derart beobachtete mediale Verstrickung und Verwicklung mit dem Schreiben selbst – der Federzug, der das Papier mit Wellen, Bogen und endlich mit Buchstaben und Worten bedeckt. Denn die Schrift »fällt nicht beim Lesen wie Schlacke ab«, sondern »ins Gelesene geht sie ein als dessen Figur«.12 Gleiches gilt 11 Hyung Kang Kim: Ästhetik der Paradoxie, Würzburg 2004, S. 28–29. Das Zitat von Jacques Derrida aus ders.: Die Kraft der Trauer. Die Macht des Bildes bei Louis Marin. In: Michael Wetzel, Herta Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder. Virtuelle Realitäten, München 1994, S. 13– 35; hier S. 30. Zur ›agency‹ der Bilder siehe unter anderem W. J. T. Mitchell: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2004. 12 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1972–1986; hier Bd. I, S. 388. I NSIDE O UT 411 Abb. 5 und 6: Nachwachsende Häute und Kleider ohne Öffnung. Stills aus Andrej Tarkowski: Solaris, UdSSR 1972. für die visuelle Wahrnehmung der Bilder, die keinesfalls nur als eine »pictura« auf der Netzhaut erscheinen, eingeschlossen in die Dunkelkammer des Auges (und eventuell wieder herausschälbar als distinktes Abbild der Welt). In der Wahrnehmung verwickelt sich die Außenwelt vielmehr so sehr im Augeninneren – der Tasche –, dass, zieht man an den Bildern, die sich darin befinden, im Aufrollen zugleich der Inhalt verschwindet. Grund ist der notwendige Verbleib der figuralen Wahrnehmung in der Anschauung selbst, ein ewiger Regress, denn das Sehen lässt sich nicht sehen und auch nicht in Bildern einholen. Die Bilder wiederum verhalten sich zum Auge wie der linke Handschuh zur rechten Hand – nur in einer Inversion passen sie sich ein, dann aber überziehen sie die Retina mit einer neuen Haut. A UTOREN UND Q UELLEN 415 Bildnachweise MIRJAM BRUSIUS: Abb. 1, 3, 4 und Tafel V: Aus: Colin Ford: Julia Margaret Cameron. 19th Century Photographer of Genius, London 2003, S. 98, 107 und 97. Abb. 2: Aus: The Yorck Project: 5.000 Meisterwerke der Photographie, S. 4628. Abb. 5: Aus: Nancy Newhall: P. H. Emerson. The Fight for Photography as a Fine Art, New York 1975, S. 163. Abb. 6: Aus: Ullrich Knapp, Heinrich Kühn: Photographien, Salzburg, Wien 1988, Tafel 11. DANIEL BÜRKNER: Abb. 1 und Tafel II: © Corbis. Abb. 2: Aus: Igor Kostin: Tschernobyl. Nahaufnahme, München 2006, S. 79. Abb. 3: Aus: Robert Polidori: Zones of Exclusion. Pripyat and Chernobyl, Göttingen 2004, S. 17. Abb. 4 und Tafel III: Aus: Kenji Yanobe, Noi Sawaragi (Hg.): Kenji Yanobe, Saarbrücken 2000, S. 11. Abb. 5: Aus http://www.angelfire.com/extreme4/kiddofspeed/chapter18.html (Letzter Zugriff: 15. November 2007). Abb. 6 und Tafel III: Screenshot aus: GSC Game World (Hersteller): S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl, Ukraine 2007. JAMES ELKINS: Abb. 1–11: Aus: James Elkins: Six Stories from the End of Representation. Images in Painting, Photography, Astronomy, Microscopy, Particle Physics, and Quantum Mechanics, 1980–2000, Stanford 2008. MARCEL FINKE: Abb. 1, 5, 6 und Tafeln X–XI: Aus: Larissa Heinrich: The Afterlife of Images. Translating the Pathological Body Between China and the West, London 2008, Tafeln 3–5. Abb. 2: Aus: Nicholas Penny (Hg.): Reynolds, London 1986, Tafel 100. Abb. 3 und Tafel X: http://www.med.yale.edu/library/historical/parker/lamqua63.html (Letzter Zugriff: 4. September 2008). Abb. 4: Aus: The Lancet 398 (1831), S. 89. MICHAEL FÜRST: Abb. 1: Archiv des Autors. Abb. 2–8 und Tafel IX: Videostills aus: David Cronenberg: Videodrome, Kanada 1982. BORIS GOESL: Abb. 1: http://photojournal.jpl.nasa.gov/catalog/PIA00452. Tafel XIII: Courtesy NASA/JPLCaltech. Abb. 2: http://www.gsfc.nasa.gov/gsfc/earth/pictures/2002/1203apollo17/earth.jpg. Abb. 3: http:// photojournal.jpl.nasa.gov/catalog/PIA00453. Abb. 4: http://photojournal.jpl.nasa.gov/catalog/PIA00450. Abb. 5: DVD Screenshot, DBA Eames Office, Image Entertainment, Pyramid Media. Abb. 6: DVD Screenshot, Paramount Classics, Participant Productions. RAINER GRUBER: Abb. 1: NASA/STScI. Abb. 2: X-ray: NASA/CXC/CfA/R.P. Kraft; Optical: Pal.Obs. DSS. Abb. 3: Radio: NRAO/VLA/A.H. Bridle & R.G. Strom; X-ray: NASA/CXC/CfA/R.P. Kraft. Abb. 4: X-ray: NASA/CXC/CfA/M. Markevitch et al.; Optical: NASA/STScI; Magellan/U. Arizona/D. Clowe et al.; Lensing Map: NASA/STScI; ESO WFI; Magellan/U. Arizona/D. Clowe et al. Abb. 5 und Tafel XII: X-ray (NASA/CXC/M. Karovska et al.); Radio 21-cm image (NRAO/AUI/NSF/J. Van Gorkom/Schminovich et al.), Radio continuum image (NRAO/AUI/NSF/J. Condon et al.); Optical (Digitized Sky Survey U.K. Schmidt Image/STScI). Abb. 6: ESA/ISO, ISOCAM Team, I. F. Mirabel and O. Laurent (CEA/DSM/DAPNIA), et al. ULRIKE HANSTEIN: Abb. 1–6: Videostills aus: Carl Theodor Dreyer: Gertrud, Dänemark 1964. KARIN LEONHARD: Abb. 1 und Tafel I: Aus: Giuseppe Penone 1968-1998, Santiago de Compostela 1999, o. S. Abb. 2–3: Archiv der Autorin. Abb. 4: Videostill aus: Luis Buñuel: Un chien andalou, Frankreich 1928/1929. Abb. 5–6: Videostills aus: Andrej Tarkowski: Solaris, UdSSR 1972. JASMIN MERSMANN: Abb. 1–9: Aus: Rudi Fuchs, Marcel Vos: Jan Dibbets, New York 1987, S. 96, 32, 31, 76, 31, 104, 112, 119, 75. Die Reproduktion der Tafel XIV erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch die Sammlung FER. W.J.T. MITCHELL: Abb. 1–9: Videostills aus: Errol Morris: Standard Operating Procedure, USA 2008. MARKUS RAUTZENBERG: Abb. 1: Videostill aus: Terminator 2, USA 1991. Abb. 2: Videostill aus: Beowulf, USA 2007. Abb. 3 und Tafel XV: Videostill aus: Star Wars: Episode II, USA 2001. Abb. 4 und Tafel XV: Videostill aus: Casshern, Japan 2004. Abb. 5, 6: Videostills aus: Vidocq, Frankreich 2001. INGEBORG REICHLE: Abb. 1–9 und Tafel VIII: Gedruckt mit freundlicher Genehmigung durch Herwig Turk © 2008. ARNO SCHUBBACH: Abb. 1, 2: Aus: Arno Peters: Die perspektivische Verzerrung von Raum und Zeit im historisch-geographischen Weltbilde der Gegenwart und ihre Überwindung durch neue Darstellungsweisen, 416 München-Solln 1967. Abb. 3–5 und Tafel VI: Aus: André Skupin: The World of Geography: Visualizing a Knowledge Domain with Cartographic Means. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 101 (2004), Supplement 1, S. 5274–5278. STEFFEN SIEGEL: Abb. 1, 2: Aus: Reinhold Mißelbeck (Hg.): David Hockney. Retrospektive Photoworks, Heidelberg [1997], S. 231 und 107. Abb. 3: Aus: Kay Heymer, Marco Livingstone: Hockneys Freunde. Porträts von 1954 bis 2002, München 2003, S. 154. Abb. 4–6: Aus: Jan Wenzel: Fotofix, hg. von Klaus Kleinschmidt, Heidelberg 2005, S. 23, 55 und 87. Abb. 7–9 und Tafel XVI: Gedruckt mit freundlicher Genehmigung durch Peter Hendricks. NICOLE STÖCKLMAYR: Abb. 1, 3, 4: © Zaha Hadid Architects. Aus: Peter Noever (Hg.): Zaha Hadid. Architektur, Architecture, Wien, Ostfildern-Ruit 2003, S. 108 und 110. Abb. 2: © Zaha Hadid Architects. Aus: El Croquis 103 (2001), S. 198. Abb. 5: Archiv der Autorin. Abb. 6 und Tafel VII: © Syn4D. Gedruckt mit freundlicher Genehmigung von Dietmar Öhlmann (Syn4D). SILKE WALTHER: Abb. 1: Archiv der Autorin. Abb. 2, 4: Aus: Jean Back, Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Marburg 2004, S. 78, 82. Abb. 3, 5, 8, 9: Aus: Eric Sandeen: Picturing an Exhibition, Albuquerque 1995, S. 91, 82, 84. Abb. 6: Aus: Steichen. Une Epopée photographique, Paris 2007, S. 264. Abb. 7: Aus: Mary Anne Stanizewski: The Power of Display. A History of Exhibition Installations at the MomA, Cambridge (Mass.) 1998, S. 253. MATTHIAS WEISS: Abb. 1a–c: Aus: Thomas Synofzik, Jochen Voigt: Aus Clara Schuhmanns Photoalben. Photographische Cartes de Visite aus der Sammlung des Robert-Schumann-Hauses Zwickau, Chemnitz 2006, S. 120, 152, 192. Abb. 2: Aus: Rudolf Martin, Anthropometrie. Anleitung zu selbständigen anthropologischen Erhebungen, Berlin 1929, S. 43. Abb. 3a–b und Tafel IV: Aus: Hamdy Bey, Marie de Launay: Les Costumes populaires de la Turquie en 1873, Konstantinopel 1873, Tafel XXXIII; A Pictorial History of Costume, Amsterdam 1998, S. 170. Abb. 3c–d und Tafel IV: Aus: A Pictorial History of Costume, Amsterdam 1998, S. 147; Hans Retzlaff, Rudolf Helm: Hessische Bauerntrachten, Marburg 1949, S. 64. Abb. 4, 5, 6a: Aus: Erna Lendvai-Dircksen: Das deutsche Volksgesicht, Berlin [1932], S. 34–35, 96–97, 198–199. Abb. 6b: Aus: Erna Lendvai-Dircksen: Das deutsche Volksgesicht. Schleswig-Holstein, Bayreuth [1939], S. 20–21. 417 Autorinnen und Autoren MIRJAM BRUSIUS ist Kunsthistorikerin am Department of History and Philosophy of Science der University of Cambridge und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der British Library, London. DANIEL BÜRKNER ist Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler an der HumboldtUniversität zu Berlin sowie Mitarbeiter des Projekts Freie Kunst im öffentlichen Raum am Kulturreferat München. PHILIPP EKARDT ist Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und an der Yale University in New Haven. JAMES ELKINS ist Kunstwissenschaftler an der School of the Art Institute of Chicago. MARCEL FINKE ist Kunsthistoriker an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. MICHAEL FÜRST ist Medienwissenschaftler an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. BORIS GOESL ist Medienwissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. RAINER GRUBER ist theoretischer Physiker und war am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching bei München tätig. MARK A.HALAWA ist Semiotiker und Bildwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen. ULRIKE HANSTEIN ist Film- und Theaterwissenschaftlerin an der Universität Erfurt. SYBILLE KRÄMER ist Philosophin an der Freien Universität Berlin. KARIN LEONHARD ist Kunstwissenschaftlerin an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. JASMIN MERSMANN ist Kunsthistorikerin und Kulturwissenschaftlerin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. W.J.T. MITCHELL ist Anglist und Kunstwissenschaftler an der University of Chicago. 418 MARKUS RAUTZENBERG ist Philosoph und Medientheoretiker an der Freien Universität Berlin. INGEBORG REICHLE ist Kunstwissenschaftlerin in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Bildkulturen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. ARNO SCHUBBACH ist Philosoph und Mathematiker am Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik eikones an der Universität Basel. STEFFEN SIEGEL ist Kunstwissenschaftler in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Bildkulturen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. NICOLE E. STÖCKLMAYR ist Architekturtheoretikerin an der Universität für angewandte Kunst Wien. SILKE WALTHER ist Kunstwissenschaftlerin an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. MATTHIAS WEISS ist Kunsthistoriker und Theaterwissenschaftler an der Freien Universität Berlin.