Lewy’s Rezension von The World Chronicle of Guillaume de Nangis.
Daniel Williman, Karen Corsano, The World Chronicle of Guillaume de Nangis. A
Manuscript’s Journey from Saint-Denis to St. Pancras, Berlin, Boston (De Gruyter
Oldenbourg) 2020, XIV–238 p., 44 ill., 33 tabl. (Research in Medieval and Early Modern
Culture, 28. Studies in Medieval and Early Modern Culture, 74), ISBN 978-1-5015-18713, EUR 94,95.
Habent sua fata libelli wird zwar auf Bücher gemünzt, aber man kann es auch auf
Handschriften anwenden, wie es aus dem vorliegenden Buch hervorgeht. Nicht viele
mittelalterliche Handschriften haben das Glück eine eingehende Biografie wie die British
Library MS Royal 13 E IV erhalten zu haben. Meistens sind es kunstgeschichtliche oder
historisch bedeutsame Handschriften wie z.B. das Evangeliar Heinrichs des Löwen (1). Hier
genießt der in der British Library vorliegende zehn Kilogramm schwere Kodex dieses Privileg
das anderen 21 Kopien der gleichen Weltchronik versagt wurde. Um diesen Umstand zu
begründen, bemühen sich das Forscherpaar Daniel Williman und Karen Corsano. Beide sind
ausgewiesene Fachleute für Provenienzforschung von Handschriften.
Ihr Buch ist in zwei Teilen gegliedert. Der erste Teil hat vier Kapiteln, die die Genese der
Weltchronik behandelt. Er ist der methodische Teil. Der zweite Teil beinhaltet sieben Kapitel
und kann als narrativer Teil beschrieben werden, der von einer bibliophilen Hingabe der
Autoren geprägt ist. Ein Vergleich mit Christopher de Hamels Meetings with Remarkable
Manuscripts bietet sich an, wobei Hamels Buch einem höheren literarischen Anspruch genügt.
Einer Biografie entsprechend, beginnt ihr Buch im ersten Kapitel (3- 14) mit dem Geburtsort
der Chronik in St. Denis und ihr historiografisches Wirken samt der Stellung des Autors
Wilhelm von Nangis in der Schreibstube des Klosters. Das zweite Kapitel (15- 44) weitet die
Familie der Handschriften im Vergleich zu der grundlegenden Arbeit von Léopold Delisle (2)
von elf auf zweiundzwanzig aus. Standesgemäß haben die Autoren aufgrund eines Zensus
aller ihnen bekannten Handschriften eine genealogische Tafel stemma codicum aufgestellt, die
für jegliche weitere Forschung der Weltchronik von Nangis, einschließlich einer noch
ausstehenden vollen Textausgabe, unabdingbar sein wird. Es wird darin zwischen der ersten
Redaktion vom Jahr 1303 (vier Handschriften) und der zweiten Redaktion (achtzehn
Handschriften) unterschieden. Das dritte Kapitel (45- 62) beschreibt den Besitzverlauf von
zwölf Kopien der Weltchronik. Aneinandergereihte Fakten ergeben jedoch keinen
historischen Zusammenhang. Das kurze vierte Kapitel (63- 68) ist nicht nur der technischen
Beschreibung der Handschrift in BL gewidmet. Darin wird auch erklärt, wieso der Londoner
Handschrift eine erweiterte Biografie gebührt. Der Anlass dazu ist ein Kunstgriff, der
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frühestens seit 1275 in der Bibliothek der Sorbonne eingeführt wurde. Es ist die sogenannte
dictio probatica (beweisführende Aussage), die ein Kennwort für jegliche ausgeliehene
Handschrift mit einem besonderen Kennzeichen versieht. Zu jener Zeit ist die Kopiertätigkeit
von gleichen Texten als Textbücher wegen des universitären Betriebes gestiegen sodass
ausgeliehene Handschriften des gleichen Textes verschiedene Erkennungszeichen bedurften.
Um einen Kodex wiederzuerkennen, wurde - wie eigentlich üblich - nicht das incipit im
Ausleihregister benutzt, sondern der Beginn der zweiten Zeile im zweiten Folium (secundo
folio), die individuell ausfiel im Ausleihregister benutzt, das sonst bei den gegebenen
Handschriften immer gleichgeblieben wäre. Sie wurden durch den Anfang der zweiten Zeile
im zweiten Folio (secundo folio) gekennzeichnet, die individuell ausfiel. Diese Praxis wurde
im Mittelalter von großen Bibliotheken übernommen. Williman sammelte Fünfzig Jahre lang
diese mittelalterlichen Ausleihregistern und digitalisierte sie zuletzt für seine
Provenienzforschung (3).
Die Krönung seiner Bemühungen erreichte Williman als er einen Kodex der lateinischen
Weltchronik Nangis aus dem Kloster St. Denis im Inventar des bibliophilen Johann Herzog
von Berry aus dem Jahr 1415 mit dem französischen Vermerk Chronique de France, en latin
de lettre de forme, qui se commence au second feuillet: Tisetvocatum verglichen hatte mit der
Katalogbeschreibung des Kodex MS Royal 13 E IV in der British Library, das folgende
Vermerk hatte: Chron.G.de Nangis 2f tisetvocatum. Obzwar die beiden Erkennungszeichen
nicht den gleichen Buchnamen trugen und daher früheren Forschern nicht auffielen, hat
Williman den Kodex in London eigenhändig untersucht. Er stellte fest, dass es derselbe
Kodex sei, dass 1415 Johann von Berry von St. Denis auslieh. Für den ausgewiesenen
Experten der Provenienzforschung ein glücklicher Fund, dem sogar Delisle versagt blieb, als
er nach allen in England befindlichen aus der Bibliotheque National gestohlenen,
Handschriften suchte (Epilog 170- 173).
Die Kapiteln Fünf bis Elf (71- 170) beschreiben nun ausgiebig und manchmal ermüdend die
vielen Stationen der Handschrift und den historischen Ereignissen, denen sie vielleicht
beigewohnt haben. Es ist ein literarisches Genre, das an die fiktive Novelle Ilya Ehrenburgs
erinnert „Dreizehn Pfeifen“, die die moderne Geschichte Russlands anhand eines
dreizehnfachen Besitzwechsels einer einzigen Pfeife beschreibt. Die Reise von St. Denis nach
St. Pancras dauerte einige Jahrhunderte vom Herstellungsjahr 1304 durch den Schreiber
Guillaume Lescot, durch etliche Besitzer bis 1998 als der Kodex in St. Pancras im neuen
Gebäude der British Library landete. Der Autor musste auf Spekulationen in der
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Reisebeschreibung des Kodex zurückgreifen, da er keine handfesten Beweise für das
Schicksal der Handschrift zwischen den Jahren 1415 und 1525 finden konnte. Dieser fiktive
Kunstgriff nimmt gerade in der Schlüsselfrage, wie der Kodex nach England gelangt ist, einen
gewichtigen Stellenwert ein.
Der Kodex ist erst in England um das Jahr 1525 mit dem Besitzvermerk des damals von
Kardinal Wolsey in abseits gestellten Herzogs von Norfolk Thomas Howard belegt. Dass der
designierte Kaiser Sigismund 1416 den voluminösen Kodex nach England brachte und der
Kapelle des heiligen Georgs in Windsor vermacht hat, und die ihrerseits Thomas Howard den
Kodex geschenkt habe, um Platz zu sparen, ist nirgendswo dokumentiert. Die Randnotizen
Königs Heinrich VIII., der Nangis Chronik für historischen Präzedenzen von königlichen
Scheidungen ausschlachtete, belegen die Präsenz des Kodex in der Privatbibliothek Heinrichs.
Sie können für Forscher seiner Scheidungskampagnen von Interesse sein. Kurz nach dem Tod
Heinrichs im Jahr 1547 wurde der Kodex in der königlichen Bibliothek registriert.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Giordano Brunos Aphorismus se non è vero, è
molto ben trovato (wenn es nicht wahr ist, so ist es doch sehr gut erfunden) sich kaum in dem
hier rezensierten Buch bewahrheitet.
Mordechay Lewy, Bonn
Anmerkungen:
1.
2.
3.
Bernd Schneidmüller, Harald Wolter-von dem Knesebeck, Das Evangeliar Heinrichs des Löwen und
Mathildes von England. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 2018.
Léopold Delisle, „Mémoire sur les ouvrages de Guillaume de Nangis," Mémoires de l'Institut national de
France 27 (1873) : 287-372.
Williman Daniel and Corsano Karen, “Tracing provenance by Dictio probatoria,” Scriptorium, 53 (1999),
124-145.
Empfohlene Zitierweise: Mordechay Lewy: Rezension von: Daniel Williman / Karen Corsano (eds.): The
World Chronicle of Guillaume de Nangis. A Manuscripts Journey from Saint-Denis to St. Pancras, Berlin:
de Gruyter 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 12 [15.12.2023], URL:
http://www.sehepunkte.de/2023/12/38280.htm
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