Minimalismus als Universalismus
Zur Ästhetik des Weniger in der Moderne
Annette Geiger (Designgeschichte)
In den Medien ist der Minimalismus heute ein ausgesprochen populäres Thema: Das Aufräumen und Entrümpeln, das Ordnen und Sortieren mit dem
Ziel, Einfachheit und Klarheit, Übersicht und Struktur in der Wohnung wie
im ganzen Leben zu erlangen, wird von Journalist:innen, Blog-, Serien- wie
Sachbuch-Autor:innen umfassend begleitet und in der Regel begrüßt (z. B.
Heuser 2020, Matulla 2018, D’Avella 2015, Kondō 2013). Auffällig ist allerdings
die Geschichtsvergessenheit der Berichterstattung: Dass die Ethik und Ästhetik der Reduktion in der Gestaltung auf eine lange Tradition zurückblickt,
bleibt in der Regel unerwähnt. Wenn überhaupt, wird eine Querverbindung
zur ostasiatischen Kultur gezogen, die auch im Westen für ihren puristischen
Ordnungssinn bekannt ist.
Mein Beitrag möchte in diesem Zusammenhang zwei Richtungen des
Minimalismus-Diskurses herausarbeiten: Zum einen die zivilisationskritisch-rebellische bzw. reformorientierte Praxis, die vor allem als individualistische Lebensführung Einzelner ausgeübt wird. Das schließt nicht aus,
dass diese sich zur gegenseitigen Unterstützung in Communities zusammenschließen. Diese Praxis reicht von Aussteiger:innen zu Aktivist:innen, sie
zielt auf Autonomie und stellt dabei die persönliche Selbstfindung in den
Vordergrund.
Zum anderen grenze ich davon den kulturhistorischen Diskurs des
ethisch-ästhetischen Minimalismus in der Gestaltung ab. In Europa gehen
seine Ursprünge bis in die Antike zurück. Um 1800, mit Beginn der Moderne, wurde die Wende zur Einfachheit in Kunst, Architektur und Design
zur Leitkultur einer bürgerlichen Elite, die damit auch ihren Macht- bzw.
Führungsanspruch in der Gesellschaft unterstrich.
Stehen diese beiden Positionen zueinander im Widerspruch oder ergänzen sie sich wechselseitig? Dass sie die moderne, westliche Gesellschaft maß-
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geblich geprägt haben, steht außer Frage, aber wie legitim sind sie noch in
der Zukunft einer zunehmend pluralen, weil globalisierten Welt? Beginnen
wir mit einigen Begriffsklärungen am Beispiel der ersten Richtung.
Freiwilliger Verzicht als Identitätspolitik
Das Verzichten, so möchte ich zeigen, erfreut sich so großer Beliebtheit, weil
es sich um eine Form der Identitätspolitik handelt. Es geht um Prozesse der
Selbstfindung durch Konsumverzicht, die Persönlichkeitsbildung und deren
gesellschaftliche Ankerkennung stehen im Vordergrund (z. B. Heuser 2020,
D’Avella 2015 oder Fitzek in diesem Band). Die Entscheidung für das Weniger
wird somit nicht nur fakten- oder wissensbasiert zum Wohl der Umwelt getroffen, sondern immer auch als esoterische Erfahrung im ursprünglich philosophischen Sinne von esōterikós, das heißt »innerlich, dem inneren Bereich
zugehörig«: Ein engerer Kreis von eingeweihten Personen grenzt sich von einem exoterischen, das heißt allgemein üblichen Denken und Verhalten ab. In
diesem Sinne generiert sich der Minimalismus als fortgeschrittenes, gar »höheres« Wissen und Handeln. Dieses will sicher keine Gemeinlehre sein, es
wird allen bewusst zur Nachahmung angeboten, aber auch um der Anerkennung willen publik gemacht. Minimalist:innen praktizieren ihre »Techniken
des Selbst« (Foucault 2007) in der Regel sichtbar und öffentlich und suchen
damit auch das Lob für ihre Lebenspraxis.
Der Minimalismus in Kunst und Gestaltung hingegen weist stets über
das Individuelle hinaus, er sucht das persönliche Empfinden regelrecht zu
überwinden. Die Ursprünge dieser Ästhetik gehen zurück auf einen universalistischen Diskurs, der Schönheit mit Vernunft und Gemeinsinn, Natur mit
Zweck sowie Einfachheit mit Regelhaftigkeit zusammenbrachte, zum Beispiel
kulminierend in Immanuel Kants Diktum »Das Schöne ist das Symbol des
Sittlichguten« (Kant 1974 [1790]: 297). Alles Subjektive hat hier zurückzutreten
hinter das Konzept des Geschmacks als sensus communis. Diese Geschmackskultur der Reduktion, so möchte ich zeigen, sollte seit der Moderne Vorbildfunktion für alle Bürger haben, da sie auch einem Herrschaftsanspruch verbunden war: Einfachheit sei eine Vernunft, die alle Menschen regieren soll.
Der sich hier abzeichnende Gegensatz von Universalismus und Identitätspolitik, der sich als gefährliche Zerreißprobe heutiger Gesellschaften erweist, wurde meines Erachtens noch zu wenig reflektiert bzw. begrifflich definiert. Insbesondere unter Identitätspolitik wird oft nur der Aktivismus von
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Minderheiten sowie der radikal rechten und linken Gruppierungen an den
Rändern der Gesellschaft verstanden. Diese Zuschreibung scheint mir nicht
haltbar, denn bei genauerem Hinsehen betreibt jeder Mensch Identitätspolitik: Ich möchte darunter alle Aktivitäten verstehen, mit denen sich Individuen in der Gesellschaft positionieren, insbesondere den Anspruch, mit dem
sie diesen Platz in der Gesellschaft einfordern und rechtfertigen. Dies betrifft die Autonomie bei der Selbstbestimmung ebenso wie die Anerkennung
der selbstgewählten Identität. Schutz vor Diskriminierung bzw. das Recht auf
Gleichberechtigung zählen ebenso zur Identitätspolitik wie auch das Sichern
von Status bzw. Privilegien. In allen liberalen Gesellschaften, die auf sozialer
Durchlässigkeit beruhen statt auf vererbten Ordnungen (Ständegesellschaft,
Kastensystem o. ä.), kommen die Bürger nicht umhin, Identitätspolitik zu
betreiben.
Wir alle tun es, tagtäglich, auf verschiedenste Weise, bei der Ausgestaltung unseres Lebens: Man erarbeitet sich einen Status und beansprucht dafür
Anerkennung und Macht – als Einzelne wie als Gruppe. So nehme man zum
Beispiel die Frage der Schulwahl: Eltern bestimmen mit der Entscheidung
für einen Schultyp immer auch die Identität ihres Kindes im Hinblick auf die
Zukunft, die es haben soll. Die Auflösung des Gymnasiums zugunsten einer
Schulart für alle? – kaum etwas wird hierzulande leidenschaftlicher debattiert. Die vehemente Ablehnung des Vorschlags ist unschwer als Identitätspolitik der bildungsbürgerlichen Schichten zu erkennen, die ihren Status zu
sichern suchen. Identitätspolitik beschränkt sich also keineswegs auf Randgruppen oder Minderheiten, auch die sogenannte »Mitte der Gesellschaft«
bzw. »Mehrheitsgesellschaft« muss immer erst hergestellt werden, auch sie
erweist sich als identitätspolitisches Konstrukt.1
Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der bewusste Konsumverzicht als
eine identitätspolitische Maßnahme lesen: Minimalist:innen lassen sich ihren
Platz in der von Werbung und Marketing geprägten Gesellschaft nicht mehr
automatisch zuweisen, sie widersetzen sich jenem Habenwollen, das als »normal« gilt. Das Weniger-Prinzip wird als eine Ordnung zelebriert, die allem
voran der Selbstermächtigung dient. Es ist daher weniger wichtig, was genau
1
Ähnlich weit gefasst definiert zum Beispiel Jürgen Martschukat in seinem Überblick
zur historischen Genealogie der Identitätspolitik: »Identität und Gesellschaftsordnung
sind untrennbar ineinander verschränkt, und Identitätspolitik ist das Instrument, dieses Verhältnis zu gestalten« (2018: 2).
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vom Besitz übrig bleibt und wie es aussieht, es geht nicht um die Demonstration von Geschmack, vielmehr bedient der heutige Minimalismus-Trend die
Illusion, dass es eine eigene Ordnung gebe, nach der man leben könne. Der Gewinn an Freiheit und Zufriedenheit entsteht, weil man selbst entscheidet, was
man wirklich braucht. Die Bloggerin Laura Matulla hält zum Beispiel auf »The
OGNC« (Blog zum Thema Fair Fashion, Zero Waste, Minimalismus) als Definition dieser Lebensweise fest: »Der minimalistische Lebensstil reduziert den
ständigen Überfluss an materiellen Dingen, aber lässt sich nicht anhand einer
Zahl definieren. Jeder entscheidet selbst, welche Dinge das Leben bereichern
und welche nicht« (Matulla 2018).
Insofern ist nicht die Quantität der verbleibenden Dinge entscheidend,
sondern die Autonomie bei der Entscheidung. Es gilt Herr über seine Dinge zu sein. Das Gegenbild der Minimalist:innen sind somit die Messies, diese leiden an einer Bewertungsstörung und können daher nichts wegwerfen
oder ausmisten (vgl. Pritz et al. 2009). Sie gehen unter in der Fülle ihrer angehäuften Dinge, in extremen Fällen gelten sie als krank. Die Grenze zum
Pathologischen wollen Minimalist:innen hingegen nicht überschreiten, niemand hungert oder friert, um noch überzeugender zu reduzieren. Es geht
nicht um die Maximierung der Minimierung, sondern um die Optimierung
der Selbstzufriedenheit.
Wie und warum Minimalist:innen ihre Kehre im Leben vollziehen, zeigt
der viel beachtete Netflix- und Youtube-Klassiker »The Minimalists. A Documentary About the Important Things« von 2015. Die US-amerikanische
Dokumentation von Matt D’Avella stellt mit Joshua Fields Millburn und
Ryan Nicodemus zwei populäre Aktivisten der Minimalismus-Bewegung
in den Mittelpunkt. Sie sind über Blog (Fields Milburn/Nicodemus o. J.),
Buch (z. B. Fields Milburn/Nicodemus 2011, 2014, 2015) und Film (D’Avella
2018) berühmt geworden und werden vom Regisseur auf einer zehnmonatigen Promotiontour durch die USA begleitet. Zudem kommen zahlreiche
weitere Anhänger:innen des Minimalismus sowie konsumkritische Wissenschaftler:innen in Interviews zu Wort. Dabei fällt auf: Die meisten der
im Film auftretenden Minimalist:innen sind Weiße, vornehmlich männlich
und mittleren Alters oder darüber. Das Publikum bei den Auftritten von
Fields Milburn/Nicodemus erweist sich ebenfalls als dominant weiß. Aus
den Erzählungen der Porträtierten geht hervor, dass sie einst beruflich
erfolgreich und wohlhabend waren, aber keinen Sinn mehr in einem Leben
sahen, das vornehmlich aus dem Anhäufen von Geld und Besitz bestand. Den
Ausstieg aus ihrem vermeintlich beneidenswerten Leben empfanden sie als
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Befreiung oder gar Erweckung. Kurzum, sie konnten es sich leisten; Bildung
und Status, somit Wissen und Macht waren immer schon gesichert, als man
sich für die Wende zum Weniger entschied.
Dies unterstreichen die zahlreichen anderen Szenen im Film, in denen
Aufnahmen von Menschen eingespielt werden, die in langen Schlangen auf
die Öffnung bestimmter Geschäfte warten, manche Einkaufszentren regelrecht stürmen, um sich auf die Waren zu stürzen oder sich auch schreiend
darum zu balgen. Hier zeigt der Regisseur vornehmlich Schwarze Menschen
bzw. People of Color unterschiedlichster Herkunft. Mehrere Szenen von Frauen, die mit unzähligen Tüten vom Shoppen kommen, zeigen Asiatinnen. Der
Film verfestigt letztlich Vorurteile. Es werden Klischees bedient, die Menschen nach Herkunft und Hautfarbe in Schubladen des Konsumverhaltens
aufteilen (auch wenn dies vermutlich nicht die Intention des Regisseurs war).
Minimalismus, so kann man nur schließen, ist ein White Privilege.
Nur in einer Szene kommt ein älterer Schwarzer Mann zur Wort, der nach
einem engagierten Talk von Fields Millburn/Nicodemus enttäuscht anmerkt,
dass diese Form des Minimalismus doch gar kein politisches Engagement erlaube. Durch die mönchische Abwendung von der Welt entzöge man sich doch
dem eigentlich erforderlichen Kampf gegen die »Haie an der Wall Street«
(D’Avella 2015: Min. 44).
Das trifft, wie mir scheint, einen wunden Punkt: Die aktuelle MinimalismusMode zielt zuallererst auf Wellbeing, auf ein therapeutisches WohlfühlVerzichten, das sich nur eine bestimmte Schicht der Gesellschaft auferlegen
kann. Gebildet und wohlhabend, denkt sie an ihr eigenes Heil – so wie es
aller Identitätspolitik zu eigen ist. Minimalist:innen agieren ichbezogen, um
über sich selbst zu herrschen. An die gesellschaftspolitischen Folgen denken
sie wenig, auch nicht an die Solidarität mit denen, die tatsächlich nichts
haben. Minimalismus, so möchte ich nun zeigen, kann aber auch universale
Gültigkeit beanspruchen und sich auf alle Menschen beziehen, insbesondere
wenn er als Ästhetik verstanden wird.
Die Ästhetik der Einfachheit
Universalismus sei hier verstanden als eine Denk- und Diskursform, die den
Anspruch erhebt, die Vielfalt der Welt bzw. Wirklichkeit in einer einheitlichen, allgemeingültigen Ordnung zu erfassen. Auch eine Ästhetik kann in
diesem Sinne universell konzipiert sein, wenn ihre Prinzipien über die un-
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terschiedlichen Epochen und Kulturen hinweg gelten sollen. Wie legitim ein
solcher Anspruch ausfällt, wenn er nur ausgehend vom eurozentrischen Blick
unserer Kulturauffassung formuliert wird, mag man natürlich hinterfragen.
Doch möchte ich zunächst den Minimalismus als Ästhetik westlicher Spielart
skizzieren, um anschließend zu fragen, wie berechtigt er in einer zunehmend
diversen Welt noch sein kann.
Mit dem Beginn der Moderne um 1800 wurde die ästhetische Kategorie
des Geschmacks neu gefasst, sie sollte nun als zivilisatorische Leitkultur für
alle Menschen gelten. Guter Geschmack ist seit der Aufklärung gerade nicht
subjektiv abhängig, wie man es bis heute in der Umgangssprache oft meint.
Er ist auch nicht an Trends oder Moden gebunden, sondern als universalistisches Konzept gefasst, als zeitlos und allgemeingültig. Wer dies für unmöglich hält, weil unsere Geschmäcker doch so verschieden seien, wird durch die
Designgeschichte des Minimalismus rasch eines Besseren belehrt: Die Ästhetik der Einfachheit und Sachlichkeit, der Schlichtheit und Klarheit hat sich
in ihren zentralen Argumenten seit der Antike kaum verändert. Es reicht ein
kurzer Gang durch die westliche Kulturgeschichte, um nachzuweisen, dass
die formalen Prinzipien stets wiederkehren – doch wurden sie jeweils mit
anderen gesellschaftspolitischen Diskursen aufgeladen.
Auch die beiden genannten Ausrichtungen des Weniger, die identitätspolitische und die universalistische, sind bereits seit der Antike nachweisbar:
Diogenes von Sinope, der die philosophische Schule des Kynismus mitbegründete und dessen Leben nur in Anekdoten überliefert ist, mag als Gründungsvater der individualistischen Less is more-Philosophie gelten, die vor allem auf Zivilisationskritik zielt: Er lebte bekanntlich in einer Tonne und verzichtete auf alle Dinge, die er nicht wirklich brauchte (Geiger 2018: 74–88).
Lange vor der industriellen Massenproduktion entsagte der Rebell dem unnötigen Besitz, da er die vermeintliche Schicklichkeit von schönen Dingen
schlicht nicht anerkannte. Diogenes, der die großen, mächtigen Männer gerne mit frechen Sprüchen herausforderte, lebte lieber mit Hunden als mit
Menschen, die »Kultur« der Tiere sei ehrlich und unverderbt und nicht falsch
und verlogen wie die der angeblich kultivierten Menschheit. Seinen Verzicht
auf Dinge koppelte er daher demonstrativ mit unsittlichem, zynisch provozierendem Verhalten.
Dem anarchischen Minimalismus eines Diogenes steht später zum Beispiel die konstruktive Entwurfslehre eines Vitruv gegenüber: Er forderte in
seinen »Zehn Büchern zur Architektur« (33–22 v. Chr.), nur das Zweckmäßige als das Schöne zu definieren. Denn was sachlich und funktional konzipiert
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sei, benötige keinen Schmuck, um als schön zu gelten. Das Einfache ist hier
keine Provokation, sondern beruht im Gegenteil auf einer Form der ethischästhetischen Erkenntnis.
Diese Reduktion auf das Wesentliche gilt es seit der Antike auch als politische Haltung bzw. als Herrschaftsform zu begreifen, so machte bereits
Platons »Politeia« deutlich: Die gute Herrschaft hat durch eine Gestaltung
zu regieren, die ohne rhetorische bzw. sophistische Trugbilder auskommt,
die wir heute zum Beispiel als Populismus und Propaganda bezeichnen würden. Wahre Regierungskunst sei so sachlich und nüchtern verfasst wie die
Abbildungen der mathematischen Geometrie. Sie zeigen reine Ideen, nach
klaren Gesetzen formulierte Denkbilder ganz ohne Ornament und Zierrat.
Platons Höhlengleichnis verurteilt bekanntlich alle Schattenbilder, die nicht
das Wesen der Dinge zeigen, sondern trickreich unterhaltend künstliche Welten vorgaukeln. Die gute Führung hingegen erzieht uns dazu, politisch wie
pädagogisch, das Urbild der Dinge zu begreifen durch ein rationales Denken, das allgemeinen Regeln und Gesetzen folgt. Legitime Herrschaft beruht
folglich auf einer Ratio der Einfachheit als nüchterner Erkenntnis, einer Ratio, die hier gerade nicht als Selbsttechnik des Individuums verstanden wird,
sondern als universelles Bildungs- und Wissenskonzept für das Gemeinwesen – Kirche und Staat haben in der christlichen europäischen Tradition seit
der Antike an dieses Ideal angeknüpft.
Macht- und Regierungsanspruch muss in diesem Diskurs auf universalen Tugenden beruhen und so lesen sich die meisten ästhetischen Traktate
zur Einfachheit allem voran als Ratgeberliteratur für die herrschenden Eliten
(Schöttker 2019). Auch in der Architektur der Kirchen und Paläste soll sich die
Lehre des Weniger sichtbar niederschlagen, wie zum Beispiel auch die »Zehn
Bücher über die Baukunst« von Leon Battista Alberti (um 1450) deutlich machen. Im Buch IX schreibt Alberti mit expliziter Berufung auf Platon:
»Ich sehe bei unseren Vorfahren, dass die klügsten und mächtigsten Männer, sowohl in allen anderen öffentlichen und privaten Angelegenheiten als
auch in der Baukunst Mäßigkeit und Sparsamkeit außerordentlich gebilligt
haben, und jede Üppigkeit von den Bürgern abhalten und einschränken zu
müssen glaubten.« (Alberti [um 1450] 2019: 51)
Auch in seiner Zeit gelte es in diesem Sinne Maß zu halten, so Alberti:
»Die Sakralbauten soll man derart herstellen, dass man zu ihrer Hoheit und
zur Bewunderung ihrer Schönheit nichts mehr hinzufügen könnte. Die Pri-
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vatbauten aber sind so zu halten, dass man ihnen dagegen nichts scheint
wegnehmen zu können, was mit ausnehmender Würde verbunden wäre.«
(ebd.: 53)
Die Größe und Pracht von reich ausgestatteten Renaissance-Bauten assoziieren wir heute kaum mehr mit Verzicht und Reduktion, aber in ihren Säulenordnungen und Symmetrien, Grundrissen und Kuppelformen etc. waren sie
an einer idealen Ordnung der Klarheit und Einfachheit ausgerichtet.
So beginnt auch der britische Architekt und Designer John Pawson, einer
der heute wohl bekanntesten Vertreter des Minimalismus in Architektur und
Design, sein Buch »Minimum« von 1996 mit einer Definition, die von Albertis
kaum abweicht:
»Das Minimum könnte man als jene Perfektion bezeichnen, die ein Artefakt
erreicht, wenn es nicht mehr möglich ist, es durch Subtraktion zu verbessern.
Diese Qualität besitzt ein Objekt in dem Augenblick, wenn jede Komponente, wenn jedes Detail und jede Verbindung auf das Wesentliche reduziert
worden ist. Es ist das Resultat der Unterlassung von allen Nebensächlichkeiten.«(Pawson [1996] 2019: 175)
Diese Definition der ästhetischen Reduktion erweist sich tatsächlich als überzeitlich bzw. zeitlos.
Mit der Moderne wurde jenes Weniger schließlich weniger bedeutsam:
Es galt nicht mehr nur nach klaren Ordnungsprinzipien zu gestalten, sondern mit dem Beginn der Industrialisierung, das heißt der Verbilligung und
Zugänglichkeit von Waren, tatsächlich auch weniger zu besitzen. Das Ideal
der Einfachheit richtete sich nicht mehr nur als Tugendlehre an die regierenden Höfe, sondern an alle Bürger. Aus diesem Geist erfolgte die Erfindung des
modernen Designbegriffs: In der großen Vielfalt der gestalterischen Möglichkeiten, die sich dank Serienproduktion allesamt rasch amortisieren können,
soll trotz allem auf überladene Ornamentik und effekthascherische Formung
verzichtet werden. Aller Dekadenz sei ein Riegel vorgeschoben: Design, so
kann man definitorisch argumentieren, ist eine Reformbewegung gegen falsche bzw. schlechte Form (Geiger 2018: 61–102).
Die ersten Sektierer, die sich um 1800 von der Konsumgesellschaft abwandten, waren religiöse Glaubensgemeinschaften. Sie entsagten dem Materialismus, um sich verstärkt der Ausübung ihrer Religion zu widmen. Man
lebte mit dem Nötigsten und bemühte sich bei der Gestaltung der Dinge um
größtmögliche Schlichtheit. Die Shaker, Quäker oder Amish genießen daher
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in der Designgeschichte bis heute hohe Anerkennung für die außerordentliche Funktionalität, Materialgerechtigkeit und Nachhaltigkeit ihrer Entwürfe.
Den Besitz zu verweigern, gar gänzlich auf Privateigentum zu verzichten, um den Geist zu befreien für das Wesentliche, war wiederum eine Protesthaltung, die der damals regierende Adel kaum übernehmen konnte. Doch
hinterließen Aufklärung, Empirismus und aufstrebende Demokratiebestrebungen auch für die Herrschenden die Notwendigkeit, sich gestalterisch neu
zu positionieren: Parallel zur amerikanischen und französischen Revolution
kam mit dem Klassizismus eine weitere Antikenrezeption als Lehre der klaren
Ordnung in das Architektur- und Kunstgeschehen.
Abb. 1: Daniel Chodowiecki: Natürliche und affektierte Handlungen
des Lebens, 1778/79
Aber auch in der Breite der Alltagsgestaltung wurde zu neuer Schlichtheit
und Natürlichkeit aufgerufen. Die Attitüden und Verspieltheiten des Rokoko
hatten ihre Legitimation verloren, wie zum Beispiel die Kupferstichserie »Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens« (1778/79) von Daniel Chodowiecki anschaulich zeigt (Abb. 1). Auch am Hofe galt es abzuspecken, allein die
»nackte« Form gilt nun als ehrlich und schön und nicht mehr die künstlich
dekorierte und zurechtfrisierte. Interessanterweise begann diese ästhetische
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Wende ausgerechnet an den Höfen, der Adel versuchte den ärmeren, bürgerlichen Lebensstil nachzuahmen, um seinen Machtanspruch weiterhin zu
rechtfertigen (Ottomeyer 2006).
Abb. 2: Karl Arnold: Armut, die große Mode, 1920
Das Bürgertum im deutschsprachigen Raum konnte die Ästhetik der Einfachheit erst etwas später, im Zuge von Romantik und Biedermeier, als Leitbild neuen Selbstbewusstseins übernehmen und entsprechend zur eigenen
politischen Bewegung machen. Nach dem Wiener Kongress (1815) zunächst
machtlos und mundtot, wusste man die wahren Tugenden der schlichten Ausstattung, des sittsamen Benehmens und des nüchternen Denkens trotz allem
auf seiner Seite – der Kanon der Künste und der Bildung war nunmehr »bildungsbürgerlich« geworden (siehe ausführlicher das Kapitel »Geschmack als
Gemeinsinn. Das Design der Einfachheit um 1800« in Geiger 2018). Folglich
beanspruchte das Volk mehr Macht, denn es stand nun für die legitime Ra-
Minimalismus als Universalismus
tio – so wie sich die neuen politischen und industriellen Eliten wiederum
legitimieren mussten, indem sie möglichst demonstrativ den Geschmack der
Sachlichkeit pflegten.
Ob diese geistige Haltung tatsächlich auch gelebt wurde, mag man hinterfragen, wie zum Beispiel in der Karikatur »Armut, die große Mode« von
Karl Arnold im Simplicissimus von 1920 (Abb. 2): Gezeigt wird ein wohlbeleibter Großbürger in geschmacklos überladenem Interieur, der sich beim asketisch-dürren Professor der Architektur eine »ganz bescheidene Hauseinrichtung« bestellt und zwar »so einfach wie möglich – es kann kosten was es
will«, so die Bildunterschrift. Universell gültige Bildung und Geschmacksbildung muss gelernt und gelebt werden, kein Tokenismus also, den man sich
erkaufen kann wie ein Möbelstück.
Minimalismus als Geometrie der Macht
Wie sehen die konkreten Formen der einfachen Dinge nun aus, nach welchen Prinzipien müssen sie entworfen sein? Minimalismus als Ästhetik steht
ja nicht für das Weglassen von Form, sondern für die Findung einer idealen Form. Auch hier lassen sich historisch übergreifende Merkmale nennen,
die einen regelrechten Kanon des Minimalismus hervorgebracht haben: Zum
einen hat man sich auf das Wesentliche zu beschränken und zum anderen
muss es eine klare Ordnung geben, die das Zusammenspiel des Ganzen mit
seinen Teilen regelt. Die entsprechenden Motive sind in der Regel seit der Antike verbürgt – dies zeigt die bildreiche Zusammenstellung in Pawsons Buch
»Minimum« sehr eindrucksvoll: Anhand von Beispielen unterschiedlichster
Epochen weist er Prinzipien nach, wie serielle Reihung und rhythmische Wiederholung, zum Beispiel in der Säulenordnung eines antiken Tempels, oder
auch Symmetrien, die schon auf den ersten Blick für Klarheit stehen, da sie
gut erfassbar sind. Zudem vermitteln monolithische Formen eine große Kraft
der Einheit und Einfachheit, gerade wenn sie massiv und monumental ausfallen. Ein neolithisches Monument auf den schottischen Orkney-Inseln (Abb. 3)
kann für Pawson problemlos zusammen mit dem New Yorker Seagram Building (1958) von Ludwig Mies van der Rohe abgebildet werden (Abb. 4).
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Abb. 3 (links): AG Franzoni: Ordnungssystem für die Galerie La
Polena, Genua, 1965;
Abb. 4 (rechts): Piet Mondrian: Komposition, 1930
Abb. 5: Luftaufnahme des Straßengitters von Manhattan, o. D.
Die Kombination aus Geometrie und Monumentalität, besonders auch
von industriellen Zweckbauten, inspirierte viele Architekten der Moderne, so
auch Walter Gropius und Le Corbusier. Letzterer hielt dazu 1929 in seiner
Schrift »Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme«
fest :
Minimalismus als Universalismus
»Große Kunst gebraucht einfache Mittel – das wollen wir unermüdlich wiederholen. Die Geschichte zeigt uns die Neigung des Geistes zum Einfachen.
Das Einfache ist das Ergebnis der Urteilskraft und der Auswahl; es ist das
Merkmal der Meisterschaft. Sobald man sich vom Komplizierten löst, findet
man die Mittel, die den Zustand des Bewusstseins offenbaren. Ein geistiges
System manifestiert sich im sichtbaren Spiel der Formen. [...] Eine Wanderung, die aus der Verwirrung in die Klarheit der Geometrie führt.« (Le Corbusier [1929] 2019: 136).
Die mathematischen Idealformen von Kugel und Kubus, Kegel und Pyramide
vermitteln Regel und Ruhe, eine Reizarmut, die den Geist konzentriert und
nicht ablenkt. Doch gilt es nicht nur die Formen selbst zu betrachten. Auch die
Zwischenräume müssen, wie bei Pawson deutlich wird, als Räume der Leere
bewusst gestaltet werden. Sie sind für den Eindruck der Klarheit nicht minder wichtig – zum Beispiel in Form von kahlen Wänden oder geschlossenen
Mauern. Fenster und Durchbrüche können wiederum Struktur und Muster
schaffen, so wie auch die Licht- bzw. Schattenführung die Volumen in Szene
zu setzen vermag. Technische Konstruktion kann zum funktionalen Ornament werden oder auch Strukturen, die die Natur von selbst hervorbringt.
Elementar soll die Form sein und daher abstrakt, so reduziert wie zum Beispiel die schlichte Konstellation aus Horizontale und Vertikale: Pawson zeigt
hierfür beispielsweise ein minimalistisches Ordnungssystem von AG Franzoni (Abb. 5), ein Gemälde von Piet Mondrian (Abb. 6) ebenso wie die erhabene
Luftaufnahme des Straßengitters von Manhattan (Abb. 7).
Abb. 6: Étienne-Louis Boullée: Entwurf eines Kenotaphs für
Isaac Newton, 1784
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Abb. 7: Claude-Nicolas Ledoux: Entwurf für das Haus des Gärtners
in einer Idealstadt, 1789
Minimalismus im Design ist nicht ohne Form, sondern erfordert höchstes Können bei der Formung. Diese »Meisterschaft« (Le Corbusier, s. o.) wird
stets auf eine universelle Ordnung zurückgeführt. So schrieben zum Beispiel
Piet Mondrian und Theo van Doesburg im Manifest der holländischen De
Stijl-Bewegung (1918):
»Es gibt ein altes und ein neues Zeitbewusstsein. Das alte richtet sich auf das
Individuelle. Das neue richtet sich auf das Universelle. Der Streit des Individuellen gegen das Universelle zeigt sich sowohl in dem Weltkriege wie in
der heutigen Kunst. Der Krieg destruktiviert die alte Welt mit ihrem Inhalt:
die individuelle Vorherrschaft auf jedem Gebiet.«
Universalismus galt zu Beginn der Klassischen Moderne als rettender Heilsbringer, er sollte in Kunst und Gestaltung durch Reduktion und Abstraktion,
durch ein Minimum an Form hervorgebracht werden. Mondrians Werk steht
dafür wie kaum ein anderes.
Doch sollte man wiederum die Ursprünge dieser Abstraktion um 1800
betonen: Die französische Revolutionsarchitektur, zum Beispiel von ÉtienneLouis Boullée und Claude-Nicolas Ledoux, konzentrierte sich auch schon auf
geometrische Grundformen. Als eine ideale, wenn auch utopische Gebäudeform galt ausgerechnet die Kugel. Architekturgeschichtlich bedeutsam wurde
sie vor allem in Boullées Entwurf eines Kenotaphs für Isaac Newton von 1784
(Abb. 8).
Minimalismus als Universalismus
Abb. 8: Charles Eisen: Allegorische Darstellung der Urhütte
nach Vitruv. Frontispiz zu Marc-Antoine Laugiers Traktat
Essai sur l’architecture (2. Aufl., 1755)
Die Kugel sollte 150 m hoch werden und die Sphäre des Universums darstellen, im Inneren wird für die am Boden stehenden Betrachter:innen durch
kleine Öffnungen in der Kugeloberfläche der Sternhimmel abgebildet. Der
utopische Entwurf zielte somit nicht auf praktische Funktion. Er diente allein der Verherrlichung der Aufklärung und war dabei zugleich ein Bild der
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idealen Gesellschaft. In seinem Traktat »Vom Wesen der Körper« (1799) lobt
Boullée die Kugel als ebenso einfache, regelmäßige wie harmonische Form:
»Alle Punkte ihrer Oberfläche sind gleich weit von ihrem Zentrum entfernt.
Das Ergebnis dieses einmaligen Privilegs besteht darin, dass, von welchem
Standpunkte auch immer wir diesen Körper betrachten, es keinen Blickwinkel gibt, der jemals die herrliche Schönheit seiner Form beeinträchtigen
könnte, die sich unserem Blick immer als vollkommen darbietet. Die Kugel
bietet uns die Lösung eines Problems, das als ein Paradox betrachtet werden
könnte, wäre nicht geometrisch bewiesen, dass die Kugel ein unendliches
Polyeder ist: Aus der perfektesten Symmetrie leitet sich die unendlichste
Vielfalt ab. [...] Das Bild des Großen gefällt uns in jeder Hinsicht, denn unser
Wesen, immer bestrebt, sein Lebensgefühl zu erhöhen, möchte das ganze
Universum umfangen.« (Boullée [1799] 2019: 94 f.)
Universalismus soll die Menschheit einen. Die Individuen gruppieren sich
hier symbolisch um ein leeres Zentrum, das folglich keinen Herrscher mehr
»an der Spitze« hat. Die Mitte ist leer, damit alle Menschen, symbolisiert als
die Punkte auf der Kugeloberfläche, gleich weit vom Zentrum der Macht entfernt sind. Ein gelungeneres geometrisches Bild für den revolutionären Aufbruch in eine neue Gesellschaftsform kann man kaum finden.
Wem dieser Maßstab zu groß erscheint, kann sich an den wenig später
entstandenen, nicht minder utopischen Entwurf von Nicolas Ledoux halten,
der eine Kugel als »Haus des Gärtners« (1789) in einer zukünftigen Idealstadt
zeigt (Abb. 9). Solche Utopien markieren den Anspruch des Universalismus
sehr anschaulich: Mikro- und Makrokosmos entsprechen einander. Sie folgen
einer einheitlichen Ordnung für alles, einem Regime der Vernunft, dem sich
alle unterzuordnen haben. Die Herrschaft dieser universellen Ratio sei also
legitim, da in ihr alle Menschen gleich sind.
An dieser Stelle wird nicht nur der Idealismus sichtbar, der dieser Ästhetik eingeschrieben ist, sondern auch sein Unterschied zum reinen Funktionalismus bzw. Utilitarismus: Es geht hier nicht primär um Nützlichkeit und
Effizienz im alltagspraktischen Sinne, Sachlichkeit und Nüchternheit bilden
vielmehr geistige Prinzipien. Es gilt in dieser Ästhetik, auch das führt wiederum auf Platon zurück, das Wesen der Dinge bzw. ihre Urformen zu erkennen.
Man versetze sich, so das berühmte Gedankenexperiment zu Vitruvs Urhütte in Marc-Antoine Laugiers »Essai sur l’Architecture« von 1753 (Abb. 10),
zurück in
Minimalismus als Universalismus
»einen Menschen in seinem ursprünglichen Zustand, ohne jede Hilfe, nur
ausgestattet mit einem natürlichen Instinkt für seine Bedürfnisse. [...] Der
Mensch will sich eine Unterkunft schaffen, die ihn schützt, ohne ihn unter
sich zu begraben. Einige im Wald abgeschlagene Äste sind das für seine Zwecke geeignete Material. Er wählt die vier stärksten aus, die er senkrecht, im
Quadrat angeordnet, aufstellt. Er verbindet sie mit vier anderen, die er quer
über sie legt. Darüber breitet er von zwei Seiten Äste, die sich schräg ansteigend in einem Punkte berühren. [...] So geht die einfache Natur zu Werke
und die Kunst verdankt ihre Entstehung der Nachahmung dieses Vorgehens.
Diese kleine rustikale Hütte, die ich gerade beschrieben habe, war das Modell, von dem alle Herrlichkeit der Architektur ihren Ausgang nahm.« (Laugier [1753] 2019: 73 f.)
Dies war selbstverständlich reine Rhetorik, sie diente dazu, die Tempelform
der Antike, die Laugier im Text über das »Maison-Carré« in Nîmes in Erinnerung ruft, als die einzig legitime, weil natürliche Form von Architektur zu
rechtfertigen. Der aus der Natur der Dinge heraus lebende Mensch sei der
ideal zivilisierte Mensch »nichts fehlt ihm, und er verspürt keinen Wunsch«
(ebd.: 73), so Laugier. Was sich selbst genügt, so drückt später auch Kants zentrale ästhetische Kategorie der »Interesselosigkeit« aus, ist als Ästhetik stets
sinnstiftend, auch wenn es keinen praktischen Nutzen verspricht. Der heutige Trend, in Tiny Houses und Cabin Design Urlaub zu machen bzw. sich temporär dorthin zurückzuziehen, bezeugt noch immer diese Sehnsucht nach der
Urhütte, jener Heimat des selbstgenügsamen Lebens. Dies bringt auch John
Pawson auf den Punkt:
»Die Philosophie der Einfachheit ist ein immer wiederkehrendes Ideal zahlreicher Kulturen, von denen jede auf der Suche nach einer Lebensform ohne
die Last zu vieler Besitztümer ist oder war. Angefangen von den japanischen
Lehren des Zen bis hin zu Thoreaus Suche nach Einfachheit stand die minimale Lebensweise immer für Befreiung: als Chance, mit dem Wesentlichen
der Existenz in Berührung zu kommen, anstatt sich von den trivialen Dingen
des Lebens ablenken zu lassen.« (Pawson [1996] 2019: 175)
Minimalismus als kulturelle Position
An Pawsons Begriff der »trivialen Dinge« wird allerdings auch deutlich, dass
der Diskurs des Minimalismus immer auch wertet, zum Beispiel, wenn es
darum geht, andere kulturelle Positionen zu bewerten. Pawson spricht zwar
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Annette Geiger (Designgeschichte)
von »zahlreichen Kulturen«, die weltweit das Ideal der Einfachheit teilen, aber
er meint damit in der Regel die reichen Kulturen des Globalen Nordens. Reale
Armut erweist sich als ungeeignet für die minimalistische Lebensweise. Überhaupt genügt die populäre Kultur jenen Ansprüchen nicht, denn sie ist meist
an Lust und Frohsinn orientiert und nicht an geistiger Strenge und Selbsterziehung. Der ästhetische Minimalismus, so kann man nur folgern, bleibt eine
Kunstform, die sich von allen »niederen« Kulturformen abzusetzen sucht. Er
zielt auf Erhöhung und Erhabenheit, auf Meisterschaft und Überlegenheit –
auch als Machtdemonstration einer gesellschaftlichen Elite, die sich im Namen der universalistischen Ratio als führende Schicht begreift.
Dieser hohe Anspruch führt bei Pawson zum Beispiel dazu, dass sich in
seinen Entwürfen ein gestalteter Sakralraum und eine Küche mit Essplatz
im privaten Anwesen erstaunlich gleichen (Abb. 9, 10). Die Lenker:innen der
Gesellschaft leben und arbeiten in Räumen höchster Konzentration und Ordnung, ganz gleich, ob es sich um gestaltete Andachtsräume, Großraumbüros
oder um das Shop-Design von Edelmarken handelt.2
Abb. 9 (links): John Pawson: Home Farm, Oxfordshire, 2013–2019;
Abb. 10 (rechts): John Pawson: Neugestaltung der Augsburger Moritzkirche,
2008–2013
Dies führt uns zurück zur Ausgangsfrage, wie legitim eine solche Gestaltungsposition heute noch sein kann, in einer Welt, die durch die Globalisie2
Siehe im Werk von John Pawson zum Beispiel den Valextra Store in Mailand oder den
Jil Sander Store in Tokio. Siehe https://www.johnpawson.com/works/valextra und http
s://www.johnpawson.com/works/jil-sander-store [zuletzt abgerufen am 20.02.2021].
Minimalismus als Universalismus
rung immer diverser und vielschichtiger wird. Die europäische Tradition des
Minimalismus als eine Entwurfsgeste, die immer auch Herrschaft legitimiert,
muss heute an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie nur im Rahmen von Luxus zu definieren ist. Denn der freiwillige Verzicht auf Luxus ist noch immer
ein Luxus. Er kann somit kein Vorbild für alle sein.
Es gibt in der Geschichte des Entwerfens aber auch andere Ansätze: Die
Entdeckung »trivialer« Gestaltung zum Beispiel als Vernacular Architecture, das
heißt als Architektur ohne Architekten, reicht beispielsweise in die 1960erJahre zurück (vgl. Rudofsky 1964). Spontan entstanden aus dem Do-it-yourself Dilettantismus oder auch aus dem »Adhocismus« des Bastelns und Bauens, so
wie es Jencks und Silver (1972) beschrieben haben, kann einfache Gestaltung
auch ganz ohne Herrschaftsgeste verstanden werden. So wie auch Victor Papanek (1971) mit seinem »Design for the real world« einen Gestaltungsbegriff
formulierte, der sich, auf den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Einfachheit
beruhend, gezielt auch an die Armen dieser Welt wendete – und ihr Schaffen
sogar zum Vorbild für die reichen Länder erhob.
Alle diese Strömungen kann man heute als postmoderne Gegenreaktion
auf den ästhetischen Minimalismus der Moderne begreifen. Das anarchisch
trotzige Selbermachen wurde als regelrechte Dekonstruktion des hegemonialen Designanspruchs gefeiert. Der »Bastler« im Sinne von Claude LéviStrauss galt nun als das legitime Vor- bzw. Urbild der guten Gestaltung: Er
musste aus der Not heraus mit den Dingen und Materialien auskommen, die
er vor Ort vorfand und ein Genie der »Bricolage« entwickeln, um zu überleben (vgl. Lévi-Strauss 1968). Urhütten wurden folglich nicht als Vorform des
antiken Tempels gebaut. Vermutlich gelang dem »Bastler« sogar die einzige
Form der Einfachheit, die weder mit Zynismus noch mit elitärem Führungsanspruch verbunden ist.
In einer sich weiter diversifizierenden Welt, die immer mehr kulturell
höchst unterschiedliche Identitätskonzepte hervorbringen wird, sollten wir
uns auch auf diese tatsächlich einfache Form der Einfachheit besinnen.
Sie mag zwar in den Industriegesellschaften eine Utopie bleiben, aber dem
Gegensatz von identitätspolitischem und universalistischem Minimalismus
stünde damit noch eine weitere Variante gegenüber, die deutlich mehr
Menschen zugänglich wäre als nur den Wohlhabenden, die ihr Seelenheil im
Verzicht suchen.
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Annette Geiger (Designgeschichte)
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:C hodowiecki_Affektation.jpg [zuletzt abgerufen am 21.04.2021].
Abb. 2: Simplicissimus. Heft 13, 23. Juni 1920, S. 195, siehe http://www.simpli
cissimus.info [zuletzt abgerufen am 21.04.2021].
Abb. 3: John Pawson: Minimum. London, New York: Phaidon, S. 152.
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Annette Geiger (Designgeschichte)
Abb. 4: John Pawson: Minimum. London, New York: Phaidon, S. 79.
Abb. 5: John Pawson: Minimum. London, New York: Phaidon, S. 74 f.
Abb. 6: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Étienne-Louis_Boullée_Memoria
l_Newton_Night.jpg [zuletzt abgerufen am 21.04.2021].
Abb. 7: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/46/Ledoux_Hau
s_des_Gaertners_Chaux_Projekt_1789.jpg [zuletzt abgerufen am 21.04.
2021].
Abb. 8: https://de.wikipedia.org/wiki/Marc-Antoine_Laugier [zuletzt abgerufen am 21.04.2021].
Abb. 9: https://www.johnpawson.com/works/home-farm [zuletzt abgerufen
am 21.04.2021].
Abb. 10: https://www.johnpawson.com/works/moritzkirche [zuletzt abgerufen am 21.04.2021].