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Schlicht Liebe im Kontext von Androgynie und Crossdressing

Inhalt Vorwort .................................................................................................................... 9 Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker Semantiken der Liebe zwischen Kontinuität und Wandel – eine Skizze ............................................................................................................. 11 Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker I. Historische Rückbindungen – von der Vormoderne bis heute Libre échange und libertinage – Formen von Liebe und deren Kommunikation im Briefroman des 18. Jahrhunderts und in aktuellen E-Mail-Romanen .................................................................... 65 Kirsten von Hagen Das Liebesaus von Grimmelshausen bis Silbermond – Trennungen in der Popmusik in semantikgeschichtlicher Perspektive (1998–2018) ........................................................................................................... 85 Elke Reinhardt-Becker II. Klassische Moderne Ein ikonisches Paar – Mikalojus Konstantinas Čiurlionis’ Briefe an Sofija ....................................................................................................... 131 Lina Užukauskaitė Coole Romanze als literarisches Programm .................................................. 151 Monika Szczepaniak 6 INHALT Liebe und Überleben – Industrie und »Arbeitsehe« in der Weimarer Republik ................................................................................ 171 Frank Becker III. Gegenwartsliteratur Mit- oder ohne einander? Ehe und Liebe in Werken von Martin Walser .......................................................................... 201 Bärbel Westphal Von großer Liebe, Liebesarchiv und Liebesblödigkeit – zur Liebessemantik in der deutschsprachigen Prosa seit der Jahrtausendwende .................................. 225 Heinz Schumacher IV. Diversität »Queere« Romanzen bei Alain Claude Sulzer................................................ 253 Esther K. Bauer Liebe und Begehren im Kontext von Androgynie, Crossdressing und Transgender ....................................................................... 279 Corinna Schlicht Vom »Rassenfetischismus«, dem Narrativ des Scheiterns und der »Würdelosigkeit deutscher Weiber« – Konstruktionen und Semantiken interkultureller Paarbeziehungen in der Moderne ........................................ 303 Christoph Lorke Gibt es ein Weltfunktionssystem für Intimbeziehungen? Jenseits des Spannungsverhältnisses von Kulturalismus und Westzentrismus ............. 331 Takemitsu Morikawa INHALT 7 V. Populärkultur Geschlechterkonstruktionen und das Narrativ der romantischen Liebe in Stephenie Meyers Vampirsaga Twilight und E L James’ Shades of Grey-Trilogie .............................................. 363 Lisa Wille Der Liebesfilm – zur Wiederbelebung eines Genres seit der Jahrtausendwende ............................................................................................. 383 Dominik Orth Zwischen Konflikt und Integration – romantische Semantik und Partnerschaftssemantik in der Quebecer Fernsehserie La Galère ............... 405 Chiara Piazzesi, Martin Blais, Julie Lavigne und Catherine Lavoie Mongrain Autorinnen und Autoren .................................................................................. 425 IV. Diversität Liebe und Begehren im Kontext von Androgynie, Crossdressing und Transgender Corinna Schlicht Der Beitrag fragt in historischer Perspektive nach dem Zusammenhang von Geschlechtsidentität und Liebeskonzepten. Anhand verschiedener literarischer Beispiele sollen sowohl die jeweiligen Liebessemantiken im Zeichen von Androgynie, Crossdressing und Transgender als auch das gesellschaftliche Echo auf Geschlechterperformanz und Liebeskonzepte, die Heteronormativität und Geschlechterbinarität unterlaufen, diskutiert werden. Drei historische Etappen, die Jahrhundertwenden 1800, 1900 und 2000, sind hierfür wesentlich, denn um 1800 bildet sich das bis heute wirkmächtige binäre Geschlechterdifferenzmodell heraus, um 1900 liefern die neu entstehenden Sexualwissenschaften biologistische Begründungen für dieses Modell, und um 2000 greifen schließlich nicht zuletzt die Gender und Queer Studies dieses Modell massiv an. Die Beispielanalysen literarischer Texte beziehen sich auf die erste und die dritte Etappe, also die Etablierung sowie die Unterhöhlung geschlechtlicher Binarität. Geschlechtsidentität Liebeskonzepte und Geschlechtsidentitäten, die sowohl die heterosexuelle Matrix als auch die binäre Struktur, die von der Eindeutigkeit eines Zweigeschlechtermodells ausgeht, verneinen, haben für die Identitätsbildung der betroffenen Personen existentielle Bedeutung. In dem Roman Etwas Kleines gut versiegeln von Svealena Kutschke aus dem Jahr 2009 formuliert eine Transgender-Figur ihr Dilemma gegenüber einer dem heteronormativen Bild entsprechenden Figur: »Lisa, wenn du in den Spiegel schaust, dann weißt du, was du hast. Ich nicht. Ich bin spiegelverkehrt. Glaub nicht, 280 CORINNA SCHLICHT dass du mich verstehst.«1 Das, was die Transgender-Figur hier problematisiert, betrifft sowohl die Wir- (angezeigt durch den Spiegel) als auch die individuelle Identität, unter der Jan Assmann das »im Bewusstsein des Einzelnen aufgebaute Bild«2 von sich versteht. Dem Körper kommt dabei eine ganz zentrale Rolle zu, denn über die eigene Körperwahrnehmung grenzt sich das Individuum von anderen ab. Am »Leitfaden des Leibes«,3 wie Assmann ihn nennt, bildet sich die Vorstellung von sich und kann dann als übereinstimmend mit oder abweichend von anderen erlebt werden. Daraus folgt, dass sowohl die Subjektbildung als auch die damit einhergehende Formung von Geschlechtsidentität als Prozesse zu verstehen sind, die sich an diskursiv vermittelten Bildern orientieren. Judith Butler hat diese Problematik bekanntermaßen in Das Unbehagen der Geschlechter so benannt: »Denn wie wir gesehen haben, wird der substantivische Effekt der Geschlechtsidentität durch die Regulierungsverfahren der Geschlechter-Kohärenz (gender coherence) performativ hervorgebracht und erzwungen. Innerhalb des überlieferten Diskurses der Metaphysik der Substanz erweist sich also die Geschlechtsidentität als performativ, d.h. sie selbst konstruiert die Identität, die sie angeblich ist. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht.«4 Um dem diskursiven Zugriff zu entgehen, schlägt Butler subversive Strategien der Travestie und des Drag vor. Das Crossdressing wird so zu einer Subversionsstrategie und Ende der 1990er Jahre zum zentralen Anschauungsmodell der Gender und Queer Studies, um die Arbitrarität von ›Natürlichkeitsnarrativen‹ im Geschlechterdiskurs aufzuzeigen.5 Medizinische und juristische Beurteilungen von Geschlecht Sogenannte Zwitter oder Hermaphroditen, also Menschen mit innerhalb eines binären Systems ›uneindeutigen‹ Geschlechtsmerkmalen, wurden schon im jüdischen Talmud und später im römischen Recht als Missgebur- —————— 1 Kutschke, Etwas Kleines gut versiegeln, S. 214. 2 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 131. 3 Ebd. 4 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 49. 5 Vgl. ebd. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 281 ten klassifiziert und deshalb oft durch rituelle Götterurteile umgebracht. Ein Blick in die Medizin- und Rechtsgeschichte macht deutlich, wie sich der biologisch-medizinische Befund von sogenannten Zwitterwesen entwickelt hat. Maximilian Schwochow konstatiert: »Im Denken des sechzehnten Jahrhunderts existiert keine dichotome Aufteilung«,6 wie etwa aus den Überlegungen des Arztes, Alchemisten und Philosophen Paracelsus hervorgeht,7 aber Hermaphroditen wurden dem Bereich des Monströsen zugeordnet:8 »Also werden auch offt geboren Hermaphrodit vnd Androgyni, dz sind Menschen/die da haben zwey heymliche Zeichen/Männlich vnn Weiblich/oder gar keines/wie ich dann dergleichen vil Monstrosische Zeichen gesehen/beyde an Manns vnd Weibspersonen/deren ich noch vil mehr wüste zu erzehlen/daß alles Monstrosische Zeichen sind der heymlichen bösen Ascendenten.«9 Im ausgehenden 18. Jahrhundert fokussierte der Mediziner Johann Scultet10 in seiner Hermaphroditenbeschreibung erstmals Geschlechts- und Zeugungsorgane.11 Als Monster, also »als Mahnzeichen oder Hinweise der Götter auf ein drohendes Unheil«12, galten Hermaphroditen aber weiterhin. In den Gesetzestexten steht meist die Klärungsnotwendigkeit im Raum, welchem Geschlecht der Hermaphrodit zuzuordnen sei. Dies war, wie Angela Kolbe betont hat, dann auch allen Rechtsordnungen gemein, dass ein drittes Geschlecht in keinem der Texte als Möglichkeit vorgesehen ist; immer geht es um die Vereindeutigung dessen, was als uneindeutig gilt. 13 —————— 6 Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, S. 52f. 7 Vgl. Paracelsus, Erster Theil, S. 262. 8 Vgl. dazu: Borgards/Holm/Oesterle, Monster; Parr, »Monströse Körper«; Foucault/Parr, »Die Anormalen«. 9 Paracelsus, Sechster Theil, S. 33lf. 10 Vgl. Scultet, »CCLIII Wahrnehmung«. 11 Vgl. Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, S. 13 und 17. 12 Kolbe, Intersexualität, S. 74. Vgl. dazu auch: Herrn, »Transvestitismus«, sowie Adamietz, »Geschlechtsidentität«. 13 Das Kanonische Recht, das mit dem Corpus Iuris Canonici bis 1918 Gültigkeit hatte, sah noch ein Selbstbestimmungsrecht der Zwitter vor, die sich in Form eines Geschlechtseides einem Geschlecht zuzuordnen und dann auch so zu leben hatten, was bis ins 17. Jahrhundert galt; der Eidbruch konnte mit dem Tod bestraft werden. Dagegen regelte das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 die Geschlechtszuordnung liberaler. Anders als beim Geschlechtseid, der ja im Kern die Absicht verfolgte, dass jemand wahrhaft zu Protokoll gibt, was er oder sie ist, will es das sich im Zuge der Aufklärung etablierende Zwei-Geschlechtermodell bestätigen, indem sich ein Mensch zu einem Geschlecht bekennt, weil er oder sie tatsächlich ein Mann oder eine Frau ist (vgl. Kolbe, In- 282 CORINNA SCHLICHT Mit dem Personenstandsgesetz von 1875 wurden ältere Regelungen abgelöst und bis heute geltende etabliert. Nach einer Geburt ist seither eine Meldung beim Standesamt zu tätigen, wobei das Gesetz nicht regelt, wie die obligatorische Geschlechtszuordnung der Neugeborenen festgestellt werden soll. In der Praxis lag nun die Geschlechtsbestimmungsautorität bei den Medizinern, die mitunter Festlegungen vornahmen, ohne die Betroffenen von den geschlechtlichen Auffälligkeiten in Kenntnis zu setzen.14 Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1888 etwa bestreitet schlichtweg Trans- oder Intersexualität: »Nach dem heutigen Stande der medizinischen Wissenschaft darf angenommen werden, daß es weder geschlechtslose noch beide Geschlechter in sich vereinigende Menschen gibt, dass jeder sog. Zwitter entweder ein geschlechtlich mißgebildeter Mann oder ein geschlechtlich mißgebildetes Weib ist.« 15 Dies fußt auf der Annahme, dass es ein »verdeckte[s] wahre[s] Geschlecht«16 gibt. Medizinisch findet diese Meinung ihren Beleg in der sogenannten Keimdrüsenregel,17 mit der die Sexualforschung des späten 19. Jahrhunderts ein Instrumentarium in den Diskurs über die Geschlechterordnung einbringt, der das Ziel verfolgte, das medizinisch auszuschließen, was kulturell unerwünscht war, nämlich ein drittes Geschlecht. Eben dieses wurde jedoch ungefähr zeitgleich von dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld in seinen Büchern Was muß das Volk vom dritten Geschlecht wissen! aus dem Jahr 1901 sowie Geschlechtsübergänge aus dem Jahr 1905 konstatiert. Hirschfeld geht von sexuellen Zwischenstufen aus und lehnt sowohl die misogynen Forschungsansätze seiner Zeit, wie sie etwa 1900 von dem Neurologen und Psychiater Paul Julius Möbius in seinen Ausführungen über den physiologischen Schwachsinn des Weibes vertreten wurden, als auch eine Pathologisierung von Homosexualität ab.18 Diese ordnet Hirsch- —————— tersexualität, S. 80). Im 18. Jahrhundert änderte sich allmählich die Rechtspraxis, so dass der Eid und die Selbstbestimmung zugunsten der »Meinung von Sachverständigen« (ebd., S. 79) zunehmend aufgegeben wurde, womit vor allem die Medizin an Bedeutung gewann. 14 Vgl. ebd., S. 82. 15 Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches. 16 Ebd. 17 Diese gründet auf der »Annahme, dass die Keimdrüsen (also Eierstöcke oder Hoden) in zweifelhaften Fällen die entscheidenden Kennzeichen des Geschlechts sind« (Kolbe, Intersexualität, S. 83). 18 Der Typus des Homosexuellen wird im Jahre 1870 von Carl Westphal in seinem medizinisch-psychiatrischen Aufsatz zur konträren Sexualempfindung in den Diskurs einge- LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 283 feld innerhalb von 81 Geschlechtsstufen als ›normale‹ Variante von Begehrensmustern ein.19 Mit der Keimdrüsenregel ist jedoch eine recht wirkmächtige Kategorie gefunden, die den sogenannten Pseudohermaphroditismus in die Debatte einführt. Dieser verbannt die Rede von Zwittern oder geschlechtlich uneindeutigen Menschen in den Bereich des Mythos und überschreibt Positionen wie die von Hirschfeld. Sexualität und Liebe Im Liebesdiskurs findet sich unter Rückgriff auf den platonischen Kugelmenschen-Mythos die Vorstellung von der Vervollkommnung des Menschen durch die (geschlechtliche) Verbindung mit dem jeweils fehlenden Teil.20 Diese Form des Liebeskonzepts wird in der Frühromantik ausformuliert und in ein Liebesideal gefasst, das Friedrich Schlegel 1799 in seinem Roman Lucinde als Verschmelzung zweier Teile inszeniert, die für sich defizitär sind und die erst gemeinsam Vollkommenheit erlangen können. 21 Die Symbiose ist mit einem ausgesprochen positiven Verhältnis zum Körper und zur Sexualität verknüpft, die nicht mehr wie in den Texten der Empfindsamkeit als moralisch fragwürdig erscheint. Silvio Vietta verdeutlicht dies am Beispiel der Lehrlinge zu Sais von Novalis: »Der Mensch erscheint deshalb in diesem Text eher als ein Medium der vitalen kosmischen Schöpfungsenergie, welche sich besonders in seiner Sexualität […] und seiner Liebe offenbart.«22 In Lucinde wird diese Vereinigung in der Liebe nun gerade in der androgynen Überschreitung von Geschlechternormen erreicht: »Eine unter allen ist die witzigste und schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindlicher Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. […] Ich sehe hier eine wunderbare sinnreiche bedeu- —————— bracht. Mit den Pathologisierungen und regelrechten Erfindungen sexueller Abnormitäten um 1900 sowie einem historischen Fall von Crossdressing aus dem frühen 18. Jahrhundert beschäftigt sich der Roman Rosenstengel von Angela Steidele aus dem Jahr 2015. 19 Vgl. Kolbe, Intersexualität, S. 45; Dreger, Hermaphrodites, S. 151ff.; sowie Klöppel, »Medikalisierung«. 20 Platon, Symposion. 21 Vgl. Schlegel, Lucinde, S. 17. 22 Vietta, »Frühromantik«, S. 22. 284 CORINNA SCHLICHT tende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.«23 Auch wenn die Perspektive, die der Roman einnimmt, letztlich eine männliche ist, d.h. der Entwicklungsweg, den der Roman gestaltet, ist der eines jungen Mannes, dessen Liebesbegegnungen ihn zur Reifung bringen, so wird dieses Ziel zumindest in erotischer Hinsicht nur über die Unterminierung von gängigen Geschlechtervorstellungen erreicht: »Der dritte und höchste Grad ist das bleibende Gefühl von harmonischer Wärme. Welcher Jüngling das hat, der liebt nicht mehr bloß wie ein Mann, sondern zugleich auch wie ein Weib. In ihm ist die Menschheit vollendet, und er hat den Gipfel des Lebens erstiegen.«24 Damit ist das Konzept der Androgynie angesprochen. Androgynie Achim Aurnhammer schlägt in seiner motivgeschichtlichen Untersuchung zu literarischen Darstellungen von Androgynie vor, »jede Relation zweier komplementärer Elemente […], die eins waren, eins sind oder eins sein möchten, sofern die Komplementarität geschlechtlich erkennbar ist«25, unter dem Begriff der Androgynie zu fassen. Damit ist eine Denkfigur gemeint, welche die britische Schriftstellerin Virgina Woolf 100 Jahre nach der Lucinde aus einer feministischen Perspektive in ihrem berühmten Essay A Room of One’s Own wie folgt formuliert hat: »The normal and comfortable state of being is that when the two live in harmony together, spiritually co-operating. If one is a man, still the woman part of his brain must have effect; and a woman also must have intercourse with the man in her. Coleridge perhaps meant this when he said that a great mind is androgynous. It is when this fusion takes place that the mind is fully fertilized and uses all its faculties. Perhaps a mind that is purely masculine cannot create, any more than a mind that is purely feminine, I thought. […] Coleridge certainly did not mean, when he said that a great mind is androgynous, that it is a mind that has any special sympathy with women; a mind that takes up their cause or devotes itself to their interpretation. Perhaps the androgynous mind is less apt to make these distinctions than the —————— 23 Schlegel, Lucinde, S. 19. 24 Ebd., S. 32. 25 Aurnhammer, Androgynie, S. 2. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 285 single-sexed mind. He meant, perhaps, that the androgynous mind is resonant and porous; that it transmits emotion without impediment; that it is naturally creative, incandescent and undivided.«26 Androgynie ist hier geistig gemeint: als Entscheidung des Menschen, jene Ausschließungsmechanismen aufzulösen, die mit den Vorstellungen dessen, was denn männlich oder weiblich sei, verbunden sind. Der Travestie von Geschlechterordnung durch androgyne Performanz (etwa in Form von Crossdressing) kommt also eine dekonstruktivistische Funktion zu, weil in der Vermischung, der Zwitterhaftigkeit gerade die Aufhebung der vermeintlich eindeutigen Referenz von andros (Mann) und gyne (Frau) liegt.27 Kleidung und Geschlechtsidentität Die andersgeschlechtliche Verkleidung stellt ein karnevaleskes Spiel mit den Geschlechterrollen dar, wobei das Crossing die kulturelle Festlegung dessen unterläuft, was als die vermeintlich ›richtige‹ oder gar ›natürliche‹ Kleiderordnung gilt. Franziska Schößler kommt zu dem Schluss: »Sprache wie Kleidung produzieren zwar den Schein von Wesenhaftigkeit, von Essenz, […] doch das Signifikat, die Referenz, gibt es ebenso wenig wie das vorkulturelle eindeutige Geschlecht.«28 Historisch dient es vor allem als Verkleidungsstrategie, um im Kostüm des anderen Geschlechts neue Handlungsspielräume zu erlangen.29 —————— 26 Woolf, A Room, S. 72. 27 In ähnlicher Weise verstehen dies die Soziologin Ulla Bock und die Sportpsychologin Dorothee Alfermann, die 1999 ein Querelles-Jahrbuch zum Thema Androgynie. Vielfalt der Möglichkeiten herausgaben, in dessen Einleitung sie Androgynie als bewusste Haltung definieren: »Androgyne denken weniger geschlechterschematisch. Sie teilen die Welt nicht in männlich und weiblich ein. Ihre Urteile basieren weniger auf der Kategorie Geschlecht […]. Auf der Ebene der Einstellungen bedeutet Androgynie Toleranz, die offen ist für vielfältige Formen des Zusammenlebens der Geschlechter« (Bock/Alfermann, »Androgynie in der Diskussion«, S. 23f.). 28 Schößler, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 139. 29 Eine Reihe von Studien widmet sich dem Phänomen, so etwa der Sammelband von Andrea Stoll und Verena Wodke, der unter dem Titel Sakkorausch und Rollentausch: Männliche Leitbilder als Freiheitsentwürfe von Frauen elf Aufsätze versammelt, die in historischer Perspektive Verkleidungsstrategien von Frauen untersuchen. Das Verkleidungs- und Verwechslungsmotiv findet sich sowohl komödiantisch als auch tragisch gewendet in Li- 286 CORINNA SCHLICHT Als Beispiel für den Verlust von Geschlechtsidentität durch Crossdressing dient Christoph Martin Wielands Die Novelle ohne Titel aus dem Jahr 1804. Wielands Text rekurriert, ohne dies zu hinterfragen, auf Geschlechternarrative, wie sie im 18. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau,30 über Friedrich Schiller31 bis hin zu Johann Gottlieb Fichte32 behauptet wurden. Im Zentrum der Handlung steht eine junge Frau (Galora), die als deren Bruder (Don Manuel) verkleidet wird, um das Familienerbe zu sichern. Es handelt sich also um einen erzwungenen Geschlechtertausch. Galora »wurde […] so erzogen, wie das Geschlecht, zu welchem sie von nun an gerechnet werden sollte, es erforderte. Zu ihrem Glück oder Unglück […] hatte die Natur ihr alle Anlagen gegeben, die zu Beglaubigung dieses Betrugs am meisten beitragen konnten. Sie war von einer derben Leibesbeschaffenheit, stark von Knochen und Muskeln, und mehr lang als mittlerer Größe. In ihren Augen hatte sie etwas wildes und trotziges, in ihren Gebärden und Bewegungen etwas rasches, heftiges und grazienloses. Ihre Stimme war tief und unsanft, und ihr Busen wurde nicht zum Verräter an ihr […]. Sie liebte alle starken Leibesübungen, ritt und focht mit allen Rittern der drei Orden Spaniens in die Wette, und trieb die Jagd mit Leidenschaft. […] Übrigens konnte Galora beinahe für einen schönen Mann gelten.«33 Dieser Abschnitt liest sich so, als sei die Geschlechtsidentität einerseits an den Körper gebunden, denn Galora werden von ›Natur‹ aus androgyne Züge zugesprochen, doch unterliegen eben jene ›natürlichen‹ Zuordnungen wie Körperbau und charakterliche Eigenschaften kulturellen Vorannahmen. Nach Judith Butler ist die »Geschlechtsidentität die wiederholte Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die innerhalb eines äußerst rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit erstarren und so den Schein der Substanz bzw. des natürlichen Schicksals des Seienden hervorbringen.«34 Die ›wiederholte Stilisierung des Körpers‹ wird in der Novelle als Teil des Betrugs bewusst eingesetzt. Dies ist der andere Impuls, der die Geschlechtsidentität bildet, d.h. Galoras ›Männlichkeit‹ —————— teratur, Theater und Oper. Erinnert sei etwa an Kleists Erstlingsdrama Die Familie Schroffenstein (1802) und Ludwig van Beethovens Oper Fidelio (UA 1805) als tragische oder Wolfgang Amadeus Mozarts Opera buffa Figaros Hochzeit (UA 1786) und Richard Straussʼ Oper Der Rosenkavalier (UA 1911) als komische Varianten des Motivs. Vgl. hierzu Köpf, »Männer in Frauenkleidern«. 30 Vgl. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung. 31 Vgl. Schiller, Das Lied von der Glocke. 32 Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts. 33 Wieland, Die Novelle ohne Titel, S. 346f. 34 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 60. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 287 kommt auch durch Gewohnheit und Habitus zustande: »Galora spielte sich nach und nach so gut in ihre Mannsrolle ein, daß sie in ihrem einundzwanzigsten Jahr ihres wirklichen Geschlechts sich kaum noch mehr bewußt war.«35 Als Don Manuel verlobt sie sich später mit ihrer Cousine Donna Rosa. In diese Konstellation tritt nun Don Antonio, der nach dem Tod der Eltern als männlicher Gesellschafter an Galoras/Don Manuels Seite treten soll. Weil er aber beim Tod von Don Manuel Anspruch auf das Erbe gehabt hätte, kommt er seinerseits maskiert unter falschem Namen als Don Alonso Noya zum Schloss. Was nun geschieht, entspricht einer typischen Dreieckskonstellation, die tragisch oder komisch gelöst werden kann, wie in der Rahmenhandlung der Novelle ausgiebig diskutiert wird. Don Manuel/Galora verliebt sich in Don Alonso/Don Antonio, der ist affiziert von Donna Rosa, die sich ebenfalls zu ihm hingezogen fühlt und zugleich eifersüchtig die Neigung ihres Cousins zu ihm beargwöhnt und dabei das Verwechslungsspiel aufgrund von Genderstereotypen entdeckt: »Eine Nebenbuhlerin wittert die andre […] durch eine siebenfache Verkleidung, und Don Manuel verriet sein Geheimnis unwissenderweise alle Augenblicke. Er heftete bald so zärtliche, bald so finstre und feindselige Blicke auf den schönen Alonso! – seine Stimme wurde zuweilen so ungewöhnlich sanft – oft war es, als ob irgend etwas Unnennbares in seinem Busen arbeite – Donna Rosa hatte sogar einsmals ein paar mit Mühe zurückgehaltne Tränen in seinen trüb funkelnden Augen schwimmen sehen. ›Ganz gewiß‹, sagte sie zu sich selbst, ›hierunter liegt ein seltsames Geheimnis – Don Manuel ist ein – Mädchen!‹«36 In der Liebe, so behauptet der Text, und innerhalb einer heterosexuellen Matrix kommt das ›eigentliche‹ Geschlecht ans Licht, so dass die männliche Maskerade dem weiblichen Begehren weicht. Oder anders ausgedrückt: Die Wahrnehmung durch den Filter des geltenden Geschlechternarrativs verwandelt Don Manuel für die äußeren Betrachter in Galora zurück, denn das Zärtliche und Sanfte werden dem Weiblichen zugeordnet.37 Die vermeintlich weiblichen Attribute legen sich wie ein weiteres Kostüm, das Donna Rosa wahrnimmt, über Galoras Körper. Diese entschließt sich, —————— 35 Wieland, Die Novelle ohne Titel, S. 347. 36 Ebd., S. 351. 37 Vgl. dazu Schillers Lied von der Glocke, wo es heißt: »Denn wo das Strenge mit dem Zarten,/Wo Starkes sich und Mildes paarten« (S. 432) oder Schlegels Lucinde: »Denn gewiß ist es, das Männer von Natur bloß heiß oder kalt sind: Zur Wärme müssen sie erst gebildet werden. Aber die Frauen sind von Natur sinnlich und geistig warm und haben Sinn für Wärme jeder Art« (S. 32). 288 CORINNA SCHLICHT ihrem Geliebten die Wahrheit zu sagen. Dafür zieht sie sich um; die Novelle spricht von einer Rückverwandlung, wenn sie »in dem vollständigen Anzug ihres eignen Geschlechts«38 vor dem Spiegel als dem Medium der Selbsterkenntnis steht. Bezeichnenderweise ist es nicht der nackte Körper, sondern das kulturelle Gewand, das die Selbstwahrnehmung steuert. Es ist von dem »Kostüm ihres Geschlechts« die Rede, das sie in einen Zustand versetzt, als ob das ganze stolze Gefühl der weiblichen Würde in sie gefahren wäre«.39 In ihrer Beichte spricht sie davon, dass ihre Eltern sie »zu einem unnatürlichen Wesen umschufen«,40 doch will sie nun die Maskerade beenden. Das Heiratsangebot Don Alonsos/Don Antonios lehnt sie ab, denn »[d]ie Gewalt, die meine Natur erlitten hat, ist nie wieder gut zu machen. Die unglückliche Fertigkeit, den Mann zu spielen, würde mich nie verlassen. Ich bin für alle zarten und weiblichen Verhältnisse und Gefühle unwiederbringlich verloren.«41 Androgynie, Crossdressing und jede Form der Rollenverschiebung zwischen den Geschlechtern werden von der Figur als widernatürlich dargestellt. Dabei ist die Geschlechterbinarität sowohl Grundlage als auch Zielpunkt der Argumentation. Wenn sich bei Wieland die von ihren Eltern verkleidete Frau am Ende eigenständig von dem Kostüm befreit und zu ihrer ›Natur‹ bekennt, wählt sie zugleich den regelrechten Körperverzicht, indem sie sich für ein Klosterleben entscheidet. Aufgrund ihrer ›männlichen‹ Erziehung kann sie nicht mehr den Geschlechternormen entsprechend als Frau agieren, was aber in der Novelle als konstitutives Merkmal einer gelingenden Ehe- und Liebesgemeinschaft erzählt wird. ›Natur‹ – so die Novelle – wird durch Kultur, hier den falschen Habitus, verdorben; ›Natur‹ ist also nicht einfach, sondern muss durch ›natürliche‹ Performanz erzeugt werden; dieses Paradox durchschaut der Text jedoch nicht. Travestie und Geschlechtsidentität Anders als der Aufklärer Wieland bewertet der Romantiker Achim von Arnim die Frage von Geschlechterkohärenz in seiner Novelle Die Verklei- —————— 38 Wieland, Die Novelle ohne Titel, S. 354. 39 Ebd., S. 354. 40 Ebd., S. 355. 41 Ebd., S. 357. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 289 dungen des französischen Hofmeisters und seines deutschen Zöglings aus dem Jahr 1823. Arnim verlegt die Handlung ins späte 17. Jahrhundert und erzählt als Tagebuchroman die Geschichte des im Titel genannten deutschen Zöglings, der in die Familiengeschichte eines französischen Hofmeisters verstrickt wird. Dieser wird als Hugenotte durch das Edikt von Fontainebleau König Ludwigs XIV. zur Flucht aus Frankreich gezwungen. Seine Tochter versteckt er in einem Jesuitenkloster, und seine Frau verliert er in den Wirren der Verfolgung. Das Ehepaar sitzt Gerüchten vom Tod des jeweils anderen auf, weshalb die Frau sich erneut verheiraten will. Der Hofmeister wiederum wird vom Vater des deutschen Zöglings, der als Tagebuchschreiber der Erzähler der Novelle ist, zu dessen Erziehung angestellt, wobei im Hintergrund ein heimlicher Ehehandel zwischen dem Zögling und Laura, der Tochter des Hofmeisters, steht. Die Erziehung erfolgt durch eine Grand Tour über Belgien, Frankreich und die Niederlande sowie dadurch, dass der Hofmeister seinem Zögling aufträgt, das Tagebuch zu schreiben. Die schreibende Selbstreflexion steht somit im Zentrum seiner Lehrzeit. Die Geschehnisse rund um das Familiendilemma des Hofmeisters sind von verschiedenen Maskeraden begleitet, wobei der Zögling weder den als Frau verkleideten Hofmeister erkennt noch durchschaut, wann dessen Tochter als Mann verkleidet vor ihm steht. Er selbst schlüpft in die Verkleidung der zweiten Frau des Hofmeisters, um dessen erste Ehefrau zu treffen. Dabei fällt auf, dass es nicht nur eine äußerliche Maskerade ist, sondern dass wie bei Wieland durch das Crossdressing eine Identifikation mit seiner Rolle vonstattengeht. Hier betrifft sie allerdings den Körper selbst und wirkt letztlich konstitutiv: »Wer hätte das denken sollen, da sitze ich heute als Frau gekleidet, die Geschichte meiner Verwandlung aufzuschreiben, während mein Mann im Nebenzimmer noch besorgt mit raschen Schritten auf und ab geht. Zum Besten des Kindes, das ich unterm Herzen trage, sei dies Geheimnis der Mutter hier aufbewahrt.« 42 Dies liest sich als anatomisches Paradox, denn der Mann imaginiert sich als schwangere Frau. Zugleich steht diese Erfahrung in Zusammenhang mit der geschlechtlichen Orientierung des Zöglings, denn es sind gerade die mehrfachen Verkleidungen: des Hofmeisters als Frau, des Zöglings als Frau, Lauras als Mann, die den Zögling zum eigenen Begehren führen. Er entwickelt sein Verlangen nach Laura zunächst über ein homoerotisches Gefühl: —————— 42 Arnim, Die Verkleidungen, S. 152. 290 CORINNA SCHLICHT »In so seltsamer Lage befand ich mich noch nie. Auf meinem Bett ist ein fremder Jüngling nach langem Kampf mit dem Schlaf von diesem überwunden hingesunken. Lieblichere Züge sah ich nie, er gleicht der schönen Frau des Hofmeisters, und das hat mich unwiderstehlich für ihn gewonnen.«43 Als ihm der Hofmeister die eigene und dann die Verkleidung der Tochter offenbart, erkennt der Zögling in einem umfassenden Sinne sowohl die äußere Realität als auch sein inneres Wollen: »Bei dem Wort stand die Lösung aller Rätsel mir deutlich vor Augen, ich senkte den Degen und blickte nach dem Bett, wo sich der Jüngling unleugbar in eine Jungfrau verwandelt hatte; ich konnte über mein Gefühl nicht mehr irren, es verriet ihn jetzt auch seine Stimme, jede Bewegung, sein Wuchs, alles verriet ihn. Diese Gewißheit erfüllte mich mit einer Freude, als ob ich die größte Entdeckung in der Naturkunde gemacht hätte, die meinen Namen wie den manches albernen Entdeckers zu den fernsten Nachkommen bringen müßte.« 44 Julika Funk liest diese Verwandlungsszene so, dass der Zögling erst »mit der Maske die ›natürliche‹ Ordnung der Geschlechter gefunden [hat]. Die (notwendige) Kunst der Travestie hat ihm die ›Natur‹ der Weiblichkeit offenbart.«45 Es geht bei von Arnim, der männlichen Bildungsroman-Tradition folgend, in erster Linie um die Entwicklung der männlichen Figur, die die eigene Verkleidung und die damit verbundenen, titelgebenden Verwirrungen nicht wie bei Wieland als irreparablen Schaden, sondern als notwendigen Teil einer männlichen Persönlichkeitsentwicklung durchlebt. Gleichzeitig erfährt der Zögling aufgrund der Verkleidungen »sozusagen am eigenen Leibe […], wie unterschiedlich die Geschlechter von der Gesellschaft behandelt werden«. Er wertet gewissermaßen »diese Erfahrungen für die Korrektur seines persönlichen Verhaltens aus«.46 Dabei setzt sich der deutsche Zögling von dem eher respektlosen Umgang des französischen Hofmeisters ab, wenn er die tiefen Freundschaftsgefühle reflektiert, die ihn mit Laura in durchaus emanzipatorischer Weise verbinden.47 Androgynes Geschlechterspiel – so ein Fazit aus der Lektüre der beiden Novellen – schadet der weiblichen Geschlechtsidentität, die als natürliches, voraussetzungsloses Phänomen präsentiert wird. Bei von Arnim bewahrt wohl Lauras Passivität diese vor einer Internalisierung der durch —————— 43 Ebd., S. 170. 44 Ebd., S. 174. 45 Funk, »Die Kunst der Travestie«, S. 251. 46 Kastinger Riley, »Achim von Arnims Frauengestalten«, S. 83. 47 Vgl. ebd., S. 84f. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 291 die Maskerade angenommenen männlichen Rolle. Männliche Geschlechtsidentität bedarf hingegen der Entwicklung und intellektuellen Reflexion, so dass der Jüngling bei von Arnim mit Erzieherfigur, Tagebuchnotizen und eigenem Rollenspiel zu seinem Selbstentwurf als (Ehe-)Mann gelangen kann. Dieser konstituiert sich nicht zuletzt aus der Abgrenzung von der Eindeutigkeit der Geschlechtsidentität Lauras; eine Eindeutigkeit, die Galora verloren hat. Ehe oder Kloster – das sind die Alternativen weiblicher Lebensentwürfe in den Textwelten des frühen 19. Jahrhunderts. Transgender und Intersexualität – der Körper als Kampfplatz 1. Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) Was aber, wenn das Androgyne nicht durch Erziehung und Verkleidung von außen herangetragen, sondern regelrecht in den Körper eingeschrieben ist? In Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) tritt im vierten Kapitel des zweiten Buches mit Mignon eine der wohl berühmtesten androgynen Figuren der deutschsprachigen Literatur auf. Mignon übt auf Goethes Titelfigur eine unglaubliche Faszination aus, was vor allem an ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit liegt: »Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte. Doch entschied er sich bald für das letzte.«48 Wilhelm kann die Uneindeutigkeit nicht stehenlassen, sondern weist Mignon ein Geschlecht zu,49 wobei auf der Textebene Pronomina zur Bezugnahme auf Mignon zwischen ›sie‹ und ›es‹ wechseln und Mignon selbst von —————— 48 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 91. 49 Diesen Gestus der Vereinnahmung vollzieht Goethes Titelfigur auch, wenn es um die Übertragung von Mignons Gesang ins Deutsche geht. Auch hier kann sich Wilhelm nicht auf das Andere einlassen, wie Rolf Selbmann in seiner Analyse hervorhebt: »Das einzige, was wirklich sicher ist, sind die von Wilhelm selbst eingestandenen Defizite seiner Übersetzung: der Verlust der ›Originalität‹ und des ›Ausdrucks‹. Statt dem Original gerecht zu werden, fabriziert Wilhelm mit seiner Übersetzung ein Sprachgebilde, bei dem die im Original stehenden Brüche eingeebnet und Sinnzusammenhänge erst nachträglich konstruiert werden« (Selbmann, »Noch einmal«, S. 3). 292 CORINNA SCHLICHT sich sagt: »Ich bin ein Knabe, ich will kein Mädchen sein!«50 Wilhelms Faszination übersetzt dieser schließlich in Vaterliebe, womit er die erotische Komponente in seiner Beziehung zu Mignon in eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Liebe umlenkt: »›Liebes Geschöpf‹, sagte er, indem er ihre Hände nahm, ›du bist auch mit unter meinen Schmerzen. – Ich muß fort.‹ Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder. Er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. […] Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. […] Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. […] Er hielt sie nur fester und fester. ›Mein Kind!‹ rief er aus, ›mein Kind! Du bist ja mein! Wenn dich das Wort trösten kann. Du bist mein! Ich werde dich behalten, dich nicht verlassen!‹«51 In dieser Szene sind zwei Veränderungen von Interesse. Zum einen bekennen sich Wilhelm und Mignon ihre gegenseitige Zuneigung, wobei man den Tränenfluss im Kontext des Empfindsamkeitsdiskurses durchaus als metonymische Verschiebung von Erotik, die im Strom der Tränen sublimiert wird, lesen kann. Zum anderen verändert sich Mignon auch körperlich, denn die offenen langen Haare weisen sie in der Semantik des Romans als weiblich aus. Dies hat eine weitere Verwischung zur Folge. Indem sich Mignon gerade dann als Mädchen/Frau zeigt, wenn Wilhelm seine Liebe bekennt, erscheint das Verhältnis der beiden abermals ambig – es pendelt zwischen Erotik und Eltern-Kind-Liebe. Dies ist zum einen als Grundtragik in der Figur selbst angelegt, denn Mignon entpuppt sich im Laufe des Romans als Produkt eines Inzests. Zum anderen bekennt Wilhelm bereits zu Beginn des Romans seine Faszination für die ChlorindeFigur, die ihm in einem Roman begegnet ist: »Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr Wirkung auf den Geist […] als die gemachten Reize Armidens.«52 Die ›Mannweiblichkeit‹ spiegelt sich dann in der androgynen Mignon, aber auch in der geheimnisvollen Amazone. Inge Stephan konstatiert: »Wilhelm kann nur dort wahrhaft begehren, wo —————— 50 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 214. 51 Ebd., S. 148f. 52 Ebd., S. 27. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 293 ›Mannweiblichkeit‹ eine Rolle spielt, und sei es auch nur in Form der Kostümierung«.53 Wilhelm gegenüber formuliert Mignon ihr Leid in ihrem berühmten Klagelied Kennst Du das Land wo die Zitronen blühn. Im Lied wird der Endvers der Strophen variiert. Heißt es zunächst »Dahin! Dahin/Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!«, so wird in der zweiten Strophe dem Geliebten eine beschützende Funktion zugewiesen (»o mein Beschützer«), bis schließlich die dritte Strophe aus Geliebtem und Beschützer den »Vater« macht, der hier allerdings wiederum mehrfachkodiert auch als GottVater zu lesen ist:54 Der Inzest hat Mignon gezeichnet, in ihrem Lied sucht sie sowohl nach einem Erlösungsort als auch nach einem männlichen Begleiter, der sie gleichsam erlöst. Worunter sie leidet, wird so ziemlich in der Liedmitte mit der Frage »Was hat man dir, du armes Kind, getan?«55 nur angedeutet, d.h. der Inzest wird tabuisiert. In den Lehrjahren stirbt sie an gebrochenem Herzen angesichts der Verlobung Wilhelms mit Therese; auch hier deutet sich eine über die kindliche Verbundenheit hinausreichende Zuneigung an.56 Bei ihrer Beerdigung wird sie wiederum in den zwitterhaften Zustand der Eingangsszene zurückgeführt, wenn sie sowohl als Junge als auch als Mädchen angesprochen wird. »Von der Zweigeschlechtlichkeit geht jedoch keine Gefahr mehr aus. Einbalsamiert und in einem Marmorsarkophag eingeschlossen, stellt Mignon keine Bedrohung mehr dar.«57 Das Androgyne kann sakralisiert werden, ohne dass es als gelebte Wirklichkeit die soziale Ordnung in Frage stellt. 2. Mitgift (2002) An Goethes tragisch-androgyne Mignon-Figur anknüpfend, die veranschaulicht, dass ein drittes Geschlecht in der bürgerlichen Gesellschaft nicht (über)leben kann und darf, stellt Ulrike Draesner 2002 in ihrem Roman Mitgift58 erneut die Frage: »Was hat man dir, du armes Kind, getan?« Mitgift erscheint im selben Jahr wie der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman Middlesex von Jeffrey Eugenides. Beide stellen eine Transgen- —————— 53 Stephan, »Mignon«, S. 196. 54 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 151. 55 Ebd. 56 Vgl. Stephan, »Mignon«, S. 196f. 57 Ebd., S. 198. 58 Draesner, Mitgift. 294 CORINNA SCHLICHT der-Person in den Mittelpunkt und erzählen die Problematik geschlechtlicher Identitätsbildung als Familiengeschichte. Beide reflektieren die familiären Geschehnisse im Kontext allgemeiner Geschichte. Bei Draesner sind es die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg und die Flucht aus Schlesien und der damit verbundene Heimatverlust. Beide Romane verschalten diese nicht nur individuell, sondern auch die kollektiv prägenden Ereignisse mit den kulturellen Erzählmustern über Sexualität und Geschlechtsidentität und fragen nach deren Zusammenhängen. Mitgift nimmt diesen Aspekt bereits im Titel auf, denn es geht um den Einfluss der Vergangenheit als kulturelles und physisches Erbe auf die Identitätsbildung. Für Christian Steltz lässt sich Mitgift »als Paradebeispiel für die vermittelnde Funktion von Literatur als Interdiskurs begreifen, da hier Expertenwissen aus dem medizinischen, juristischen und politischen Diskurs für ein breites Lesepublikum aufbereitet wird«.59 Der Roman ist überwiegend aus der Perspektive der Kunsthistorikerin und Fotografin Aloe Böhm erzählt, die in den 1960er Jahren in der westdeutschen Bundesrepublik als Tochter von Holger und Ingrid Böhm aufwächst und mit der Geburt ihrer jüngeren Schwester Anita in ein Familientabu hineinerzogen wird, das auch die eigene Entwicklung erheblich beeinflusst. Der Roman gestaltet das Tabu, indem das Geheimnis um Anita auch für die LeserInnen lange eine Leerstelle bleibt. In fünf Kapiteln, einer klassischen Dramenanordnung folgend, wird Aloes Entwicklungsweg nachvollzogen; erst zur Romanmitte im dritten Kapitel, wenn auch die zentrale Figur sich dem Tabu stellt,60 werden die Leerstellen schrittweise gefüllt: Ihre Schwester Anita ist als Transgender-Mensch61 geboren und —————— 59 Vgl. Christian Steltzʼ Kommentar zu diesem Vortrag am 22.9.2017, den er mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. 60 In Aloes Kunstprojekt, für das sie mutierte Käfer und Wanzen im Umkreis von Atomkraftwerken fotografiert, spiegelt sich das Romankonzept, Tabuisiertes sichtbar zu machen. 61 Mit dem Terminus »Transgender« wird die oftmals pathologisierende Bezeichnung »Transsexualität« erweitert. Transsexualität – so die medizinische Definition – »ist keine sexuelle Störung, sondern eine Geschlechtsidentitätsstörung […]. Die Betroffenen selbst bezeichnen sich als transident« (Jacobeit, Transsexualität). Davon abzugrenzen ist die Intersexualität; darunter versteht man »eine Störung der sexuellen Differenzierung, bei der sich innere und äußere Geschlechtsorgane in unterschiedlicher Stärke ausgeprägt im Widerspruch zum chromosomalen Geschlecht entwickeln« (ebd.). »Transgender« bezeichnet »die Überschreitung des dualistischen Geschlechtersystems, subsumiert alle möglichen Formen der Trans-, Mehr- oder Zwischengeschlechtlichkeit auf verschiedenen Ebenen« (Eintrag »Transgender people«, in: Kroll, Metzler Lexikon Gender Studies, S. 391). LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 295 von den Eltern zahlreichen Operationen und einer langwierigen medikamentösen Behandlung unterzogen worden. Das ist die Gewalt, die man dem armen Kind angetan hat, denn Anita soll ein Mädchen sein – physisch und juristisch. Letzteres, das »juristische Geschlecht«, welches die geburtliche Standesamt-Meldung einem Menschen aufdrängt, bedeutet für Transund Intersexuelle jedoch einen »Zwang […], der sich ganz üblicherweise in medizinischen Interventionen materialisiert«.62 Ein zentraler Satz in Mitgift lautet: »Interpretation machte die Welt«,63 d.h. die Narrative erzeugen die Weltwahrnehmung und prägen das Zwitterkind, wie die elterliche Interpretation, dass ihr Kind ›anormal‹ sei und ›wiederhergestellt‹ werden müsse, deutlich macht: »Anita wurde ein zurechtoperiertes, eindeutiges Tierchen im Staat der Männer und Frauen, der seligen Zweigeschlechtlichkeit.«64 Das dritte Kapitel führt aus der Perspektive der sich erinnernden Schwester die Demütigungen, Ausgrenzungen und körperlichen Torturen vor Augen, die das Kind zu durchleiden hatte. Die Mutter benutzt Anitas Körper in wütend-verzweifelten Aktionen, um der eigenen Scham über das ›missgebildete‹ Kind zu begegnen.65 Es wird dämonisiert und gilt als »Monster«66 und »Freak«,67 und zugleich geht von Anita eine eigentümliche Strahlkraft aus. Wie Christian Steltz zu Recht in seinem Kommentar betont, findet neben der »Dämonisierung […] eine Sakralisierung statt. ›Beides, Verehrung und Verstoßung,‹ – so formulieren es Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl – ›prägt die Spur [der] kulturellen Existenz‹68 des Hermaphroditen«;69 so wird Anita entweder als Monster oder als »der feminine Knabe aus einem frühen Raffaelbild«70 wahrgenommen. Anders als Marina Rauchenbacher verstehe ich dies allerdings nicht als Haltung des Romans gegenüber der intergeschlechtlichen Figur, sondern als kritische Reflexion der gesellschaftlichen Umgangsformen mit —————— 62 Holzleithner, »Unmögliches Leben«, S. 99. Mit der Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass ein drittes Geschlecht für den Eintrag in das Geburtenregister geboten sei, hat sich 2017 die Lage für Transgender-Personen in dieser Hinsicht geändert. 63 Draesner, Mitgift, S. 271. 64 Ebd., S. 105. 65 »Ja, deswegen, sagte Ingrid, packte Aloe am Arm und zeigt ihr die Stelle zwischen Anitas Beinen, den kleinen Vorsprung zwischen den Lippen, um den sich zwei blutige Krusten wanden wie Minischlangen« (ebd., S. 171). 66 Ebd., S. 163. 67 Ebd., S. 217. 68 Schäffner/Vogl, »Nachwort«, S. 219. 69 Kommentar Steltz. 70 Kommentar Steltz. 296 CORINNA SCHLICHT intergeschlechtlichen Menschen,71 die der Roman bzw. die Erinnerungen Aloes stückweise aufdecken. Am Ende des Romans begehrt die so zum Objekt degradierte Transgender-Person auf, indem die erwachsene Anita, die nach einem schmerzvollen Weg, gesäumt von Operationen72 und einer lebenslangen Hormontherapie, eine erfolgreiche Anwältin geworden ist, geheiratet und einen Sohn zur Welt gebracht hat, ihre Eltern und ihren Ehemann vor den Kopf stößt, als sie sich entschließt, den Teil von sich zu leben, der ihr genommen worden ist. Sie will als Axel ihr männliches Ich leben. Dabei versteht Anita ihre Geschlechtsidentität als ein Drittes, »nicht weiblich oder männlich, sondern hermaphroditisch«, das heißt, sie will die »Möglichkeit, die in […] [ihr] angelegt war«, »endlich auch verwirklichen«.73 In diesem Zusammenhang kommt der Roman explizit auf »Körpertheorien, Butler, Foucault, Barthes, den ganzen postmodernen Auf- und Abwasch«74 zu sprechen, der aber angesichts gelebter Körperlichkeit beiseitegeschoben wird. Es kommt allerdings nicht zu einer Verwirklichung von Anitas/Axels neuer Identität, denn der Ehemann reagiert wie die Eltern und Mediziner bei ihrer/seiner Geburt gewaltsam. Abermals wird die Integrität des Körpers nicht gewahrt. In seiner Wut über Anitas eigenmächtige Entscheidung bricht er in Schimpftiraden über ihre »Scheißfamilie«75 aus. Er beschuldigt sie: »Du mit deinem perversen Körper«;76 der Streit endet damit, dass er erst Anita und danach sich selbst tötet. Draesner reflektiert die Gewalttaten gegen Anita77 und zeigt auf, wie die jeweiligen Geschlechterbilder, an denen Eltern und Ehemann festhalten, die Gewalt gegen Anita motivieren: Sie ist das, was nicht sein darf, deshalb wird sie als Person angegriffen. Der Roman ist über mehrfache Analepsen und damit über verschiedene Handlungsebenen strukturiert. Dazu gehören die erzählte Gegenwart zu —————— 71 Vgl. Rauchenbacher, »Bilder schießen«, S. 136f. 72 Vgl. Klöppel, »Zur Aktualität kosmetischer Operationen«. 73 Draesner, Mitgift, S. 359. 74 Ebd., S. 359. Auch Aloe hatte sich mit diesen Theorien auseinandergesetzt und als Folie für die eigene Familienproblematik zu nutzen versucht. Vgl. ebd., S. 242. 75 Ebd., S. 365. 76 Ebd. 77 Auch hier lese ich den Roman anders als Rauchenbacher, die zu dem Schluss kommt: »In Mitgift wird dieser Blick auf inter*geschlechtliche Körper fortgeschrieben. Er rückt sie in die Ferne, verhandelt sie einem ästhetischen Dispositiv folgend ist damit auch gewalttätig« (Rauchenbacher, »Bilder schießen«, S. 143). Dem lässt sich entgegenhalten, dass die Erzählhaltung eine erinnernde und damit reflektierende ist, bei der die Dispositive erst einmal erkannt, benannt und dann als solche problematisiert werden. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 297 Beginn des 21. Jahrhunderts, in der Aloe für den Sohn ihrer verstorbenen Schwester sorgt, dann die Kindheitserinnerungen Aloes in den 1960er und 1970er Jahren und erzählten Erinnerungen der Eltern vom Zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie schließlich Erinnerungen Aloes an ihre Studien- und ersten Berufsjahre in den 1990er Jahren, die von der Liebesbeziehung mit dem Astrophysiker Lukas sowie von ihrer längeren Krankheits- und Genesungsphase im Zuge einer Magersucht geprägt sind. Die Essstörung, ihre eigene Körperfeindlichkeit, steht in unmittelbarem Zusammenhang zur Körperproblematik der Schwester, die von Aloe als überaus schöne, reizvolle Frau und damit als lebenslange Konkurrenz wahrgenommen wird. Ihre Therapie bringt zutage, dass sie am eigenen Körper die verdrängten Probleme der Schwester durchleidet, die ihr als stummer Begleiter im Nacken sitzt. Daraus entwickelt sich die Essstörung, die das Ziel verfolgt, »ein Neutrum«78 zu werden. Mit der Magersucht will Aloe letztlich zu Anita werden, was ihr in der Selbstzerstörung, die sie damit betreibt, in gewisser Weise auch gelingt, wie ihr ein Arzt in der Suchtklinik erläutert: »Jeder Mensch produziert männliche und weibliche Botenstoffe. Es kann sein, dass hier die anorektische Störung weiterwirkt. […] Ich meine, manchmal kommt es als Folge der Magersucht zu einer Überproduktion von Androgenen, was zu einer gewissen Verwirrung der sekundären Geschlechtsmerkmale führen kann.« 79 Zu Aloes therapeutischen Erkenntnissen gehört, dass sie »eine tiefe Gier« in sich hatte, »sie wollte ebenso doppelt sein. Und sie wollte diese Dopplung zerstören.«80 Genau diese Entwicklung zeichnet der Roman nach, und zwar auch als Liebesgeschichte. Liebe und Geschlechtsidentität – ein Fazit Die Beziehung zu Lukas rahmt den Roman, im Schlussbild holt ihn Aloe nach langer Trennung vom Flughafen ab. Ihre Liebesgeschichte ist von der defizitären Körperidentität Aloes geprägt; denn nach einem zwar leidenschaftlichen Start holt sie ihr in den eigenen Körper eingeschriebenes —————— 78 Draesner, Mitgift, S. 82. 79 Ebd., S. 153. 80 Ebd., S. 229. 298 CORINNA SCHLICHT Missverhältnis zur Schwester ein. Die Magersucht kostet sie fast das Leben. Während der Therapie finden Lukas und sie enger zueinander, können aber kein Liebeskonzept von sich jenseits von Krankheit und Gesundung finden; ein gemeinsamer Kinderwunsch scheitert mit einer Totgeburt. Also trennen sie sich. Am Ende des Romans deutet sich nicht zuletzt mit der Kapitelüberschrift »Lieben« ein Neuanfang an, der jedoch kritisch auf die gesellschaftliche Norm verweist. Zwar findet sich im Schlussbild oberflächlich betrachtet eine bürgerliche Kleinfamilie, d.h. ein heterosexuelles Paar mit einem Kind. Doch schaut der Roman hinter dieses konventionalisierte Bild. Das heterosexuelle Paar ist in seinen sexuellen Neigungen und Wünschen durchaus ambivalent, denn das Kind ist die titelgebende Mitgift der Transgender-Person, die gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde und deren Geschichte im Bewusstsein der Figuren und damit auch im Familiendiskurs nachlebt. Die offene Frage, die sich Aloe dabei stellt, lautet, wann und wie dem Sohn von seiner Mutter zu erzählen ist, damit sich das Tabu, das Anita/Axel gemacht und gleichsam zerstört hat, gerade nicht fortsetzt. Draesners Darstellung reflektiert die diskursiv vermittelten Sexualdispositive, die die Geschlechtsidentität wie auch die Liebes- und Begehrensmuster hervorbringen, und macht zugleich deutlich, dass sich die Körper im Sinne des Körpererlebens nicht einfach ›wegdekonstruieren‹ lassen. Dabei wird das Dilemma poststrukturalistischer Ansätze angesichts gelebter Körperidentität aufgezeigt, denn betroffene Personen erleben die emotionale und soziale Problematik von Intersexualität oder Transgender ja nicht als allein diskursive Angelegenheit, sondern als essentielle Schwierigkeit, die einerseits auf den Leib geschrieben ist und die andererseits auch im Körper stattfindet. Literatur Adamietz, Laura, »Geschlechtsidentität im deutschen Recht«, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 62, H. 20–21 (2012), S. 15–21. Arnim, Achim von, »Die Verkleidungen des französischen Hofmeisters und seines deutschen Zöglings«, in: Ludwig Achim von Arnim, Sämmtliche Werke, Neue Ausgabe (1857), II (2,3): Novellen II und III, Nachdruck, Hildesheim u.a. 1982, S. 101–190. LIEBE IM KONTEXT VON ANDROGYNIE UND CROSSDRESSING 299 Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Aurnhammer, Achim, Androgynie. 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