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Kein rechtsstaatlicher Meilenstein

2024, Kein rechtsstaatlicher Meilenstein

https://doi.org/10.5281/zenodo.13685405

Mit Urteil vom 31. Oktober 2023 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Vorschrift des § 362 Nr. 5 der Strafprozessordnung (StPO) für nichtig erklärt, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines wegen Mordes Freigesprochenen gestattete. Die Entscheidung wird in der Literatur als ein "rechtstaatlicher Meilenstein" angesehen und überwiegend positiv bewertet. Dabei hätte das Gericht durchaus anders entscheiden können.

Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 31. Oktober 2023 - 2 BvR 900/22 Kein rechtsstaatlicher Meilenstein Frank Riechelmann Mit Urteil vom 31. Oktober 2023 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Vorschrift des ğ 362 Nr. 5 der Strafprozessordnung (StPO) für nichtig erklärt,1 die unter anderem eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines wegen Mordes Freigesprochenen gestattete. Die Entscheidung wird in der Literatur als ein Ďrechtstaatlicher MeilensteinŞ angesehen2 und auch sonst überwiegend positiv bewertet.3 Dabei hätte das Gericht durchaus anders entscheiden können. 1. Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG ĎNiemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werdenŞ, lautet Art. 103 Abs. 3 GG. Dass ĎbestraftŞ auch einen ĎFreispruchŞ umfasst, ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift erst einmal noch nicht.4 Sprachlich ist ein Freispruch keine Strafe. 2. Gerechtigkeit als Menschenwürde Nach dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts besteht der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG Ďdarin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzenŞ. Das grundrechtsgleiche Recht diene zugleich der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen.5 Zur Menschenwürde im Zusammenhang mit dem Prinzip der Ďmaterialen Gerechtigkeit", das dem Prinzip der Rechtssicherheit gegenläuft,6 schweigt das 1 BVerfG, Urteil des Zweiten Senates vom 31. Oktober 2023 - 2 BvR 900/22. Johannes Kaspar, Freispruch bleibt Freispruch, Verfassungsblog vom 8. November 2023. 3 „Sieg für den Rechtsstaat“, so: Mathias Honer, Materielle Gerechtigkeit ist kein Argument, JuWissBlog 63/2023 v. 6. November 2023. Vgl. Anja Schmidt, Materielle Gerechtigkeit versus Rechtssicherheit, Zeitschrift für Internationale Strafrechtswissenschaft (ZfIStW) 2024, 172, 173. 4 Vgl. dazu, wenn auch etwas lapidar: Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. A., 1995, Rn. 558: „Art. 103 Abs. 3 GG enthält ein Verbot mehrmaliger Bestrafung wegen derselben Tat“. 5 So im Ganzen: BVerfG (Fn. 1), Rn. 88. 6 S. dazu und zu einem in Art. 103 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommenden Vorrang der Rechtssicherheit („Abwägungsfestigkeit“): BVerfG ebd., Rn. 75 ff. 2 Gericht hingegen. Dabei wäre durchaus denkbar, die materiale Gerechtigkeit als einen Gegenstand der Menschenwürde zu betrachten. In diesem Sinne argumentierte der Zweite Senat im Jahre 1989: Eine gerechte Bewertung des Tatgeschehens fordere nicht zuletzt das in Art. 1 Abs. 1 GG wurzelnde materielle Schuldprinzip.7 Insofern kollidierte Menschenwürde, die die materiale Gerechtigkeit (Ďgerechte BewertungŞ/Ďmaterielles SchuldprinzipŞ) fundiert, mit der Rechtssicherheit, die der Menschenwürde und der Freiheit des Betroffenen -insoweit bloß- dient. Zwar mag man wohl vertreten können, dass die materiale Gerechtigkeit nicht in der Menschenwürde zu verorten wäre. Dafür hätte es aber wenigstens eines Diskurses bedurft. Das Argument überhaupt nicht einmal zu benennen, zumal es 1989 ein tragender Grund für die eigene Entscheidung des Zweiten Senates war, erweckt den Eindruck von Unvollständigkeit in einem nicht gerade unmaßgeblichen Gesichtspunkt Ű ĎMenschenwürdeŞ wurde insoweit übersehen. Methodologisch passt dies übrigens schon damit nicht zusammen, als die Menschenwürde an sich als ĎabwägungsfestŞ angesehen wird. Eine ĎAbwägungsfestigkeitŞ unterstellt das Gericht gerade auch für das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 103 Abs. 3 GG.8 Dabei steht eine ĎAbwägungsfestigkeitŞ einem inhaltlichen Diskurs im Wege. Sie ersetzt keine Begründung.9 3. Unzulässige Rückwirkung? Die Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Regelung verstoße Ďunzweifelhaft gegen das rechtstaatliche Verbot der echten RückwirkungŞ, heißt es in der Literatur.10 Das Bundesverfassungsgericht formuliert (bloß) abstrakt, dass der Vertrauensschutz ausnahmsweise zurücktreten müsse, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern.11 Obwohl danach eine Abwägung zwischen dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit als (überragendem) ĎBelang des GemeinwohlsŞ und dem Prinzip der Rechtssicherheit zu erwarten wäre,12 bleibt sie insofern aus, als das Gericht gar keine Gründe der materialen Gerechtigkeit anführt, sondern nur solche, die im Prinzip der Rechtssicherheit ihre Ursache haben (rechtsstaatliche 7 BVerfGE 80, 367 ff., Rn. 37. BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 2023 (Fn. 1), Rn. 55, 75 u.a.; s.a. 3. Leitsatz. 9 Frank Riechelmann, Abwägungsfestigkeit ersetzt keine Begründung, JuWissBlog 73/2023 v. 21. Dezember 2023. 10 Anja Schmidt, Gerechtigkeit (Fn. 3), 173. Vgl. BVerfG (Fn. 1), Rn. 142 ff. 11 BVerfG (Fn. 1), Rn. 146 mit weiteren Nachweisen. 12 Die Lösung einer Prinzipienkollision erfolgt durch das Verfahren der Abwägung; vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 2020, S. 79 ff., 84 f. 8 2 Strafrechtsordnung mit zentraler Rolle des Zweifelsgrundsatzes, Vertrauen in ein rechtskräftiges Urteil u.a.).13 Die Überlegungen des Gerichts lassen sich auf jedwede rechtskräftige Verurteilung im Strafprozess übertragen, also etwa auch auf eine Verurteilung wegen eines Bagatelldeliktes (z. B. ĎBusfahren, ohne zu bezahlenŞ; Erschleichen von Leistungen, ğ 265a StGB). Dabei ging es nicht um eine Ďgenerelle Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel".14 Vielmehr beschränkte sich die gesetzlich angeordnete Wiederaufnahme in ğ 362 Nr. 5 StPO auf absolute Ausnahmen für Fälle von Schwerstkriminalität (Mord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen),15 bei denen der Schuldvorwurf derart schwer wiegt, dass die Versagung einer Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens und der weiteren Verfolgbarkeit die materiale Gerechtigkeit einschließlich des Rechtsfriedens gravierend (und zwar im Ergebnis ĎunerträglichŞ) beeinträchtigte.16 Dass insofern überragende Belange des Gemeinwohls nicht vorliegen würden, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen und somit ausnahmsweise eine Rückwirkung zulassen, ist nicht ersichtlich.17 Zuweilen scheint sich das Bundesverfassungsgericht sogar auf eine Willkürkontrolle zu beschränken im Rahmen der Prüfung eines etwaigen Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot: Wenn Rechtssicherheit und Gerechtigkeit kollidieren, obliegt es vornehmlich dem Gesetzgeber, sich für das eine oder andere Prinzip zu entscheiden.18 Sofern dies willkürfrei erfolgt, erweist sich die Entscheidung als verfassungskonform.19 Deshalb gelte der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht ausnahmslos.20 Die eine rückwirkende Gesetzesanordnung zulassenden Ausnahmen stellen insoweit bloß Beispiele dar (Ďunter anderemŞ), in denen Ďdas Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt wäreŞ.21 Da das Bundesverfassungsgericht keine Gründe der Willkür gegen den beanstandeten ğ 362 Nr. 5 StPO anführt, würde dies ebenfalls für eine Zulässigkeit einer Rückwirkung sprechen. 13 Vgl. BVerfG (Fn. 1), Rn. 158 ff. BVerfG (Fn. 1), Rn. 134. 15 S. dazu den beanstandeten § 362 Nr. 5 StPO, zitiert bei BVerfG ebd. (Fn. 1), Rn. 2; vgl. ferner die Gesetzesbegründung, ebd. dargestellt, Rn. 15. 16 Vgl. die Gesetzesbegründung, dargestellt bei BVerfG ebd., Rn. 15; Kment/Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 18. A., 2024 (Stand: 15. August 2023), Art. 103, Rn. 106 mit weiteren Nachweisen. 17 Vgl. dazu im Ergebnis: Kment/Jarass, ebd. 18 Vgl. BVerfGE 25, 269 ff, Rn. 100; BVerfG (Fn. 1), Rn. 78. 19 BVerfGE 25, 269 ff., Rn. 100. 20 Ebd., Rn. 101. 21 BVerfGE 13, 261, 271. Rn. 33; vgl. BVerfGE 25, 269, Rn. 101; BVerfG, Beschluss v. 12. Juli 2023, 2 BvR 482/14, Rn. 43 ff. 14 3 Da schon eine Rückwirkung verfassungsrechtlich nicht unzulässig erscheint, liegt erst recht kein ĎunzweifelhafterŞ Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vor. 4. Paternalistische Begründung Wie schon erwähnt, ging es nicht um eine Ďgenerelle Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel", sondern um absolute Ausnahmefälle von Schwerstkriminalität. Der Hinweis des Gerichts, dass eine Wiederaufnahmemöglichkeit zuungunsten eines Freigesprochenen auch für die Hinterbliebenen der Opfer eine erhebliche seelische Belastung darstelle, die das Bedürfnis nach einer inhaltlich richtigen Aufklärung und UrteilsĄndung immer weiter zurücktreten lasse, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen sei,22 erscheint daher eher erzieherisch-paternalistisch denn inhaltlich zutreffend.23 Vor allem führt die Gesetzesbegründung das Argument ĎRechtsfriedenŞ für die Wiederaufnahme ausdrücklich an.24 Auch insofern stellt sich das Gericht also gegen die Vorgabe des demokratisch-legitimierten Gesetzgebers. Zudem verjährt ĎMordŞ ja auch nicht. 5. Fazit Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsfrage entschieden. Die Begründung erweist sich jedoch als unzureichend und enthält KonĆiktpotential. Das Gericht hätte durchaus auch zu einem anderen Ergebnis gelangen und die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückweisen können.25 Ein Ďrechtsstaatlicher MeilensteinŞ liegt in dem Urteil jedenfalls nicht. DOI 10.5281/zenodo.13685405 4. September 2024 Lizenz Creative Commons Attribution 4.0 International 22 BVerfG ebd. (Fn. 1), Rn. 134. Vgl. dazu auch: Strafrechtlerin Elisa Hoven kritisiert Karlsruher Urteil, Kölner Stadt-Anzeiger v. 8. November 2023. 24 S. die Gesetzesbegründung, dargestellt bei BVerfG (Fn. 1), Rn. 15. 25 Vgl. Klaus F. Gärditz, Stellungnahme zum Entwurf des § 362 Nr. 5 StPO v. 20. Juni 2021; Kment/Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (Fn. 16), Art. 103, Rn. 106 mit weiteren Nachweisen. 23 4