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Prous Isnardis AiD SH 323 HÖHLEN

2023

Registros rupestres Mina Gerais em alemão

Felskunst in Brasilien Ungeahnte Farbenpracht André Prous und Andrei Isnardis; übersetzt von Vicente Sampiao In Brasilien gibt es Tausende Stätten der Felskunst, sowohl an geschützten Orten wie Felsunterständen, Höhleneingängen und senkrechten Wänden als auch an Felsformationen im Freien. Bis auf jene im südlichen Amazonasgebiet unweit der Stadt Rurópolis, sind die Zeichnungen in der Regel bei Tageslicht gut sichtbar. Im Folgenden werfen wir einen Blick auf eine Auswahl der reichhaltigsten Felsmalereien Brasiliens, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Laufe der Zeit viele der ursprünglichen Bildnisse verschwunden sind. Zudem nutzten die Menschen dort, wo es keine Felswände gab, andere Träger für die Darstellung ihrer Figuren – beispielsweise Bäume, deren Rinde sie abschnitten, um tier- oder menschenähnliche Motive auf dem kahlen Teil des Stammes darzustellen. Erste Schritte gen Höhlenforschung Zunächst entdeckten Forschende der sogenannten französisch-brasilianischen Mission Felsbildnisse im zentralbrasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Die Fundstellen befanden sich auf der Hochebene von Lagoa Santa, einem Kalksteingebiet mit großen Höhlen am Seeufer, und etwas weiter nördlich in der Serra do Cipó, wo sich am Fuße von senkrechten Quarzitwänden Höhlen befinden. Bereits zu Beginn des 19. Jh. folgte der dänische Naturwissenschaftler Peter Wilhelm Lund den Lehren von Georges Cuvier, dem Begründer der Paläontologie in Paris. So reiste er nach Brasilien und ließ sich im Dorf Lagoa Santa nieder, wo beim Abbau von Salpeter die Knochen von ausgestorbenen Großsäugern in den Höhlen gefunden wurden. Damals brachte man das Verschwinden von Tierarten aus früheren Erdzeitaltern mit Naturkatastrophen in Verbindung, wobei man als letzte von diesen die biblische Sintflut annahm. Im Rahmen seiner Arbeit sammelte und identifizierte Lund Riesenfaultiere, Bären, amerikanische Pferde, Kameliden, Mastodons und Säbelzahntiger. Seine Entdeckungen wurden unter anderem von Charles Darwin aufgegriffen, weshalb Lund als »Vater der brasilianischen Paläontologie« gilt. Im Grunde ist er aber auch der »Großvater der brasilianischen Archäologie und Höhlenforschung«, denn in den 1840er-Jahren beschrieb er erstmals Höhlen- Erregte Männer und schwangere Frauen bildnisse aus dem Fundort Cerca Grande. Zudem beschrieb er alte Steinäxte und mischte sich in die Diskussionen über den Ursprung der dänischen køkkenmøddinger, einer Art prähistorischer Abfallhaufen aus Nahrungsresten wie Muschelschalen und Schneckengehäusen, ein. Dabei erklärte er, dass es in Brasilien etwas Gleichartiges gäbe, nämlich die berühmten sambaquis, in denen man Bestattungen sowie Stein- und Knochenwerkzeuge finde. Er befasste sich also mit Stätten, die schon kurze Zeit später in Europa als mittelsteinzeitlich bezeichnet werden sollten. Außerdem entdeckte Lund im Jahr 1844 am Fundort Sumidouro in Lagoa Santa in einem unterirdischen See menschliche Skelettreste zusammen mit Knochen ausgestorbener Tiere. Zu diesem Zeitpunkt war noch lange nicht die Rede von einer derart frühen Präsenz des Menschen in dieser Region. Um das Alter der Knochen zu bestimmen, unterzog Lund diese einer ebenso sorgfältigen wie auch beispiellosen Analyse, bei der er sowohl deren physisches Erscheinungsbild, den Grad der Verwitterung im Vergleich zu ausgestorbenen Tierarten, die Bedingungen der Lagerung im Boden usw. berücksichtigte. Allerdings war die Zeit noch nicht reif für den Gedanken, dass Menschen schon weit vor Noahs Sintflut hier gelebt haben könnten. So wurde Lunds Studie mit äußerster Skepsis aufgenommen und erst Dutzende Jahrzehnte später berücksichtigt, als der Franzose Jacques Boucher de Perthes im Jahr 1859 vor einer internationalen Kommission die Existenz des pleistozänen Menschen in Europa nachwies. Seither war Lagoa Santa stets Teil hitziger Debatten um die ältesten amerikanischen Populationen. Es sollte bis Mitte des 20. Jh. dauern, bis letztlich brasilianische und ausländische Forschende Lunds Beobachtungen über die Koexistenz menschlicher Bevölkerungen mit ausgestorbenen Tierarten in Südamerika endgültig nachweisen konnten. Erregte Männer und schwangere Frauen Im Jahr 1971 leitete die französische Prähistorikerin Annette Laming-Emperaire, bekannt für ihre Dissertation über altsteinzeitliche Felskunst in Europa und Spezialistin für südamerikanische Vorgeschichte, ein 75 Forschungsprojekt in Lagoa Santa ein, an dem wir als ihre Assistenten teilnahmen. Unsere Hauptgrabung fand von 1971 bis 1976 in der Höhle von Lapa Vermelha statt . Die oberen holozänen Schichten enthielten Spuren von kurzen periodischen Aufenthalten durch Jäger und Sammler, die dort auf der Durchreise übernachtet haben müssen. 1973 fanden wir unter jahrtausendealten Schichten an der Felswand Spuren gemalter Figuren. Dies war das erste Mal, dass Felsbildnisse in Brasilien datiert wurden. In einer Tiefe von etwa 10 m stießen wir auf archäologische Schichten, die dem Beginn des Holozäns entsprechen. Darin befanden sich Knochenreste und versteinerter Kot von Riesenfaultieren, die auf etwa 12 000 Jahre datiert werden konnten. Unmittelbar darunter, und somit aus einer früheren Schicht, fanden wir die Skelettreste einer jungen Frau, deren biologische Merkmale ab den 1990er-Jahren in Fachkreisen viel Beachtung finden sollten. Zur gleichen Zeit beauftragte uns Annette Laming-Emperaire mit der Untersuchung der Felsbildnisse der Region. In der Gruta do Ballet (Balletthöhle), die bereits für die Darstellung einer Prozession menschlicher Figuren bekannt war, welche im unteren Teil einer erhöhten Plattform zu tanzen schienen, konnten im Rahmen einer sorgfältigen Untersuchung bereits verblasste und tierähnliche Figuren entdeckt werden. Vermutlich waren zunächst nur Tierfiguren auf den felsigen Untergrund gezeichnet worden, die dann aber von später anwesenden Individuen abgekratzt und mit menschlichen Figuren übermalt wurden. In einem weiteren Raum konnten wir sechs bemalte Flächen ausmachen, von denen die unteren drei nur mit schwarzen Figuren verziert waren. Im oberen Teil waren zwei Reihen mit vertikalen Elementen 76 I In der Gruta do Ballet (Balletthöhle) finden sich unter anderem Figuren in Menschengestalt. ockerfarben verziert, während die Decke weiß bemalt war. Am Schnittpunkt aller Bildtafeln befand sich ein einzelnes rotes Bildnis, das alle Bildgruppen miteinander zu verbinden schien. Die Figuren im unteren Bereich und an der Decke waren groß, während jene im oberen Bereich mittelgroß bis klein waren. Die Darstellungen im unteren Bereich waren anthropomorph: unten eine Prozession fadenförmiger Män- Ungeahnte Farbenpracht ner mit erigierten Gliedern, knapp darüber Frauen mit Schmuck, einige von ihnen mit dicken Bäuchen. Über ihren Köpfen schließlich winzige Wesen – Geister der Föten? Vor beiden Prozessionen war eine Geburtsszene zu sehen. Doch wie nahmen die Menschen prähistorischer Zeit diese Bildszenen wahr? Was sehen wir heute darin? Und besteht nicht vielleicht die Gefahr, dass wir beim Wunsch, die Vergangenheit zu verstehen, Dinge der Gegenwart hineinprojizieren? Vollkommen unabhängig von der Antwort auf solcherlei Fragen, konnten wir in dieser und den anderen Fundstätten der Region feststellen, dass die ältesten und zahlreichsten Bildnisse jene von Tieren, insbesondere von Hirschen, waren. Erst später folgten Darstellungen fadenförmiger menschlicher Figuren. An einigen Stellen hinterließen sogar jüngere Populationen Bildnisse domestizierter und essbarer Wurzeln und Knollen samt ankerförmiger Steinbeilklingen. Ort der Bestattung und des Handwerks Einen weiteren bemerkenswerten Fund machten wir im Jahr 1975 in der Serra do Cipó, etwa 60 km nördlich von Lagoa Santa. In Santana do Riacho, einem magischen Ort inmitten der majestätischen Berglandschaft, standen wir plötzlich vor einer mit roten und gelben Felsbildnissen geschmückten Felswand, die Ort der Bestattung und des Handwerks aussah, als sei sie erst am Tag zuvor bemalt worden. Der Boden unter unseren Füßen war vollkommen intakt und von organischem Material verdunkelt. Es handelte sich um zwei direkt nebeneinanderliegende Höhlen, die durch eine Anhöhe voneinander getrennt waren und auf einer Länge von über 100 m eine vor Wind und Wetter schützende Zuflucht bildeten. Wenige Monate später begannen wir hier mit Ausgrabungen, die fast vier Jahre andauern sollten. Auf dem oberen Plateau traten Gräber von etwa 60 Individuen zutage, die in die Zeit vor etwa 10 000 bis 8000 Jahren datieren. Eisenhaltige Pigmente hatten darin eine kräftige Rotfärbung bewirkt. Zudem fanden sich Reste von Amuletten, Samenketten, Stein- und Knochenwerkzeugen. Aus den darauffolgenden Jahrtausenden lassen sich diverse Spuren rund um Feuerstellen finden. So war beispielsweise ein von der Höhlendecke direkt auf eine Feuerstelle herabgestürzter Felsblock bemalt worden. Im Laufe der Zeit wurden die Darstellungen, darunter jene eines kleinen Fisches, von Sedimenten bedeckt. Nachfolgende Generationen entfachten an derselben Stelle erneut Feuer, wodurch die Malereien unbemerkt die Zeit überdauerten. Sie datieren in die Zeit vor etwa 4400 und 3900 Jahren. Im Vergleich mit den übrigen Felsbildnissen, die hier gefunden wurden, entsprechen sie quasi einer Art Zwischenstil. Vermutlich entstanden die älteren Bildnisse mehrere Tausend Jahre früher. I Höhle Lapa Vermelha, mit Lapa Vermelha I (links) und Lapa Vermelha IV (ganz rechts, oben). 77 Auch in der letzten Phase der Nutzung des oberen Plateaus vor etwa 2000 Jahren wurden herabgestürzte Felsblöcke bemalt. Unter den Darstellungen finden sich nun jene menschenähnlichen Figuren. An manchen Stellen wurden diese über den älteren Tierdarstellungen angebracht. Das darunterliegende Plateau wurde nicht für Bestattungen, sondern zur Herstellung von Steinwerkzeugen genutzt, welche aus Rohstoffen des nahegelegenen Berggipfels gefertigt wurden. Vereinzelt lassen sich jedoch auch Hinweise darauf finden, dass Rohmaterial aus weit entfernten Regionen ebenfalls in den Herstellungsprozess mit einbezogen wurde. Insbesondere aus Hämatit und Quarz gefertigte Stücke belegen die Tatsache, dass interregionale Beziehungen bestanden. Große Tiere, kleine Menschen Die große Anzahl roter und gelber Pigmentreste im Boden sowie an den Felswänden lässt darauf schließen, dass die meisten Felsbildnisse im mittleren Holozän entstanden. Unter den mehr als 2500 Felsbildnissen, die wir bislang in der Höhle verzeichnen konnten, befinden sich Hunderte Darstellungen von Hirschen, mehrere Dutzend Fische sowie einige Gürteltiere, langbeinige Vögel und ein Ameisenbär. Die zahlreichen Darstellungen menschlicher Figuren sind äußerst schlicht, reduziert auf einen vertikalen Strich für den Körper und vier schräge Striche für die Extremitäten. Sie alle sind an der Seite der viel größeren und anatomisch detailgetreuer dargestellten Hirsche zu finden. Diese Diskrepanz zwischen verkleinert und vereinfacht dargestellten Menschen und anatomisch detaillierten Tieren scheint ein wichtiger Aspekt des derzeitigen Bildkonzepts gewesen zu sein. Es finden sich nur sehr wenige große und detailliertere Darstellungen menschlicher Figuren. Anders als bei ihren strichmännchenartigen kleineren Verwandten, sind ihre Körper deutlicher geformt, ihre Finger sind dargestellt und auch die Gelenke von Armen und Beinen werden durch kleine Kugeln betont. Sie sind jüngeren Alters und treten nicht an der Seite von Tieren auf. Besonders auffällig ist, dass sich bei den Tieren, anders als in der Region üblich, niemals Darstellungen von Pfeilen finden lassen. Stattdessen ergänzen zahlreiche geometrische Motive das Bild, von denen einzelne möglicherweise Gegenstände wie Netze für den Fischfang oder Schlingen für den Fang von Gürteltieren darstellen. Kreisförmige Linien, aus denen eine Art Wolke aus Punkten herauszukommen scheint, könnten Wespennester sein. Die meisten dieser Elemente sind typisch für Tradição do Planalto, einen Stil, der vorrangig in der Felskunst des Bundesstaates Minas Gerais zu finden ist. 78 I Die Farbenpracht der von roten und gelben Bildnissen geschmückten Felswand in Santana do Riachoer ist regelrecht umwerfend. Es scheint, als seien die Motive erst kürzlich gemalt worden (oben). Bei genauerem Hinsehen finden sich jedoch die charakteristischen übermalten Stellen (unten). ### Dabei sind die Darstellungen nicht zufällig angeordnet. Im unteren Bereich ist die Felswand vollständig mit detaillierten Tierdarstellungen versehen, während jene im oberen Bereich nur schemenhaft dargestellt sind. Bei dem dazwischen liegenden Abschnitt scheint es sich um den zentralen Punkt des Felsbildnisses zu handeln. Er ist mit einer großen netzartigen Struktur mit einem Durchmesser von 2 m versehen, die mit Darstellungen von Fischen, vereinzelt auch Hirschen, gespickt ist. Von Zuflucht bis Bergbau im Vale do Jequitinhonha Von Zuflucht bis Bergbau im Vale do Jequitinhonha 300 km weiter nördlich im Vale do Jequitinhonha und noch immer im Bundesstaat Minas Gerais gelegen, ist ein ähnliches Felsbildnis erhalten. Darauf ist eine Vielzahl von Hirschen und Fischen zu sehen, die teils neben-, teils übereinander liegen . Die Ähnlichkeit mit den Bildnissen in Lagoa Santa und Serra do Cipó ist unverkennbar. I Immer und immer wieder wurden die Motive in der Höhle Lapa do Caboclo übermalt. I Vielerorts finden sich auch Darstellungen von Menschen, die sich im Kampf oder bei der Jagd zu befinden scheinen. Jahrtausende später sollten sich auf der Flucht befindende Sklaven hier Unterschlupf suchen, und die prähistorischen Motive mit ihren eigenen, aus Kohle gefertigten Bildnissen übermalen. Neben der Felskunst, ist Vale do Jequitinhonha auch mit Blick auf den Abbau von Bergkristall von hoher Bedeutung. Denn weltweit befindet sich hier die größte Konzentration dieses Minerals, das nachweislich bereits die Menschen der Vorzeit hier abbauten. An den Felswänden vermischen sich heute die Spuren ihrer Arbeit mit jenen gegenwärtiger Bergleute, die das Material mit Hämmern abschlagen und viel Schutt zurücklassen. Unsere Entdeckungen in Lagoa Santa und Vale do Jequitinhonha stellten alsbald die Frage in den Raum, welche Bildnisse und damit verbundenen Stile sich in anderen Regionen Brasiliens finden lassen. Und so begannen wir damit, das übrige Land zu bereisen. Serra da Capivara – Ort Abertausender Felsbildnisse. Zu den bedeutendsten Regionen zählt definitiv die Serra da Capivara, ein Gebirgszug im Nordosten Brasiliens, der sich über die drei Bundesstaaten Bahia, Piauí und Rio Grande do Norte erstreckt. Zu den sich hier befindenden Fundstätten zählen gleich mehrere, die von unterschiedlichen Forschenden als die ältes- 80 ten Siedlungsorte Amerikas angesehen werden. Eine Theorie, die durchaus umstritten ist, da die Herkunft der einst hier lebenden Menschen bislang nicht eindeutig geklärt werden konnte. Etliche der Höhlen der Serra da Capivara sind mit Felsbildnissen versehen. Einige, die erst im Rahmen von Ausgrabungen entdeckt wurden, stammen aus dem frühen Holozän. In den Höhlen sind mehrere aufeinanderfolgende Stile vertreten. Einer davon zeichnet sich durch kleine rote menschliche Figuren aus, die Rituale um einen Baum herum ausführen, mit Schleudern und Pfeilen kämpfen oder sexuelle Handlungen in verschiedenen Stellungen ausführen. Trinkende Schlangen im Freien Selbstverständlich befinden sich nicht alle Felsbildnisse im Inneren von Höhlen. So war die erste Fundstätte, die vom brasilianischen Ministerium für Kulturerbe unter Denkmalschutz gestellt wurde, die im Nordosten des Landes gelegene Pedra de Ingá im Bundesstaat Paraíba. Dabei handelt es sich um einen großen länglichen Felsen, dessen Form an eine riesige Schlange beim Trinken aus einem vor ihr liegenden Wasserbecken erinnert. Ungeahnte Farbenpracht Im benachbarten Bundesstaat Ceará gibt es einen weiteren Felsen mit ähnlicher Form, an dessen Ende ein Maul mit sichtbaren Zähnen eingemeißelt ist, ebenfalls am Rand des Wassers gelegen. In eine senkrechte und glatte Seite eines Felsens bei Ingá wurden Hunderte von etwa 2 cm tiefen Figuren sorgfältig eingraviert. Eine Reihe runder Felsmulden markiert die Spitze dieses fast 3 m hohen Bildensembles. Obwohl die Motive hauptsächlich geometrisch und schwer deutbar sind, lassen sich die Gestsalt einer Eidechse und mehrere Kornähren erkennen. In den fein geschliffenen Strichen wurden Spuren von roter Farbe gefunden. Die Ausrichtung der Felsmulden wurde von einem Ingenieur im Detail analysiert. Dieser stellte fest, dass ein 1,9 m hoher Zeiger an bestimmten Tagen des Jahres einen Schatten auf ebendiese projiziert hätte. Auf dem oberen flachen Teil des Felsens sind Gruppen von Felsmulden zu erkennen, aus denen eingeritzte und voneinander abweichende Linien hervortreten. Forschende vermuten, dass es sich dabei um Darstellungen von Sternbildern handeln könnte. Diese Figuren sind allerdings nur flach und sehr grob eingemeißelt. Sie verfügen nicht über denselben ästhetischen Aspekt wie jene an der vertikalen Wand. Inmitten der halb trockenen Region fiel die Wahl wohl deswegen auf diesen Standort, weil es dort eine ganzjährige Wasserquelle gab. Von fliegenden Papageien und Fußspuren Der Lajedo de Soledade ist eine flache, von Basalt durchzogene Ebene im Bundesstaat Rio Grande do Norte, die von drei etwa 4 m tiefen engen Schluchten umschlossen ist. An ihren Seitenwänden öffnen sich kleine niedrige Felsdächer, deren Böden mit Hunderten von Einritzungen sind. Auch an den Decken finden sich unzählige Felsbildnisse. In zwei Schluchten finden sich geometrische Figuren, in der dritten Schlucht Papageien, die in der Mitte eines mit Handabdrücken verzierten Raums zu fliegen scheinen. Blickt man in Südamerika von der argentinischen Pampa im Süden bis zum Bundesstaat Maranhão im Nordosten Brasiliens, so ist ein Malstil erkennbar, der sich durch die Darstellung menschlicher Fußspuren mitsamt jenen von Tieren wie Vögeln, Hirschen, Schweinen und Katzen auszeichnet. Dieser Stil hat sich am Rand der großen Binnenflüsse entwickelt, die den Rio de la Plata mit dem Amazonasbecken verbinden. Einige dieser bezaubernd schönen Felsbildnisse konnten im Rahmen von Ausgrabungen im Bundesstaat Mato Grosso do Sul auf ein Alter von etwa 7000 Jahren datiert werden. I Von fliegenden Papageien und Fußspuren Nicht nur im Inneren von Höhlen, auch unter freiem Himmel wurde, wie an diesem Beispiel in Pedra Lavrada de Ingá, fleißig verziert. 81 I Aus der Entfernung erinnert der über und über verzierte Felsen Pedra Lavrada de Ingá an eine große Schlange, die in der Landschaft liegt. 82 ### ### 83 I Menschenähnliche Gestalten im Gebirgszug Irerê, Monte Alegre. Geritzte Gesichter rund um den Amazonas I Geritzte Gesichter und Körper von menschlicher Gestalt finden sich unter anderem in Serra da Careta, Prainha. 84 Im gesamten zentralen Amazonasgebiet wie auch in Guayana finden sich am häufigsten geometrische menschenähnliche Darstellungen, die entweder den ganzen Körper oder nur den Kopf abbilden. Bei Monte Alegre erhebt sich der Pedra Pintada do Pilão. Dabei handelt es sich um einen der wenigen Orte, die im Amazonasgebiet als Unterschlupf für den Menschen geeignet sind. Archäologen machten hier Funde, die bis zu 11 200 Jahre alt sind. Auch Steinwerkzeuge und rote Pigmente wurden entdeckt, wobei die Felsbildnisse an den Wänden vermutlich jüngeren Datums sind. In der Nähe wurde eine große Felswand mit Hunderten von Figuren versehen, die vom 100 m entfernt liegenden Fuß des Hügels aus sichtbar ist. Eine andere Höhle in Prainha weist etwa 200 geritzte Gesichter auf, von denen jedes einen anderen Ausdruck hat: Manche zeigen ihre Zähne, andere machen ein glückliches Gesicht, wiederum andere scheinen besorgt usw. Darunter befinden sich vereinzelt auch Paare, und die Darstellung einer Frau zeigt einen Fötus in ihrem Bauch. Diese Form der eingeritzten Gesichter lässt sich im gesamten zentralen Amazonasgebiet finden. Meist an Stellen unter freiem Himmel, unweit von Flüssen. Ob sie einst bemalt gewesen sind, lässt sich heute jedoch nicht mehr feststellen, denn die Überschwemmungen der vergangenen Jahrtausende haben Pigmente, sofern vorhanden, weggespült. Noch immer verehren einige indigene Kulturen diese Orte, deren Figuren sie ihren Vorfahren zuschreiben. Andere betrachten dieselben Figuren als verflucht und meiden sie besonders nachts. Die zahlreichen Felsbildnisse und Ritzungen, welche die Höhlen Brasiliens zieren, erzählen eine Geschichte verschiedener regionaler Traditionen, die sich im Laufe der Jahrtausende stilistisch weiterentwickelt haben. Vielerorts ist auch die Aneinanderreihung thematischer Abfolgen zu erkennen, die sich über Jahrtausende erstrecken. Diese Zeugnisse belegen eine prähistorische Vergangenheit, die kulturell ebenso reich und komplex ist wie die historischen Epochen selbst. Ungeahnte Farbenpracht Peruaçu-Tal Formen der Vielfalt Andrei Isnardis und André Prous; übersetzt von Vicente Sampaio I Lage des Flusses São Francisco und des Peruaçu-Tals im südöstlichen Teil Brasiliens. PERNAMBUCO Recife ALAGOAS SERGIPE Sã oF ran cis co Ein langer Fluss prägt einen großen Teil dessen, was In einigen der Höhlen sind Tausende von Felsbildnissen zu finden. Nicht selten nehmen diese riesige in Brasilien sertão genannt wird: Ein weites sonnendurchflutetes Binnenland im Nordosten Brasiliens, Felswände ein, klettern geradezu an ihnen empor; an in dem das Jahr in zwei Zeiten unterteilt ist – eine der manchen Stellen bis zu 10 m hoch. Ein gleichermaßen erstaunlicher wie auch entzückender Anblick. Die Dürre und eine des Wassers. Hier sind das Meer und Malereien im Peruaçu-Tal zeichnen sich jedoch nicht die Küste so weit entfernt, dass sie nicht zu existieren scheinen. Der Name ebendieses großen Flusses ist nur durch ihre schiereMasse aus, sondern auch durch Rio de São Francisco, meist einfach nur São Francisco die Vielfalt ihrer Motive. Im Laufe der langjährigen genannt. Auf seinem Weg gen Norden mündet er im archäologischen Forschung befassten sich viele SpeÜbergangsgebiet zwischen Zentral- und Nordostbrazialisten, die verschiedene Fragen stellten und auf silien, im oberen Teil des Bundesstaates Minas Gerais unterschiedlichste Weise versuchten, diese zu beantzwischen den Städten Januária und Itacarambi, in worten, mit den Felsbildnissen. einen kleinen Fluss namens Peruaçu. Dieser ist so unscheinbar, dass man sich bei seinem Anblick kaum Formen, Farben, Kompositionen vorstellen kann, was er zu leisten vermag. Die Motivwelt ist, wie bereits erwähnt, sehr vielseitig. Der Peruaçu entspringt in einer Region mit sandEs gibt große geometrische Figuren in zwei (oder steinhaltigem Boden und stößt nach einigen Kilometern auf ein Felsmassiv aus Kalkstein. Beim Durchmehr) Farben, die von ovalen Mustern und aneinanfließen dieses Massivs formt er eine spektakuläre dergereihten Streifen bis hin zu schematischen ForLandschaft. Ursprünglich verlief der Fluss unterirdimen reichen, welche an Tiere, Menschen oder Waffen sch, wobei sein Wasser zunächst durch die Risse und Lücken des Kalksteins floss, die er bald in ZusammenPA R Á PIAUÍ arbeit mit seinen kleinen Nebenflüssen in ein Netz von Höhlen verwandelte. TOCANTINS Der Hauptstrom des Peruaçu verbreiterte sein M AT O GROSSO Höhlenbett so, dass er den Boden um mehrere DutBAHIA zend Meter absenkte und darüber eine hohe Zwischendecke hinterließ. In einer bis heute andauernden B R A S I L I E N Dynamik verwandelten und verwandeln Auflösung und Einsturz die hohe Höhle in einen Canyon mit Peruaçu-Tal Brasília steilen Wänden. Teile der Decke halten jedoch immer noch stand, und der Fluss schlängelt sich immer noch GOIÁS in einer traumhaften Umgebung, in der sich kolossale Tropfsteine, riesige Haufen von Blöcken, kristallklaMINAS GERAIS res Wasser, Fische und Bäume abwechseln, durch ESPÍRITO unterirdische Abschnitte Das Netz sekundärer WasSANTO Belo Horizonte serläufe und die Regenfälle haben zahllose neue Campo Grande Höhlen und Felsunterschlüpfe ausgehöhlt. An vielen S Ã O PA U L O dieser Orte gibt es Höhlenmalereien, die im Laufe der Campinas Rio de Janeiro Jahrtausende von jenen Menschen geschaffen wurRIO DE JANEIRO den, die hier während dieser Zeit lebten – die XakriaSão Paulo PA R A N Á bá siedeln sogar noch immer in dieser Gegend, denn 0 100 200 300km sie verstehen das Peruaçu-Tal als einen Teil ihres traditionellen Territoriums. Formen, Farben, Kompositionen Salvador Atlantischer Ozean BRASILIEN 85 I Aspekte der Karstlandschaft des Peruaçu-Tals. Links die Gruta do Janelão, der längste unterirdische Abschnitt des Flusslaufs. Rechts die Lapa de Rezar, eine archäologische Stätte mit mehr als 2000 Figuren. 86 ### ### 87 erinnern. Viele der an Menschen erinnernden Darstellungen sind zwischen 10 und 30 cm groß. Diese Figuren, die sich durch die große Variation in der mutmaßlichen Gestaltung von Körpern, Armen, Beinen und Köpfen auszeichnen, sind fast immer homogen einfarbig gefärbt. Im Gegensatz dazu sind Vögel, Hirsche oder auch Pflanzen mit 30 bis 50 cm durchgehend größer dargestellt . Hier und da finden sich auch kleine, weniger als 10 cm große Motive. Diese sind oft in trockenem Pigment gezeichnet und scheinen Gruppen von Menschen darzustellen. Zu einem geringen Teil gibt es auch kleinere Darstellungen von Tieren, die anders als ihre größeren Vertreter nicht gemalt wurden, son- 88 dern durch Entfernen von Gesteinsmaterial entstanden sind. Neben diesen gibt es im Peruaçu-Tal noch viele weitere Motive und Stile, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. I Beispiel für die Vielfalt der Höhlenmalereien und Ritzungen im Peruaçu-Tal. Zu sehen sind hier die verschiedensten Tierwesen, unter anderem Vögel. Die Frage der Chronologie Angesichts dieser Vielfalt kam es zu einer Reihe von Fragen. Wäre es möglich, anhand der wiederkehrenden Kombination von Themen, Komposition, Farben und Techniken Stile zu bestimmen? Und könnte man im Anschluss auch eine Chronologie herausarbeiten? Um dies beantworten zu können, wurden Themen, Farbgebräuche und Techniken systematisch analysiert Formen der Vielfalt folgen eingravierte Figuren, die manchmal jene aus früheren Zeiten stammenden Darstellungen überlagern. Die eingeritzten Motive finden sich immer nur über den bereits genannten geometrischen wie auch figurativen Darstellungen. Den übrigen Figurengruppen wurde in der Forschung bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was es schwierig macht, eine fundierte Übersicht über sie zu erstellen. Die Absicht dieses klassifikatorischen Ansatzes bestand darin, die große Vielfalt in Kategorien zu ordnen, die es uns erlauben, die Gemälde als Sets zu behandeln, um weitere Analysen durchzuführen und auch Vergleiche mit Höhlenmalereien und Gravuren aus anderen brasilianischen Regionen zu ziehen. Außerdem deutet die Einheitlichkeit der Motive eines jeden Sets darauf hin, dass die Urheber der Figuren ein gemeinsames Repertoire und kollektive Präferenzen teilten. Die Stile scheinen also je auf verschiedene Grupen hinzudeuten. Da diese Stile immer miteinander in Verbindung stehen, kann man davon ausgehen, dass sie sich zeitlich überschneiden. Auch wenn wir nicht in der Lage sind, diese Zeitspanne zu beziffern, denn eine absolute Datierung der Felsbildnisse und/oder Ritzungen ist in Peruaçu kaum möglich. Dabei gibt es verlässliche Hinweise darauf, dass einige der Felsbildnisse vor mindestens 8000 Jahren entstanden sind, als auch darauf, dass die jüngsten Stile vermutlich jünger als 2800 Jahre alt sind. Dennoch bleibt eine zeitliche Einordnung der Stile problematisch, weil es nur sehr wenig Anhaltspunkte gibt, was das Einordnen in eine messbare Zeit in Jahreszahlen unmöglich macht. Außerdem verfügen wir über keine weiteren Materialien, die einen der Stile direkt mit archäologischen Objekten aus den 14 000 Jahren menschlicher Besiedlung des Peruaçu-Tals in Verbindung bringen. und miteinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise ließen sich dann verschiedene Stile erkennen und die Beobachtung der zahlreichen Überschneidungen von Figuren im ganzen Peruaçu-Tal ermöglichte letztlich, Theorien über ihre Abfolge zu formulieren sowie eine Chronologie aufzustellen. Demzufolge bestehen die ältesten Felsbildnisse aus geometrischen Figuren, die meist in zwei oder mehr Farben, manchmal auch einfarbig, dargestellt sind. Darüber befinden sich in den meisten Fällen Darstellungen von Menschen, die in einer späteren Zeit aufgebracht wurden. Über diesen beiden ersten Motivgruppen sind in der Regel Darstellungen von einfarbigen Tieren und Pflanzen zu finden. Darauf Die Frage der Chronologie 89 Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass eine solche Klassifikation durch Stile eine moderne Schöpfung ist. Die darin gesammelten Informationen sind von der zeitgenössischen Sichtweise geprägt. So stellen solche wissenschaftlich erarbeiteten Stile in gewisser Weise ein schiefes oder selbst irreführendes Bild der prähistorischen Menschen vor, da wir heute von den kulturellen Kontexten, in denen die Urheber der Darstellungen lebten, durch eine kaum zu überwindende Kluft getrennt sind. Darüber hinaus gehören Irrtümer zu jeder Forschungsarbeit, ebenso wie Missverständnisse gegenüber Tatsachen, die sich nicht konsequent beschreiben lassen. Das ist weder ein Problem noch ein Fehler, sondern ein positives Merkmal der Wissensproduktion: Sie ist immer im Prozess. Die für eine Klassifikation der Felskunst im Peruaçu-Tal erarbeiteten Stilrichtungen sind also – wie alle andere wissenschaftlichen Begriffe – unvollständig und vorläufig. 90 I Neben menschen- und tierartigen Motiven findet sich auch eine Vielzahl geometrischer Figuren. Wo wurde was gemalt? Die Größe und Form der Felsdächer und Höhlen im Peruaçu-Tal sind sehr unterschiedlich. Unter den Orten, die die frühen Menschen für ihre Malereien und Ritzungen auswählten, gibt es riesige, mehr als 100 m lange und Dutzende von Metern hohe Höhlen, mit weiten und gleichmäßigen Sedimentböden und breiten senkrechten Wänden. Ebenso kommen 20 bis 30 m lange Höhlen mit unregelmäßigen, aus Blöcken geformten Böden und abgestuften Wänden vor. Da nicht alle Stile in allen bemalten Stätten vorkommen, stellte sich uns die Frage, ob es bei der Auswahl der zu bemalenden Flächen unterschiedliche Muster gibt. Auf diese Frage fanden wir bemerkenswerte Antworten. Die Urheber der ältesten Darstellungen waren in dieser frühen Phase der brasilianischen Felsbildnisse überaus wählerisch, was die Standorte, aber auch Räume innerhalb der Höhlen angeht, in denen die Motive angebracht werden sollten. Nur Höhlen mit einem Formen der Vielfalt ebenen Sedimentboden und breiten vertikalen Wänden wurden bemalt. Unter den über 80 Stätten mit Felsbildnissen aus Peruaçu weisen weniger als zehn diese älteste Form auf. Die bemalten Flächen können sich durchaus in Höhen von 10 m oder 15 m erstrecken. Dies lässt vermuten, dass Gerüste errichtet werden mussten, um die Malereien überhaupt anfertigen zu können. Hinter diesem aufwendigen Verfahren stand vermutlich die Absicht, hoch oben zu malen, damit die Felsbildnisse besonders gut sichtbar waren. Die Darstellungen von Menschen nehmen an den Felswänden zwar den Raum zwischen den großen älteren geometrischen Figuren ein, dominieren diese aber nicht. Überschneidungen werden vermieden und kommen nur in wenigen Fällen vor. Trotzdem förderte dieser Stil eine Transformation der Landschaft des Peruaçu-Tals, da seine Figuren zum ersten Mal an vielen Orten gleichzeitig auftauchen, deren Morphologie sich stark von denen unterscheidet, die für die früheren geometrischen Bildnisse gewählt wurden. Die Zahl der bemalten Höhlen nimmt deutlich zu und umfasst nun sowohl kleine Höhlen mit felsigen Böden als auch tiefe Unterstände mit gestuften Wänden, schrägen Böden und Felswänden. Bei diesem Stil werden oft bruchstückartige und kleine Flächen von schlechter Sichtbarkeit genutzt. Manchmal muss man sich unter niedrige Decken kauern, um die Malereien zu sehen. In der Folge scheinen sich die geometrischen Motive des älteren Stils noch mal ausgebreitet zu haben. Mancherorts reichen diese nun auch in jene entfernten Ecken, die bislang nur mit Darstellungen von Menschen versehen worden waren. Somit wurden die Auswahlkriterien des Standortes für die geometrischen Motive gewissermaßen aufgehoben, und die Wo wurde was gemalt? Urheber scheinen mehr daran interessiert gewesen zu sein, bereits bemalte Stellen, Orte und Räume erneut zu bemalen, aber auch kleine vertikale Flächen zu nutzen. Die einfarbigen Darstellungen von Tieren und Pflanzen wiederum sind ausnahmslos in bereits bemalten Höhlen zu finden, wobei nicht alle der mit älteren Stilen versehenen Höhlen auch über den neuen verfügen. Alle hierfür ausgewählten Standorte haben entweder breite senkrechte Felswände oder aber gleichmäßig flache Decken. Die dichte Konzentration der Figuren, ohne Rücksicht auf bereits vorhandene Malereien, sowie die ausgeprägte thematische Auswahl für jede Höhle, sind bezeichnend für diesen Stil. Im Gegensatz zu den Felsmalereien, scheinen bei der Auswahl des perfekten Ortes für die Ritzungen weder die Morphologie noch die Einbettung in die Landschaft eine besondere Rolle gespielt zu haben. Hier zählt vor allem die Glätte der Fläche. Möglichst niedrig und vor allem glatt oder poliert sollte diese sein, zudem vom Boden aus stehend erreichbar. Mancherorts gibt es eine unermessliche Dichte an Ritzungen, deren Anzahl in gewissen Teilbereichen mehrere Hundert Stück zählt. Anderenorts sind solcherlei Ritzungen wiederum nur in geringer Zahl vorhanden, meist an Orten, die bereits intensiv mit Malereien belegt sind. Zur erneuten Transformation der Landschaft des Peruaçu-Tals führt der Stil mit den kleinen Figuren. Diese sind fast in allen Höhlen zu finden, in denen auch die übrigen Stile vertreten sind. Entweder verteilen sie sich zwischen den anderen Figuren oder sie überlappen diese regelrecht. Manchmal sitzen sie auch am Rand oder in abgeschälten Flächen. Auch in einer beträchtlichen Anzahl kleiner Höhlen findet I Mit Tieren verzierte Felswand an der Fundstelle Piolho de Urubu. 91 I sich nun der Stil mit den kleinen Figuren, häufig in den engen Terrassen am Fuße einer Hauptschlucht bzw. nahe am Fluss. Die kleinen Figuren treten in einer Häufigkeit auf, durch die die bisher von den anderen Stilen fast unbesetzten Stätten im Nu über mehrere Dutzend oder sogar mehrere Hundert Felsbildnisse verfügen. Allerdings lassen sich Muster in der Morphologie oder in der Einbettung solcher Stätten in die Landschaft nicht feststellen. Übermalung bereits verzierter Wände Die Bemalung oder Einritzung neuer Figuren auf bereits bemalten Wänden ist ein häufiges Phänomen im Peruaçu-Tal, eine Praxis, die sich durch alle schon klassifizierten Stile zieht. Bei solcher Wiederbesetzung der Wandräume ist die Variation in den Verfahrensweisen besonders bemerkenswert. Die eindrucksvollsten Fälle gehören zu den beiden ältesten Stilen, dem geometrischen und dem darauffolgenden mit Darstellungen von Menschen. Selbst dort, wo ausreichend Platz zur Verfügung stand, folgen die menschenartigen Figuren der Struktur der bereits vorhandenen geometrischen Kompositionen, wodurch sich diese verdichten. So verbinden sich die neuen Bilder systematisch mit den alten: Neben bereits gemalten Figuren werden oft sehr ähnliche Motive angebracht. Ebenfalls auffallend ist bei den ältesten beiden Stilen, dass in beiden Fällen mehrere komplexe geometrische Figuren, die aus einem Grundrepertoire von einfachen Formen zusammengesetzt sind, so geschaffen werden, dass sie in den verfügbaren Raum zwischen alten Figuren passen oder sich sorgfältig an ihnen orientieren. Es gibt auch Übermalungen, die die bereits auf den Wänden vorhandenen Figuren partiell oder vollständig überdecken. Betrachtet man die verschiedenen Farbpigmente, wird deutlich, dass immer diesel- 92 Motive im nordöstlichen Stil, in einem kleinen ummauerten Unterstand, der Lapa do Limoeiro. ben zur Anfertigung neuer Figuren verwendet wurden. Dies lässt vermuten, dass der Bezug zu früheren Malereien ein wichtiges Element bei der Komposition neuer Figuren war, das einen bedeutenden Einfluss darauf hatte, wo, was und wie man malen sollte. Bezieht man die Denkweisen indigener Gruppen mit ein, welche uns durch die Ethnologie vertraut sind, lassen sich ihre äußerst vielschichtigen Weltbilder erkennen. Sie bestehen aus Menschen, Tieren, Pflanzen, übernatürlichen Wesen und unzähligen Dingen, die allesamt miteinander verwoben sind und die von den indigenen Gruppen außerordentliche Wertschätzung erfahren. Hierzu sind unzählige Studien erschienen, unter anderem von Ethnologen wie Eduardo Viveiros de Castro, Tânia Stolze Lima und Phillipe Descola. Dieses Geflecht von Beziehungen ist in hohem Maße kennzeichnend für das Dasein, einschließlich des menschlichen Wesens, dessen Verwirklichung nur mithilfe von zwischenmenschlichen Verbindungen und anderen Lebewesen möglich ist. Darüber hinaus wird der Zustand des (menschlichen odernicht menschlichen) Wesens in der Welt dadurch bestimmt, wie er Beziehungen eingeht. Abgesehen von den unterschiedlichen Ausprägungen dieses »Konzepts«, lässt sich eine sehr große geografische wie auch ethnosprachliche Verbreitung beobachten: von den Guyanas bis nach Südbrasilien, Paraguay und das argentinische Tiefland; vom Nordosten Brasiliens bis zu den Landesgrenzen zwischen Brasilien, Bolivien und Peru. Die starke Verbindung zwischen jenen Menschen, die neue Felsbildnisse schufen, und den bereits vorhandenen Wandmalereien steht in engem Zusammenhang mit dem »Konzept« der indigenen Weltbilder. Mit der Beziehung zwischen der indigenen und unserer Wahrnehmung können wir auf unterschiedliche Weise umgehen. Formen der Vielfalt Zum einen können wir indigene Ansätze nutzen, um das von uns Wahrgenommene auf Felsbildnissen zu erklären. Andererseits lässt sich die Theorie aufstellen, dass unter den Menschen prähistorischer Zeiten gewisse Denkmuster existierten, die eine große zeitliche Tiefe aufweisen, welche mit der weiten geografischen Verbreitung einiger der Motive übereinstimmt. Darüber hinaus scheinen auch weitere indigene Ansätze vielversprechend für das Verständnis der brasilianischen Felsbildnisse zu sein, weshalb wir eine Studie zum Dialog zwischen Ethnologie und indigenen Ansätzen ins Leben gerufen haben. Geografisch liegt der Schwerpunkt dieser Forschungen bislang in jenen Regionen, mit denen wir uns auch befasst haben und in denen die Felsmalereien sehr bildgewaltig sind und regionale Besonderheiten aufweisen. Andere Region, andere Sitten Etwa 100 km nördlich des Peruaçu-Tals liegt die Region Montalvânia. Sie zeichnet sich ebenfalls durch Felsmassive aus Kalkstein und unzählige Fundstellen mit Felsbildnissen aus. Im Vergleich zu den Felsmalereien des Peruaçu-Tals ist hier stilistisch gesehen allerdings ein deutlicher Unterschied zu beobachten. Zum einen finden sich hier vorrangig Ritzungen, zum anderen sind die Darstellungen des ältesten geometrischen Stils hier deutlich weniger vertreten. Besonders auffällig ist hingegen die starke Präsenz menschlicher Figuren, die auf horizontalen Flächen nahe am Boden oder aber in niedrigen waagerechten Arealen angebracht sind. Auch thematisch lassen sich im Vergleich zu den Felsbildnissen im Peruaçu-Tal Unterschiede erkennen. Beispielsweise sind Darstellungen, die an Fußabdrücke oder aber an Waffen erinnern, deutlich stärker vertreten. Zudem nehmen sowohl die thematischen Kombinationen als auch der Variationsreichtum in Montalvânia, insbesondere die Darstellungen menschlicher Figuren betreffend, enorme Dimensionen an, die in die Tausende gehen. Letztlich macht erst der Vergleich der Felskunst der beiden Regionen, Peruaçu-Tal und Montalvânia, wirklich deutlich, von welch unsagbarem Reichtum hier tatsächlich die Rede ist – sei es nun thematisch, die Technik oder aber die Vielfalt der Motive betreffend. Abschließend sei gesagt, dass es uns hoffentlich gelungen ist, einige der bemerkenswert reichhaltigen und vielfältigen Facetten der Felskunst des PeruaçuTals aufzuzeigen. Denn es handelt sich um einen archäologischen Schatz, der sich gegenwärtig erst durch den Dialog zwischen der Forschung und den indigenen Gruppen in seiner Gänze enthüllt. Er macht deutlich, dass die gegenwärtigen Kulturen in ihrer Vielfalt auf jahrtausendealte Traditionen zurückgreifen. Hierfür sind die aktuell 150 gesprochenen Sprachen nur eines von vielen Beispielen. Mit anderen Worten: Die Vielfalt im Peruaçu-Tal zeigt unmissverständlich die reichhaltige, kontinuierliche und sich immerzu erneuernde Entfaltung der indigenen Gruppen Südamerikas und die Zusammenhänge, die wir archäologisch fassen, sind untrennbar verbunden mit ebendieser bezaubernden Vielfalt. I Andere Region, andere Sitten Gravuren aus der Region Montalvânia, in der Lapa von Posseidon. 93