Felskunst in Brasilien
Ungeahnte Farbenpracht
André Prous und Andrei Isnardis; übersetzt von Vicente Sampiao
In Brasilien gibt es Tausende Stätten der Felskunst,
sowohl an geschützten Orten wie Felsunterständen,
Höhleneingängen und senkrechten Wänden als auch
an Felsformationen im Freien. Bis auf jene im südlichen Amazonasgebiet unweit der Stadt Rurópolis,
sind die Zeichnungen in der Regel bei Tageslicht gut
sichtbar. Im Folgenden werfen wir einen Blick auf eine
Auswahl der reichhaltigsten Felsmalereien Brasiliens,
wobei zu berücksichtigen ist, dass im Laufe der Zeit
viele der ursprünglichen Bildnisse verschwunden
sind. Zudem nutzten die Menschen dort, wo es keine
Felswände gab, andere Träger für die Darstellung
ihrer Figuren – beispielsweise Bäume, deren Rinde
sie abschnitten, um tier- oder menschenähnliche Motive auf dem kahlen Teil des Stammes darzustellen.
Erste Schritte gen Höhlenforschung
Zunächst entdeckten Forschende der sogenannten
französisch-brasilianischen Mission Felsbildnisse im
zentralbrasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Die
Fundstellen befanden sich auf der Hochebene von
Lagoa Santa, einem Kalksteingebiet mit großen Höhlen
am Seeufer, und etwas weiter nördlich in der Serra do
Cipó, wo sich am Fuße von senkrechten Quarzitwänden Höhlen befinden.
Bereits zu Beginn des 19. Jh. folgte der dänische
Naturwissenschaftler Peter Wilhelm Lund den Lehren von Georges Cuvier, dem Begründer der Paläontologie in Paris. So reiste er nach Brasilien und ließ
sich im Dorf Lagoa Santa nieder, wo beim Abbau von
Salpeter die Knochen von ausgestorbenen Großsäugern in den Höhlen gefunden wurden. Damals brachte man das Verschwinden von Tierarten aus früheren Erdzeitaltern mit Naturkatastrophen in Verbindung, wobei man als letzte von diesen die biblische
Sintflut annahm. Im Rahmen seiner Arbeit sammelte und identifizierte Lund Riesenfaultiere, Bären,
amerikanische Pferde, Kameliden, Mastodons und
Säbelzahntiger. Seine Entdeckungen wurden unter
anderem von Charles Darwin aufgegriffen, weshalb
Lund als »Vater der brasilianischen Paläontologie«
gilt. Im Grunde ist er aber auch der »Großvater der
brasilianischen Archäologie und Höhlenforschung«,
denn in den 1840er-Jahren beschrieb er erstmals Höhlen-
Erregte Männer und schwangere Frauen
bildnisse aus dem Fundort Cerca Grande. Zudem
beschrieb er alte Steinäxte und mischte sich in die
Diskussionen über den Ursprung der dänischen
køkkenmøddinger, einer Art prähistorischer Abfallhaufen aus Nahrungsresten wie Muschelschalen und
Schneckengehäusen, ein. Dabei erklärte er, dass es in
Brasilien etwas Gleichartiges gäbe, nämlich die berühmten sambaquis, in denen man Bestattungen sowie
Stein- und Knochenwerkzeuge finde. Er befasste sich
also mit Stätten, die schon kurze Zeit später in Europa als mittelsteinzeitlich bezeichnet werden sollten.
Außerdem entdeckte Lund im Jahr 1844 am Fundort Sumidouro in Lagoa Santa in einem unterirdischen See menschliche Skelettreste zusammen mit
Knochen ausgestorbener Tiere. Zu diesem Zeitpunkt
war noch lange nicht die Rede von einer derart frühen
Präsenz des Menschen in dieser Region. Um das Alter
der Knochen zu bestimmen, unterzog Lund diese
einer ebenso sorgfältigen wie auch beispiellosen Analyse, bei der er sowohl deren physisches Erscheinungsbild, den Grad der Verwitterung im Vergleich
zu ausgestorbenen Tierarten, die Bedingungen der
Lagerung im Boden usw. berücksichtigte. Allerdings
war die Zeit noch nicht reif für den Gedanken, dass
Menschen schon weit vor Noahs Sintflut hier gelebt
haben könnten. So wurde Lunds Studie mit äußerster
Skepsis aufgenommen und erst Dutzende Jahrzehnte später berücksichtigt, als der Franzose Jacques Boucher de Perthes im Jahr 1859 vor einer internationalen
Kommission die Existenz des pleistozänen Menschen
in Europa nachwies. Seither war Lagoa Santa stets Teil
hitziger Debatten um die ältesten amerikanischen
Populationen. Es sollte bis Mitte des 20. Jh. dauern,
bis letztlich brasilianische und ausländische Forschende Lunds Beobachtungen über die Koexistenz menschlicher Bevölkerungen mit ausgestorbenen Tierarten
in Südamerika endgültig nachweisen konnten.
Erregte Männer und schwangere
Frauen
Im Jahr 1971 leitete die französische Prähistorikerin
Annette Laming-Emperaire, bekannt für ihre Dissertation über altsteinzeitliche Felskunst in Europa und
Spezialistin für südamerikanische Vorgeschichte, ein
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Forschungsprojekt in Lagoa Santa ein, an dem wir als
ihre Assistenten teilnahmen. Unsere Hauptgrabung
fand von 1971 bis 1976 in der Höhle von Lapa Vermelha statt . Die oberen holozänen Schichten enthielten Spuren von kurzen periodischen Aufenthalten
durch Jäger und Sammler, die dort auf der Durchreise übernachtet haben müssen. 1973 fanden wir unter
jahrtausendealten Schichten an der Felswand Spuren
gemalter Figuren. Dies war das erste Mal, dass Felsbildnisse in Brasilien datiert wurden.
In einer Tiefe von etwa 10 m stießen wir auf archäologische Schichten, die dem Beginn des Holozäns
entsprechen. Darin befanden sich Knochenreste und
versteinerter Kot von Riesenfaultieren, die auf etwa
12 000 Jahre datiert werden konnten. Unmittelbar
darunter, und somit aus einer früheren Schicht, fanden wir die Skelettreste einer jungen Frau, deren
biologische Merkmale ab den 1990er-Jahren in Fachkreisen viel Beachtung finden sollten. Zur gleichen
Zeit beauftragte uns Annette Laming-Emperaire mit
der Untersuchung der Felsbildnisse der Region.
In der Gruta do Ballet (Balletthöhle), die bereits für
die Darstellung einer Prozession menschlicher Figuren bekannt war, welche im unteren Teil einer erhöhten Plattform zu tanzen schienen, konnten im Rahmen einer sorgfältigen Untersuchung bereits verblasste und tierähnliche Figuren entdeckt werden. Vermutlich waren zunächst nur Tierfiguren auf den felsigen Untergrund gezeichnet worden, die dann aber
von später anwesenden Individuen abgekratzt und
mit menschlichen Figuren übermalt wurden.
In einem weiteren Raum konnten wir sechs bemalte Flächen ausmachen, von denen die unteren drei
nur mit schwarzen Figuren verziert waren. Im oberen
Teil waren zwei Reihen mit vertikalen Elementen
76
I
In der Gruta do Ballet
(Balletthöhle) finden sich
unter anderem Figuren in
Menschengestalt.
ockerfarben verziert, während die Decke weiß bemalt
war. Am Schnittpunkt aller Bildtafeln befand sich
ein einzelnes rotes Bildnis, das alle Bildgruppen miteinander zu verbinden schien. Die Figuren im unteren Bereich und an der Decke waren groß, während
jene im oberen Bereich mittelgroß bis klein waren.
Die Darstellungen im unteren Bereich waren anthropomorph: unten eine Prozession fadenförmiger Män-
Ungeahnte Farbenpracht
ner mit erigierten Gliedern, knapp darüber Frauen
mit Schmuck, einige von ihnen mit dicken Bäuchen.
Über ihren Köpfen schließlich winzige Wesen – Geister der Föten? Vor beiden Prozessionen war eine
Geburtsszene zu sehen. Doch wie nahmen die Menschen prähistorischer Zeit diese Bildszenen wahr? Was
sehen wir heute darin? Und besteht nicht vielleicht
die Gefahr, dass wir beim Wunsch, die Vergangenheit
zu verstehen, Dinge der Gegenwart hineinprojizieren?
Vollkommen unabhängig von der Antwort auf
solcherlei Fragen, konnten wir in dieser und den anderen Fundstätten der Region feststellen, dass die ältesten
und zahlreichsten Bildnisse jene von Tieren, insbesondere von Hirschen, waren. Erst später folgten Darstellungen fadenförmiger menschlicher Figuren. An einigen Stellen hinterließen sogar jüngere Populationen
Bildnisse domestizierter und essbarer Wurzeln und
Knollen samt ankerförmiger Steinbeilklingen.
Ort der Bestattung und des
Handwerks
Einen weiteren bemerkenswerten Fund machten wir
im Jahr 1975 in der Serra do Cipó, etwa 60 km nördlich
von Lagoa Santa. In Santana do Riacho, einem magischen Ort inmitten der majestätischen Berglandschaft, standen wir plötzlich vor einer mit roten und
gelben Felsbildnissen geschmückten Felswand, die
Ort der Bestattung und des Handwerks
aussah, als sei sie erst am Tag zuvor bemalt worden.
Der Boden unter unseren Füßen war vollkommen
intakt und von organischem Material verdunkelt. Es
handelte sich um zwei direkt nebeneinanderliegende
Höhlen, die durch eine Anhöhe voneinander getrennt
waren und auf einer Länge von über 100 m eine vor
Wind und Wetter schützende Zuflucht bildeten. Wenige Monate später begannen wir hier mit Ausgrabungen, die fast vier Jahre andauern sollten.
Auf dem oberen Plateau traten Gräber von etwa
60 Individuen zutage, die in die Zeit vor etwa 10 000
bis 8000 Jahren datieren. Eisenhaltige Pigmente hatten darin eine kräftige Rotfärbung bewirkt. Zudem
fanden sich Reste von Amuletten, Samenketten,
Stein- und Knochenwerkzeugen.
Aus den darauffolgenden Jahrtausenden lassen
sich diverse Spuren rund um Feuerstellen finden. So
war beispielsweise ein von der Höhlendecke direkt
auf eine Feuerstelle herabgestürzter Felsblock bemalt
worden. Im Laufe der Zeit wurden die Darstellungen,
darunter jene eines kleinen Fisches, von Sedimenten
bedeckt. Nachfolgende Generationen entfachten an
derselben Stelle erneut Feuer, wodurch die Malereien
unbemerkt die Zeit überdauerten. Sie datieren in die
Zeit vor etwa 4400 und 3900 Jahren. Im Vergleich mit
den übrigen Felsbildnissen, die hier gefunden wurden, entsprechen sie quasi einer Art Zwischenstil.
Vermutlich entstanden die älteren Bildnisse mehrere
Tausend Jahre früher.
I
Höhle Lapa Vermelha, mit
Lapa Vermelha I (links) und
Lapa Vermelha IV (ganz
rechts, oben).
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Auch in der letzten Phase der Nutzung des oberen
Plateaus vor etwa 2000 Jahren wurden herabgestürzte Felsblöcke bemalt. Unter den Darstellungen finden
sich nun jene menschenähnlichen Figuren. An manchen Stellen wurden diese über den älteren Tierdarstellungen angebracht.
Das darunterliegende Plateau wurde nicht für
Bestattungen, sondern zur Herstellung von Steinwerkzeugen genutzt, welche aus Rohstoffen des nahegelegenen Berggipfels gefertigt wurden. Vereinzelt
lassen sich jedoch auch Hinweise darauf finden, dass
Rohmaterial aus weit entfernten Regionen ebenfalls
in den Herstellungsprozess mit einbezogen wurde.
Insbesondere aus Hämatit und Quarz gefertigte Stücke belegen die Tatsache, dass interregionale Beziehungen bestanden.
Große Tiere, kleine Menschen
Die große Anzahl roter und gelber Pigmentreste im
Boden sowie an den Felswänden lässt darauf schließen, dass die meisten Felsbildnisse im mittleren Holozän entstanden. Unter den mehr als 2500 Felsbildnissen, die wir bislang in der Höhle verzeichnen
konnten, befinden sich Hunderte Darstellungen von
Hirschen, mehrere Dutzend Fische sowie einige Gürteltiere, langbeinige Vögel und ein Ameisenbär. Die
zahlreichen Darstellungen menschlicher Figuren sind
äußerst schlicht, reduziert auf einen vertikalen Strich
für den Körper und vier schräge Striche für die Extremitäten. Sie alle sind an der Seite der viel größeren
und anatomisch detailgetreuer dargestellten Hirsche
zu finden. Diese Diskrepanz zwischen verkleinert
und vereinfacht dargestellten Menschen und anatomisch detaillierten Tieren scheint ein wichtiger Aspekt des derzeitigen Bildkonzepts gewesen zu sein.
Es finden sich nur sehr wenige große und detailliertere Darstellungen menschlicher Figuren. Anders
als bei ihren strichmännchenartigen kleineren Verwandten, sind ihre Körper deutlicher geformt, ihre
Finger sind dargestellt und auch die Gelenke von Armen und Beinen werden durch kleine Kugeln betont.
Sie sind jüngeren Alters und treten nicht an der Seite
von Tieren auf.
Besonders auffällig ist, dass sich bei den Tieren,
anders als in der Region üblich, niemals Darstellungen von Pfeilen finden lassen. Stattdessen ergänzen
zahlreiche geometrische Motive das Bild, von denen
einzelne möglicherweise Gegenstände wie Netze
für den Fischfang oder Schlingen für den Fang von
Gürteltieren darstellen. Kreisförmige Linien, aus denen eine Art Wolke aus Punkten herauszukommen
scheint, könnten Wespennester sein.
Die meisten dieser Elemente sind typisch für Tradição do Planalto, einen Stil, der vorrangig in der Felskunst des Bundesstaates Minas Gerais zu finden ist.
78
I
Die Farbenpracht der von roten und
gelben Bildnissen geschmückten
Felswand in Santana do Riachoer ist
regelrecht umwerfend. Es scheint, als
seien die Motive erst kürzlich gemalt
worden (oben). Bei genauerem Hinsehen finden sich jedoch die charakteristischen übermalten Stellen (unten).
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Dabei sind die Darstellungen nicht zufällig angeordnet. Im unteren Bereich ist die Felswand vollständig
mit detaillierten Tierdarstellungen versehen, während
jene im oberen Bereich nur schemenhaft dargestellt
sind. Bei dem dazwischen liegenden Abschnitt
scheint es sich um den zentralen Punkt des Felsbildnisses zu handeln. Er ist mit einer großen netzartigen
Struktur mit einem Durchmesser von 2 m versehen,
die mit Darstellungen von Fischen, vereinzelt auch
Hirschen, gespickt ist.
Von Zuflucht bis Bergbau im Vale do Jequitinhonha
Von Zuflucht bis Bergbau im
Vale do Jequitinhonha
300 km weiter nördlich im Vale do Jequitinhonha und
noch immer im Bundesstaat Minas Gerais gelegen,
ist ein ähnliches Felsbildnis erhalten. Darauf ist eine
Vielzahl von Hirschen und Fischen zu sehen, die teils
neben-, teils übereinander liegen . Die Ähnlichkeit
mit den Bildnissen in Lagoa Santa und Serra do Cipó
ist unverkennbar.
I
Immer und immer wieder
wurden die Motive in der
Höhle Lapa do Caboclo
übermalt.
I
Vielerorts finden sich auch
Darstellungen von Menschen, die sich im Kampf
oder bei der Jagd zu befinden scheinen.
Jahrtausende später sollten sich auf der Flucht
befindende Sklaven hier Unterschlupf suchen, und
die prähistorischen Motive mit ihren eigenen, aus
Kohle gefertigten Bildnissen übermalen.
Neben der Felskunst, ist Vale do Jequitinhonha
auch mit Blick auf den Abbau von Bergkristall von
hoher Bedeutung. Denn weltweit befindet sich hier
die größte Konzentration dieses Minerals, das nachweislich bereits die Menschen der Vorzeit hier
abbauten. An den Felswänden vermischen sich heute
die Spuren ihrer Arbeit mit jenen gegenwärtiger Bergleute, die das Material mit Hämmern abschlagen und
viel Schutt zurücklassen.
Unsere Entdeckungen in Lagoa Santa und Vale
do Jequitinhonha stellten alsbald die Frage in den
Raum, welche Bildnisse und damit verbundenen Stile sich in anderen Regionen Brasiliens finden lassen.
Und so begannen wir damit, das übrige Land zu bereisen.
Serra da Capivara – Ort Abertausender Felsbildnisse.
Zu den bedeutendsten Regionen zählt definitiv die
Serra da Capivara, ein Gebirgszug im Nordosten Brasiliens, der sich über die drei Bundesstaaten Bahia,
Piauí und Rio Grande do Norte erstreckt. Zu den sich
hier befindenden Fundstätten zählen gleich mehrere,
die von unterschiedlichen Forschenden als die ältes-
80
ten Siedlungsorte Amerikas angesehen werden. Eine
Theorie, die durchaus umstritten ist, da die Herkunft
der einst hier lebenden Menschen bislang nicht eindeutig geklärt werden konnte.
Etliche der Höhlen der Serra da Capivara sind
mit Felsbildnissen versehen. Einige, die erst im Rahmen von Ausgrabungen entdeckt wurden, stammen
aus dem frühen Holozän. In den Höhlen sind
mehrere aufeinanderfolgende Stile vertreten. Einer
davon zeichnet sich durch kleine rote menschliche
Figuren aus, die Rituale um einen Baum herum ausführen, mit Schleudern und Pfeilen kämpfen oder
sexuelle Handlungen in verschiedenen Stellungen
ausführen.
Trinkende Schlangen im Freien
Selbstverständlich befinden sich nicht alle Felsbildnisse im Inneren von Höhlen. So war die erste Fundstätte, die vom brasilianischen Ministerium für Kulturerbe unter Denkmalschutz gestellt wurde, die im
Nordosten des Landes gelegene Pedra de Ingá im
Bundesstaat Paraíba. Dabei handelt es sich um einen
großen länglichen Felsen, dessen Form an eine riesige Schlange beim Trinken aus einem vor ihr liegenden
Wasserbecken erinnert.
Ungeahnte Farbenpracht
Im benachbarten Bundesstaat Ceará gibt es einen
weiteren Felsen mit ähnlicher Form, an dessen Ende
ein Maul mit sichtbaren Zähnen eingemeißelt ist,
ebenfalls am Rand des Wassers gelegen. In eine
senkrechte und glatte Seite eines Felsens bei Ingá wurden Hunderte von etwa 2 cm tiefen Figuren sorgfältig
eingraviert. Eine Reihe runder Felsmulden markiert
die Spitze dieses fast 3 m hohen Bildensembles.
Obwohl die Motive hauptsächlich geometrisch und
schwer deutbar sind, lassen sich die Gestsalt einer
Eidechse und mehrere Kornähren erkennen. In den
fein geschliffenen Strichen wurden Spuren von roter
Farbe gefunden. Die Ausrichtung der Felsmulden
wurde von einem Ingenieur im Detail analysiert. Dieser stellte fest, dass ein 1,9 m hoher Zeiger an bestimmten Tagen des Jahres einen Schatten auf ebendiese projiziert hätte. Auf dem oberen flachen Teil des
Felsens sind Gruppen von Felsmulden zu erkennen,
aus denen eingeritzte und voneinander abweichende
Linien hervortreten. Forschende vermuten, dass es
sich dabei um Darstellungen von Sternbildern handeln könnte. Diese Figuren sind allerdings nur flach
und sehr grob eingemeißelt. Sie verfügen nicht über
denselben ästhetischen Aspekt wie jene an der vertikalen Wand. Inmitten der halb trockenen Region fiel
die Wahl wohl deswegen auf diesen Standort, weil es
dort eine ganzjährige Wasserquelle gab.
Von fliegenden Papageien und
Fußspuren
Der Lajedo de Soledade ist eine flache, von Basalt
durchzogene Ebene im Bundesstaat Rio Grande do
Norte, die von drei etwa 4 m tiefen engen Schluchten umschlossen ist. An ihren Seitenwänden öffnen
sich kleine niedrige Felsdächer, deren Böden mit
Hunderten von Einritzungen sind. Auch an den
Decken finden sich unzählige Felsbildnisse. In zwei
Schluchten finden sich geometrische Figuren, in der
dritten Schlucht Papageien, die in der Mitte eines
mit Handabdrücken verzierten Raums zu fliegen
scheinen.
Blickt man in Südamerika von der argentinischen Pampa im Süden bis zum Bundesstaat Maranhão im Nordosten Brasiliens, so ist ein Malstil
erkennbar, der sich durch die Darstellung menschlicher Fußspuren mitsamt jenen von Tieren wie
Vögeln, Hirschen, Schweinen und Katzen auszeichnet. Dieser Stil hat sich am Rand der großen Binnenflüsse entwickelt, die den Rio de la Plata mit dem
Amazonasbecken verbinden. Einige dieser bezaubernd schönen Felsbildnisse konnten im Rahmen
von Ausgrabungen im Bundesstaat Mato Grosso
do Sul auf ein Alter von etwa 7000 Jahren datiert
werden.
I
Von fliegenden Papageien und Fußspuren
Nicht nur im Inneren von
Höhlen, auch unter freiem
Himmel wurde, wie an diesem Beispiel in Pedra Lavrada de Ingá, fleißig verziert.
81
I
Aus der Entfernung erinnert der über und über verzierte Felsen Pedra Lavrada
de Ingá an eine große
Schlange, die in der Landschaft liegt.
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83
I
Menschenähnliche Gestalten im Gebirgszug Irerê,
Monte Alegre.
Geritzte Gesichter rund um den
Amazonas
I
Geritzte Gesichter und Körper von menschlicher
Gestalt finden sich unter
anderem in Serra da Careta, Prainha.
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Im gesamten zentralen Amazonasgebiet wie auch in
Guayana finden sich am häufigsten geometrische
menschenähnliche Darstellungen, die entweder den
ganzen Körper oder nur den Kopf abbilden. Bei Monte Alegre erhebt sich der Pedra Pintada do Pilão.
Dabei handelt es sich um einen der wenigen Orte, die
im Amazonasgebiet als Unterschlupf für den Menschen geeignet sind. Archäologen machten hier Funde, die bis zu 11 200 Jahre alt sind. Auch Steinwerkzeuge und rote Pigmente wurden entdeckt, wobei die
Felsbildnisse an den Wänden vermutlich jüngeren
Datums sind. In der Nähe wurde eine große Felswand
mit Hunderten von Figuren versehen, die vom 100 m
entfernt liegenden Fuß des Hügels aus sichtbar ist.
Eine andere Höhle in Prainha weist etwa 200 geritzte Gesichter auf, von denen jedes einen anderen
Ausdruck hat: Manche zeigen ihre Zähne, andere
machen ein glückliches Gesicht, wiederum andere
scheinen besorgt usw. Darunter befinden sich vereinzelt auch Paare, und die Darstellung einer Frau
zeigt einen Fötus in ihrem Bauch.
Diese Form der eingeritzten Gesichter lässt sich
im gesamten zentralen Amazonasgebiet finden. Meist
an Stellen unter freiem Himmel, unweit von Flüssen.
Ob sie einst bemalt gewesen sind, lässt sich heute
jedoch nicht mehr feststellen, denn die Überschwemmungen der vergangenen Jahrtausende haben Pigmente, sofern vorhanden, weggespült.
Noch immer verehren einige indigene Kulturen
diese Orte, deren Figuren sie ihren Vorfahren zuschreiben. Andere betrachten dieselben Figuren als
verflucht und meiden sie besonders nachts.
Die zahlreichen Felsbildnisse und Ritzungen,
welche die Höhlen Brasiliens zieren, erzählen eine
Geschichte verschiedener regionaler Traditionen, die
sich im Laufe der Jahrtausende stilistisch weiterentwickelt haben. Vielerorts ist auch die Aneinanderreihung thematischer Abfolgen zu erkennen, die sich
über Jahrtausende erstrecken. Diese Zeugnisse belegen eine prähistorische Vergangenheit, die kulturell
ebenso reich und komplex ist wie die historischen
Epochen selbst.
Ungeahnte Farbenpracht
Peruaçu-Tal
Formen der Vielfalt
Andrei Isnardis und André Prous; übersetzt von Vicente Sampaio
I
Lage des Flusses São
Francisco und des
Peruaçu-Tals im südöstlichen Teil Brasiliens.
PERNAMBUCO
Recife
ALAGOAS
SERGIPE
Sã
oF
ran
cis
co
Ein langer Fluss prägt einen großen Teil dessen, was
In einigen der Höhlen sind Tausende von Felsbildnissen zu finden. Nicht selten nehmen diese riesige
in Brasilien sertão genannt wird: Ein weites sonnendurchflutetes Binnenland im Nordosten Brasiliens,
Felswände ein, klettern geradezu an ihnen empor; an
in dem das Jahr in zwei Zeiten unterteilt ist – eine der
manchen Stellen bis zu 10 m hoch. Ein gleichermaßen
erstaunlicher wie auch entzückender Anblick. Die
Dürre und eine des Wassers. Hier sind das Meer und
Malereien im Peruaçu-Tal zeichnen sich jedoch nicht
die Küste so weit entfernt, dass sie nicht zu existieren
scheinen. Der Name ebendieses großen Flusses ist
nur durch ihre schiereMasse aus, sondern auch durch
Rio de São Francisco, meist einfach nur São Francisco
die Vielfalt ihrer Motive. Im Laufe der langjährigen
genannt. Auf seinem Weg gen Norden mündet er im
archäologischen Forschung befassten sich viele SpeÜbergangsgebiet zwischen Zentral- und Nordostbrazialisten, die verschiedene Fragen stellten und auf
silien, im oberen Teil des Bundesstaates Minas Gerais
unterschiedlichste Weise versuchten, diese zu beantzwischen den Städten Januária und Itacarambi, in
worten, mit den Felsbildnissen.
einen kleinen Fluss namens Peruaçu. Dieser ist so
unscheinbar, dass man sich bei seinem Anblick kaum
Formen, Farben, Kompositionen
vorstellen kann, was er zu leisten vermag.
Die Motivwelt ist, wie bereits erwähnt, sehr vielseitig.
Der Peruaçu entspringt in einer Region mit sandEs gibt große geometrische Figuren in zwei (oder
steinhaltigem Boden und stößt nach einigen Kilometern auf ein Felsmassiv aus Kalkstein. Beim Durchmehr) Farben, die von ovalen Mustern und aneinanfließen dieses Massivs formt er eine spektakuläre
dergereihten Streifen bis hin zu schematischen ForLandschaft. Ursprünglich verlief der Fluss unterirdimen reichen, welche an Tiere, Menschen oder Waffen
sch, wobei sein Wasser zunächst durch die Risse und
Lücken des Kalksteins floss, die er bald in ZusammenPA R Á
PIAUÍ
arbeit mit seinen kleinen Nebenflüssen in ein Netz
von Höhlen verwandelte.
TOCANTINS
Der Hauptstrom des Peruaçu verbreiterte sein
M AT O
GROSSO
Höhlenbett so, dass er den Boden um mehrere DutBAHIA
zend Meter absenkte und darüber eine hohe Zwischendecke hinterließ. In einer bis heute andauernden
B R A S I L I E N
Dynamik verwandelten und verwandeln Auflösung
und Einsturz die hohe Höhle in einen Canyon mit
Peruaçu-Tal
Brasília
steilen Wänden. Teile der Decke halten jedoch immer
noch stand, und der Fluss schlängelt sich immer noch
GOIÁS
in einer traumhaften Umgebung, in der sich kolossale
Tropfsteine, riesige Haufen von Blöcken, kristallklaMINAS GERAIS
res Wasser, Fische und Bäume abwechseln, durch
ESPÍRITO
unterirdische Abschnitte Das Netz sekundärer WasSANTO
Belo
Horizonte
serläufe und die Regenfälle haben zahllose
neue
Campo
Grande
Höhlen und Felsunterschlüpfe ausgehöhlt. An vielen
S Ã O PA U L O
dieser Orte gibt es Höhlenmalereien, die im Laufe der
Campinas
Rio de Janeiro
Jahrtausende von jenen Menschen geschaffen wurRIO DE JANEIRO
den, die hier während dieser Zeit lebten – die XakriaSão Paulo
PA R A N Á
bá siedeln sogar noch immer in dieser Gegend, denn
0 100 200 300km
sie verstehen das Peruaçu-Tal als einen Teil ihres
traditionellen Territoriums.
Formen, Farben, Kompositionen
Salvador
Atlantischer
Ozean
BRASILIEN
85
I
Aspekte der Karstlandschaft des
Peruaçu-Tals. Links die Gruta do
Janelão, der längste unterirdische
Abschnitt des Flusslaufs. Rechts die
Lapa de Rezar, eine archäologische
Stätte mit mehr als 2000 Figuren.
86
###
###
87
erinnern. Viele der an Menschen erinnernden Darstellungen sind zwischen 10 und 30 cm groß. Diese
Figuren, die sich durch die große Variation in der
mutmaßlichen Gestaltung von Körpern, Armen, Beinen und Köpfen auszeichnen, sind fast immer homogen einfarbig gefärbt.
Im Gegensatz dazu sind Vögel, Hirsche oder auch
Pflanzen mit 30 bis 50 cm durchgehend größer dargestellt . Hier und da finden sich auch kleine, weniger
als 10 cm große Motive. Diese sind oft in trockenem
Pigment gezeichnet und scheinen Gruppen von
Menschen darzustellen. Zu einem geringen Teil gibt
es auch kleinere Darstellungen von Tieren, die anders
als ihre größeren Vertreter nicht gemalt wurden, son-
88
dern durch Entfernen von Gesteinsmaterial entstanden sind. Neben diesen gibt es im Peruaçu-Tal noch
viele weitere Motive und Stile, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.
I
Beispiel für die Vielfalt
der Höhlenmalereien und
Ritzungen im Peruaçu-Tal.
Zu sehen sind hier die verschiedensten Tierwesen,
unter anderem Vögel.
Die Frage der Chronologie
Angesichts dieser Vielfalt kam es zu einer Reihe von
Fragen. Wäre es möglich, anhand der wiederkehrenden Kombination von Themen, Komposition, Farben
und Techniken Stile zu bestimmen? Und könnte man
im Anschluss auch eine Chronologie herausarbeiten?
Um dies beantworten zu können, wurden Themen,
Farbgebräuche und Techniken systematisch analysiert
Formen der Vielfalt
folgen eingravierte Figuren, die manchmal jene aus
früheren Zeiten stammenden Darstellungen überlagern. Die eingeritzten Motive finden sich immer nur
über den bereits genannten geometrischen wie auch
figurativen Darstellungen.
Den übrigen Figurengruppen wurde in der Forschung bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt,
was es schwierig macht, eine fundierte Übersicht über
sie zu erstellen.
Die Absicht dieses klassifikatorischen Ansatzes
bestand darin, die große Vielfalt in Kategorien zu
ordnen, die es uns erlauben, die Gemälde als Sets zu
behandeln, um weitere Analysen durchzuführen und
auch Vergleiche mit Höhlenmalereien und Gravuren
aus anderen brasilianischen Regionen zu ziehen.
Außerdem deutet die Einheitlichkeit der Motive eines
jeden Sets darauf hin, dass die Urheber der Figuren
ein gemeinsames Repertoire und kollektive Präferenzen teilten. Die Stile scheinen also je auf verschiedene
Grupen hinzudeuten.
Da diese Stile immer miteinander in Verbindung
stehen, kann man davon ausgehen, dass sie sich zeitlich überschneiden. Auch wenn wir nicht in der Lage
sind, diese Zeitspanne zu beziffern, denn eine absolute Datierung der Felsbildnisse und/oder Ritzungen
ist in Peruaçu kaum möglich. Dabei gibt es verlässliche Hinweise darauf, dass einige der Felsbildnisse
vor mindestens 8000 Jahren entstanden sind, als auch
darauf, dass die jüngsten Stile vermutlich jünger als
2800 Jahre alt sind. Dennoch bleibt eine zeitliche Einordnung der Stile problematisch, weil es nur sehr wenig
Anhaltspunkte gibt, was das Einordnen in eine messbare Zeit in Jahreszahlen unmöglich macht. Außerdem verfügen wir über keine weiteren Materialien,
die einen der Stile direkt mit archäologischen Objekten aus den 14 000 Jahren menschlicher Besiedlung
des Peruaçu-Tals in Verbindung bringen.
und miteinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise ließen sich dann verschiedene Stile erkennen und
die Beobachtung der zahlreichen Überschneidungen
von Figuren im ganzen Peruaçu-Tal ermöglichte letztlich, Theorien über ihre Abfolge zu formulieren
sowie eine Chronologie aufzustellen.
Demzufolge bestehen die ältesten Felsbildnisse
aus geometrischen Figuren, die meist in zwei oder
mehr Farben, manchmal auch einfarbig, dargestellt
sind. Darüber befinden sich in den meisten Fällen
Darstellungen von Menschen, die in einer späteren
Zeit aufgebracht wurden. Über diesen beiden ersten
Motivgruppen sind in der Regel Darstellungen von
einfarbigen Tieren und Pflanzen zu finden. Darauf
Die Frage der Chronologie
89
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass eine solche
Klassifikation durch Stile eine moderne Schöpfung
ist. Die darin gesammelten Informationen sind von
der zeitgenössischen Sichtweise geprägt. So stellen
solche wissenschaftlich erarbeiteten Stile in gewisser
Weise ein schiefes oder selbst irreführendes Bild der
prähistorischen Menschen vor, da wir heute von den
kulturellen Kontexten, in denen die Urheber der
Darstellungen lebten, durch eine kaum zu überwindende Kluft getrennt sind. Darüber hinaus gehören
Irrtümer zu jeder Forschungsarbeit, ebenso wie Missverständnisse gegenüber Tatsachen, die sich nicht
konsequent beschreiben lassen. Das ist weder ein
Problem noch ein Fehler, sondern ein positives
Merkmal der Wissensproduktion: Sie ist immer im
Prozess. Die für eine Klassifikation der Felskunst im
Peruaçu-Tal erarbeiteten Stilrichtungen sind also –
wie alle andere wissenschaftlichen Begriffe – unvollständig und vorläufig.
90
I
Neben menschen- und tierartigen Motiven findet sich
auch eine Vielzahl geometrischer Figuren.
Wo wurde was gemalt?
Die Größe und Form der Felsdächer und Höhlen im
Peruaçu-Tal sind sehr unterschiedlich. Unter den Orten, die die frühen Menschen für ihre Malereien und
Ritzungen auswählten, gibt es riesige, mehr als 100 m
lange und Dutzende von Metern hohe Höhlen, mit
weiten und gleichmäßigen Sedimentböden und breiten senkrechten Wänden. Ebenso kommen 20 bis
30 m lange Höhlen mit unregelmäßigen, aus Blöcken
geformten Böden und abgestuften Wänden vor. Da nicht
alle Stile in allen bemalten Stätten vorkommen, stellte sich uns die Frage, ob es bei der Auswahl der zu
bemalenden Flächen unterschiedliche Muster gibt. Auf
diese Frage fanden wir bemerkenswerte Antworten.
Die Urheber der ältesten Darstellungen waren in
dieser frühen Phase der brasilianischen Felsbildnisse
überaus wählerisch, was die Standorte, aber auch Räume innerhalb der Höhlen angeht, in denen die Motive angebracht werden sollten. Nur Höhlen mit einem
Formen der Vielfalt
ebenen Sedimentboden und breiten vertikalen Wänden wurden bemalt. Unter den über 80 Stätten mit
Felsbildnissen aus Peruaçu weisen weniger als zehn
diese älteste Form auf. Die bemalten Flächen können
sich durchaus in Höhen von 10 m oder 15 m erstrecken.
Dies lässt vermuten, dass Gerüste errichtet werden
mussten, um die Malereien überhaupt anfertigen zu
können. Hinter diesem aufwendigen Verfahren stand
vermutlich die Absicht, hoch oben zu malen, damit
die Felsbildnisse besonders gut sichtbar waren.
Die Darstellungen von Menschen nehmen an den
Felswänden zwar den Raum zwischen den großen
älteren geometrischen Figuren ein, dominieren diese
aber nicht. Überschneidungen werden vermieden
und kommen nur in wenigen Fällen vor. Trotzdem
förderte dieser Stil eine Transformation der Landschaft des Peruaçu-Tals, da seine Figuren zum ersten
Mal an vielen Orten gleichzeitig auftauchen, deren
Morphologie sich stark von denen unterscheidet, die
für die früheren geometrischen Bildnisse gewählt
wurden. Die Zahl der bemalten Höhlen nimmt deutlich zu und umfasst nun sowohl kleine Höhlen mit
felsigen Böden als auch tiefe Unterstände mit gestuften Wänden, schrägen Böden und Felswänden. Bei
diesem Stil werden oft bruchstückartige und kleine
Flächen von schlechter Sichtbarkeit genutzt. Manchmal muss man sich unter niedrige Decken kauern, um
die Malereien zu sehen.
In der Folge scheinen sich die geometrischen Motive des älteren Stils noch mal ausgebreitet zu haben.
Mancherorts reichen diese nun auch in jene entfernten Ecken, die bislang nur mit Darstellungen von
Menschen versehen worden waren. Somit wurden die
Auswahlkriterien des Standortes für die geometrischen Motive gewissermaßen aufgehoben, und die
Wo wurde was gemalt?
Urheber scheinen mehr daran interessiert gewesen zu
sein, bereits bemalte Stellen, Orte und Räume erneut
zu bemalen, aber auch kleine vertikale Flächen zu
nutzen.
Die einfarbigen Darstellungen von Tieren und
Pflanzen wiederum sind ausnahmslos in bereits bemalten Höhlen zu finden, wobei nicht alle der mit
älteren Stilen versehenen Höhlen auch über den
neuen verfügen. Alle hierfür ausgewählten Standorte
haben entweder breite senkrechte Felswände oder
aber gleichmäßig flache Decken. Die dichte Konzentration der Figuren, ohne Rücksicht auf bereits
vorhandene Malereien, sowie die ausgeprägte thematische Auswahl für jede Höhle, sind bezeichnend für
diesen Stil.
Im Gegensatz zu den Felsmalereien, scheinen bei
der Auswahl des perfekten Ortes für die Ritzungen
weder die Morphologie noch die Einbettung in die
Landschaft eine besondere Rolle gespielt zu haben.
Hier zählt vor allem die Glätte der Fläche. Möglichst
niedrig und vor allem glatt oder poliert sollte diese sein,
zudem vom Boden aus stehend erreichbar. Mancherorts gibt es eine unermessliche Dichte an Ritzungen,
deren Anzahl in gewissen Teilbereichen mehrere Hundert Stück zählt. Anderenorts sind solcherlei Ritzungen wiederum nur in geringer Zahl vorhanden, meist
an Orten, die bereits intensiv mit Malereien belegt sind.
Zur erneuten Transformation der Landschaft des
Peruaçu-Tals führt der Stil mit den kleinen Figuren.
Diese sind fast in allen Höhlen zu finden, in denen
auch die übrigen Stile vertreten sind. Entweder verteilen sie sich zwischen den anderen Figuren oder sie
überlappen diese regelrecht. Manchmal sitzen sie
auch am Rand oder in abgeschälten Flächen. Auch in
einer beträchtlichen Anzahl kleiner Höhlen findet
I
Mit Tieren verzierte Felswand an der Fundstelle
Piolho de Urubu.
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I
sich nun der Stil mit den kleinen Figuren, häufig in
den engen Terrassen am Fuße einer Hauptschlucht
bzw. nahe am Fluss. Die kleinen Figuren treten in
einer Häufigkeit auf, durch die die bisher von den
anderen Stilen fast unbesetzten Stätten im Nu über
mehrere Dutzend oder sogar mehrere Hundert Felsbildnisse verfügen. Allerdings lassen sich Muster in
der Morphologie oder in der Einbettung solcher Stätten in die Landschaft nicht feststellen.
Übermalung bereits verzierter Wände
Die Bemalung oder Einritzung neuer Figuren auf
bereits bemalten Wänden ist ein häufiges Phänomen
im Peruaçu-Tal, eine Praxis, die sich durch alle schon
klassifizierten Stile zieht. Bei solcher Wiederbesetzung der Wandräume ist die Variation in den Verfahrensweisen besonders bemerkenswert.
Die eindrucksvollsten Fälle gehören zu den beiden ältesten Stilen, dem geometrischen und dem
darauffolgenden mit Darstellungen von Menschen.
Selbst dort, wo ausreichend Platz zur Verfügung
stand, folgen die menschenartigen Figuren der Struktur der bereits vorhandenen geometrischen Kompositionen, wodurch sich diese verdichten. So verbinden
sich die neuen Bilder systematisch mit den alten:
Neben bereits gemalten Figuren werden oft sehr ähnliche Motive angebracht. Ebenfalls auffallend ist bei
den ältesten beiden Stilen, dass in beiden Fällen
mehrere komplexe geometrische Figuren, die aus einem Grundrepertoire von einfachen Formen zusammengesetzt sind, so geschaffen werden, dass sie in den
verfügbaren Raum zwischen alten Figuren passen
oder sich sorgfältig an ihnen orientieren.
Es gibt auch Übermalungen, die die bereits auf
den Wänden vorhandenen Figuren partiell oder vollständig überdecken. Betrachtet man die verschiedenen Farbpigmente, wird deutlich, dass immer diesel-
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Motive im nordöstlichen
Stil, in einem kleinen
ummauerten Unterstand,
der Lapa do Limoeiro.
ben zur Anfertigung neuer Figuren verwendet
wurden. Dies lässt vermuten, dass der Bezug zu früheren Malereien ein wichtiges Element bei der Komposition neuer Figuren war, das einen bedeutenden Einfluss darauf hatte, wo, was und wie man malen sollte.
Bezieht man die Denkweisen indigener Gruppen
mit ein, welche uns durch die Ethnologie vertraut
sind, lassen sich ihre äußerst vielschichtigen Weltbilder erkennen. Sie bestehen aus Menschen, Tieren,
Pflanzen, übernatürlichen Wesen und unzähligen
Dingen, die allesamt miteinander verwoben sind und
die von den indigenen Gruppen außerordentliche
Wertschätzung erfahren. Hierzu sind unzählige Studien erschienen, unter anderem von Ethnologen wie
Eduardo Viveiros de Castro, Tânia Stolze Lima und
Phillipe Descola.
Dieses Geflecht von Beziehungen ist in hohem
Maße kennzeichnend für das Dasein, einschließlich
des menschlichen Wesens, dessen Verwirklichung
nur mithilfe von zwischenmenschlichen Verbindungen und anderen Lebewesen möglich ist. Darüber
hinaus wird der Zustand des (menschlichen odernicht
menschlichen) Wesens in der Welt dadurch bestimmt,
wie er Beziehungen eingeht.
Abgesehen von den unterschiedlichen Ausprägungen dieses »Konzepts«, lässt sich eine sehr große
geografische wie auch ethnosprachliche Verbreitung
beobachten: von den Guyanas bis nach Südbrasilien,
Paraguay und das argentinische Tiefland; vom Nordosten Brasiliens bis zu den Landesgrenzen zwischen
Brasilien, Bolivien und Peru.
Die starke Verbindung zwischen jenen Menschen, die neue Felsbildnisse schufen, und den bereits
vorhandenen Wandmalereien steht in engem Zusammenhang mit dem »Konzept« der indigenen Weltbilder. Mit der Beziehung zwischen der indigenen
und unserer Wahrnehmung können wir auf unterschiedliche Weise umgehen.
Formen der Vielfalt
Zum einen können wir indigene Ansätze nutzen,
um das von uns Wahrgenommene auf Felsbildnissen
zu erklären. Andererseits lässt sich die Theorie aufstellen, dass unter den Menschen prähistorischer Zeiten
gewisse Denkmuster existierten, die eine große zeitliche Tiefe aufweisen, welche mit der weiten geografischen Verbreitung einiger der Motive übereinstimmt.
Darüber hinaus scheinen auch weitere indigene Ansätze vielversprechend für das Verständnis der brasilianischen Felsbildnisse zu sein, weshalb wir eine Studie
zum Dialog zwischen Ethnologie und indigenen
Ansätzen ins Leben gerufen haben. Geografisch liegt
der Schwerpunkt dieser Forschungen bislang in jenen
Regionen, mit denen wir uns auch befasst haben und
in denen die Felsmalereien sehr bildgewaltig sind und
regionale Besonderheiten aufweisen.
Andere Region, andere Sitten
Etwa 100 km nördlich des Peruaçu-Tals liegt die
Region Montalvânia. Sie zeichnet sich ebenfalls durch
Felsmassive aus Kalkstein und unzählige Fundstellen
mit Felsbildnissen aus. Im Vergleich zu den Felsmalereien des Peruaçu-Tals ist hier stilistisch gesehen
allerdings ein deutlicher Unterschied zu beobachten.
Zum einen finden sich hier vorrangig Ritzungen, zum
anderen sind die Darstellungen des ältesten geometrischen Stils hier deutlich weniger vertreten.
Besonders auffällig ist hingegen die starke Präsenz
menschlicher Figuren, die auf horizontalen Flächen
nahe am Boden oder aber in niedrigen waagerechten
Arealen angebracht sind.
Auch thematisch lassen sich im Vergleich zu den
Felsbildnissen im Peruaçu-Tal Unterschiede erkennen. Beispielsweise sind Darstellungen, die an Fußabdrücke oder aber an Waffen erinnern, deutlich
stärker vertreten. Zudem nehmen sowohl die thematischen Kombinationen als auch der Variationsreichtum in Montalvânia, insbesondere die Darstellungen
menschlicher Figuren betreffend, enorme Dimensionen an, die in die Tausende gehen.
Letztlich macht erst der Vergleich der Felskunst
der beiden Regionen, Peruaçu-Tal und Montalvânia,
wirklich deutlich, von welch unsagbarem Reichtum
hier tatsächlich die Rede ist – sei es nun thematisch,
die Technik oder aber die Vielfalt der Motive betreffend.
Abschließend sei gesagt, dass es uns hoffentlich
gelungen ist, einige der bemerkenswert reichhaltigen
und vielfältigen Facetten der Felskunst des PeruaçuTals aufzuzeigen. Denn es handelt sich um einen
archäologischen Schatz, der sich gegenwärtig erst
durch den Dialog zwischen der Forschung und den
indigenen Gruppen in seiner Gänze enthüllt. Er
macht deutlich, dass die gegenwärtigen Kulturen in
ihrer Vielfalt auf jahrtausendealte Traditionen zurückgreifen. Hierfür sind die aktuell 150 gesprochenen
Sprachen nur eines von vielen Beispielen. Mit anderen Worten: Die Vielfalt im Peruaçu-Tal zeigt unmissverständlich die reichhaltige, kontinuierliche und sich
immerzu erneuernde Entfaltung der indigenen Gruppen Südamerikas und die Zusammenhänge, die wir
archäologisch fassen, sind untrennbar verbunden mit
ebendieser bezaubernden Vielfalt.
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Andere Region, andere Sitten
Gravuren aus der Region
Montalvânia, in der Lapa
von Posseidon.
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