Inhalt
Vorwort .................................................................................................................... 9
Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker
Semantiken der Liebe zwischen Kontinuität und Wandel –
eine Skizze ............................................................................................................. 11
Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker
I.
Historische Rückbindungen – von der Vormoderne bis heute
Libre échange und libertinage – Formen von Liebe und deren
Kommunikation im Briefroman des 18. Jahrhunderts
und in aktuellen E-Mail-Romanen .................................................................... 65
Kirsten von Hagen
Das Liebesaus von Grimmelshausen bis Silbermond –
Trennungen in der Popmusik in semantikgeschichtlicher Perspektive
(1998–2018) ........................................................................................................... 85
Elke Reinhardt-Becker
II. Klassische Moderne
Ein ikonisches Paar – Mikalojus Konstantinas Čiurlionis’
Briefe an Sofija ....................................................................................................... 131
Lina Užukauskaitė
Coole Romanze als literarisches Programm .................................................. 151
Monika Szczepaniak
6
INHALT
Liebe und Überleben – Industrie und »Arbeitsehe«
in der Weimarer Republik ................................................................................ 171
Frank Becker
III. Gegenwartsliteratur
Mit- oder ohne einander? Ehe und Liebe
in Werken von Martin Walser .......................................................................... 201
Bärbel Westphal
Von großer Liebe, Liebesarchiv und
Liebesblödigkeit – zur Liebessemantik in der
deutschsprachigen Prosa seit der Jahrtausendwende .................................. 225
Heinz Schumacher
IV. Diversität
»Queere« Romanzen bei Alain Claude Sulzer................................................ 253
Esther K. Bauer
Liebe und Begehren im Kontext von Androgynie,
Crossdressing und Transgender ....................................................................... 279
Corinna Schlicht
Vom »Rassenfetischismus«, dem Narrativ des Scheiterns und der
»Würdelosigkeit deutscher Weiber« – Konstruktionen und Semantiken
interkultureller Paarbeziehungen in der Moderne ........................................ 303
Christoph Lorke
Gibt es ein Weltfunktionssystem für Intimbeziehungen? Jenseits des
Spannungsverhältnisses von Kulturalismus und Westzentrismus ............. 331
Takemitsu Morikawa
INHALT
7
V. Populärkultur
Geschlechterkonstruktionen und das Narrativ der
romantischen Liebe in Stephenie Meyers Vampirsaga
Twilight und E L James’ Shades of Grey-Trilogie .............................................. 363
Lisa Wille
Der Liebesfilm – zur Wiederbelebung eines Genres seit der
Jahrtausendwende ............................................................................................. 383
Dominik Orth
Zwischen Konflikt und Integration – romantische Semantik und
Partnerschaftssemantik in der Quebecer Fernsehserie La Galère ............... 405
Chiara Piazzesi, Martin Blais, Julie Lavigne und Catherine Lavoie Mongrain
Autorinnen und Autoren .................................................................................. 425
IV. Diversität
Liebe und Begehren im Kontext von
Androgynie, Crossdressing und
Transgender
Corinna Schlicht
Der Beitrag fragt in historischer Perspektive nach dem Zusammenhang
von Geschlechtsidentität und Liebeskonzepten. Anhand verschiedener literarischer Beispiele sollen sowohl die jeweiligen Liebessemantiken im Zeichen von Androgynie, Crossdressing und Transgender als auch das gesellschaftliche Echo auf Geschlechterperformanz und Liebeskonzepte, die
Heteronormativität und Geschlechterbinarität unterlaufen, diskutiert werden. Drei historische Etappen, die Jahrhundertwenden 1800, 1900 und
2000, sind hierfür wesentlich, denn um 1800 bildet sich das bis heute wirkmächtige binäre Geschlechterdifferenzmodell heraus, um 1900 liefern die
neu entstehenden Sexualwissenschaften biologistische Begründungen für
dieses Modell, und um 2000 greifen schließlich nicht zuletzt die Gender
und Queer Studies dieses Modell massiv an. Die Beispielanalysen literarischer Texte beziehen sich auf die erste und die dritte Etappe, also die
Etablierung sowie die Unterhöhlung geschlechtlicher Binarität.
Geschlechtsidentität
Liebeskonzepte und Geschlechtsidentitäten, die sowohl die heterosexuelle
Matrix als auch die binäre Struktur, die von der Eindeutigkeit eines Zweigeschlechtermodells ausgeht, verneinen, haben für die Identitätsbildung
der betroffenen Personen existentielle Bedeutung. In dem Roman Etwas
Kleines gut versiegeln von Svealena Kutschke aus dem Jahr 2009 formuliert
eine Transgender-Figur ihr Dilemma gegenüber einer dem heteronormativen Bild entsprechenden Figur: »Lisa, wenn du in den Spiegel schaust,
dann weißt du, was du hast. Ich nicht. Ich bin spiegelverkehrt. Glaub nicht,
280
CORINNA SCHLICHT
dass du mich verstehst.«1 Das, was die Transgender-Figur hier problematisiert, betrifft sowohl die Wir- (angezeigt durch den Spiegel) als auch die
individuelle Identität, unter der Jan Assmann das »im Bewusstsein des
Einzelnen aufgebaute Bild«2 von sich versteht. Dem Körper kommt dabei
eine ganz zentrale Rolle zu, denn über die eigene Körperwahrnehmung
grenzt sich das Individuum von anderen ab. Am »Leitfaden des Leibes«,3
wie Assmann ihn nennt, bildet sich die Vorstellung von sich und kann
dann als übereinstimmend mit oder abweichend von anderen erlebt werden. Daraus folgt, dass sowohl die Subjektbildung als auch die damit einhergehende Formung von Geschlechtsidentität als Prozesse zu verstehen
sind, die sich an diskursiv vermittelten Bildern orientieren. Judith Butler
hat diese Problematik bekanntermaßen in Das Unbehagen der Geschlechter so
benannt:
»Denn wie wir gesehen haben, wird der substantivische Effekt der Geschlechtsidentität durch die Regulierungsverfahren der Geschlechter-Kohärenz (gender coherence) performativ hervorgebracht und erzwungen. Innerhalb des überlieferten
Diskurses der Metaphysik der Substanz erweist sich also die Geschlechtsidentität
als performativ, d.h. sie selbst konstruiert die Identität, die sie angeblich ist. In
diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines
Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht.«4
Um dem diskursiven Zugriff zu entgehen, schlägt Butler subversive Strategien der Travestie und des Drag vor. Das Crossdressing wird so zu einer
Subversionsstrategie und Ende der 1990er Jahre zum zentralen Anschauungsmodell der Gender und Queer Studies, um die Arbitrarität von ›Natürlichkeitsnarrativen‹ im Geschlechterdiskurs aufzuzeigen.5
Medizinische und juristische Beurteilungen von Geschlecht
Sogenannte Zwitter oder Hermaphroditen, also Menschen mit innerhalb
eines binären Systems ›uneindeutigen‹ Geschlechtsmerkmalen, wurden
schon im jüdischen Talmud und später im römischen Recht als Missgebur-
——————
1 Kutschke, Etwas Kleines gut versiegeln, S. 214.
2 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 131.
3 Ebd.
4 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 49.
5 Vgl. ebd.
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
281
ten klassifiziert und deshalb oft durch rituelle Götterurteile umgebracht.
Ein Blick in die Medizin- und Rechtsgeschichte macht deutlich, wie sich
der biologisch-medizinische Befund von sogenannten Zwitterwesen entwickelt hat. Maximilian Schwochow konstatiert: »Im Denken des sechzehnten Jahrhunderts existiert keine dichotome Aufteilung«,6 wie etwa aus den
Überlegungen des Arztes, Alchemisten und Philosophen Paracelsus hervorgeht,7 aber Hermaphroditen wurden dem Bereich des Monströsen
zugeordnet:8
»Also werden auch offt geboren Hermaphrodit vnd Androgyni, dz sind Menschen/die da haben zwey heymliche Zeichen/Männlich vnn Weiblich/oder gar
keines/wie ich dann dergleichen vil Monstrosische Zeichen gesehen/beyde an
Manns vnd Weibspersonen/deren ich noch vil mehr wüste zu erzehlen/daß alles
Monstrosische Zeichen sind der heymlichen bösen Ascendenten.«9
Im ausgehenden 18. Jahrhundert fokussierte der Mediziner Johann Scultet10 in seiner Hermaphroditenbeschreibung erstmals Geschlechts- und
Zeugungsorgane.11 Als Monster, also »als Mahnzeichen oder Hinweise der
Götter auf ein drohendes Unheil«12, galten Hermaphroditen aber weiterhin.
In den Gesetzestexten steht meist die Klärungsnotwendigkeit im Raum,
welchem Geschlecht der Hermaphrodit zuzuordnen sei. Dies war, wie
Angela Kolbe betont hat, dann auch allen Rechtsordnungen gemein, dass
ein drittes Geschlecht in keinem der Texte als Möglichkeit vorgesehen ist;
immer geht es um die Vereindeutigung dessen, was als uneindeutig gilt. 13
——————
6 Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, S. 52f.
7 Vgl. Paracelsus, Erster Theil, S. 262.
8 Vgl. dazu: Borgards/Holm/Oesterle, Monster; Parr, »Monströse Körper«; Foucault/Parr,
»Die Anormalen«.
9 Paracelsus, Sechster Theil, S. 33lf.
10 Vgl. Scultet, »CCLIII Wahrnehmung«.
11 Vgl. Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, S. 13 und 17.
12 Kolbe, Intersexualität, S. 74. Vgl. dazu auch: Herrn, »Transvestitismus«, sowie Adamietz,
»Geschlechtsidentität«.
13 Das Kanonische Recht, das mit dem Corpus Iuris Canonici bis 1918 Gültigkeit hatte,
sah noch ein Selbstbestimmungsrecht der Zwitter vor, die sich in Form eines Geschlechtseides einem Geschlecht zuzuordnen und dann auch so zu leben hatten, was bis
ins 17. Jahrhundert galt; der Eidbruch konnte mit dem Tod bestraft werden. Dagegen
regelte das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 die Geschlechtszuordnung liberaler. Anders als beim Geschlechtseid, der ja im Kern die Absicht verfolgte, dass jemand
wahrhaft zu Protokoll gibt, was er oder sie ist, will es das sich im Zuge der Aufklärung
etablierende Zwei-Geschlechtermodell bestätigen, indem sich ein Mensch zu einem Geschlecht bekennt, weil er oder sie tatsächlich ein Mann oder eine Frau ist (vgl. Kolbe, In-
282
CORINNA SCHLICHT
Mit dem Personenstandsgesetz von 1875 wurden ältere Regelungen abgelöst und bis heute geltende etabliert. Nach einer Geburt ist seither eine
Meldung beim Standesamt zu tätigen, wobei das Gesetz nicht regelt, wie
die obligatorische Geschlechtszuordnung der Neugeborenen festgestellt
werden soll. In der Praxis lag nun die Geschlechtsbestimmungsautorität bei
den Medizinern, die mitunter Festlegungen vornahmen, ohne die Betroffenen von den geschlechtlichen Auffälligkeiten in Kenntnis zu setzen.14 Das
Bürgerliche Gesetzbuch von 1888 etwa bestreitet schlichtweg Trans- oder
Intersexualität:
»Nach dem heutigen Stande der medizinischen Wissenschaft darf angenommen
werden, daß es weder geschlechtslose noch beide Geschlechter in sich vereinigende Menschen gibt, dass jeder sog. Zwitter entweder ein geschlechtlich mißgebildeter Mann oder ein geschlechtlich mißgebildetes Weib ist.« 15
Dies fußt auf der Annahme, dass es ein »verdeckte[s] wahre[s] Geschlecht«16 gibt. Medizinisch findet diese Meinung ihren Beleg in der sogenannten Keimdrüsenregel,17 mit der die Sexualforschung des späten 19.
Jahrhunderts ein Instrumentarium in den Diskurs über die Geschlechterordnung einbringt, der das Ziel verfolgte, das medizinisch auszuschließen,
was kulturell unerwünscht war, nämlich ein drittes Geschlecht. Eben dieses
wurde jedoch ungefähr zeitgleich von dem Sexualwissenschaftler Magnus
Hirschfeld in seinen Büchern Was muß das Volk vom dritten Geschlecht wissen!
aus dem Jahr 1901 sowie Geschlechtsübergänge aus dem Jahr 1905 konstatiert.
Hirschfeld geht von sexuellen Zwischenstufen aus und lehnt sowohl die
misogynen Forschungsansätze seiner Zeit, wie sie etwa 1900 von dem
Neurologen und Psychiater Paul Julius Möbius in seinen Ausführungen
über den physiologischen Schwachsinn des Weibes vertreten wurden, als
auch eine Pathologisierung von Homosexualität ab.18 Diese ordnet Hirsch-
——————
tersexualität, S. 80). Im 18. Jahrhundert änderte sich allmählich die Rechtspraxis, so dass
der Eid und die Selbstbestimmung zugunsten der »Meinung von Sachverständigen«
(ebd., S. 79) zunehmend aufgegeben wurde, womit vor allem die Medizin an Bedeutung
gewann.
14 Vgl. ebd., S. 82.
15 Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches.
16 Ebd.
17 Diese gründet auf der »Annahme, dass die Keimdrüsen (also Eierstöcke oder Hoden) in
zweifelhaften Fällen die entscheidenden Kennzeichen des Geschlechts sind« (Kolbe, Intersexualität, S. 83).
18 Der Typus des Homosexuellen wird im Jahre 1870 von Carl Westphal in seinem medizinisch-psychiatrischen Aufsatz zur konträren Sexualempfindung in den Diskurs einge-
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
283
feld innerhalb von 81 Geschlechtsstufen als ›normale‹ Variante von Begehrensmustern ein.19 Mit der Keimdrüsenregel ist jedoch eine recht wirkmächtige Kategorie gefunden, die den sogenannten Pseudohermaphroditismus in die Debatte einführt. Dieser verbannt die Rede von Zwittern oder
geschlechtlich uneindeutigen Menschen in den Bereich des Mythos und
überschreibt Positionen wie die von Hirschfeld.
Sexualität und Liebe
Im Liebesdiskurs findet sich unter Rückgriff auf den platonischen Kugelmenschen-Mythos die Vorstellung von der Vervollkommnung des Menschen durch die (geschlechtliche) Verbindung mit dem jeweils fehlenden
Teil.20 Diese Form des Liebeskonzepts wird in der Frühromantik ausformuliert und in ein Liebesideal gefasst, das Friedrich Schlegel 1799 in seinem Roman Lucinde als Verschmelzung zweier Teile inszeniert, die für sich
defizitär sind und die erst gemeinsam Vollkommenheit erlangen können. 21
Die Symbiose ist mit einem ausgesprochen positiven Verhältnis zum Körper und zur Sexualität verknüpft, die nicht mehr wie in den Texten der
Empfindsamkeit als moralisch fragwürdig erscheint. Silvio Vietta verdeutlicht dies am Beispiel der Lehrlinge zu Sais von Novalis: »Der Mensch erscheint deshalb in diesem Text eher als ein Medium der vitalen kosmischen
Schöpfungsenergie, welche sich besonders in seiner Sexualität […] und
seiner Liebe offenbart.«22 In Lucinde wird diese Vereinigung in der Liebe
nun gerade in der androgynen Überschreitung von Geschlechternormen
erreicht:
»Eine unter allen ist die witzigste und schönste: wenn wir die Rollen vertauschen
und mit kindlicher Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann,
ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. […] Ich sehe hier eine wunderbare sinnreiche bedeu-
——————
bracht. Mit den Pathologisierungen und regelrechten Erfindungen sexueller Abnormitäten um 1900 sowie einem historischen Fall von Crossdressing aus dem frühen 18. Jahrhundert beschäftigt sich der Roman Rosenstengel von Angela Steidele aus dem Jahr 2015.
19 Vgl. Kolbe, Intersexualität, S. 45; Dreger, Hermaphrodites, S. 151ff.; sowie Klöppel, »Medikalisierung«.
20 Platon, Symposion.
21 Vgl. Schlegel, Lucinde, S. 17.
22 Vietta, »Frühromantik«, S. 22.
284
CORINNA SCHLICHT
tende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen
ganzen Menschheit.«23
Auch wenn die Perspektive, die der Roman einnimmt, letztlich eine männliche ist, d.h. der Entwicklungsweg, den der Roman gestaltet, ist der eines
jungen Mannes, dessen Liebesbegegnungen ihn zur Reifung bringen, so
wird dieses Ziel zumindest in erotischer Hinsicht nur über die Unterminierung von gängigen Geschlechtervorstellungen erreicht:
»Der dritte und höchste Grad ist das bleibende Gefühl von harmonischer Wärme.
Welcher Jüngling das hat, der liebt nicht mehr bloß wie ein Mann, sondern zugleich auch wie ein Weib. In ihm ist die Menschheit vollendet, und er hat den
Gipfel des Lebens erstiegen.«24
Damit ist das Konzept der Androgynie angesprochen.
Androgynie
Achim Aurnhammer schlägt in seiner motivgeschichtlichen Untersuchung
zu literarischen Darstellungen von Androgynie vor, »jede Relation zweier
komplementärer Elemente […], die eins waren, eins sind oder eins sein
möchten, sofern die Komplementarität geschlechtlich erkennbar ist«25,
unter dem Begriff der Androgynie zu fassen. Damit ist eine Denkfigur
gemeint, welche die britische Schriftstellerin Virgina Woolf 100 Jahre nach
der Lucinde aus einer feministischen Perspektive in ihrem berühmten Essay
A Room of One’s Own wie folgt formuliert hat:
»The normal and comfortable state of being is that when the two live in harmony
together, spiritually co-operating. If one is a man, still the woman part of his brain
must have effect; and a woman also must have intercourse with the man in her.
Coleridge perhaps meant this when he said that a great mind is androgynous. It is
when this fusion takes place that the mind is fully fertilized and uses all its faculties.
Perhaps a mind that is purely masculine cannot create, any more than a mind that
is purely feminine, I thought. […] Coleridge certainly did not mean, when he said
that a great mind is androgynous, that it is a mind that has any special sympathy
with women; a mind that takes up their cause or devotes itself to their interpretation. Perhaps the androgynous mind is less apt to make these distinctions than the
——————
23 Schlegel, Lucinde, S. 19.
24 Ebd., S. 32.
25 Aurnhammer, Androgynie, S. 2.
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
285
single-sexed mind. He meant, perhaps, that the androgynous mind is resonant and
porous; that it transmits emotion without impediment; that it is naturally creative,
incandescent and undivided.«26
Androgynie ist hier geistig gemeint: als Entscheidung des Menschen, jene
Ausschließungsmechanismen aufzulösen, die mit den Vorstellungen dessen, was denn männlich oder weiblich sei, verbunden sind. Der Travestie
von Geschlechterordnung durch androgyne Performanz (etwa in Form
von Crossdressing) kommt also eine dekonstruktivistische Funktion zu,
weil in der Vermischung, der Zwitterhaftigkeit gerade die Aufhebung der
vermeintlich eindeutigen Referenz von andros (Mann) und gyne (Frau)
liegt.27
Kleidung und Geschlechtsidentität
Die andersgeschlechtliche Verkleidung stellt ein karnevaleskes Spiel mit
den Geschlechterrollen dar, wobei das Crossing die kulturelle Festlegung
dessen unterläuft, was als die vermeintlich ›richtige‹ oder gar ›natürliche‹
Kleiderordnung gilt. Franziska Schößler kommt zu dem Schluss: »Sprache
wie Kleidung produzieren zwar den Schein von Wesenhaftigkeit, von Essenz, […] doch das Signifikat, die Referenz, gibt es ebenso wenig wie das
vorkulturelle eindeutige Geschlecht.«28 Historisch dient es vor allem als
Verkleidungsstrategie, um im Kostüm des anderen Geschlechts neue
Handlungsspielräume zu erlangen.29
——————
26 Woolf, A Room, S. 72.
27 In ähnlicher Weise verstehen dies die Soziologin Ulla Bock und die Sportpsychologin
Dorothee Alfermann, die 1999 ein Querelles-Jahrbuch zum Thema Androgynie. Vielfalt der
Möglichkeiten herausgaben, in dessen Einleitung sie Androgynie als bewusste Haltung definieren: »Androgyne denken weniger geschlechterschematisch. Sie teilen die Welt nicht
in männlich und weiblich ein. Ihre Urteile basieren weniger auf der Kategorie Geschlecht […]. Auf der Ebene der Einstellungen bedeutet Androgynie Toleranz, die offen
ist für vielfältige Formen des Zusammenlebens der Geschlechter« (Bock/Alfermann,
»Androgynie in der Diskussion«, S. 23f.).
28 Schößler, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 139.
29 Eine Reihe von Studien widmet sich dem Phänomen, so etwa der Sammelband von
Andrea Stoll und Verena Wodke, der unter dem Titel Sakkorausch und Rollentausch: Männliche Leitbilder als Freiheitsentwürfe von Frauen elf Aufsätze versammelt, die in historischer
Perspektive Verkleidungsstrategien von Frauen untersuchen. Das Verkleidungs- und
Verwechslungsmotiv findet sich sowohl komödiantisch als auch tragisch gewendet in Li-
286
CORINNA SCHLICHT
Als Beispiel für den Verlust von Geschlechtsidentität durch Crossdressing dient Christoph Martin Wielands Die Novelle ohne Titel aus dem Jahr
1804. Wielands Text rekurriert, ohne dies zu hinterfragen, auf Geschlechternarrative, wie sie im 18. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau,30 über
Friedrich Schiller31 bis hin zu Johann Gottlieb Fichte32 behauptet wurden.
Im Zentrum der Handlung steht eine junge Frau (Galora), die als deren
Bruder (Don Manuel) verkleidet wird, um das Familienerbe zu sichern. Es
handelt sich also um einen erzwungenen Geschlechtertausch. Galora
»wurde […] so erzogen, wie das Geschlecht, zu welchem sie von nun an gerechnet
werden sollte, es erforderte. Zu ihrem Glück oder Unglück […] hatte die Natur ihr
alle Anlagen gegeben, die zu Beglaubigung dieses Betrugs am meisten beitragen
konnten. Sie war von einer derben Leibesbeschaffenheit, stark von Knochen und
Muskeln, und mehr lang als mittlerer Größe. In ihren Augen hatte sie etwas wildes
und trotziges, in ihren Gebärden und Bewegungen etwas rasches, heftiges und
grazienloses. Ihre Stimme war tief und unsanft, und ihr Busen wurde nicht zum
Verräter an ihr […]. Sie liebte alle starken Leibesübungen, ritt und focht mit allen
Rittern der drei Orden Spaniens in die Wette, und trieb die Jagd mit Leidenschaft.
[…] Übrigens konnte Galora beinahe für einen schönen Mann gelten.«33
Dieser Abschnitt liest sich so, als sei die Geschlechtsidentität einerseits an
den Körper gebunden, denn Galora werden von ›Natur‹ aus androgyne
Züge zugesprochen, doch unterliegen eben jene ›natürlichen‹ Zuordnungen
wie Körperbau und charakterliche Eigenschaften kulturellen Vorannahmen. Nach Judith Butler ist die »Geschlechtsidentität die wiederholte Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die innerhalb eines äußerst
rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit erstarren und so den Schein der Substanz bzw. des natürlichen Schicksals des
Seienden hervorbringen.«34 Die ›wiederholte Stilisierung des Körpers‹ wird
in der Novelle als Teil des Betrugs bewusst eingesetzt. Dies ist der andere
Impuls, der die Geschlechtsidentität bildet, d.h. Galoras ›Männlichkeit‹
——————
teratur, Theater und Oper. Erinnert sei etwa an Kleists Erstlingsdrama Die Familie Schroffenstein (1802) und Ludwig van Beethovens Oper Fidelio (UA 1805) als tragische oder
Wolfgang Amadeus Mozarts Opera buffa Figaros Hochzeit (UA 1786) und Richard
Straussʼ Oper Der Rosenkavalier (UA 1911) als komische Varianten des Motivs. Vgl. hierzu Köpf, »Männer in Frauenkleidern«.
30 Vgl. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung.
31 Vgl. Schiller, Das Lied von der Glocke.
32 Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts.
33 Wieland, Die Novelle ohne Titel, S. 346f.
34 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 60.
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
287
kommt auch durch Gewohnheit und Habitus zustande: »Galora spielte sich
nach und nach so gut in ihre Mannsrolle ein, daß sie in ihrem einundzwanzigsten Jahr ihres wirklichen Geschlechts sich kaum noch mehr bewußt
war.«35
Als Don Manuel verlobt sie sich später mit ihrer Cousine Donna Rosa.
In diese Konstellation tritt nun Don Antonio, der nach dem Tod der Eltern als männlicher Gesellschafter an Galoras/Don Manuels Seite treten
soll. Weil er aber beim Tod von Don Manuel Anspruch auf das Erbe gehabt hätte, kommt er seinerseits maskiert unter falschem Namen als Don
Alonso Noya zum Schloss. Was nun geschieht, entspricht einer typischen
Dreieckskonstellation, die tragisch oder komisch gelöst werden kann, wie
in der Rahmenhandlung der Novelle ausgiebig diskutiert wird. Don Manuel/Galora verliebt sich in Don Alonso/Don Antonio, der ist affiziert von
Donna Rosa, die sich ebenfalls zu ihm hingezogen fühlt und zugleich eifersüchtig die Neigung ihres Cousins zu ihm beargwöhnt und dabei das Verwechslungsspiel aufgrund von Genderstereotypen entdeckt:
»Eine Nebenbuhlerin wittert die andre […] durch eine siebenfache Verkleidung,
und Don Manuel verriet sein Geheimnis unwissenderweise alle Augenblicke. Er
heftete bald so zärtliche, bald so finstre und feindselige Blicke auf den schönen
Alonso! – seine Stimme wurde zuweilen so ungewöhnlich sanft – oft war es, als ob
irgend etwas Unnennbares in seinem Busen arbeite – Donna Rosa hatte sogar
einsmals ein paar mit Mühe zurückgehaltne Tränen in seinen trüb funkelnden
Augen schwimmen sehen. ›Ganz gewiß‹, sagte sie zu sich selbst, ›hierunter liegt ein
seltsames Geheimnis – Don Manuel ist ein – Mädchen!‹«36
In der Liebe, so behauptet der Text, und innerhalb einer heterosexuellen
Matrix kommt das ›eigentliche‹ Geschlecht ans Licht, so dass die männliche Maskerade dem weiblichen Begehren weicht. Oder anders ausgedrückt:
Die Wahrnehmung durch den Filter des geltenden Geschlechternarrativs
verwandelt Don Manuel für die äußeren Betrachter in Galora zurück, denn
das Zärtliche und Sanfte werden dem Weiblichen zugeordnet.37 Die vermeintlich weiblichen Attribute legen sich wie ein weiteres Kostüm, das
Donna Rosa wahrnimmt, über Galoras Körper. Diese entschließt sich,
——————
35 Wieland, Die Novelle ohne Titel, S. 347.
36 Ebd., S. 351.
37 Vgl. dazu Schillers Lied von der Glocke, wo es heißt: »Denn wo das Strenge mit dem
Zarten,/Wo Starkes sich und Mildes paarten« (S. 432) oder Schlegels Lucinde: »Denn gewiß ist es, das Männer von Natur bloß heiß oder kalt sind: Zur Wärme müssen sie erst
gebildet werden. Aber die Frauen sind von Natur sinnlich und geistig warm und haben
Sinn für Wärme jeder Art« (S. 32).
288
CORINNA SCHLICHT
ihrem Geliebten die Wahrheit zu sagen. Dafür zieht sie sich um; die Novelle spricht von einer Rückverwandlung, wenn sie »in dem vollständigen
Anzug ihres eignen Geschlechts«38 vor dem Spiegel als dem Medium der
Selbsterkenntnis steht. Bezeichnenderweise ist es nicht der nackte Körper,
sondern das kulturelle Gewand, das die Selbstwahrnehmung steuert. Es ist
von dem »Kostüm ihres Geschlechts« die Rede, das sie in einen Zustand
versetzt, als ob das ganze stolze Gefühl der weiblichen Würde in sie gefahren wäre«.39 In ihrer Beichte spricht sie davon, dass ihre Eltern sie »zu
einem unnatürlichen Wesen umschufen«,40 doch will sie nun die Maskerade
beenden. Das Heiratsangebot Don Alonsos/Don Antonios lehnt sie ab,
denn »[d]ie Gewalt, die meine Natur erlitten hat, ist nie wieder gut zu machen. Die unglückliche Fertigkeit, den Mann zu spielen, würde mich nie
verlassen. Ich bin für alle zarten und weiblichen Verhältnisse und Gefühle
unwiederbringlich verloren.«41
Androgynie, Crossdressing und jede Form der Rollenverschiebung zwischen den Geschlechtern werden von der Figur als widernatürlich dargestellt. Dabei ist die Geschlechterbinarität sowohl Grundlage als auch Zielpunkt der Argumentation. Wenn sich bei Wieland die von ihren Eltern
verkleidete Frau am Ende eigenständig von dem Kostüm befreit und zu
ihrer ›Natur‹ bekennt, wählt sie zugleich den regelrechten Körperverzicht,
indem sie sich für ein Klosterleben entscheidet. Aufgrund ihrer ›männlichen‹ Erziehung kann sie nicht mehr den Geschlechternormen entsprechend als Frau agieren, was aber in der Novelle als konstitutives Merkmal
einer gelingenden Ehe- und Liebesgemeinschaft erzählt wird. ›Natur‹ – so
die Novelle – wird durch Kultur, hier den falschen Habitus, verdorben;
›Natur‹ ist also nicht einfach, sondern muss durch ›natürliche‹ Performanz
erzeugt werden; dieses Paradox durchschaut der Text jedoch nicht.
Travestie und Geschlechtsidentität
Anders als der Aufklärer Wieland bewertet der Romantiker Achim von
Arnim die Frage von Geschlechterkohärenz in seiner Novelle Die Verklei-
——————
38 Wieland, Die Novelle ohne Titel, S. 354.
39 Ebd., S. 354.
40 Ebd., S. 355.
41 Ebd., S. 357.
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
289
dungen des französischen Hofmeisters und seines deutschen Zöglings aus dem Jahr
1823. Arnim verlegt die Handlung ins späte 17. Jahrhundert und erzählt als
Tagebuchroman die Geschichte des im Titel genannten deutschen Zöglings, der in die Familiengeschichte eines französischen Hofmeisters verstrickt wird. Dieser wird als Hugenotte durch das Edikt von Fontainebleau
König Ludwigs XIV. zur Flucht aus Frankreich gezwungen. Seine Tochter
versteckt er in einem Jesuitenkloster, und seine Frau verliert er in den Wirren der Verfolgung. Das Ehepaar sitzt Gerüchten vom Tod des jeweils
anderen auf, weshalb die Frau sich erneut verheiraten will. Der Hofmeister
wiederum wird vom Vater des deutschen Zöglings, der als Tagebuchschreiber der Erzähler der Novelle ist, zu dessen Erziehung angestellt,
wobei im Hintergrund ein heimlicher Ehehandel zwischen dem Zögling
und Laura, der Tochter des Hofmeisters, steht. Die Erziehung erfolgt
durch eine Grand Tour über Belgien, Frankreich und die Niederlande
sowie dadurch, dass der Hofmeister seinem Zögling aufträgt, das Tagebuch
zu schreiben. Die schreibende Selbstreflexion steht somit im Zentrum
seiner Lehrzeit. Die Geschehnisse rund um das Familiendilemma des
Hofmeisters sind von verschiedenen Maskeraden begleitet, wobei der Zögling weder den als Frau verkleideten Hofmeister erkennt noch durchschaut, wann dessen Tochter als Mann verkleidet vor ihm steht. Er selbst
schlüpft in die Verkleidung der zweiten Frau des Hofmeisters, um dessen
erste Ehefrau zu treffen. Dabei fällt auf, dass es nicht nur eine äußerliche
Maskerade ist, sondern dass wie bei Wieland durch das Crossdressing eine
Identifikation mit seiner Rolle vonstattengeht. Hier betrifft sie allerdings
den Körper selbst und wirkt letztlich konstitutiv:
»Wer hätte das denken sollen, da sitze ich heute als Frau gekleidet, die Geschichte
meiner Verwandlung aufzuschreiben, während mein Mann im Nebenzimmer noch
besorgt mit raschen Schritten auf und ab geht. Zum Besten des Kindes, das ich
unterm Herzen trage, sei dies Geheimnis der Mutter hier aufbewahrt.« 42
Dies liest sich als anatomisches Paradox, denn der Mann imaginiert sich als
schwangere Frau. Zugleich steht diese Erfahrung in Zusammenhang mit
der geschlechtlichen Orientierung des Zöglings, denn es sind gerade die
mehrfachen Verkleidungen: des Hofmeisters als Frau, des Zöglings als
Frau, Lauras als Mann, die den Zögling zum eigenen Begehren führen. Er
entwickelt sein Verlangen nach Laura zunächst über ein homoerotisches
Gefühl:
——————
42 Arnim, Die Verkleidungen, S. 152.
290
CORINNA SCHLICHT
»In so seltsamer Lage befand ich mich noch nie. Auf meinem Bett ist ein fremder
Jüngling nach langem Kampf mit dem Schlaf von diesem überwunden hingesunken. Lieblichere Züge sah ich nie, er gleicht der schönen Frau des Hofmeisters,
und das hat mich unwiderstehlich für ihn gewonnen.«43
Als ihm der Hofmeister die eigene und dann die Verkleidung der Tochter
offenbart, erkennt der Zögling in einem umfassenden Sinne sowohl die
äußere Realität als auch sein inneres Wollen:
»Bei dem Wort stand die Lösung aller Rätsel mir deutlich vor Augen, ich senkte
den Degen und blickte nach dem Bett, wo sich der Jüngling unleugbar in eine
Jungfrau verwandelt hatte; ich konnte über mein Gefühl nicht mehr irren, es verriet ihn jetzt auch seine Stimme, jede Bewegung, sein Wuchs, alles verriet ihn.
Diese Gewißheit erfüllte mich mit einer Freude, als ob ich die größte Entdeckung
in der Naturkunde gemacht hätte, die meinen Namen wie den manches albernen
Entdeckers zu den fernsten Nachkommen bringen müßte.« 44
Julika Funk liest diese Verwandlungsszene so, dass der Zögling erst »mit
der Maske die ›natürliche‹ Ordnung der Geschlechter gefunden [hat]. Die
(notwendige) Kunst der Travestie hat ihm die ›Natur‹ der Weiblichkeit
offenbart.«45 Es geht bei von Arnim, der männlichen Bildungsroman-Tradition folgend, in erster Linie um die Entwicklung der männlichen Figur,
die die eigene Verkleidung und die damit verbundenen, titelgebenden Verwirrungen nicht wie bei Wieland als irreparablen Schaden, sondern als
notwendigen Teil einer männlichen Persönlichkeitsentwicklung durchlebt.
Gleichzeitig erfährt der Zögling aufgrund der Verkleidungen »sozusagen
am eigenen Leibe […], wie unterschiedlich die Geschlechter von der Gesellschaft behandelt werden«. Er wertet gewissermaßen »diese Erfahrungen
für die Korrektur seines persönlichen Verhaltens aus«.46 Dabei setzt sich
der deutsche Zögling von dem eher respektlosen Umgang des französischen
Hofmeisters ab, wenn er die tiefen Freundschaftsgefühle reflektiert, die ihn
mit Laura in durchaus emanzipatorischer Weise verbinden.47
Androgynes Geschlechterspiel – so ein Fazit aus der Lektüre der beiden Novellen – schadet der weiblichen Geschlechtsidentität, die als natürliches, voraussetzungsloses Phänomen präsentiert wird. Bei von Arnim
bewahrt wohl Lauras Passivität diese vor einer Internalisierung der durch
——————
43 Ebd., S. 170.
44 Ebd., S. 174.
45 Funk, »Die Kunst der Travestie«, S. 251.
46 Kastinger Riley, »Achim von Arnims Frauengestalten«, S. 83.
47 Vgl. ebd., S. 84f.
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
291
die Maskerade angenommenen männlichen Rolle. Männliche Geschlechtsidentität bedarf hingegen der Entwicklung und intellektuellen Reflexion, so
dass der Jüngling bei von Arnim mit Erzieherfigur, Tagebuchnotizen und
eigenem Rollenspiel zu seinem Selbstentwurf als (Ehe-)Mann gelangen
kann. Dieser konstituiert sich nicht zuletzt aus der Abgrenzung von der
Eindeutigkeit der Geschlechtsidentität Lauras; eine Eindeutigkeit, die Galora verloren hat. Ehe oder Kloster – das sind die Alternativen weiblicher
Lebensentwürfe in den Textwelten des frühen 19. Jahrhunderts.
Transgender und Intersexualität – der Körper als Kampfplatz
1.
Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)
Was aber, wenn das Androgyne nicht durch Erziehung und Verkleidung
von außen herangetragen, sondern regelrecht in den Körper eingeschrieben ist? In Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)
tritt im vierten Kapitel des zweiten Buches mit Mignon eine der wohl berühmtesten androgynen Figuren der deutschsprachigen Literatur auf. Mignon übt auf Goethes Titelfigur eine unglaubliche Faszination aus, was vor
allem an ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit liegt:
»Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und
gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich
einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte.
Doch entschied er sich bald für das letzte.«48
Wilhelm kann die Uneindeutigkeit nicht stehenlassen, sondern weist Mignon ein Geschlecht zu,49 wobei auf der Textebene Pronomina zur Bezugnahme auf Mignon zwischen ›sie‹ und ›es‹ wechseln und Mignon selbst von
——————
48 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 91.
49 Diesen Gestus der Vereinnahmung vollzieht Goethes Titelfigur auch, wenn es um die
Übertragung von Mignons Gesang ins Deutsche geht. Auch hier kann sich Wilhelm
nicht auf das Andere einlassen, wie Rolf Selbmann in seiner Analyse hervorhebt: »Das
einzige, was wirklich sicher ist, sind die von Wilhelm selbst eingestandenen Defizite seiner Übersetzung: der Verlust der ›Originalität‹ und des ›Ausdrucks‹. Statt dem Original
gerecht zu werden, fabriziert Wilhelm mit seiner Übersetzung ein Sprachgebilde, bei
dem die im Original stehenden Brüche eingeebnet und Sinnzusammenhänge erst nachträglich konstruiert werden« (Selbmann, »Noch einmal«, S. 3).
292
CORINNA SCHLICHT
sich sagt: »Ich bin ein Knabe, ich will kein Mädchen sein!«50 Wilhelms
Faszination übersetzt dieser schließlich in Vaterliebe, womit er die erotische Komponente in seiner Beziehung zu Mignon in eine gesellschaftlich
akzeptierte Form der Liebe umlenkt:
»›Liebes Geschöpf‹, sagte er, indem er ihre Hände nahm, ›du bist auch mit unter
meinen Schmerzen. – Ich muß fort.‹ Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen
Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder. Er behielt ihre Hände,
sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still. Er spielte mit ihren Haaren
und war freundlich. […] Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen
Tränen. […] Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus.
Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und
ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. […] Er hielt sie nur fester und fester. ›Mein Kind!‹ rief er aus, ›mein Kind! Du
bist ja mein! Wenn dich das Wort trösten kann. Du bist mein! Ich werde dich
behalten, dich nicht verlassen!‹«51
In dieser Szene sind zwei Veränderungen von Interesse. Zum einen bekennen sich Wilhelm und Mignon ihre gegenseitige Zuneigung, wobei man
den Tränenfluss im Kontext des Empfindsamkeitsdiskurses durchaus als
metonymische Verschiebung von Erotik, die im Strom der Tränen sublimiert wird, lesen kann. Zum anderen verändert sich Mignon auch körperlich, denn die offenen langen Haare weisen sie in der Semantik des Romans als weiblich aus. Dies hat eine weitere Verwischung zur Folge. Indem
sich Mignon gerade dann als Mädchen/Frau zeigt, wenn Wilhelm seine
Liebe bekennt, erscheint das Verhältnis der beiden abermals ambig – es
pendelt zwischen Erotik und Eltern-Kind-Liebe. Dies ist zum einen als
Grundtragik in der Figur selbst angelegt, denn Mignon entpuppt sich im
Laufe des Romans als Produkt eines Inzests. Zum anderen bekennt Wilhelm bereits zu Beginn des Romans seine Faszination für die ChlorindeFigur, die ihm in einem Roman begegnet ist: »Die Mannweiblichkeit, die
ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr Wirkung auf den Geist […] als die
gemachten Reize Armidens.«52 Die ›Mannweiblichkeit‹ spiegelt sich dann in
der androgynen Mignon, aber auch in der geheimnisvollen Amazone. Inge
Stephan konstatiert: »Wilhelm kann nur dort wahrhaft begehren, wo
——————
50 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 214.
51 Ebd., S. 148f.
52 Ebd., S. 27.
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
293
›Mannweiblichkeit‹ eine Rolle spielt, und sei es auch nur in Form der Kostümierung«.53
Wilhelm gegenüber formuliert Mignon ihr Leid in ihrem berühmten
Klagelied Kennst Du das Land wo die Zitronen blühn. Im Lied wird der Endvers der Strophen variiert. Heißt es zunächst »Dahin! Dahin/Möcht ich
mit dir, o mein Geliebter, ziehn!«, so wird in der zweiten Strophe dem
Geliebten eine beschützende Funktion zugewiesen (»o mein Beschützer«),
bis schließlich die dritte Strophe aus Geliebtem und Beschützer den »Vater« macht, der hier allerdings wiederum mehrfachkodiert auch als GottVater zu lesen ist:54 Der Inzest hat Mignon gezeichnet, in ihrem Lied sucht
sie sowohl nach einem Erlösungsort als auch nach einem männlichen Begleiter, der sie gleichsam erlöst. Worunter sie leidet, wird so ziemlich in der
Liedmitte mit der Frage »Was hat man dir, du armes Kind, getan?«55 nur
angedeutet, d.h. der Inzest wird tabuisiert. In den Lehrjahren stirbt sie an
gebrochenem Herzen angesichts der Verlobung Wilhelms mit Therese;
auch hier deutet sich eine über die kindliche Verbundenheit hinausreichende Zuneigung an.56 Bei ihrer Beerdigung wird sie wiederum in den zwitterhaften Zustand der Eingangsszene zurückgeführt, wenn sie sowohl als
Junge als auch als Mädchen angesprochen wird. »Von der Zweigeschlechtlichkeit geht jedoch keine Gefahr mehr aus. Einbalsamiert und in einem
Marmorsarkophag eingeschlossen, stellt Mignon keine Bedrohung mehr
dar.«57 Das Androgyne kann sakralisiert werden, ohne dass es als gelebte
Wirklichkeit die soziale Ordnung in Frage stellt.
2.
Mitgift (2002)
An Goethes tragisch-androgyne Mignon-Figur anknüpfend, die veranschaulicht, dass ein drittes Geschlecht in der bürgerlichen Gesellschaft
nicht (über)leben kann und darf, stellt Ulrike Draesner 2002 in ihrem Roman Mitgift58 erneut die Frage: »Was hat man dir, du armes Kind, getan?«
Mitgift erscheint im selben Jahr wie der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman Middlesex von Jeffrey Eugenides. Beide stellen eine Transgen-
——————
53 Stephan, »Mignon«, S. 196.
54 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 151.
55 Ebd.
56 Vgl. Stephan, »Mignon«, S. 196f.
57 Ebd., S. 198.
58 Draesner, Mitgift.
294
CORINNA SCHLICHT
der-Person in den Mittelpunkt und erzählen die Problematik geschlechtlicher Identitätsbildung als Familiengeschichte. Beide reflektieren die
familiären Geschehnisse im Kontext allgemeiner Geschichte. Bei Draesner
sind es die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg und die Flucht aus Schlesien und
der damit verbundene Heimatverlust. Beide Romane verschalten diese
nicht nur individuell, sondern auch die kollektiv prägenden Ereignisse mit
den kulturellen Erzählmustern über Sexualität und Geschlechtsidentität
und fragen nach deren Zusammenhängen. Mitgift nimmt diesen Aspekt
bereits im Titel auf, denn es geht um den Einfluss der Vergangenheit als
kulturelles und physisches Erbe auf die Identitätsbildung. Für Christian
Steltz lässt sich Mitgift »als Paradebeispiel für die vermittelnde Funktion
von Literatur als Interdiskurs begreifen, da hier Expertenwissen aus dem
medizinischen, juristischen und politischen Diskurs für ein breites Lesepublikum aufbereitet wird«.59
Der Roman ist überwiegend aus der Perspektive der Kunsthistorikerin
und Fotografin Aloe Böhm erzählt, die in den 1960er Jahren in der westdeutschen Bundesrepublik als Tochter von Holger und Ingrid Böhm aufwächst und mit der Geburt ihrer jüngeren Schwester Anita in ein Familientabu hineinerzogen wird, das auch die eigene Entwicklung erheblich
beeinflusst. Der Roman gestaltet das Tabu, indem das Geheimnis um Anita auch für die LeserInnen lange eine Leerstelle bleibt. In fünf Kapiteln,
einer klassischen Dramenanordnung folgend, wird Aloes Entwicklungsweg
nachvollzogen; erst zur Romanmitte im dritten Kapitel, wenn auch die
zentrale Figur sich dem Tabu stellt,60 werden die Leerstellen schrittweise
gefüllt: Ihre Schwester Anita ist als Transgender-Mensch61 geboren und
——————
59 Vgl. Christian Steltzʼ Kommentar zu diesem Vortrag am 22.9.2017, den er mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
60 In Aloes Kunstprojekt, für das sie mutierte Käfer und Wanzen im Umkreis von Atomkraftwerken fotografiert, spiegelt sich das Romankonzept, Tabuisiertes sichtbar zu machen.
61 Mit dem Terminus »Transgender« wird die oftmals pathologisierende Bezeichnung
»Transsexualität« erweitert. Transsexualität – so die medizinische Definition – »ist keine
sexuelle Störung, sondern eine Geschlechtsidentitätsstörung […]. Die Betroffenen selbst
bezeichnen sich als transident« (Jacobeit, Transsexualität). Davon abzugrenzen ist die Intersexualität; darunter versteht man »eine Störung der sexuellen Differenzierung, bei der
sich innere und äußere Geschlechtsorgane in unterschiedlicher Stärke ausgeprägt im Widerspruch zum chromosomalen Geschlecht entwickeln« (ebd.). »Transgender« bezeichnet »die Überschreitung des dualistischen Geschlechtersystems, subsumiert alle möglichen Formen der Trans-, Mehr- oder Zwischengeschlechtlichkeit auf verschiedenen
Ebenen« (Eintrag »Transgender people«, in: Kroll, Metzler Lexikon Gender Studies, S. 391).
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
295
von den Eltern zahlreichen Operationen und einer langwierigen medikamentösen Behandlung unterzogen worden. Das ist die Gewalt, die man
dem armen Kind angetan hat, denn Anita soll ein Mädchen sein – physisch
und juristisch. Letzteres, das »juristische Geschlecht«, welches die geburtliche Standesamt-Meldung einem Menschen aufdrängt, bedeutet für Transund Intersexuelle jedoch einen »Zwang […], der sich ganz üblicherweise in
medizinischen Interventionen materialisiert«.62
Ein zentraler Satz in Mitgift lautet: »Interpretation machte die Welt«,63
d.h. die Narrative erzeugen die Weltwahrnehmung und prägen das Zwitterkind, wie die elterliche Interpretation, dass ihr Kind ›anormal‹ sei und
›wiederhergestellt‹ werden müsse, deutlich macht: »Anita wurde ein zurechtoperiertes, eindeutiges Tierchen im Staat der Männer und Frauen, der
seligen Zweigeschlechtlichkeit.«64 Das dritte Kapitel führt aus der Perspektive der sich erinnernden Schwester die Demütigungen, Ausgrenzungen
und körperlichen Torturen vor Augen, die das Kind zu durchleiden hatte.
Die Mutter benutzt Anitas Körper in wütend-verzweifelten Aktionen, um
der eigenen Scham über das ›missgebildete‹ Kind zu begegnen.65 Es wird
dämonisiert und gilt als »Monster«66 und »Freak«,67 und zugleich geht von
Anita eine eigentümliche Strahlkraft aus. Wie Christian Steltz zu Recht in
seinem Kommentar betont, findet neben der »Dämonisierung […] eine
Sakralisierung statt. ›Beides, Verehrung und Verstoßung,‹ – so formulieren
es Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl – ›prägt die Spur [der] kulturellen
Existenz‹68 des Hermaphroditen«;69 so wird Anita entweder als Monster
oder als »der feminine Knabe aus einem frühen Raffaelbild«70 wahrgenommen. Anders als Marina Rauchenbacher verstehe ich dies allerdings
nicht als Haltung des Romans gegenüber der intergeschlechtlichen Figur,
sondern als kritische Reflexion der gesellschaftlichen Umgangsformen mit
——————
62 Holzleithner, »Unmögliches Leben«, S. 99. Mit der Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass ein drittes Geschlecht für den Eintrag in das Geburtenregister geboten sei,
hat sich 2017 die Lage für Transgender-Personen in dieser Hinsicht geändert.
63 Draesner, Mitgift, S. 271.
64 Ebd., S. 105.
65 »Ja, deswegen, sagte Ingrid, packte Aloe am Arm und zeigt ihr die Stelle zwischen Anitas
Beinen, den kleinen Vorsprung zwischen den Lippen, um den sich zwei blutige Krusten
wanden wie Minischlangen« (ebd., S. 171).
66 Ebd., S. 163.
67 Ebd., S. 217.
68 Schäffner/Vogl, »Nachwort«, S. 219.
69 Kommentar Steltz.
70 Kommentar Steltz.
296
CORINNA SCHLICHT
intergeschlechtlichen Menschen,71 die der Roman bzw. die Erinnerungen
Aloes stückweise aufdecken.
Am Ende des Romans begehrt die so zum Objekt degradierte Transgender-Person auf, indem die erwachsene Anita, die nach einem schmerzvollen Weg, gesäumt von Operationen72 und einer lebenslangen Hormontherapie, eine erfolgreiche Anwältin geworden ist, geheiratet und einen
Sohn zur Welt gebracht hat, ihre Eltern und ihren Ehemann vor den Kopf
stößt, als sie sich entschließt, den Teil von sich zu leben, der ihr genommen worden ist. Sie will als Axel ihr männliches Ich leben. Dabei versteht
Anita ihre Geschlechtsidentität als ein Drittes, »nicht weiblich oder männlich, sondern hermaphroditisch«, das heißt, sie will die »Möglichkeit, die in
[…] [ihr] angelegt war«, »endlich auch verwirklichen«.73 In diesem Zusammenhang kommt der Roman explizit auf »Körpertheorien, Butler,
Foucault, Barthes, den ganzen postmodernen Auf- und Abwasch«74 zu
sprechen, der aber angesichts gelebter Körperlichkeit beiseitegeschoben
wird. Es kommt allerdings nicht zu einer Verwirklichung von Anitas/Axels
neuer Identität, denn der Ehemann reagiert wie die Eltern und Mediziner
bei ihrer/seiner Geburt gewaltsam. Abermals wird die Integrität des Körpers nicht gewahrt. In seiner Wut über Anitas eigenmächtige Entscheidung
bricht er in Schimpftiraden über ihre »Scheißfamilie«75 aus. Er beschuldigt
sie: »Du mit deinem perversen Körper«;76 der Streit endet damit, dass er
erst Anita und danach sich selbst tötet. Draesner reflektiert die Gewalttaten
gegen Anita77 und zeigt auf, wie die jeweiligen Geschlechterbilder, an denen Eltern und Ehemann festhalten, die Gewalt gegen Anita motivieren:
Sie ist das, was nicht sein darf, deshalb wird sie als Person angegriffen.
Der Roman ist über mehrfache Analepsen und damit über verschiedene Handlungsebenen strukturiert. Dazu gehören die erzählte Gegenwart zu
——————
71 Vgl. Rauchenbacher, »Bilder schießen«, S. 136f.
72 Vgl. Klöppel, »Zur Aktualität kosmetischer Operationen«.
73 Draesner, Mitgift, S. 359.
74 Ebd., S. 359. Auch Aloe hatte sich mit diesen Theorien auseinandergesetzt und als Folie
für die eigene Familienproblematik zu nutzen versucht. Vgl. ebd., S. 242.
75 Ebd., S. 365.
76 Ebd.
77 Auch hier lese ich den Roman anders als Rauchenbacher, die zu dem Schluss kommt:
»In Mitgift wird dieser Blick auf inter*geschlechtliche Körper fortgeschrieben. Er rückt
sie in die Ferne, verhandelt sie einem ästhetischen Dispositiv folgend ist damit auch gewalttätig« (Rauchenbacher, »Bilder schießen«, S. 143). Dem lässt sich entgegenhalten,
dass die Erzählhaltung eine erinnernde und damit reflektierende ist, bei der die Dispositive erst einmal erkannt, benannt und dann als solche problematisiert werden.
LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING
297
Beginn des 21. Jahrhunderts, in der Aloe für den Sohn ihrer verstorbenen
Schwester sorgt, dann die Kindheitserinnerungen Aloes in den 1960er und
1970er Jahren und erzählten Erinnerungen der Eltern vom Zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie schließlich Erinnerungen
Aloes an ihre Studien- und ersten Berufsjahre in den 1990er Jahren, die
von der Liebesbeziehung mit dem Astrophysiker Lukas sowie von ihrer
längeren Krankheits- und Genesungsphase im Zuge einer Magersucht
geprägt sind. Die Essstörung, ihre eigene Körperfeindlichkeit, steht in
unmittelbarem Zusammenhang zur Körperproblematik der Schwester, die
von Aloe als überaus schöne, reizvolle Frau und damit als lebenslange
Konkurrenz wahrgenommen wird. Ihre Therapie bringt zutage, dass sie am
eigenen Körper die verdrängten Probleme der Schwester durchleidet, die
ihr als stummer Begleiter im Nacken sitzt. Daraus entwickelt sich die Essstörung, die das Ziel verfolgt, »ein Neutrum«78 zu werden. Mit der Magersucht will Aloe letztlich zu Anita werden, was ihr in der Selbstzerstörung,
die sie damit betreibt, in gewisser Weise auch gelingt, wie ihr ein Arzt in
der Suchtklinik erläutert:
»Jeder Mensch produziert männliche und weibliche Botenstoffe. Es kann sein,
dass hier die anorektische Störung weiterwirkt. […] Ich meine, manchmal kommt
es als Folge der Magersucht zu einer Überproduktion von Androgenen, was zu
einer gewissen Verwirrung der sekundären Geschlechtsmerkmale führen kann.« 79
Zu Aloes therapeutischen Erkenntnissen gehört, dass sie »eine tiefe Gier«
in sich hatte, »sie wollte ebenso doppelt sein. Und sie wollte diese Dopplung zerstören.«80 Genau diese Entwicklung zeichnet der Roman nach, und
zwar auch als Liebesgeschichte.
Liebe und Geschlechtsidentität – ein Fazit
Die Beziehung zu Lukas rahmt den Roman, im Schlussbild holt ihn Aloe
nach langer Trennung vom Flughafen ab. Ihre Liebesgeschichte ist von der
defizitären Körperidentität Aloes geprägt; denn nach einem zwar leidenschaftlichen Start holt sie ihr in den eigenen Körper eingeschriebenes
——————
78 Draesner, Mitgift, S. 82.
79 Ebd., S. 153.
80 Ebd., S. 229.
298
CORINNA SCHLICHT
Missverhältnis zur Schwester ein. Die Magersucht kostet sie fast das Leben. Während der Therapie finden Lukas und sie enger zueinander, können aber kein Liebeskonzept von sich jenseits von Krankheit und Gesundung finden; ein gemeinsamer Kinderwunsch scheitert mit einer
Totgeburt. Also trennen sie sich. Am Ende des Romans deutet sich nicht
zuletzt mit der Kapitelüberschrift »Lieben« ein Neuanfang an, der jedoch
kritisch auf die gesellschaftliche Norm verweist. Zwar findet sich im
Schlussbild oberflächlich betrachtet eine bürgerliche Kleinfamilie, d.h. ein
heterosexuelles Paar mit einem Kind. Doch schaut der Roman hinter dieses konventionalisierte Bild. Das heterosexuelle Paar ist in seinen sexuellen
Neigungen und Wünschen durchaus ambivalent, denn das Kind ist die
titelgebende Mitgift der Transgender-Person, die gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde und deren Geschichte im Bewusstsein der Figuren und
damit auch im Familiendiskurs nachlebt. Die offene Frage, die sich Aloe
dabei stellt, lautet, wann und wie dem Sohn von seiner Mutter zu erzählen
ist, damit sich das Tabu, das Anita/Axel gemacht und gleichsam zerstört
hat, gerade nicht fortsetzt.
Draesners Darstellung reflektiert die diskursiv vermittelten Sexualdispositive, die die Geschlechtsidentität wie auch die Liebes- und Begehrensmuster hervorbringen, und macht zugleich deutlich, dass sich die Körper
im Sinne des Körpererlebens nicht einfach ›wegdekonstruieren‹ lassen.
Dabei wird das Dilemma poststrukturalistischer Ansätze angesichts gelebter Körperidentität aufgezeigt, denn betroffene Personen erleben die emotionale und soziale Problematik von Intersexualität oder Transgender ja
nicht als allein diskursive Angelegenheit, sondern als essentielle Schwierigkeit, die einerseits auf den Leib geschrieben ist und die andererseits auch
im Körper stattfindet.
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