FALSCHE SICHERHEITEN. GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN AUTORITÄREN REGIMEN
Neoliberalismus, Staat und Gender in der
Türkei
RENATE KREILE
Einleitung
Wissenschaftliche und politische Auseinandersetzungen um Staat, Gender und Frauenrechte in der Türkei folgen seit Jahren den identitätspolitischen Konfliktlinien (vgl.
Kramer 2009), die die Diskurse in der türkischen Gesellschaft weithin prägen. Sie kreisen vorrangig um säkular-religiöse Spaltungen (vgl. Toprak 2009a) und die politische
Bedeutung religiöser Symbolik wie etwa des Kopftuchs (vgl. Kreile 2004). Damit
verknüpft wird debattiert, wie die Politik der Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP) (zu
deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) seit ihrer Regierungsübernahme
2002 im Hinblick auf demokratische Transformationsprozesse im allgemeinen und
Frauenrechte im besonderen einzuschätzen sei. Während manche BeobachterInnen
primär politische Öffnung und Demokratisierung wahrnehmen (vgl. Seufert 2010),
sehen andere eine Zunahme autoritärer Tendenzen (vgl. Öktem 2011). Stellvertretend
für viele konstatiert Yeşim Arat (2009, 3) besorgt ein „demokratisches Paradox, wo
die Ausweitung religiöser Freiheiten mit einer Bedrohung der Geschlechtergleichheit einhergeht“. Indem die AKP seit ihrer Machtübernahme wichtige Ämter in Staat,
Verwaltung und Bildungsinstitutionen mit religiösen Parteigängern besetze, würden
zunehmend konservative patriarchale Geschlechternormen politisch legitimiert (Arat
2009, 14). Empirische Studien, die auf eine „wachsende Welle des Konservatismus“
(Çarkoğlu/Kalaycioğlu 2009) und auf zunehmend intoleranten „Nachbarschaftsdruck“1
gegenüber alternativen Lebensformen und sexuellen, religiösen und ethnischen Minderheiten verweisen, sind in ihrer Reichweite wissenschaftlich und politisch umstritten
und spiegeln nicht zuletzt die Besorgnisse relevanter Teile der türkischen Frauenbewegung wider (Toprak 2009b). Andere Studien weisen darauf hin, dass mit der AKP durch
weitreichende Reformen im Zivil- und Strafrecht eine „post-patriarchale“ Gesetzgebung verabschiedet worden sei (vgl. European Stability Initiative (ESI) 2007).
Weit weniger thematisiert werden ökonomische und soziale Prozesse, die die strukturellen Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Grenzen für politische Transformationen und genderpolitische Dynamiken schaffen und dazu beitragen, dass
bzw. inwieweit Frauen legale Rechte wahrnehmen und eigene Lebensentwürfe
verwirklichen können. Wenn man Themen, die Gender und Frauen betreffen, nur
durch die vertraute Brille binärer Kategorisierungen wie Säkularismus versus Islam,
Demokratisierung versus Autoritarismus und Moderne versus alternative Moderne
betrachte, schränke dies die Sicht unnötig ein, bemerkt Deniz Kandiyoti (vgl. 2010,
173) kritisch. Um die genderpolitische Dynamik in der Türkei in ihrem alltagsweltlichen Rahmen angemessener zu verstehen, scheint es unverzichtbar, ihre Artikulation mit der sozialen Frage in den Blick zu nehmen. Themen wie Kopftuch, religiöse
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Schulen oder Alkohol-Konsum werden leidenschaftlich diskutiert, aber existenziell dringliche Probleme wie Armut, Ungleichheit und sozialer Ausschluss bleiben
merkwürdig unterbelichtet (vgl. Eder 2009, 241). Es ist nicht zuletzt das Verdienst
von ForscherInnen des Social Policy Forum der Istanbuler Bosporus Universität,
dass diese Fragen, die für die demokratische und genderpolitische Entwicklung zentral sind, in jüngster Zeit vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit finden (vgl.
bspw. Buğra/Keyder 2003, 2006; New Perspectives on Turkey (NPT) 2008; Eder
2009; Göçmen-Yeginoğlu 2011; außerdem Ayata 2010).
In der Fokussierung auf identitätspolitische Fragen treffen sich spezifische Züge
der Interaktion von Staat und Gesellschaft, die historisch im kemalistischen Erbe
verwurzelt sind (vgl. Karadag 2010a, 98ff.) mit einer Akzentverschiebung in der
globalen Frauenbewegung von der „Umverteilung zur Anerkennung“, die dazu
führte, sozialökonomische Kämpfe solchen um Anerkennung unterzuordnen (vgl.
Fraser 2009, 50). In einem kritischen Blick auf Frauenbewegungen weltweit weist
Gita Sen (2005) darauf hin, dass Bewegungen, die sich für Gender-Gerechtigkeit
einsetzen, seit dem Aufstieg neoliberaler Politik das Feld der sozialen Gerechtigkeit
vernachlässigt und genderpolitisch konservativen sozialen Bewegungen überlassen
hätten. Andere Theoretikerinnen machen gar auf irritierende Konvergenzen von neoliberalen Leitbildern und feministischen Idealen aufmerksam (vgl. Fraser 2009;
Wichterich 2010).2 So propagieren etwa die Global-Gender-Gap-Berichte des Weltwirtschaftsforums die Integration von Frauen in die globalisierten Arbeitsmärkte als
freie und gleiche Marktsubjekte. Weit entfernt von Vorstellungen einer umfassenden
Gleichstellung besteht eine wesentliche Zielsetzung darin, das Human- und Sozialkapital von Frauen im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der Nationalökonomien
nutzbar zu machen. Die Türkei rangiert hier auf einem der hinteren Plätze.3
Zur neoliberalen Agenda gehört der sozialpolitische Rückzug des Staates, der das
Feld sozialer Sicherung (wieder) vermehrt familiären, lokalen und religiösen Gemeinschaften, sowie zivilgesellschaftlichen faith-based organizations (Tadros 2010)
überlässt, die religiösen Institutionen, seien es Kirchen oder Moscheen, nahestehen
und oftmals patriarchale Gendernormen propagieren.
In der Türkei wie anderswo koexistieren, konfligieren und verflechten sich heute genderpolitische Diskurse, Normierungen und Reglementierungen globaler, regionaler
und lokaler Provenienz, die oftmals widersprüchliche Effekte und bisweilen unintendierte Nebenfolgen hinsichtlich eines Empowerments von Frauen haben. So wurden unter dem Druck der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union (EU) und
durch die unermüdliche Lobby-Arbeit der international gut vernetzten türkischen
Frauenbewegung Frauenrechte in legaler Hinsicht zwar befördert; gleichzeitig aber
erodieren insbesondere durch neoliberale Anforderungen an EU-Beitrittskandidaten
die strukturellen Möglichkeiten für Frauen, Rechte wahrzunehmen (Arat, 2010;
Wöhl 2009, 147).
Im Folgenden möchte ich in historischer und struktureller Perspektive prägende
Phasen der genderpolitischen Entwicklung in der Türkei beleuchten, die je unter-
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schiedliche Konfigurationen und Interaktionen von Staat, Gesellschaft/Gemeinschaften und Frauenbewegungen widerspiegeln. Knapp eingegangen wird auf die
Ära des Staatsfeminismus, in der der autoritäre kemalistische Staat zwar „von oben“
Frauenrechte gewährt, aber gleichzeitig autonome Frauenbewegungen blockiert hat.
Beleuchtet wird die neoliberale Reformphase, in der die aufsteigende Gegenelite
aus dem islamischen Milieu, repräsentiert durch die AKP, im Zuge einer politischen
Öffnung und im Einklang mit EU-Governance-Strukturen die Rechtsstellung von
Frauen deutlich verbesserte. Skizziert werden schließlich Überlegungen zu einer
„autoritären Wende“ (Yilmaz 2011, 2) der AKP nach ihrer erfolgreichen Integration
ins türkische Elitenkartell (Parteieliten, Wirtschaftseliten und Militärbürokratie), die
mit einer neuerlichen Schließung des politischen Systems gegenüber zivilgesellschaftlichen Partizipationsansprüchen einherzugehen scheint (vgl. Pawelka 2008).
Im Hinblick auf die genderpolitischen Auswirkungen möchte ich insbesondere analysieren, wie die AKP ihre neoliberale Wirtschaftspolitik mit einer konservativen
Sozial- und Moralpolitik, einem islamisch gefärbten „compassionate conservatism“
(Göçmen-Yeginoğlu 2011, 1), sozial „abfedert“. Im Vordergrund steht dabei die
Tendenz, staatliche Sozialausgaben im Einklang mit den neoliberalen Vorgaben von
IWF und Weltbank zu reduzieren bzw. zu vermeiden und Familie und islamische
NGOs zur sozialen Absicherung zu mobilisieren.
Theorieorientierte Überlegungen: Politischer Kapitalismus, Patronage,
Patriarchat
Die strukturelle Persistenz illiberaler, demokratisch-defizitärer Züge im politischen
System der Türkei erklärt sich wesentlich aus der Herausbildung eines politischen
bzw. oligarchischen Kapitalismus, die zu einer historisch-soziologisch pfadspezifischen engen Verquickung von politischer und wirtschaftlicher Macht und zu fortdauernden Funktionsmängeln der formell demokratischen Institutionen geführt hat
(vgl. Karadag 2010a).4 Solange staatliche Institutionen nicht durch wirksame „checks
and balances“ und ausgeprägte Rechtsstaatlichkeit abgesichert sind und sofern sie
nicht als vertrauenswürdig, d. h. unparteiisch, fair und stabil, wahrgenommen werden, erscheint es sinnvoll, „in personalisierte, informelle Vertrauensbeziehungen zu
investieren“ (Karadag 2010c, 86). Diese spezifischen Züge des politischen Kapitalismus befördern systemisch Patronage-Beziehungen und weisen somit eine besondere Affinität zu den neoliberal favorisierten Modellen sozialer Absicherung durch
familiäre oder religiöse Gemeinschaften auf. Sie begünstigen vertikale gegenüber
horizontalen Loyalitäten und sind für patriarchale Strukturen besonders anschlussfähig. Klientelistische Formen der Absicherung sind dabei keineswegs als traditionelle
Überbleibsel oder kulturelle Besonderheiten zu betrachten, sondern stellen alternative moderne Formen der sozialen Sicherung im Kontext chronischer Unsicherheitsstrukturen dar. Nicht zuletzt im Rahmen zunehmender sozialer und politischer
Verteilungskämpfe unter neoliberalen Bedingungen dürften sie an Bedeutung noch
zunehmen (vgl. Karadag 2007, 256ff; vgl. White 2002, 73f; Kreile 2008, 238).
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Die mehrfach determinierte kommunitaristisch orientierte politische Stärkung der
familiären, lokalen und religiös-zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften begünstigt
eine patriarchale gesellschaftliche Re-Strukturierung und ein modifiziertes Update
konservativer Geschlechternormen (vgl. Tadros 2010; Turam 2007, 60ff; Kreile
2008).
Autoritärer Staatsfeminismus und Nationbuilding
Nach der Erringung der Unabhängigkeit stellte die Frauenfrage ein wichtiges Instrument für den Prozess des Nationbuilding in der neuen türkischen Republik dar. Im
Zuge einer radikalen „Modernisierung von oben“ verfügte Mustafa Kemal Atatürk
1924 eine weitreichende Säkularisierung der politischen Institutionen. Entmachtet
wurden zentrale Bastionen des alten Regimes; die religiösen Orden und Bruderschaften wurden verboten, blieben jedoch im Untergrund gesellschaftlich höchst
einflussreich. An die Spitze des neuen politischen Systems gelangte eine elitäre
Bürokratenklasse aus Offizieren, zivilen Beamten und Wirtschaftsfachleuten unter
Führung eines charismatischen Präsidenten (vgl. Pawelka 2008, 246), der sich als
Vater, Lenker und Lehrer der Nation verstand: „Diese Staatsklasse stand zu Beginn
der Republik einer Gesellschaft von Kleinbauern gegenüber, ohne Großgrundbesitzer und ohne städtisches Bürgertum“ (Pawelka 2008, 246). Sie war somit „in der
Situation einer fast grenzenlosen Handlungsfreiheit“ (Pawelka 2008, 248), die sie
nutzte, um die als unwissend perzipierten Massen zu leiten (vgl. Zürcher 2009, 181).
Die genderpolitischen Maßnahmen in dieser Ära des „Staatsfeminismus“ (Tekeli
1991, 40), die den Frauen eine grundlegende rechtliche Besserstellung gewährten,
waren machtpolitisch durchaus multifunktional. Zum einen stellten sie unter dem
Vorzeichen der Säkularisierung einen wichtigen Baustein bei der Schwächung der
Rivalen aus den religiösen Institutionen des „ancien régime“ dar. So brach das neue
Familienrecht vollständig mit den Bestimmungen des islamischen Rechts und orientierte sich am Schweizer Zivilrecht.5 Die kemalistische Frauenpolitik ermutigte zudem die Partizipation von Frauen in der Öffentlichkeit und verbesserte ihre Bildungsund Beschäftigungsmöglichkeiten, die Frauen erhielten das Wahlrecht. Das Bild von
der „neuen Frau“, die modern gekleidet, öffentlich sichtbar und als Staatsbürgerin
gleichberechtigt sein sollte, symbolisierte den Modernisierungs- und Aufklärungsanspruch des neuen „pädagogischen Staates“ (Kaplan 2006). Es beflügelte Generationen
von Frauen der Mittel- und Oberschichten, die über die erforderlichen Ressourcen
verfügten, um die neuen Handlungsspielräume wahrnehmen zu können. Gleichzeitig
jedoch wurden im Interesse der Machtmonopolisierung in den Händen der kemalistischen Staatselite autonome Frauenorganisationen sowie andere zivilgesellschaftliche Organisationen (etwa die Journalistenunion) aufgelöst (vgl. Zürcher 2009, 180).
Insgesamt sollte die staatliche Intervention in die Geschlechterverhältnisse die patriarchalen Eliten der familiären, religiösen und tribalen Gemeinschaften schwächen,
die Loyalitäten der Menschen auf den neuen nationalen „Vater Staat“ (devlet baba)
umlenken und dessen Hegemonie über die Gesellschaft durchsetzen. Bis in die Ge-
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genwart ist das Staatsverständnis in der Türkei weithin von einem patrimonialen
Konzept geprägt, dem im Sinne Max Webers „die autoritäre Beziehung zwischen
dem Vater und seinen Kindern“ zugrunde liegt (vgl. Kaplan 2006, 14). Im Ergebnis
vertiefte die Politik des Zentrums gegenüber der Peripherie (Mardin 2006, 298ff.)
die Entfremdung der breiten Massen insbesondere auf dem Land (ca. 80% der Gesamtbevölkerung) von einem zunehmend unpopulären Regime, politisierte den Islam und machte ihn zum Vehikel oppositioneller Bestrebungen (vgl. Zürcher 2009,
192; 206).
Aufstieg der Gegen-Elite, politische Öffnung und „post-patriarchale“
Gesetzgebung
Das widerspruchsvolle Erbe aus den formativen Anfangsjahren der Republik prägte
fortdauernd die politische und gesellschaftliche Entwicklung, einschließlich genderpolitischer Dynamiken. Zu den Schattenseiten, die bis in die Gegenwart reichen,
gehören ein autoritäres ethnisch-nationalistisches Staatsverständnis, das Minderheiten ausschließt, eine parlamentarischer Kontrolle entzogene besondere Stellung
des Militärs (vgl. Akay 2010), ein soziopolitisch polarisiertes Zentrum-PeripherieVerhältnis, eine enge Verquickung von politischer und wirtschaftlicher Macht sowie
eine autoritäre politische Kultur. Gleichzeitig schufen die kemalistischen Reformen
einen rechtlichen Rahmen, der den Frauen eine im regionalen Vergleich relativ günstige Stellung einräumte.
In den folgenden Jahrzehnten und verstärkt seit den 1980er Jahren durchlief die
türkische Gesellschaft tiefgreifende und atemberaubend rasante Transformationsprozesse, die zur Verbreiterung der Mittelschichten, zu einer Ausdifferenzierung
von Lebensstilen und Individualisierungsschüben führten (vgl. Kandiyoti/Saktanber
2002). Die neoliberale exportorientierte wirtschaftspolitische Kehrtwende in den
Özal-Jahren, die 1980 brutal durch einen Militärputsch durchgesetzt und ideologisch und bildungspolitisch durch das Konzept der Türkisch-Islamischen Synthese
flankiert wurde, setzte eine beachtliche ökonomische Dynamik frei. In der anatolischen „Peripherie“ entfalteten sich Wachstumszentren einer dritten industriellen
Revolution, und die mittelständischen „Islamischen Calvinisten“ aus Kayseri, Denizli oder Gaziantep wurden zu globalen Akteuren (vgl. Öktem 2011, 56ff.). Auf der
Grundlage ihrer wachsenden ökonomischen Bedeutung erhoben sie Anspruch auf
politische Teilhabe. Nach jahrzehntelangem Kampf um den sozialen und politischen
Aufstieg gelang den ehemaligen Außenseitern im politischen System mit dem Wahlerfolg der AKP 2002 der politische Durchbruch (vgl. Pawelka 2008, 254).
Die erste Amtsperiode der AKP stand unter dem Vorzeichen ständiger Auseinandersetzungen mit den Bastionen der alten kemalistischen Eliten in Militär, Präsidentenpalast und Justiz, die mit Verbots- und Interventionsdrohungen die politischen Rivalen auszuschalten suchten. Im Kontext der EU-Beitrittsverhandlungen und einer
aufblühenden Zivilgesellschaft leitete die AKP-Regierung einen umfangreichen politischen Liberalisierungsprozess ein.6 Im Einklang mit den Kopenhagener Kriterien
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verpflichtete sie sich auf Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenrechte.7
Die EU-Institutionen als „Anker“ beförderten nicht nur eine politische Öffnung,
durch die demokratische Segmente der Zivilgesellschaft für die Unterstützung der
AKP mobilisiert werden konnten. Zugleich fungierten sie als Legitimationsquelle
und „Bündnispartner“ im Machtkampf mit dem republikanischen Establishment
und dienten dazu, das Vertrauen ausländischer Investoren und Ratingagenturen sicher zu stellen8 (vgl. Saatçioğlu 2010, 3; Karadag 2010b, 22). In genderpolitischer
Hinsicht kam es seit dem Jahr 2001 zu einer Reihe radikaler Reformen zugunsten
einer völligen rechtlichen Gleichstellung der Frauen. Der Mann verlor seine übergeordnete Rechtsposition. Die Reform des Strafrechts von 2004 brach mit dem traditionellen Konzept der Familienehre. Delikte wie Vergewaltigung werden seitdem
als Verbrechen gegen die Unversehrtheit des Individuums geahndet, dessen Rechte
und Freiheiten zur Kernaufgabe des Strafgesetzes erklärt werden (ESI 2007, 15ff.).
Dieser mit der sozial konservativen AKP erreichte Erfolg ist nicht zuletzt auf das Engagement einer aktiven Frauenbewegung und eine intensive zivilgesellschaftliche
Debatte zurückzuführen. So konstatiert Kandiyoti (2010, 174): „This was the closest
Turkey had ever come to full compliance, at least on paper, with CEDAW“.9
Hegemonie der AKP, faith-based organizations und patriarchale
Re-Strukturierung
Getragen von einem breiten klassenübergreifenden Bündnis konnte die AKP 2011
zum dritten Mal in Folge eine Einparteien-Regierung bilden und sich in den zentralen Institutionen der Republik etablieren. Nachdem die Aufsteiger aus der Peripherie
das politische System für die eigene Kern-Anhängerschaft geöffnet und den Marsch
in die zentralen Institutionen der Republik erfolgreich vollzogen haben, nutzt Ministerpräsident Erdoğan inzwischen die alten „illiberalen Methoden, um die Presse-,
Meinungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken – was die Tocqueville’sche
Gefahr der ‚Tyrannei der Mehrheit‘ heraufbeschwört“ (Karadag 2010c, 88).10 Eine
demokratische Öffnung des Systems für ethnische und religiöse Minderheiten
kommt nicht voran, die enge Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Macht
besteht fort, und die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Interesse bleiben
verwischt.11 Die Regelungen und Mechanismen einer politisch-kapitalistischen ökonomischen Ordnung und eines defizitär-demokratischen politischen Regimes wurden nicht grundlegend verändert (vgl. Karadag 2010a, 146).
Ungeachtet ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik mit dramatischen sozialen Ungleichheiten und wachsender Armut (vgl. Buğra/Keyder 2003; Ayata 2010) gelingt es
der AKP bislang, sich eine breite Massenbasis auch unter den städtischen Armen zu
erhalten. Dies ist wesentlich auf historisch verwurzelte, dichte Interaktionen der AKP
und ihrer Vorgängerparteien (insbesondere Wohlfahrtspartei) mit religiösen Wohltätigkeitsorganisationen zurückzuführen, die in Netzwerke aus Parteistrukturen, Lokalverwaltungen, Nachbarschaftsvereinigungen und religiös orientierte Unternehmen
eingebunden und zusätzlich durch Familien- und Herkunftsbindungen verknüpft sind
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(vgl. Karadag 2010a, 138; White 2002). Zwar bleibt aus Sicht der AKP die Familie
die wichtigste Institution zur sozialen Absicherung, die es zu stärken gilt. Doch wo
familiäre Strukturen diese Funktion nicht (mehr) ausreichend erfüllen können, ergänzen islamische Konzepte von Wohltätigkeit erfolgreich staatliche Versuche, die Sozialausgaben nach Maßgabe der Internationalen Finanzinstitutionen zu reduzieren (vgl.
Buğra/Keyder 2006, 224; 226). Die prominentesten Wohltätigkeitsorganisationen,
Deniz Feneri („Leuchtturm“), Cansuyu („Lebenswasser“) und Kimse Yok mu? („Ist
da niemand?“) fühlen sich konservativen islamischen Werten verpflichtet und stehen ideologisch und personell der AKP, der Gülen-Bewegung oder der islamistischen
Saadet Partisi („Glückseligkeitspartei“) nahe (vgl. Şen 2011, 49ff.).
In der politisch-strategischen Begünstigung von faith-based organizations im Feld
der Sozialpolitik12 trifft sich ein neoliberaler globaler Trend (vgl. Göçmen-Yeginoğlu
2011) mit der machtpolitischen Zielsetzung der AKP-Regierung, soziale Konflikte
stillzulegen, hiermit den Erfolg der „passiven Revolution“ (Tuğal 2009) zu festigen und das hegemoniale Projekt der an die Macht gelangten Gegen-Elite (Karadag
2010a, 145) dauerhaft abzusichern.
Im wohlfahrtsstaatlich relativ schwach ausgeprägten türkischen Kontext (vgl. Ayata
2010, 190) ergänzen die faith-based organizations nicht einfach eine allgemeine sozialstaatliche Absicherung, sondern ersetzen diese in vielen Bereichen und werden für
viele Arme überlebensnotwendig.13 Damit werden existenzielle Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Gebenden und Empfangenden geschaffen. Die religiösen Hilfsorganisationen, die für grundlegende Bedürfnisse der Armen und Bedürftigen sorgen,
erhalten die Möglichkeit, das Leben der Individuen moralisch zu kontrollieren und zu
normieren und deren politische Präferenzen zu steuern. Es verwundert demnach wenig, dass die Unterstützungsleistungen vor Wahlen abrupt ansteigen. Wo das Bemühen um Mildtätigkeit die Inanspruchnahme sozialer Rechte ersetzt, mögen autoritäre
Patron-Klientel-Beziehungen rasch an die Stelle demokratischer staatsbürgerlicher
Gleichheit treten (Göçmen-Yeginoğlu 2011, 204; Öktem 2011, 187).
In den einflussreichsten religiös motivierten Wohltätigkeitsorganisationen und den
zugehörigen Netzwerken gelten weithin konservative Gendernormen, die Frauen
essentialistisch insbesondere auf die als „schöpfungsgemäß“ erachtete Rolle als
Ehefrauen und Mütter festlegen, die Komplementarität der Geschlechter und die
Überlegenheit der Männer betonen. In ihrer Untersuchung über die vor allem im
Bildungs- und Medienbereich sehr aktive und einflussreiche Gülen-Bewegung14
zeigt Turam, wie die Organisation zwar professionalisierte Elite-Frauen im öffentlichen Raum in Erscheinung treten lässt. Gleichsam hinter den Kulissen bleiben aber
die Ehefrauen führender Aktivisten zumeist auf den privaten Bereich beschränkt,
und die meisten weiblichen Mitglieder akzeptieren bereitwillig das System der Geschlechtertrennung (vgl. Turam 2007, 124ff.).15
Zahllose arme Frauen sind materiell und emotional auf den Rückhalt der lokalen und
religiösen Netzwerke angewiesen. Sie sind horizontal und vertikal eingebunden in
ein komplexes Gewebe von Verpflichtungen und Praktiken fortdauernder wechsel-
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seitiger Solidarität und Hilfeleistungen, Patronagebeziehungen und Loyalitätsverpflichtungen (vgl. White 2002, 73ff.).16 Um das soziale und ökonomische Netz der
Gemeinschaft und die Unterstützung durch die Familie beanspruchen zu können,
sind Anpassung an die einschlägigen patriarchalen Normen und „angemessenes“
Verhalten wie das Einhalten von Kleiderordnung und Geschlechtertrennung unabdingbar (vgl. White 2002, 226).
Dass die von Familien und Gemeinschaften gesetzten Grenzen gleichwohl durchaus
flexibel, wandelbar und verhandelbar sind, zeigt Cihan Tuğal (2009) exemplarisch
und anschaulich in seiner Studie zum Istanbuler Stadtteil Sultanbeyli. Hier hat im
Zeitraum von nur fünf Jahren auch unter den städtischen Armen eine bemerkenswerte „Transformation des Gender Regimes“ (ebd., 211) stattgefunden: Bildung,
soziale Aufstiegsorientierung und größere Unabhängigkeit von der Familie wird
zunehmend auch Mädchen aus frommen Familien zugestanden. Im Zuge ihres Aufstiegs hat die AKP das Projekt einer islamischen Moderne vorangetrieben (vgl. ebd.,
22) und die Genderdiskurse des konservativen islamischen Milieus teilweise dynamisiert. Die Regeln der Geschlechtertrennung werden zunehmend aufgeweicht,
bspw. bringen führende Politiker wie Erdoğan oder Gül ihre Ehefrauen in die Öffentlichkeit und nehmen sie mit auf Reisen (vgl. ebd., 212ff; Sussman 2011).
Normativ und funktional begründet, bleibt für Premierminister Erdoğan dennoch die
Stärkung der patriarchalen Familie und die Festigung entsprechender Gendernormen
eine politische Herzensangelegenheit (vgl. Kandiyoti 2010, 174; Turam 2007, 141f.;
Joppien 2011). Signifikant in diesem Zusammenhang dürfte sein, dass er zu den
Wahlen 2011 ausdrücklich die Auflösung des Ministeriums für Frauen und Familien
ankündigte, das durch ein Ministerium für Familie und Sozialpolitik ersetzt wurde.
Dass „Frauen“ in der Denomination des Ministeriums explizit nicht mehr genannt
werden, betrachten zahlreiche Frauenrechtlerinnen als Rückschritt. Die Belange von
Frauen würden damit zu einem Thema unter vielen herabgestuft, und Frauen würden
nur noch in ihrer Funktion als Teil der Familie wahrgenommen (vgl. Sussman 2011).
Die Betonung konservativer familiärer Werte entspricht den Wünschen vieler Frauen,
wie die breite Unterstützung der AKP seitens der weiblichen Wählerschaft deutlich
macht. Insbesondere arme Frauen, die nicht über das soziale und kulturelle Kapital verfügen, um als freie und gleiche Marktsubjekte im neoliberalen, post-wohlfahrtsstaatlichen Kontext erfolgreich zu bestehen, mögen ihre alltäglichen „praktischen Genderinteressen“ (Molyneux 2001, 44) eher dadurch verwirklicht sehen,
dass sie ihr sozialmoralisches Kapital innerhalb der patriarchalen Gemeinschaften
maximieren. Diese kontrollieren zwar, vermögen aber auch Schutz und Ansehen
zu gewährleisten (vgl. Kreile 1997, 354ff.). Zumindest scheinen zahlreiche Frauen
die beschränkende, aber relativ absichernde „Ehe von Islam und Neoliberalismus“
(Atasoy 2009) einer freieren „gefährlichen Liebschaft“ (Eisenstein 2005) von Neoliberalismus und Feminismus vorzuziehen.
Während es einerseits empirische Belege für den Trend zu einer „maskulinistischen
Restauration“ gibt, die aus einem breiten Repertoire an historisch und politisch ver-
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wurzelten Männlichkeitsbildern schöpfen kann (Altınay 2004), lassen sich andererseits auch deutliche Gegentendenzen feststellen, denn: „Türkische Frauen haben
ungeachtet ihrer jeweiligen politischen Überzeugungen eine Menge zu verlieren,
und sie wissen es“ (Kandiyoti 2010, 175).
Fazit
Die genderpolitische Dynamik in der Türkei zeigt, dass unter den Vorzeichen autoritärer Staatlichkeit die Geschlechterverhältnisse im machtpolitischen Interesse
durchaus unterschiedlich gestaltet und instrumentalisiert werden können. So schuf
die kemalistische Staatselite relativ günstige rechtliche Rahmenbedingungen für
Frauen; die „staatsfeministischen“ Reformen sollten die patriarchalen Institutionen
des „islamischen Milieus“ schwächen und die traditionellen Eliten als Stützpfeiler
des osmanischen Reiches entmachten.17
Der Aufstieg der AKP vollzog sich demgegenüber nicht gegen, sondern auf der Basis des „islamischen Milieus“. Dessen moderne politische Repräsentanten gelangten
im Zuge der sozioökonomischen Dynamik der letzten Jahrzehnte von der Peripherie
ins Zentrum der Republik. Ihr Erfolg verdankt sich nicht zuletzt der Unterstützung
durch die gesellschaftlich tief verwurzelten religiösen Netzwerke und einer ideologischen Übereinstimmung zwischen Parteiführung und weiten Teilen der Gesellschaft. Zentrales klassenübergreifendes Element in diesem Zusammenhang ist ein
konservatives und patriarchales Weltverständnis.
Die AKP-Regierung setzt nach einer kurzen Phase politischer Öffnung die ererbte
autoritäre Staatstradition heute modifiziert fort und schließt zunehmend die Tür für
weitergehende zivilgesellschaftliche Partizipationsansprüche. Ihre Macht versucht
sie im Rahmen einer Verbindung von Neoliberalismus und Islam zu festigen. Im
Zuge der neoliberalen Politik haben Armut und existenzielle Unsicherheitsstrukturen
zugenommen. Um das soziale Konfliktpotential still zu legen und ihr hegemoniales
Projekt dauerhaft zu festigen, fördert die AKP eine islamisch grundierte Sozialpolitik, die zur sozialen Sicherung wesentlich auf die Familie, auf religiös motivierte
zivilgesellschaftliche Wohltätigkeitsorganisationen und auf Mildtätigkeit setzt.18
Weite Teile der Bevölkerung sind auf die einschlägigen Netzwerke angewiesen, an
deren Knotenpunkten sich politische und religiöse Patron-Klientel-Strukturen wechselseitig verstärken und in denen zumeist patriarchale Geschlechternormen gelten.
Solange eine wohlfahrtsstaatliche Sicherung nicht als individuelles staatsbürgerliches Recht (social citizenship) existiert und Bedürftige stattdessen auf ein caritatives
Almosensystem angewiesen sind, verengen sich Spielräume für selbstbestimmtes
Verhalten – nicht nur, aber insbesondere für Frauen. Eine islamisch legitimierte patriarchale Restrukturierung der Geschlechterverhältnisse im Sinne des gesellschaftlich dominanten konservativen Islam-Verständnisses wird befördert.19
Im Hinblick auf die Perspektiven von Staat und Gender in der Türkei stellt sich die
Frage, wie überzeugend es fortschrittlichen Kräften aus Parteien, Gewerkschaften,
Frauenbewegungen20 etc. gelingt, der herrschenden Politik demokratische, sozial
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und politisch inklusive und geschlechtergerechte Alternativen entgegen zu setzen.
Ein wichtiger Schritt könnte darin bestehen, identitätspolitische Spaltungslinien zu
überwinden und wohlfahrtsstaatliche Strukturen mit einem allgemeinen Rechtsanspruch auf soziale Grundsicherung zu schaffen (vgl. Buğra/Keyder 2003, 50ff.).
Damit würden nicht zuletzt auch Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Frauen gestärkt.
Anmerkungen
1 In die Diskussion gebracht wurde der inzwischen viel verwendete Begriff durch den renommierten
Soziologen S, erif Mardin (vgl. Kramer 2009, 28f.).
2 Feministische Ideale von wirtschaftlicher Unabhängigkeit, Berufskarrieren und individueller Autonomie
treffen sich mit zentralen Prinzipien der neoliberalen globalen Märkte, nämlich Eigenverantwortung,
Selbständigkeit, Konkurrenzbereitschaft und Selbst-Unternehmertum (vgl. Wichterich 2010, 167).
3 Im propagierten neoliberalen Gleichstellungsmodell wird das Ernährer- und Familienlohnmodell postfordistisch verabschiedet. Jedes erwachsene Haushaltsmitglied soll nun durch einen Job zum Lebensunterhalt beitragen (vgl. Wichterich 2010, 181ff.).
4 Nach dem nationalen Unabhängigkeitskrieg schuf die kemalistische Staatsklasse, nachdem 90% der
„Vorkriegsbourgeoisie“ (Pawelka 1993, 64) der Enteignung, Vertreibung und Vernichtung der Minderheiten (v. a. Griechen, Armenier) zum Opfer gefallen war, eine neue, organisatorisch vom Staat abhängige Klasse muslimischer ethnisch-türkischer Unternehmer. ((vgl. Karadag 2010a, 92f; Uzer 2011, 112)
Die Öffnung der politischen Sphäre für gesellschaftliche Gegen-Bewegungen im Zuge der Einführung
des Mehrparteiensystems und der Wahlen 1950 führte zur Schwächung der bürokratischen Staatselite
und zum Aufstieg neuer großer Familienunternehmen, die schließlich 1980 mit dem Militär kooperierten, das mit dem Putsch die Wende zu Exportorientierung und neoliberaler Politik durchsetzen half.
Im Rahmen dieser Form kapitalistischer Entwicklung und kompetitiver, aber nicht demokratischer
Politik vollzog sich der Aufstieg der Gegenelite aus dem islamischen Milieu, der nach der Finanzkrise
2000/01 im Wahlsieg der AKP seinen Ausdruck fand (vgl. Karadag 2010a, 24).
5 Die Polygynie wurde verboten, die Frauen erhielten gleiche Rechte bezüglich der Scheidung und Vormundschaft für die Kinder. Unangetastet blieb allerdings die Stellung des Mannes als Oberhaupt der
Familie (vgl. Tekeli 1991, 41).
6 Das Reformpaket umfasste die Abschaffung der Todesstrafe, kulturelle Rechte für die kurdische Bevölkerung; Beschneidung der Macht des Militärs, legitimiert und durchgesetzt im Rahmen des Verfahrens
gegen das ultra-nationalistische Ergenekon-Netzwerk (vgl. Karadag 2010b, 22; 28).
7 Vgl. ausführlich zu den einschlägigen Diskursen und zur Praxis der AKP: Joppien 2011.
8 Während einige BeobachterInnen vor allem die ablehnende Haltung der EU-Öffentlichkeit für die abnehmende Europa-Begeisterung und den erlahmenden Reformeifer der AKP verantwortlich machen,
sehen andere die demokratischen Reformen wesentlich als instrumentell induziert: damit hätte die
AKP sowohl das EU-affine Wählerpotential gewinnen wollen, als auch die konservative Kernwählerschaft, die sich durch die EU-Konditionalität mehr religiöse Freiheiten (Menschenrechtsdiskurs) verspricht (vgl. Saatçiog̀´lu 2010). Die Entscheidung des EGMR gegen Leyla S,ahin im November 2005, wonach das Kopftuch-Verbot keine Menschenrechtsverletzung darstelle, stellte dieser Lesart zufolge eine
Zäsur dar, nach der die EU-Orientierung der AKP deutlich abgenommen habe (vgl. Saatçiog̀´lu 2010, 16).
9 CEDAW steht für Committee on the Elimination of Discrimination against Women.
10 Mechanismen von „checks and balances“ sind durch das Machtmonopol der Regierungspartei geschwächt. Hinzu kommen u. a. Fortbestand der 10%-Hürde, des Art. 301 Strafgesetzbuch, der fehlenden innerparteilichen Demokratie (vgl. ausführlich Joppien 2011, 123ff.).
11 Beispielsweise werden regierungsnahe Unternehmen bei Auftragsvergabe und durch Steuervorteile
ausgeprägt bevorzugt. Hinzu kommt eine gleichzeitige Begünstigung der ökonomischen Interessen
individueller Regierungsmitglieder; konkrete Beispiele nennt Karadag 2010a, 143ff.
12 Während Ausgaben der Zentralregierung für die Armen abgenommen haben, wurden einschlägige Aufwendungen auf kommunaler Ebene deutlich erhöht. Nur ein kleiner Teil stammt allerdings aus dem
originären Budget der Gemeindeverwaltungen; für die restlichen Ausgaben stützen sich die kommu-
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nalen Behörden auf private Spenden von Individuen oder oftmals religiös motivierten Wohltätigkeitsorganisationen. Über die Größenordnung der einschlägigen Spenden existieren keine offiziellen Informationen. Indem staatliche Kommunalverwaltungen als Vermittler für private wohltätige Zuwendungen
fungieren, wird die Tür für eine kommunale Sozialpolitik geöffnet, die wenig transparent ist und mit den
machtpolitischen Zielsetzungen der Regierungspartei konform geht. Gleichzeitig liegt es nahe, dass
kommunale Behörden sich offen für Einflussnahmen von Großspendern zeigen und bisweilen auch
Wohltätigkeit an die Stelle von Bestechung treten mag (vgl. Bug̀´ra/Keyder 2006, 224).
Das bisherige nach dem zweiten Weltkrieg eingeführte staatliche System sozialer Sicherung, das die
AKP-Regierung zu ändern versucht, ist inegalitär-korporatistisch orientiert und schließt einen großen
Teil der Bevölkerung, der nicht im formellen Sektor beschäftigt ist, aus (vgl. Bug̀´ra/Adar 2008, 96f.).
Hendrick zufolge bildet die Gülen-Gemeinschaft eine Synthese aus Religion, Nationalismus, sozialem
Konservatismus und ökonomischer Macht und fungiert als primäres Bindeglied zwischen den neuen
islamischen Kapitalisten und der AKP (vgl. Hendrick 2011, 42f.). Gleichzeitig ist sie v. a. mit ihren Bildungsinstitutionen transnational aktiv.
Zu Gülens Frauenbild vgl.: http://www.fethullahgulen.org/recent-articles/2897-womenconfined-andmistreated.html (28. 9.2011)
Normativ bestimmend sind in diesem Zusammenhang die historisch verwurzelten Konzepte von imece
und himaye. Imece bezieht sich auf die horizontale wechselseitige Unterstützung, himaye beinhaltet
eine vertikale Komponente, Hierarchie und Patronage und bedeutet Schutz bzw. Loyalität im Hinblick
auf Familie, Herkunftsregion und in erweitertem Sinne die politische Partei. Himaye beschreibt das
angemessene Verhältnis zwischen Frauen und Männern, Kindern und Eltern und allgemein Klientelverhältnisse zwischen höher und niedriger gestellten Personen (vgl. White 2002, 73f.).
Eine ähnliche Politik wurde von staatsfeministischen Modernisierungseliten anderswo, bspw. in Ägypten unter Nasser, oder im Irak unter Saddam Hussein, durchgeführt.
Wo derartige Strategien nicht den gewünschten Effekt erzielen und Proteste etwa gegen Privatisie∙
rungen des Staatsunternehmens Tütün, Tütün Mamulleri, Tuz ve Alkol, Is, letmeleri Genel Müdürlüg̀´ü
(TEKEL), das das Monopol auf die Produktion und den Vertrieb von Tabakprodukten innehatte und 2008
an British American Tobacco verkauft wurde von den Betroffenen auf die Straße getragen werden, geht
die Staatsmacht mit Härte vor.
Für zahlreiche Männer, die zu den Verlierern der neoliberalen Entwicklung zählen, mag die sozial und
ideologisch re-konstituierte „patriarchale Dividende“ (Kreisky/Löffler 2009, 78) alltägliche Ohnmachtsgefühle kompensieren helfen.
Wegweisend in diesem Zusammenhang sind beispielsweise die Empfehlungen von KEIG (Women’s Labor and Employment Initiative Platform) 2009.
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