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Besier, Gerhard: Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert

2016

Sprechen wir sogleich vom Titel des Buches: Verspricht er nicht mehr, als er hält? Dabei meine ich nicht die Tatsache, daß die vorgenommene Zentrierung auf die deutsche Geschichte gar nicht erst angezeigt wird. Sie ergibt sich ja schließlich aus dem Namen jener Reihe, zu der dieser Band gehört. Nein, nicht auf den Raum, sondern auf die Zeit, den Zeitraum, bezieht sich das womöglich größere Versprechen des Titels. Läßt er nicht erwarten, daß hier hundert Jahre in den Blick genommen werden, während es in Wirklichkeit nur knapp siebzig sind? Weder werden die letzten zehn Jahre des alten Millenniums dargestellt, noch die ersten zwanzig Jahre des damals jungen Säkulums erwähnt. Die Darstellung beginnt vielmehr mit dem Jahr 1919/20 und endet mit dem Blick auf die Ereignisse um 1989/90. Weitschweifige Erklärungen für diese durchaus sinnvolle Begrenzung erübrigen sich; und doch verrät sie etwas von der dominierenden Perspektive des Autors, mit der dieser das gesellschaftliche Ganze des besagten Raumes zu strukturieren sucht. Gerhard Besier, Professor für historische Theologie und Konfessionskunde an der theologischen

Besier, Gerhard: Kirche, Politik und Gesellschaft im 20.Jahrhundert. Oldenbourg Verlag, München 2000,184 + XIV S. (Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 56). Sprechen wir sogleich vom Titel des Buches: Verspricht er nicht mehr, als er hält? Dabei meine ich nicht die Tatsache, daß die vorgenommene Zentrierung auf die deutsche Geschichte gar nicht erst angezeigt wird. Sie ergibt sich ja schließlich aus dem Namen jener Reihe, zu der dieser Band gehört. Nein, nicht auf den Raum, sondern auf die Zeit, den Zeitraum, bezieht sich das womöglich größere Versprechen des Titels. Läßt er nicht erwarten, daß hier hundert Jahre in den Blick genommen werden, während es in Wirklichkeit nur knapp siebzig sind? Weder werden die letzten zehn Jahre des alten Millenniums dargestellt, noch die ersten zwanzig Jahre des damals jungen Säkulums erwähnt. Die Darstellung beginnt vielmehr mit dem Jahr 1919/20 und endet mit dem Blick auf die Ereignisse um 1989/90. Weitschweifige Erklärungen für diese durchaus sinnvolle Begrenzung erübrigen sich; und doch verrät sie etwas von der dominierenden Perspektive des Autors, mit der dieser das gesellschaftliche Ganze des besagten Raumes zu strukturieren sucht. Gerhard Besier, Professor für historische Theologie und Konfessionskunde an der theologischen Neue Literatur 465 Fakultät der Universität Heidelberg, nimmt vornehmlich den politischen, nicht den religiös-kirchlichen Prozeß als Strukturmoment wahr; zwar ohne nähere Begründung, aber doch zu Recht; denn jener ist der kleinschrittigere und damit historiographisch der praktikablere. Fassen wir die politischen Perioden deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts ins Auge, so lassen sich - übrigens in merkwürdiger Parallele zum 19. Jahrhundert - vier Einschnitte feststellen; und zwar in den Jahren 1914/19, 1933, 1945/49 und 1989/90. Und genau diese Einschnitte im 20. Jahrhundert sind es, die dem Verfasser das geeignete Gliederungsschema für seine Darstellung bieten. Besier geht in drei Schritten vor: Zu Beginn bietet er einen „enzyklopädischen Überblick" über die Zeit von 1918 bis 1990, geht sodann auf „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung" ein und liefert abschließend ein informatives, 486 Titel umfassendes, 1999 abgeschlossenes Quellen- und Literaturverzeichnis. Im Abschnitt „Enzyklopädischer Überblick" werden vier Themenfelder betrachtet, die jenen oben angedeuteten politischen Perioden entsprechen. Erstens: „Der Weimarer Staat und die Volkskirchen (1919-1933)". Hier wird mit wenigen Strichen die „Revolution von 1918/19 und der Weg von der Staats- zur Volkskirche" skizziert, werden „protestantische Lebenswelten", der Deutsche Evangelische Kirchenbund sowie Kirchenverträge und Konkordate benannt und kommt der „Katholizismus zu Beginn der Weimarer Zeit" zu Wort. Überdies skizziert der Verfasser wichtige Stationen und Personen der damaligen evangelisch-theologischen Theologie, umreißt Karl Barths wegweisenden theologischen Ansatz, vergißt nicht, auf Adolf von Harnack einzugehen, erwähnt auch die Schule Karl Holls und den systematischen Neuansatz von Dietrich Boenhoeffer, um schließlich auf die „Theologie der evangelischen Ökumene zwischen 1918 und 1933" zu rekurrieren. Schon dieses erste Kapitel zeigt, wo Besier die Akzente setzt: nicht so sehr auf Darstellung und Analyse der katholischen Position, sondern der evangelischen Perspektiven. Im zweiten Kapitel wird die Zeit von 1933 bis 1945/49 in den Blick genommen. Dabei wird nüchtern konstatiert und kritisch reflektiert, daß und warum „nicht wenige Protestanten" (S. 22) sich zunächst von den Nationalsozialisten angesprochen fühlten und es sogar zu der Gründung der „Deutschen Christen (Nationalsozialisten)" kommen konnte, die Katholiken aber von vornherein der NS-Ideologie „distanziert bis ablehnend" gegenüberstanden und jedes „Engagement der Gläubigen in der Partei" mißbilligten (S. 22 f.). Sodann werden die Versuche der evangelischen Christen beschrieben, sich dem seit der „Machtergreifung" massiv in Gang geratenen Prozeß der „Gleichschaltung" zu widersetzen, „die falsche Lehre" der anderen „Herren" und „Führer" zu verwerfen (Barmer Bekenntnissynode von 1934) und, die Bekennende Kirche fundierend, ihren gemeinsamen Glauben an Jesus Christus zu bekunden. Die NS-Politik indes stufte die Kirchen zu religiösen Gesellschaften im Sinne von Vereinen herab, traf zahlreiche Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung und suchte auf dem Wege der Sondergesetzgebung die Kirchen immer mehr zu marginalisieren und schließlich endgültig zu liquidieren. Tatsächlich waren während des Zweiten Weltkrieges die Kirchen bereits so weit geschwächt, daß z.B. gegen das „Euthanasieprogramm" des NS-Staates nur der katholische Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, öffentlich zu protestieren wagte. Am 466 Bohemia Band 41 (2000) 3. August 1941 nannte er von der Kanzel herab die Verbrechen beim Namen und stellte offiziell Strafanzeige wegen Mordes. Im dritten Kapitel nimmt der Autor schließlich die Zeit von 1945/49 bis 1989/90 ins Visier. Er blickt zunächst auf die „Kirchen in der Bundesrepublik" und - im vierten Kapitel - auf die „in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik". Wieder liegt das Augenmerk des Verfassers eindeutig auf dem Protestantismus. Lediglich en passant werden jene katholischen Kräfte genannt, die an der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, in der „Ära Adenauer" und darüber hinaus maßgeblich an der politischen Gestaltung beteiligt waren, und zwar in einem Maße, das immerhin einen Martin Niemöller zu der süffisanten Sentenz provozierte, die Bonner Republik sei „in Rom gezeugt und in Washington geboren" worden. Auch die Einschätzung der Rezeptionsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils in Deutschland, die katholisch-theologische Entwicklung an den Universitäten und Akademien und „philosophisch-theologischen Seminaren" (z.B. in Erfurt), überhaupt das christlich-katholische Leben in den Gemeinden vor Ort, die Orden, Kongregationen, die Säkularinstitute und die zahlreichen, möglicherweise besonders zukunftsträchtigen neuen geistlichen Bewegungen („novi movimenti spirituali", Ratzinger) in der Bundesrepublik wie auch in der D D R verdienten ein differenzierteres Urteil (S. 43 f.; S. 57 f.) bzw. überhaupt erwähnt zu werden. Innerhalb der „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung" bildet ein solider historiographischer Überblick das erste Kapitel. Die dort angeführte und kurz vorgestellte Literatur zu den viermal markierten politischen Abläufen ist sorgfältig gewählt. N u r die wirklich grundlegenden Werke werden genannt. Das zweite Kapitel, überschrieben mit „Probleme, Arbeitsschwerpunkte und Desiderate", gliedert sich in neun Abschnitte, die jeweils aktuelle Frage- und Forschungsfelder benennen und dabei wiederum vor allem den Protestantismus im Auge haben: Angefangen bei den gegenwärtigen Kontroversen in der kirchengeschichtlichen Forschungsarbeit, über die Frage nach der kritischen Einschätzung des Wiederauflebens von (Auto)-Biographien und der noch entwicklungsfähigen „Oral History", der aktuellen Einschätzung der Barmer Theologischen Erklärung, der „Geschichte der Diakonie", des Verhältnisses von „Kirche und Judentum", der Geschichte der „Freikirchen und der ökumenischen Bewegungen", bis hin zu den spezifischen Fragestellungen quantitativer Geschichtsforschung, der Frage auch nach der „Religion in den Medien" und den „politischen Religionen", den „Zivilreligionen" und den „neuen religiösen Bewegungen" in Deutschland von 1918 bis 1998. Damit kann die eingangs gestellte Frage beantwortet werden: Der Titel hält durchaus, was er verspricht. Auf knappstem Raum wird kompetent und konzentriert über „Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert" informiert. Hilfreich auch, daß am Rand eines jeden Absatzes sein Inhalt stichwortartig wiedergegeben wird. Das erleichtert die Orientierung, die zum Schluß noch einmal dank des sorgfältig gearbeiteten Registers gesichert wird. Das Buch provoziert überdies zum Nachdenken, mitunter gar zum Widerspruch. So scheint mir die Frage nach der aktuellen und künftigen Bedeutung von Religiosität in Deutschland nicht durch Umfragen 467 Neue Literatur allein beantwortet werden zu können (S. 122 f.). Gerade der Historiker hat doch noch ganz andere Möglichkeiten kritischer Beurteilung zur Hand. So darf er schließlich daran erinnern, was eingangs schon angedeutet wurde: Politische Abläufe gehören zu den kurzfristigsten Wellen innerhalb der gesellschaftlichen Prozesse. Im Hinblick auf Deutschland im 20. Jahrhundert zählte die längste politische Periode vierzig, die kürzeste zehn Jahre. Religionen und Kirchen indes überdauern Jahrhunderte und Jahrtausende. Sie liefern uns die längsten Wellen in der Menschheitsgeschichte und vermögen Gesellschaftssysteme, Staaten und selbst Völker zu überleben. Doch die­ ses und andere Bedenken schmälern den Wert des vorliegenden Werkes keineswegs. Insgesamt gelingt Besier mit diesem Buch genau das, was die von Lothar Gall her­ ausgegebene renommierte Reihe beabsichtigt: „ein Arbeitsinstrument" zu bieten, mit dem sich jeder Interessierte nicht nur rasch und zuverlässig über den neuesten Stand der Forschung informieren, sondern auch zu eigenen Fragen, Ergänzungen und Einwänden anregen lassen kann. Essen Manfred Gerwing