Weder revolutionär noch eine
Besonderheit
Ibrahim Kanalan
2021-02-24T11:17:49
Der Berliner Gesetzesentwurf für eine bevorzugte Einstellung von „Menschen mit
Migrationshintergrund“ im öffentlichen Dienst ist zwar vorerst gescheitert, doch
das Thema wird uns mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren weiter
beschäftigen. Die politischen und rechtlichen Kontroversen sind vorprogrammiert,
denn solche Maßnahmen tangieren Ressourcen und Privilegien. Es geht um
grundlegende Verteilungsfragen und -kämpfe und damit um Machtfragen und kämpfe. Anders als pauschal behauptet, sind Fördermaßnahmen für Angehörige
bestimmter sozialer Gruppen, die historisch und strukturell diskriminiert werden,
nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch internationalrechtlich
verpflichtend.
Begriffe mit Defiziten
Im politischen und juristischen Diskurs werden zahlreiche Begriffe verwendet,
die teils abwertend, teils ebenso unpräzise wie unzutreffend sind. Der Begriff
„Migrantenquote“ trägt eine abwertende Konnotation in sich, der Begriff „positive
Diskriminierung“ ist begrifflich widersprüchlich und dogmatisch inkorrekt. Eine
Diskriminierung, auch eine positive, ist rechtlich unzulässig. Daher empfiehlt
etwa CERD (UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung),
diesen Begriff zu vermeiden (etwa CERD, Allgemeine Empfehlung Nr. 32). Nicht
weniger problematisch ist der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“,
auch wenn er zuweilen einfachgesetzlich legaldefiniert ist, wie etwa in § 2 des
Berliner Integrationsgesetzes. Er entspricht nämlich explizit keinem Begriff im
Antidiskriminierungsrecht auf nationaler oder internationaler Ebene und kann implizit
mögliche Betroffene im Kern nicht zutreffend zusammenfassen. Einschlägige
verfassungs-, europa- und internationalrechtliche normative Vorgaben zielen nicht
in jeder Hinsicht auf den Schutz von Personen ab, die unter diesen Sammelbegriff
fallen. Die einschlägigen Normen knüpfen zum einen an Merkmale an, die einer
Person zugeschrieben werden, und zum anderen an die Diskriminierung als Resultat
einer unzulässigen Differenzierung. Erst die Kombination kann rechtliche Folgen
nach sich ziehen. Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist aus unterschiedlichen
Gründen defizitär. Er ist unzureichend (under inclusive), weil er Personen, die
z.B. auf Grund von Rasse oder Hautfarbe diskriminiert werden, nicht stets erfasst,
etwa Schwarze Deutsche ohne Migrationshintergrund. Er ist überschüssig
(over inclusive), weil er Personen erfasst, die antidiskriminierungsrechtlich
nicht zwingend einer Förderung bedürfen. Daher ist es zutreffender, für
Fördermaßnahmen an Kategorien anzuknüpfen, die in Art. 3 III 1 GG und relevanten
internationalrechtlichen Rechtstexten normiert sind.
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Vielfältige Fördermaßnahmen
Es gibt viele Möglichkeiten, Fördermaßnahmen auszugestalten. Sie können als
strikte Quotenregelung konzipiert werden, die etwa an ethnische Herkunft oder
Rasse anknüpfen, und diese Merkmale für die bevorzugte Einstellung heranziehen,
bis die vorgegebene Quote erreicht ist. Weiter sind Maßnahmen möglich, die auf
den Grundsatz der Bestenauslese in Art. 33 II GG aufbauen und nur bei gleicher
Qualifikation der Bewerber:innen eine Bevorzugung auf Grund der genannten
Merkmale vorsehen. In dieser Variante sind sowohl Regelungen mit strikter
als auch mit lockerer Bevorzugung möglich. Das heißt, neben dem relevanten
personenbezogenen Merkmal (Rasse, Herkunft, Geschlecht) werden andere
Gesichtspunkte berücksichtigt oder auch nicht. Zudem ist es möglich bestimmte
Fähigkeiten und Erfahrungen – etwa die sogenannte interkulturelle Kompetenz
oder Sprachkenntnisse – als (zusätzliches) Leistungskriterium zu berücksichtigen.
Letzter Ansatz kann separat oder kumulativ mit einer der zuvor genannten Varianten
kombiniert werden (ausführlich zu einzelnen Möglichkeiten siehe hier). Diese
Regelungstypen bedürfen einer differenzierten rechtlichen Bewertung. Verkürzte und
demagogische Diskussionen führen hier nicht weiter.
Der Berliner Vorschlag etwa hielt am Grundsatz in Art. 33 II GG fest und
ordnete nur im Falle der gleichen Eignung eine bevorzugte Einstellung von
„Menschen mit Migrationshintergrund“ an, zudem unter Beachtung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Damit fügt sich dieses Konzept nahtlos in die
gängige und verfassungskonforme Praxis etwa der Förderung von Frauen.
Unterschiedliche Ziele
Die Fördermaßnahmen können schließlich unterschiedliche Ziele verfolgen:
Herstellung tatsächlicher Gleichheit, erhöhte Legitimation des staatlichen Handelns
durch angemessene Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen und
Gewährleistung der Pluralität im öffentlichen Dienst als Spiegelbild der Gesellschaft.
Die Bestimmung der Ziele ist zwar primär eine politische Frage, aber nicht allein ein
Primat der Politik. Auch verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Vorgaben sind
zu beachten. Daher wäre es kurz gegriffen, wenn man meint, es handle sich hier um
politische Opportunität oder einen wohlwollenden Akt des Staates. Grundlegende
normative Vorgaben und Verpflichtungen machen das politische Handeln notwendig.
Insbesondere zwei Ziele sind aus rechtlicher Perspektive vital, die nicht zwingend
zusammengehören, aber sich wechselseitig bedingen: die Bekämpfung struktureller
Diskriminierung und die Gewährleistung der angemessenen Repräsentation
verschiedener Bevölkerungsgruppen bei der Beteiligung an und Ausübung der
Staatsgewalt.
Es existieren zwar kaum quantitative Studien, die eine strukturelle Diskriminierung
bei der Einstellung im öffentlichen Dienst belegen, allerdings gibt es einige Studien,
die anhand der Erfahrung von Betroffenen von einer starken entsprechenden
Vermutung im allgemeinen ausgehen (vgl. etwa hier). Im Hochschulbereich
gibt es Analysen, die etwa bei der Bewertung der juristischen Staatsexamina
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feststellen, dass „Personen mit Migrationshintergrund“ schlechtere Noten erzielen.
Diskriminierung als Ursache für die schlechtere Benotung sei nicht auszuschließen
(vgl. hier).
Deutlich hingegen ist die Unterrepräsentation von Personen im öffentlichen Dienst,
die auf Grund von Abstammung, Rasse, ethnischer Herkunft, Hautfarbe etc.
strukturell benachteiligten Gruppen angehören. Im Jahr 2017 hatten insgesamt
10,7 % der Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst einen „Migrationshintergrund“,
während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ca. 23 % betrug. 6,1 % davon
waren Deutsche mit „Migrationshintergrund“ und 4,7 % „Ausländer_innen“ (vgl.
hier S. 112). Noch deutlicher dürfte die Unterrepräsentation in der Justiz sein.
Hierzu werden aber erst gar keine Daten erhoben, nicht nur in Berlin. Evident
unterrepräsentiert sind die genannten Personen auch in der Wissenschaft und damit
in der Wissensproduktion und -vermittlung. Das gilt auch für die Rechtswissenschaft.
Zwar fehlen hier ebenfalls statistische Daten, aber ein Blick auf die Webseiten
der juristischen Fakultäten und Fachbereiche oder auf die Mitgliederliste der
„Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ zeigt das auch ohne entsprechende
Studien deutlich. Es geht eben auch um Repräsentation und die Herstellung
tatsächlicher Gleichheit in dieser wichtigen Domäne des öffentlichen Dienstes.
Rechtliche Zulässigkeit und Verpflichtung zum
Erlass von Fördermaßnahmen
Aber ist es überhaupt rechtlich zulässig, die fraglichen Personen bei der Einstellung
im öffentlichen Dienst bevorzugt zu berücksichtigen? Für die Antagonist:innen
scheint die Rechtslage eindeutig zu sein. Mit Erwägungen wie Unbestimmtheit
des Begriffs „Migrationshintergrund“, Schwierigkeiten bei der Bestimmung
der Unterrepräsentation, dass es keine diskriminierenden Einstellungspraxen
im öffentlichen Dienst gebe oder Fördermaßnahmen für „Menschen mit
Migrationshintergrund“ nicht geboten und folglich verfassungswidrig seien, lehnen
sie undifferenziert die Zulässigkeit solcher Maßnahmen grundsätzlich ab (siehe etwa
hier, hier und hier).
Verfassungsrecht
Verfassungsrechtlicher Maßstab ist zunächst Art. 33 II GG. Danach hat „jeder
Deutsche“ „nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen
Zugang zu öffentlichen Ämtern“. Es gilt also der Grundsatz der Bestenauslese
bzw. der Leistungsgrundsatz, sodass bei der Einstellung im öffentlichen Dienst
primär die in Art. 33 II GG normierten Beurteilungsgesichtspunkte herangezogen
werden müssen. Das bedeutet aber keineswegs, dass andere Kriterien nicht
berücksichtigt werden dürfen. Vielmehr können Belange, die Verfassungsrang
haben, in die Entscheidung einbezogen werden, wenn aus dem Vergleich
unmittelbar leistungsbezogener Gesichtspunkte kein Vorsprung einer Bewerberin
oder eines Bewerbers vorliegt (ständige Rechtsprechung vgl. etwa hier, Rn. 11
mwN).
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Diese unumstrittene Rechtsprechung ist weder revolutionär noch eine Besonderheit.
Als vorbehaltlos gewährleistetes (grundrechtsgleiches) Recht kann Art. 33
II GG entsprechend der allgemeinen Grundrechtsdogmatik auf Grund des
kollidierenden Verfassungsrechts eingeschränkt werden. Deshalb ist es nicht nur
möglich, die Gleichbehandlung bei gleicher Eignung einzuschränken, sondern
der Leistungsgrundsatz in Art. 33 II GG kann selbst eingeschränkt und eine
Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden. Exemplarisch können Personen, die
strukturell diskriminiert und unterrepräsentiert sind, bereits dann bevorzugt werden,
wenn sie generell für eine Stelle geeignet sind und sich für die Einschränkung des
Grundsatzes in Art. 33 II GG Belange mit Verfassungsrang finden lassen.
Als kollidierendes Verfassungsrecht kommt das Benachteiligungs- und
Bevorzugungsverbot des Art. 3 III 1 GG in Betracht. Über den Wortlaut hinaus,
entsprechend dem Sinn und Zweck sowie der historischen Formation des
Diskriminierungsverbots aus Art. 3 III 1 GG, ist nach umstrittener, aber zutreffender
Ansicht, eine Bevorzugung dann zulässig – zumindest aber gerechtfertigt –,
wenn sie strukturelle Diskriminierung und Benachteiligung ausgleichen soll
(vgl. etwa Baer/Markard, Art. 3 III GG, Rn. 407 ff.; Uerpmann-Wittzack, HStR,
§ 128 Rn. 46 ff.). Art. 3 III 1 GG umfasst nicht jedwede Bevorzugung, sondern
nur solche, die zu der Diskriminierung strukturell und historisch benachteiligter
Personen führen. „Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell
diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen“, wie
das BVerfG festgestellt hat (Rn. 59). Unzulässig ist deshalb die Begünstigung
privilegierter Personengruppen (=Privilegierungsverbot).
Dieses Verständnis des Art. 3 III 1 GG ist auch unter Berücksichtigung
des Unionsrechts, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
und des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von
Rassendiskriminierung (ICERD) geboten. Nach diesen Regelwerken stellen
Fördermaßnahmen keine rechtlich relevante Ungleichbehandlung dar. Art. 1
IV ICERD normiert dies explizit. Danach sind besondere Maßnahmen (special
measures) keine Diskriminierung, wenn sie dazu dienen gleichberechtigte
Inanspruchnahme von Menschenrechten und Grundfreiheiten zu gewährleisten.
Darüber hinaus ergibt sich aus der Gewährleistungsdimension des Art. 3 GG
unter Berücksichtigung des internationalen Rechts ein Gebot zur Vornahme
von Fördermaßnahmen. Über die Abwehr staatlicher Eingriffe hinaus garantiert
er auch die tatsächliche Durchsetzung der Gleichstellung unter Beseitigung
bestehender Nachteile (ähnlich, jedoch nur begrenzt auf die Schutzdimension,
Uerpmann-Wittzack, HStR, § 128 Rn. 29 f.). Diese Lesart des Art. 3 III 1 GG mag
verfassungsrechtlich disputabel sein, sie ist jedoch unter Berücksichtigung der
Schutzpflichtdimension des Art. 14 EMRK und des Art. 2 II ICERD notwendig. Nach
diesen Vorgaben sind die Vertragsstaaten verpflichtet, Fördermaßnahmen in Bezug
auf Personen vorzunehmen, die strukturell etwa auf Grund von Rasse, Herkunft oder
Hautfarbe diskriminiert werden.
Konkret geht es darum, nicht nur Rechtsnormen zu beseitigen, die Nachteile
an Merkmale wie Abstammung, Rasse oder Herkunft knüpfen, sondern für
die Zukunft die Gleichberechtigung durchzusetzen; Art. 3 III 1 GG zielt darauf,
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die Lebensverhältnisse tatsächlich anzugleichen. Faktische Nachteile, die
typischerweise die genannten Gruppen treffen, dürfen durch begünstigende
Regelungen ausgeglichen werden (zu Art. 3 II GG vgl. BVerfG Nachtarbeitsverbot;
zu der Zulässigkeit von Fördermaßnahmen bereits vor der Einführung des Art. 3 II 2
GG vgl. BVerfG Hinterbliebenenrente I).
Festzuhalten ist, dass jedenfalls bei gleicher Eignung Merkmale in Art. 3 III 1 GG als
ein Gesichtspunkt herangezogen werden können, um eine begünstigte Einstellung
zu rechtfertigen. Grenze und Maßstab für eine Ungleichbehandlung nach Art. 33 II
GG ist natürlich die Verhältnismäßigkeit der konkreten Maßnahme.
Unionsrecht
Fördermaßnahmen spielen im europarechtlichen Antidiskriminierungsrecht eine nicht
zu unterschätzende Rolle und bestimmte Fördermaßnahmen sind im Unionsrecht
schon immer zulässig gewesen. Die Rechtsgrundlage ist gegenwärtig Art. 19 AEUV.
In persönlicher Hinsicht beschränkt sich die Norm nicht auf Unionsbürger:innen.
In sachlicher Hinsicht kann die EU gesetzgeberisch tätig werden und geeignete
Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen etwa aus Gründen der Rasse, der
ethischen Herkunft und der Religion zu bekämpfen. Umfasst ist auch die Vornahme
von Fördermaßnahmen, um die tatsächliche Gleichstellung zu gewährleisten.
Diesem Auftrag ist die Union unter anderem mit der Richtlinie 2000/43/EG
nachgekommen. Nach Art. 5 können die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der
vollen Gleichstellung in der Praxis spezifische Maßnahmen beschließen, mit denen
Benachteiligungen auf Grund der Rasse und der ethnischen Herkunft verhindert
und ausgeglichen werden. Auch hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung
konstatiert, dass Fördermaßnahmen im Unionsrecht zulässig sind, wenn sie an
die Kriterien in Art. 19 AEUV anknüpfen, um die Benachteiligung auszugleichen.
Entscheidend ist, dass die Fördermaßnahmen verhältnismäßig sind. Unzulässig sind
Vorrangregelungen dann, wenn sie absolut und unbedingt sind (vgl. etwa hier und
hier).
Internationales Recht
Der EGMR geht auf Grund von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) ebenfalls
davon aus, dass die Bevorzugung strukturell benachteiligter Gruppen nicht gegen
das Diskriminierungsverbot verstößt. Mit anderen Worten liegt bei der Begünstigung
einer Personengruppe in Anknüpfung an eines der Merkmale in Art. 14 EMRK
keine rechtlich relevante Benachteiligung anderer Personen und damit keine
Diskriminierung vor. Darüber hinaus entnimmt der EGMR der Schutzpflichtdimension
des Art. 14 EMRK eine positive Verpflichtung von Vertragsstaaten, um historisch
und strukturell erwachsene Benachteiligungen auszugleichen. So konstatierte der
Gerichtshof beispielsweise: „positive obligations of the State to undo a history of
racial segregation” (EGMR – Horváth and Kiss vs. Ungarn, Rn. 127; vgl. auch
hier). Die Schutzpflichtdimension des Art. 14 EMRK entspricht im Ergebnis der
Gewährleistungsdimension des Art. 3 III 1 GG. Auch aus der EMRK ergibt sich
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also nicht nur die Zulässigkeit von Fördermaßnahmen, sondern es besteht eine
Verpflichtung hierzu (siehe dazu Barskanmaz, S. 331 f., 345 f.)
Weitergehender ist ICERD. Dem Übereinkommen ist Deutschland beigetreten,
sodass es als unmittelbar geltendes Recht nach Art. 20 III GG bindend ist.
Formal hat es zwar wie die EMRK den Rang eines Bundesgesetzes, faktisch
hat es aber aufgrund der umfassenden verfassungsrechtlich gebotenen
Berücksichtigungspflicht in Anlehnung an die Görgülü-Entscheidung
Verfassungsrang (Quasi-Verfassungsrang). Auch Verfassungsnormen sind daher
im Lichte des Übereinkommens so auszulegen und anzuwenden, dass Konflikte mit
völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht entstehen.
Wie bereits ausgeführt stellt eine Fördermaßnahme zur Beseitigung struktureller und
historisch bedingter Benachteiligung nach Art. 1 IV ICERD keine Diskriminierung
dar. Entsprechend dem Sinn und Zweck des Diskriminierungsverbots wird eine
Tatbestandsreduktion vorgenommen. Fördermaßnahmen sind rechtlich keine
relevante Ungleichbehandlung, wenn sie dazu dienen, bestehende Ungleichheiten
auszugleichen (vgl. CERD, Allgemeine Empfehlung Nr. 32 sowie Gragl, in: Angst/
Lantscher, Art. 1 Rn. 33 ff.).
Darüber hinaus verpflichtet Art. 2 II ICERD die Vertragsstaaten zu besonderen
Maßnahmen (special and concrete measures), also Fördermaßnahmen, um zu
gewährleisten, dass Personen, die u.a. aufgrund der Rasse, Hautfarbe, ethnischen
und nationalen Herkunft benachteiligt werden, in vollem Umfang und gleichberechtigt
in den Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten gelangen. Das Konzept der
besonderen Maßnahmen zielt darauf ab, Diskriminierungen und Benachteiligungen,
die strukturell und historisch bedingt sind, auszugleichen (vgl. CERD, Allgemeine
Empfehlung Nr. 32 sowie Kanalan, in: Angst/Lantscher, Art. 2 II Rn. 5 ff.).
Fördermaßnahmen sind zwingend, wenn sie erforderlich sind. Sie sind erforderlich,
wenn eine anhaltende bzw. strukturelle Ungleichheit bei der Inanspruchnahme von
Grund- und Menschenrechten vorliegt. Dieses materielle Gleichheitsverständnis
umfasst Maßnahmen in Bezug auf Beschäftigung im öffentlichen Dienst und
Vertretung sowie Beteiligung an den staatlichen Gewalten (vgl. etwa CERD,
Allgemeine Empfehlung Nr. 34 sowie Kanalan, in: Angst/Lantscher, Art. 2 II Rn. 20
f.). Grundlegende Bedeutung erlangt hier die Notwendigkeit von Datenerhebung
über Diskriminierung. In diesem Sinne enthält Art. 2 II (und I: „mit allen geeigneten
Mitteln“) sogar eine Pflicht zur Datenerhebung.
Über die unmittelbare Verpflichtung aus Art. 2 II ICERD hinaus hat ICERD unter
zwei Gesichtspunkten eine fundamentale Bedeutung für die Auslegung des Art.
3 III 1 GG. Erstens führt Art. 1 IV ICERD dazu, dass Fördermaßnahmen keine
Diskriminierung nach Art. 3 III 1 GG darstellen. Wie bereits ausgeführt, muss Art.
3 III 1 GG vertragskonform ausgelegt werden, sodass Begünstigungen, die keine
Privilegierung darstellen, nicht unter dem Anwendungsbereich des Art. 3 III 1 GG
fallen. Zumindest ist eine Bevorzugung gerechtfertigt. Zweitens hat Art. 2 II ICERD
zur Folge, dass die Gewährleistung des Art. 3 III 1 GG in ein Förderungsgebot bzw.
in eine Verpflichtung zur Vornahme von Fördermaßnahmen transformiert wird.
Fördermaßnahmen nach Art. 3 III 1 GG sind also nicht nur zulässig, sondern auch
verpflichtend.
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Verteilungs- und Machtkämpfe
So wie Frauenfördermaßnahmen sind Fördermaßnahmen auch für Personen, die
etwa aufgrund der Merkmale wie Abstammung, Rasse, nationaler und ethnischer
Herkunft, Hautfarbe diskriminiert werden, nicht nur zulässig, sondern auch geboten.
Wer also über die Gleichstellung von Frauen spricht, kann nicht schweigen, wenn
es um Personen geht, die auf Grund anderer Merkmale, die dem Geschlecht
gleichstehen, struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind.
Daher ist die politische Forderung nach Fördermaßnahmen notwendig
und konsequent. Dass ihre Umsetzung nicht leicht sein wird, zeigen die
Abwehrmechanismen und Reflexe der Antagonist:innen. Der Grund hierfür dürfte
mehr als die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit sein. Es geht
um Verteilungs- und Machtkämpfe. Und die werden auch an Universitäten und
insbesondere rechtswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereichen geführt.
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