Lange schon hat mich Lolas trotziges Verhalten im Alltag stark belastet. Wutgeheul, wenn ich sie um etwas bitte. Blieb einfach stur auf dem Boden liegen, wenn es ums aufräumen ging. "Lola, deckst du bitte den Tisch?" - Nee!" Oder wenn sie ihre Klamotten oder andere Dinge einfach auf den Boden pfefferte. Schon lange gab es deswegen bei uns zu Hause heftige Diskussionen. Denn M. meint, dass sie das nur macht, um mich zu provozieren. Und ich ihr Verhalten nur noch schlimmer mache, indem ich darauf eingehe und sie darin bestätigte. Er meinte, dass sie sehr wohl ordentlich am Tisch sitzen könne, mit Messer und Gabel umgehen könne und sich auch nicht direkt auf unser Essen stürzen müsse, ohne zu warten. Was ich als ständigen Vorwurf empfand, mein Kind nicht ordentlich erziehen zu können. Ich rechtfertigte ihr Verhalten. Sie würde das nicht verstehen, wäre eben etwas grobmotorisch, impulsgesteuert, habe eine schlechte Konzentrationsfähigkeit, schlechtes Kurzzeitgedächtnis, usw.. Diskussionen um Diskussionen....
Ich war es langsam leid. Vielleicht war ja doch etwas dran an M.s Einstellung, dass Lola es eigentlich viel besser kann und mit ihrem Verhalten eigentlich nur meine Grenzen austestet. Sich hinter ihrer vermeintlichen "Behinderung" versteckt. Aus Bequemlichkeit, Gewohnheit, was auch immer. Nur was sollte ich machen? Wie raus kommen aus diesem Teufelskreis? Irgendetwas in meinem Verhalten ihr gegenüber musste die Ursache für ihr Fehlverhalten, ihre Bockigkeit sein. Denn im Kindergarten und bei ihrem Papa war sie anders.
In meiner Verzweiflung stieß ich auf ein Seminarangebot der Down-Syndrom-Ambulanz in Velbert bzw. von impuls 21 mit dem Thema "Unser Trotzkopf: Umgang mit widerständigem Verhalten", das letztes Wochenende in Thüringen stattfindet. Und konnte M. zum Glück überzeugen, in seiner quasi nicht existenten Freizeit mit mir dorthin zu fahren und gemeinsam das Seminar zu besuchen. Was für ein Seminar!!! Wir waren begeistert. Bei der Referentin Sabine Berndt aus Hamburg, die in einer Leichtigkeit und Frische genauso über die Grundlagen des Lernens sprach wie über die Verhaltensauffälligkeiten ihrer eigenen Kinder, an denen sie als junge Mutter fast verzweifelte. Und darüber wie eben dieses widerständige Verhalten bzw. der Machtkampf durch eigene unbewusste Verhaltensweisen verursacht sein kann, indem man Fehlverhalten durch Aufmerksamkeit belohnt, darauf eingeht, zu lange abwartet, etc. Wunderbar veranschaulichte sie dies in einer Reihe von Videosequenzen von Eltern und ihren Kindern mit Down-Syndrom. Drama des schreienden Kindes, was in einer Fördersituation brüllt, als würde es abgestochen, und die Eltern aus Mitleid dem Kind irgendwann die gestellte Aufgabe erließen und es selber machten. Als würde das Kind das nicht schaffen. Und so entspann sich der Teufelskreis.... Denn so verstärkte sich das widerständige Verhalten.
Frau Berndt erklärte anschaulich, wie wichtig Konsequenz im Handeln der Eltern sei. Wenn einmal eine Aufgabe gestellt wird, dann solle man so lange warten, bis das Kind die Aufgabe erfüllt oder wenigstens ernsthaft sich anstrengt sie zu erfüllen. Und wenn man eine Stunde warten muss, bis das Kind die Schuhe alleine auszieht. Dabei ruhig und klar bleiben und auf keinen Fall wütend werden. Denn dann ist man nicht mehr in Verbindung zum Kind. Und eine positive Bindung zum Kind ist ganz wichtig. Dabei bleiben und ruhig dabei bleiben, das ist das Motto. Und wenn das Kind es dann irgendwann macht bzw. echte Anstrengung zeigt, egal wann, dann durch ganz viel positives Lob verstärken. So bekommt das Kind Freude am eigenen Erfolg, und damit am Lernen.
Wichtig ist immer, dass man im Sekundenfenster reagiert, auf positives wie auf negatives Verhalten. Dann nur kann eine Verknüpfung vom eigenen Verhalten des Kindes und der Reaktion der Eltern hergestellt werden. Und ganz entscheidend auch, das eigentliche Oberziel immer im Auge zu behalten. Dass man durch Konsequenz und klare Grenzen dem Kind helfe, sich selber zu helfen. So dass es lernt zu lernen, Freude bekommt an der Anstrengung, am Fortschritt. Und nicht im Widerstand verharrt und sich und seine Entwicklung dabei behindert. Man muss also klar und stark sein dem Kind gegenüber nach dem Motto "Ich tu's für dich" und brauche kein Mitleid mit dem Kind zu haben. Es sei im Gegenteil - ein Ausdruck der Liebe zum Kind.
Anschaulich zeigte sie in Videosequenzen ganz erstaunliche Verhaltensveränderungen bei Eltern, die diese Prinzipien bei ihren Kindern angewandt hatten. Ich war beeindruckt.
Und schaute mir, als wir wieder zu Hause waren, eine Reihe von Videos an, die ich mal von Lola gemacht hatte. Ich fiel fast vom Hocker. Es wimmelte darin von provokativem Verhalten! Auf dass ich in keiner Weise umgehend oder angemessen reagierte. Ein Beispiel beim Hasenfüttern. Lola steht mit einem Bund Löwenzahn in der Hand da, den wir gemeinsam gepflückt haben. Pfeffert ihn einfach auf den Boden. Ich sage 10 Sekunden später etwas dazu, "ach, der Löwenzahn ist jetzt unten". Dann reisst sie halb eine Blume ab und schließlich Zweige von anderen Bäumen und ich kommentiere das alles äußerst schwach und erst mehrere Sekunden später. Auch ohne wirklich böse zu werden. Als wüsste sie nicht, was sie da tut. Aber sie schaut mich auf dem Video die ganze Zeit total herausfordernd an, als suche sie nach einer Reaktion, einer Grenze, die ich ihr aber nicht gebe. Erst als es mir dann doch zu bunt wird und ihr sage, "Heb jetzt sofort den Löwenzahn auf, oder wir gehen nach oben", schnellt sie zum Löwenzahn, hebt ihn auf und gibt ihn den Hasen. Sichtlich erleichtert und viel glücklicher... Geht also. Meistens scheine ich ihr jedoch durch meine fehlende Reaktion und Konsequenz ein solches Verhalten "antrainiert" zu haben.
Und? Lola ist nicht wieder zu erkennen. Klar, am Anfang kam immer noch nach den meisten Aufforderungen ein "Nee!" und "Mama, mach Du. Helfen! (gebärdet). Aber als ich dann "hart" blieb und meinte, "Nein, Lola. Ich weiß, dass du das kannst. Mach es jetzt. Sonst können wir kein Vesper essen / Buch anschauen / etc." konnte Lola sich plötzlich komplett alle Matschsachen ausziehen, Doppelknoten an den Schuhen aufmachen, komplizierte Knöpfe öffnen, ihre Jacke ordentlichst aufhängen, den Tisch decken, ihre Nase putzen und die Taschentücher wegwerfen, im Kinderzimmer alle Schleichtiere in die eine und alle Puppen in die andere Kiste räumen und zwar in kürzester Zeit. Da saß sie am Tisch und verteilt die Kekse an uns, anstatt sich selber alle zu grapschen.
Ich kann plötzlich ganz viele Spiele mit ihr spielen und zwar nach MEINEN Regeln, ohne dass sie jedesmal einen Kreischanfall kriegt. Und sie macht plötzlich ganz viel nach. Was ich SAGE an Worten. Wo sie sonst kaum Worte imitiert, ausser nach tagelangem Training, kam heute ganz neu, noch nie vorher gehört: Milch, Tuch, Dach, Mund, Ohrn, ach und noch einiges mehr. Und das Beste: als ich mit ihr zusammen gemalt habe, hat sie diese Figur nachgemalt. Wo sie sonst im besten Falle Kopffüßler gemalt hat, aber ohne Arme und Beine. Soll übrigens die Oma sein...
Ich bin hin und weg. Was für eine Veränderung!!! In zwei Tagen. Also entweder ist sie gerade aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen plötzlich irre gut drauf. Oder es ist doch verdammt nochmal was dran an all den Dingen, die ich am Wochenende lernen durfte. Unglaublich, wie ich durch so kleine Signale das Verhalten von Lola so dramatisch beeinflussen kann - in positiver wie in negativer Hinsicht. Ich bin schwer beeindruckt. Und werde weiter berichten.