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Europe: Lost in Translation?

2017, 2

www.ssoar.info Europe: Lost in Translation? Akbulut, Hakan; Dzihic, Vedran; Günay, Cengiz; Pisoiu, Daniela Veröffentlichungsversion / Published Version Arbeitspapier / working paper Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Akbulut, H., Dzihic, V., Günay, C., & Pisoiu, D. (2017). Europe: Lost in Translation? (Bericht / Österreichisches Institut für Internationale Politik, 2). Wien: Österreichisches Institut für Internationale Politik (oiip). https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-59221-6 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, nontransferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, noncommercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use. 2 / 2017 Europe: Lost in Translation? Hakan Akbulut Vedran Dzihic Cengiz Günay Daniela Pisoiu Leistung erbracht im Rahmen des Kooperationsprojekts BMLVS/DIONSihPol – oiip Trendbericht 2 / 2017 Einleitung Cengiz Günay Die tiefe politische Krise der EU hält an. Dies ist insbesondere in den Nachbarschaftsbeziehungen zu spüren. Weder im Hinblick auf die südliche (arabischer Raum) oder östliche Nachbarschaft (Ukraine und Kaukasus), noch in Bezug auf den Balkan und die Türkei konnte die EU in den letzten Jahren Ansätze entwickeln, die den wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen in diesen Regionen etwas entgegenstellen, bzw. auf diese beruhigend einwirken könnten. In der südlichen und östlichen Nachbarschaft sieht sich die Union zum einen verstärkt einer Konkurrenz durch andere internationale Akteure wie China oder Russland, bzw. regionalen Akteuren wie Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emirate und zum anderen der Unterminierung der gemeinsamen Nachbarschaftspolitik durch die Partikularinteressen einzelner Mitgliedsstaaten ausgesetzt. Die schwierigen Beziehungen mit der Türkei haben einen neuen Tiefpunkt erreicht. Mehr als nur einmal wurde der Beitrittsprozess in Frage gestellt, nun sollen die Vorauszahlungen gekürzt werden. Das Land geht angesichts einer schwelenden Wirtschaftskrise und der anhaltenden politischen Polarisierung unsicheren Zeiten entgegen. Weder die EU noch die USA scheinen dabei Angebote oder Strategien zu haben. Getrieben durch geopolitische Interessen ist eine zumindest temporäre Annäherung zwischen Ankara, Moskau und Teheran zu beobachten. Diese Annäherung basiert allerdings vor allem auf zeitweiligen überlappenden Interessen im Syrienkonflikt. Ebenso scheint die EU auf dem Balkan das Momentum für eine wirksame Politik verloren zu haben. Die Reaktionen auf die Urteilsverkündungen des Haager Tribunals sind ein Beweis für die wachsenden nationalistischen Diskurse, die von gegenseitigen Schuldzuweisungen geprägt sind. Der Krieg in Ex-Jugoslawien ist alles andere als aufgearbeitet, dazu hat auch das Kriegsverbrechertribunal nicht beitragen können. Im Lichte einer Erweiterungsmüdigkeit und wachsender rivalisierender Nationalismen kann auch die EU Erweiterungsdynamik nicht positiv wirken, liberale Stimmen sind auf dem Rückzug. Ein anderes europäisches Problem, das der vorliegende Bericht anspricht, sind die Auswirkungen des Niederganges des Islamischen Staates (IS) in Syrien. Die EU Kommission ist äußerst besorgt über die Frage der Rückkehrer bzw. den Import von Spannungen aus der Region. In diesem Zusammenhang wird eine engere Zusammenarbeit mit weiteren betroffenen Drittstaaten notwendig sein. In anderen Worten, der militärische Sieg über den IS in Syrien bedeutet noch lange nicht, dass damit der IS an 2 Trendbericht 2 / 2017 sich keine Bedrohung mehr darstellt, ganz im Gegenteil, die EU und Österreich stehen nun vor neuen, weitaus komplexeren Herausforderungen, die auch komplexe Lösungsansätze erfordern. Im Folgenden finden sich die thematischen Beiträge von Cengiz Günay, Hakan Akbulut, Vedran Dzihic und Daniela Pisoiu. Der Trendbericht soll einen groben, leicht lesbaren Einblick in die Entwicklungen der Forschungsbereichere der beteiligten ForscherInnen liefern. Dieser Trendbericht bezieht sich vor allem auf die gemeinsamen Herausforderungen für die EU. Das Thema ist auch hinsichtlich Österreichs Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2018 von besonderer Bedeutung. EU Nachbarschaftspolitik: „Nicht alle Nachbarn sind am Modell der EU interessiert“ Cengiz Günay Die EU Kommission und die Mitgliedsstaaten der EU forcieren eine gemeinsame Sicherheitsunion. Diese soll den Austausch innerhalb der Union verstärken und insbesondere die Grenzen nach außen stärker sichern, bzw. die Zusammenarbeit in diesem Bereich verbessern. Laut Kommission kommt es dabei zu großen Fortschritten. Im Rahmen der sogenannten Sicherheitsunion wurde auch der European Defence Fund eingerichtet, der dazu dienen soll Rüstungsprojekte und Militäreinsätze der EU zu erleichtern (der Standard 11-09-2017). Auch wenn laut VertreterInnen der Kommission 1 derlei Vorhaben durch das Ausscheiden Großbritanniens erleichtert wurden - Großbritannien zählte bei Fragen der Formulierung einer gemeinsamen Strategie und der Vereinheitlichung der Maßnahmen stets als ein schwieriges Mitglied - so deutet die Einigung zur Intensivierung der Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich noch nicht auf eine allgemeine stärkere gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik hin. Nach außen ist die EU weiterhin stark fragmentiert. Dies wird vor allem aus der Perspektive der Nachbarstaaten klar. Die erst jüngst (2015) revidierte Europäische Nachbarschaftspolitik ist durch einen stärkeren Realismus und Pragmatismus geprägt, wie es ein hoher Vertreter der Kommission ausdrückt 2. Dies bedeutet im Wesentlichen eine Rücknahme der normativen Ansprüche, die die EU in ihren Außenbeziehungen mit der Nachbarschaft an sich selbst und ihre Partner stellte. Damit einher geht die Einsicht, 1 Diese Aussage trafen mehrere VertreterInnen der Kommission im Interview mit Cengiz Günay (Brüssel Juni 2017) 2 Interview Brüssel Juni 2017 3 Trendbericht 2 / 2017 dass die Möglichkeiten der EU ihre direkte Nachbarschaft im eigenen Sinne zu transformieren äußerst eingeschränkt sind. Diese Einschränkung ergibt sich zum einen aus den fehlenden finanziellen Kapazitäten, den unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsstaaten aber auch durch den Umstand, dass die EU in ihrer Nachbarschaft auf immer stärkere Konkurrenz durch andere staatliche, aber auch nicht - staatliche Akteure trifft. Der oben erwähnte Vertreter der EU-Kommission stellte nüchtern fest: „Wir haben erkennen müssen, dass nicht alle am Modell, das die EU anbietet, interessiert sind“. Dies trifft vor allem auf Staaten wie Ägypten, Algerien, aber auch Marokko zu. Vermehrt sind andere internationale Akteure in der europäischen Nachbarschaft aktiv geworden. Dies trifft auf China zu, dass nicht nur in der südlichen Nachbarschaft, sondern auch in der östlichen, insbesondere auf dem Kaukasus verstärkt aktiv ist. China errichtet zurzeit nach der russischen, die zweitgrößte Botschaft in Armenien, aber auch in Georgien und Aserbaidschan ist China neben Russland verstärkt aktiv. Wie auf einem Workshop zur Nachbarschaftspolitik der EU in Budapest Ende November erläutert, erzeugen vor allem Chinas Aktivitäten hinsichtlich der Errichtung einer neuen Seidenstraße Hoffnungen auf Investitionen. In der südlichen Nachbarschaft sind neben arabischen Staaten wie Saudi Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und inzwischen trotz Schwächung Katar, vor allem einzelne EU-Mitgliedsstaaten ein Hindernis für eine aktive Rolle der EU. Ungarn, Griechenland und Zypern verhindern vor allem in Bezug auf Ägypten ein härteres Vorgehen der EU. Bislang konnte noch nicht einmal eine Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen durch den Rat durchgesetzt werden. Während Ungarn auf das Prinzip der Nichteinmischung pocht, sind es im Falle Griechenlands und Zyperns wirtschaftliche Interessen im Zusammenhang mit den im Mittelmeer entdeckten Leviathan Gasfelder. Angesichts einer weiteren Abnahme der Bedeutung normativer demokratischer Ansprüche und einer immer stärker durch nationale Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen geleiteten Politik, ist auch in näherer Zukunft trotz der Bemühungen der Kommission aber auch des französischen Präsidenten Macron in nächster Zeit keine geschlossene Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu erwarten. 4 Trendbericht 2 / 2017 EU-Türkei Beziehungen ein Jahr nach dem Putsch Hakan Akbulut Mehr als ein Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 bleiben die Beziehungen zwischen der EU sowie einzelnen EU-Staaten und der Türkei weiterhin angespannt. Eine weitere Zuspitzung war in den Beziehungen des Landes mit Deutschland im Juli 2017 zu verzeichnen, als ein weiterer deutscher Staatsbürger, der an einem von Amnesty International organisierten Workshop teilnahm, wegen einer vermeintlichen Unterstützung von Terrororganisationen in der Türkei festgenommen wurde; über ihn wurde später Untersuchungshaft verhängt. 3 In Reaktion hierauf kündigte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel eine Reihe von möglichen Strafmaßnahmen gegen die Türkei an, darunter auch eine Überprüfung der Vorbeitrittszahlungen der EU. Hatte Gabriel zu diesem Zeitpunkt die Beitrittsgespräche per se noch nicht infrage gestellt, so änderte sich dies während des Wahlkampfes in Deutschland. Der Kanzler-Kandidat seiner Partei, Martin Schulz, sprach sich in einem TV-Duell mit Kanzlerin Angela Merkel für einen Abbruch der Verhandlungen aus (vgl. Das Erste 2017). Während sich Merkel in dieser Frage nicht wirklich festlegte, stellte auch sie die Auszahlung von Vorbeitrittsbeihilfen an die Türkei infrage. In einem späteren Interview verwies die Kanzlerin auf die Möglichkeit, Beitrittsverhandlungen mit einem Mehrheitsbeschluss auszusetzen statt sie abzubrechen, was einen einstimmigen Beschluss erfordern würde (PNP 2017). Zudem gab sie an, die estnische EU-Präsidentschaft gebeten zu haben, „die Arbeiten für die geplante Modernisierung der Zollunion mit der Türkei einzustellen“ (zitiert nach ibid.). Auf dem folgenden EU-Gipfel im Oktober 2017 wurden die Beziehungen der Union zur Türkei einmal mehr thematisiert. Statt einem Abbruch oder einer Aussetzung der Beitrittsverhandlungen, die de facto ohnehin zum Erliegen gekommen sind, verständigten sich die EU-Staaten darauf, die Vortrittsbeihilfen an die Türkei zu kürzen. Gemäß der im November erzielten Einigung über das EU-Budget für das Jahr 2018 werden an die Türkei € 105 Million weniger ausgezahlt als von der Kommission in einem ersten Entwurf zunächst vorgesehen (Standard 2017). Darüber hinaus wurde die Auszahlung von weiteren € 70 Millionen an Fortschritte in Fragen der Rechtsstaatlichkeit gekoppelt (ibid.). 3 Zwar wurde er Ende Oktober 2017 aus der Haft entlassen und konnte wieder nach Deutschland ausreisen, von einer Wende in den deutsch-türkischen Beziehungen kann jedoch nicht gesprochen werden, zumal weitere deutsche StaatsbürgerInnen in der Türkei inhaftiert sind und sich die Streitthemen zwischen den beiden NATOPartnern nicht auf diese Frage beschränken. In diesem Zusammenhang ist in Erinnerung zu rufen, dass diese Streitigkeiten zuletzt dazu geführt haben, dass Deutschland Fluggerät und Personal vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik nach Jordanien verlegt hat. 5 Trendbericht 2 / 2017 Die Kürzung der Vortrittsbeihilfen ist als ein symbolischer Akt zu werten, um nach innen und außen zu kommunizieren, dass die EU angesichts des autoritären Trends bzw. des autoritären Abrutschens in der Türkei nicht untätig bleibt. Dass die EU-Staaten annehmen, mit dieser Maßnahme die türkischen EntscheidungsträgerInnen zu einem Einlenken oder Kurswechsel bewegen zu können, kann stark bezweifelt werden. Eine Aussetzung oder gar ein Abbruch der Verhandlungen würde in diesem Sinne wohl auch keinen wirksamen Hebel darstellen, da sie de facto lediglich auf dem Papier existieren. 4 In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Verhandlungen in 14 von 35 Kapiteln ohnehin nicht aufgenommen werden können, solange die Zypernfrage ungelöst bleibt. 5 Aufgrund der Zypernfrage können auch keine Verhandlungskapitel (vorübergehend) geschlossen werden. Hinzu kommt der Umstand, dass Österreich kurz nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 angekündigt hat, der Öffnung von weiteren Kapiteln nicht zustimmen zu wollen. Schließlich ist auch zu bedenken, dass die Verhandlungen ergebnisoffen geführt wurden/werden. Somit ist stark zu bezweifeln, dass entsprechende Ankündigungen oder Warnungen von einzelnen EU-Staaten zu einer Kursänderung auf türkischer Seite führen können. Von der deutschen Seite wurden darüber hinaus Pläne zur Reform der Zollunion als mögliches Druckmittel identifiziert. Wie oben festgehalten, soll dieses Vorhaben zunächst nicht vorangetrieben werden. Doch auch diese Frage scheint aufgrund des Umstands, dass das Projekt einer Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) seit Amtsübernahme von Donald Trump in den USA zumindest auf Eis liegt, für die türkische Seite an Dringlichkeit verloren zu haben. Die türkische Seite gibt zwar an, eine Reform anzustreben, verweist aber darauf, dass dies im Interesse beider Seiten sei und nicht als Druckmittel eingesetzt werden könne. Sie hätten in dieser Frage keine Eile, wären aber bereit für eine Reform, sofern dies auch die EU sei, hielt der türkische Minister für EUAngelegenheit Ömer Çelik zuletzt fest (vgl. AB Bakanlığı 2017). In der zweiten Jahreshälfte 2017 setzte sich also der negative Trend in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei fort. Die zunehmenden Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland schlu- 4 Die Entwicklungen der letzten 1 ½ Jahre – die türkische Regierung ist in dieser Zeit ungeachtet der Kritik aus der EU ihren harten Kurs weitergefahren, es kam sogar die Idee auf in der Türkei ein Referendum über die Frage einer Mitgliedschaft abzuhalten, das EU Parlament hat sich zwei Mal für eine Aussetzung stark gemacht – werfen die Frage auf, wie viel die TR bereit zu tun ist, um diesen Prozess am Leben zu erhalten. Der Beitrittsprozess ist zwar sicherlich von Bedeutung (auch angesichts der ca. 600 Mio. Euro an Vortrittsbeihilfen pro Jahr), aber er hat sicherlich nicht mehr den Stellenwert um von Seiten der EU als effektives Druckmittel eingesetzt werden zu können. 5 Die Verhandlungen zur Wiedervereinigung der Insel blieben einmal mehr erfolglos und wurden im Juli 2017 beendet. Für die Öffnung von acht Kapiteln gilt das Kriterium, dass die Türkei ihre Häfen und Flughäfen für griechisch-zypriotische Schiffe und Flugzeuge öffnet; d.h. sofern es gelingen sollte, diesen Teilaspekt zu klären, würde es bei den betreffenden Kapiteln keiner Gesamtlösung des Zyperndisputs bedürfen. 6 Trendbericht 2 / 2017 gen sich zusätzlich in diesen Beziehungen nieder. Zu einem offiziellen Abbruch oder zu einer Aussetzung des Beitrittsprozesses kam es dennoch nicht. Weder im Beitrittsprozess noch im Visastreit oder in der Frage der Reform der Zollunion zeichnen sich kurzfristig eine Trendwende oder ein Durchbruch ab. Nichtsdestotrotz halten beide Seiten an der Kooperation in der Flüchtlingsfrage fest. In diesem Zusammenhang wird im kommenden Jahr (2018) die Bereitstellung von zusätzlichen € 3 Mrd. durch die EU einen wesentlichen Punkt auf der Agenda darstellen. Die EU hatte eine erste Tranche von € 3 Mrd. bis Ende 2017 in Aussicht gestellt. „Sobald diese Mittel nahezu vollständig ausgeschöpft sind, wird die EU - sofern die vorgenannten Verpflichtungen erfüllt worden sind - zusätzliche Mittel für die Fazilität in Höhe von weiteren 3 Milliarden Euro bis Ende 2018 mobilisieren“, ist in der EU-Türkei Erklärung vom 18. März 2016 nachzulesen (Europäischer Rat 2016). Auch vor dem Hintergrund, dass sich insbesondere der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den letzten zwei Jahren immer wieder darüber beklagt hat, dass die EU ihre Finanzzusagen nicht einhalte und die Auszahlung der versprochenen Beiträge nur schleppend vorangehe, ist damit zu rechnen, dass die Frage der Finanzmittel – neben den oben genannten Aspekten – in den kommenden Monaten immer wieder thematisiert werden und weiterhin einen Streitpunkt in den Beziehungen darstellen wird. Sollte die EU intern keine Einigung erzielen und die genannten € 3 Mrd. Euro nicht „mobilisieren“ können, würde wohl der Flüchtlingspakt einmal mehr infrage gestellt werden. Die Urteile von Den Haag als Spiegelbild einer Region in der Krise Vedran Dzihic Die Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung in der Region des ehemaligen Jugoslawien wurden seit dem Ende der Kriege der 1990er Jahre als eine zentrale Voraussetzung für die Befriedung und Demokratisierung der Gesellschaften definiert. Die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia – ICTY) wurde noch explizit vom Anbeginn des EU-Integrationsprozesses für die Westbalkanländer als eine Grundbedingung für den Fortschritt auf dem Weg in die EU definiert. Nun hat das Tribunal im November 2017, 24 Jahre nach seiner Gründung, mit zwei Urteilen seine Arbeit beendet. Es stellt sich somit die Frage nach der Bilanz des Tribunals, zugleich aber auch die Frage, ob der Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung am Balkan vorangeschritten ist. In einem ersten Urteil am 22. November 2017 wurde Ratko Mladic, der militärische Befehlshaber der serbischen Truppen in Bosnien in den Jahren 1992-1995, in zehn Anklagepunkten für schuldig befun7 Trendbericht 2 / 2017 den und zu lebenslanger Haft verurteilt. Mit Ratko Mladic war jener Mann angeklagt, der an der Spitze der serbisch-bosnischen Armee stand und federführend an der militärischen Umsetzung der politischen Ziele der serbischen Führung rund um Karadzic arbeitete. Er gilt als strategischer Kopf der ethnischen Säuberungen zu Beginn des Krieges sowie auch als jener der hinter dem Völkermord von Srebrenica steckt. In einem zweiten Urteil am 29. November wurde das erstinstanzliche Urteil gegen Slobodan Praljak und die fünf weiteren bosnischen Kroaten (Jadranko Prlic, Bruno Stojic, Milivoj Petkovic, Valentin Coric und Berislav Pusic) bestätigt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass diese sechs Personen zu einer "gemeinsamen verbrecherischen Unternehmung" gehört hatten, um die Kriegsziele zu erreichen, und verurteilte sie zu insgesamt 111 Jahren Haft. Der Urteilstext hielt auch explizit fest, dass Franjo Tudjman, der erste Präsident Kroatiens in den 1990er Jahren, im Namen einer systematischen großkroatischen Politik zahlreiche Opfer in Bosnien bewusst in Kauf nahm. Während der Urteilsverkündung am 29. November beging Slobodan Praljak Selbstmord, in dem er Gift einnahm. Es ist offensichtlich, dass er sich als Justizopfer und Märtyrer stilisieren wollte. Praljak folgte damit der verbreiteten Ansicht unter Kroaten in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, dass das Haager Tribunal ein "politisches Gericht" sei. Beide Urteile haben über die unmittelbaren Reaktionen in der Region, die sehr heftig ausgefallen sind (siehe weiten unten), weitreichende Folgen für die Frage nach der Vergangenheitsaufarbeitung in der Region. Beide Urteile tragen dazu bei, die Geschichte des Krieges in Bosnien aufzuarbeiten. Das Ausmaß der Dokumente, Materialien und Zeugenaussagen, die vor dem Kriegsverbrechertribunal vorgebracht wurden, erlaubt eine minutiöse Darstellung der Kriegsereignisse und damit auch eine objektive Geschichtsschreibung. Gleichzeitig bedeuten die beiden Urteile auch das Ende des Kriegsverbrechertribunals. Dieses war ein wichtiges Instrument für die Durchsetzung von Gerechtigkeit gegen Kriegsverbrechen jeglicher Art. Das ICTY war das größte Kriegsverbrechertribunal der Ära nach dem Kalten Krieg. Es stellte einen Meilenstein im Streben nach der Ahndung von Schuld in Kriegsverbrechen dar und war damit auch ein wichtiges Instrument nicht nur für die Opfer, die Gerechtigkeit und Sühne verlangten, sondern auch für die Aufarbeitung der Ereignisse. Es ist klar, dass auch in Zukunft die positiven aber auch die negativen Erfahrungen, die man am ICTY gemacht hat, richtungsweisend für alle zukünftigen Prozesse gegen Kriegsverbrechen sein werden. Leider, und das führt zu einer zweiten Frage, ist die Bilanz zur Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit in Ex-Jugoslawien eine unzureichende, trotz und paradoxerweise teilweise auch wegen bestimmter 8 Trendbericht 2 / 2017 Urteile in Den Haag. Die Vergangenheit ist Teil des politischen Diskurses. Sie wird selektiv wahrgenommen und steht im Dienste von jeweiligen ethno-nationalen Narrativen, die sich selbst als Opfer und die anderen ausschließlich als Täter porträtieren. Die Urteile und Erkenntnisse des ICTY werden in vielen Gesellschaften Ex-Jugoslawiens weitgehend negiert und die Täter werden als Helden gefeiert. Nationalistische Diskurse, die in den Kriegsnarrativen verwurzelt sind, sind en vogue. All dies konnte im November 2017 rund um die beiden Urteile beobachtet werden. Der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, sprach nach dem Urteil gegen Mladic dem Tribunal jede Glaubwürdigkeit ab und meinte, dass Mladic nun für ihn und die Serben noch mehr als zuvor ein Held sei. Das offizielle Kroatien reagierte ebenfalls äußerst negativ auf das Urteil gegen die sechs bosnischen Kroaten. Der kroatische Premierminister Plenkovic bezeichnete das Urteil als ungerecht und den Selbstmord von Praljak als einen moralischen Akt. Die kroatische Präsidentin Grabar-Kitarovic sprach vom Urteil als einem „starken Schlag ins Herz des kroatischen Volkes“. Sowohl in Serbien als auch in Kroatien kann man nach den Urteilen von einem empfindlichen Rückenwind für die nationalkonservativen und die extrem-nationalistischen Kreise sprechen, die sich nun in ihrer Argumentation von großen Mehrheiten der Bevölkerung bestätigt fühlen. Angesichts dieser Reaktionen und einem sich offensichtlich verschlechternden regionalen politischen Klima muss man aus heutiger Sicht feststellen, dass die Urteile in Den Haag nicht zur Versöhnung und zu mehr Gerechtigkeit beigetragen haben. Der Grund dafür ist einfach: Der Krieg und die Vergangenheit werden noch immer von zentralen politischen Akteuren missbraucht und für politische Zwecke instrumentalisiert. In Bosnien haben wir es mit einer starken Ethnopolitik zu tun, bei der alles stets auf die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit reduziert wird. Die unterschiedlichen Narrative über den Krieg und die jeweilige Selbstdarstellung als Opfer dient auf allen Seiten identitätsstiftend. Damit werden parallele, konkurrierende Wahrheiten bedient. Somit fühlen sich in Bosnien alle drei Völker als Opfer, und beschuldigen die jeweils anderen Täter zu sein. Ähnlich sind die Narrative in Kroatien und Serbien. Die Schuld liegt stets bei den anderen. Personen wie Mladic oder Praljak, die aufgrund von Kriegsverbrechen verurteilt wurden, werden demnach (siehe oben) als Helden im Dienste der eigenen Nation gesehen. Ein substantieller und nachhaltiger Versöhnungsprozess in der Region scheint unter diesen Umständen kaum möglich. Auch der EU-Integrationsprozess für die einzelnen Staaten leidet darunter, sei es wegen interner politischer Konflikte rund um die Deutung der Vergangenheit (wie in Bosnien) oder wegen gestiegener Spannungen zwischen den Nachbarstaaten (wie zwischen Kroatien und Serbien). Sollte beispielswiese das Niveau der rhetorischen Feindseligkeiten zwischen Kroatien und Serbien so 9 Trendbericht 2 / 2017 angespannt bleiben wie zuletzt, ist davon auszugehen, dass Kroatien den serbischen EUAnnäherungsprozess verlangsamen und unter Umständen sogar blockieren wird. Indirekt beinträchtigen die letzten Ereignisse rund um die beiden Urteile des Tribunals auch die Sicherheit der Region. Resümierend ließe sich die These formulieren, dass mangelnde Vergangenheitsaufarbeitung am Balkan sowohl die demokratische Entwicklung der Region als auch die regionale Sicherheit bedroht. Terrorismus, Dschihadismus und Rechtsextremismus in Europa und Österreich Daniela Pisoiu Europa und damit auch Österreich sind verstärkt mit den Auswirkungen der militärischen Niederlagen des IS in Syrien und dem Irak konfrontiert. Diese Entwicklung, die im zweiten Halbjahr 2017 einsetzte wird sich auch im ersten Halbjahr 2018 fortsetzen. Die größten Herausforderungen in diesem Zusammenhang sind laut EU-Kommission die Problematik der RückkehrerInnen, und inwieweit diese eine Gefahr für europäische Gesellschaften darstellen können, gesellschaftliche Polarisierung und sektiererische (Sunniten gegen Schiiten) Gewalt. Bezüglich des ersten Themas hat das Radicalisation Awareness Network (ein von der EU-Kommission ins Leben gerufenes Netzwerk von PraktikerInnen im Bereich Prävention und Deradikalisierung) im Sommer 2017 das Handbuch „Responses to returnees: Foreign terrorist fighters and their families“ 6 herausgegeben, welches EU-Mitgliedstaaten praktische Handlungsempfehlungen im Umgang mit RückkehrerInnen anbietet. Dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass effiziente und langfristige Lösungen für die De-Radikalisierung und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft noch nicht genügend ausformuliert sind. Eine besondere Herausforderung stellt in diesem Zusammenhang die Frage des Umgangs mit Kindern und Minderjährigen, die in einer extremistischen Ideologie bzw. einem Gewaltmillieu sozialisiert wurden, dar. Probleme die über die oben genannten Kernthemen hinausgehen und die europäische Politik, Wissenschaft und Praxis auch weiterhin beschäftigen werden, sind Entwicklungen in Drittstaaten bzw. terroristische und extremistische Propaganda-Aktivitäten. In diesem Zusammenhang sind die MENA (Middle East and Nord Africa) Staaten und die Westbalkanstaaten für die Antiterrorbekämpfung in der EU aus zweierlei Gründen von besonderer Bedeutung. Einerseits sind sie, ähnlich wie die EU, mit islamistischer Radikalisierung und mit einer verstärkten Tendenz hin zu Extremismus konfrontiert, 6 https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/ran_br_a4_m10_en.pdf. 10 Trendbericht 2 / 2017 andererseits bestehen transnationale ideologische und organisatorische Vernetzungen, die sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut haben. Weiterhin beschäftigen sich die Kommission und die EUMitgliedstaaten mit den Auswirkungen terroristischer Propaganda und der Entwicklung sogenannter Gegennarrative. Sämtliche Untersuchungen stellen fest, dass trotz der Energie und der Finanzierung, die in Gegenkampagnen investiert worden sind, diese offenbar weniger wirksam sind als die Videos, die durch den IS veröffentlicht werden. Das bedeutet konkret, dass in Summe weiterhin mehr Personen radikalisiert als deradikalisiert werden, was wiederum die Verschärfung der Problemlage verdeutlicht. Im rechtsextremistischen Bereich sehen sich die Bewegungen der Neuen Rechten durch die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in den Wahlen in Österreich und Deutschland in ihrem Ansatz bestätigt und bestärkt. Weiterhin werden, im Kontext einer in Europa zersplitterten und wenig erneuerten linken Gegenbewegung, linke Themen übernommen und aus der Perspektive eines sogenannten Kulturrassismus neu „verpackt“ (siehe z.B. die Idee einer Gewerkschaft für PatriotInnen, die sich für Personen die aufgrund ihrer ‚patriotischen’ Einstellungen am Arbeitsplatz benachteiligt fühlen, gebildet hat). Aufgrund des erhöhten Aktivismus im rechten Lager (siehe z.B. verschiedene Störaktionen und Demonstrationen im Inland und europäischen Ausland) sind erneute Konfrontationen mit LinksaktivistInnen (nach einer Phase, die von Konfrontationen zwischen Neo-Nazis und Salafisten geprägt war) und eine Rückkehr des klassischen links-rechts-Konflikts zu erwarten. Ende November wurde beispielsweise eine Demonstration der Identitären in Paris verboten und anschließend mehrere LinksaktivistInnen festgenommen. 11 Trendbericht 2 / 2017 Quellen AB Bakanlığı (2017): AB Bakanı ve Başmüzakereci Ömer Çelik AA'ya Konuştu, 28. Oktober 2017, https://www.ab.gov.tr/50967.html [Zugriff: 27. November 2017]. Das Erste (2017): Das TV-Duell: Merkel gegen Schulz [Videoaufzeichnung], http://www.daserste.de/information/nachrichten-wetter/ard-sondersendung/videos/tv-duellmerkel-schulz-2017-das-erste-100.html [Zugriff: 12. November 2017]. Europäischer Rat (2016): Erklärung EU-Türkei, 18. März 2016, https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18/eu-turkey-statement/ [Zugriff: 27. November 2017]. PNP (2017): "Wir können uns keine Experimente erlauben", 16. September 2017, https://plus.pnp.de/ueberregional/politik/2657715_Wir-koennen-uns-keine-Experimenteerlauben.html? [Zugriff: 27. November 2017]. Standard, Der (2017): EU kürzt in Haushaltsverhandlungen Hilfen für Türkei, 18. November 2017, http://derstandard.at/2000068053712/EU-Haushalt-Einigung-auf-145-Millionen-an-Ausgaben-fuer2018 [Zugriff: 27. November 2017]. 12