Edgar Selge - Hast Du Uns Endlich Gefunden
Edgar Selge - Hast Du Uns Endlich Gefunden
Edgar Selge - Hast Du Uns Endlich Gefunden
Sei willkomm’n,
Du körperlose Luft, die ich umarme!
König Lear I V,1
Hauskonzert
Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im
Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede
freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich
bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist
aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder
Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei
und unterhält sich mit mir.
Mein Vater übt immer fürs Hauskonzert. Ist eins vorbei,
steht das nächste vor der Tür. Wir leben praktisch zwischen
zwei Hauskonzerten. Jedes für sich ist wiederum eine
Doppelveranstaltung. Am Vormittag kommen die Gefangenen
aus der Jugendstrafanstalt von nebenan. Natürlich nicht alle.
Das wären ja vierhundert. Aber um die achtzig sind es schon.
Mein Vater trifft eine Auswahl, als Gefängnisdirektor hat er
eine gute Übersicht. Am Abend kommen die Freunde meiner
Eltern, Akademikerpaare aus unserer Kleinstadt.
An solchen Tagen muss viel umgeräumt werden. Die Jungs
aus der Anstalt, wie wir sie nennen, bringen ihre Stühle zum
Konzert mit. Dafür müssen unsere Möbel aus dem Weg. Also
Tische in die Ecken, Stühle und Sessel neben die Sofas an die
Wand. Vor der Abendveranstaltung muss mit unserem eigenen
Mobiliar eine konzertartige Anordnung hergestellt werden.
Und danach muss alles wieder an seinen ursprünglichen Platz
zurück. Dieses Hin- und Herräumen übernehmen vier
Strafgefangene unter Anleitung meines Vaters.
Die Woche davor ist anstrengend. Ich kriege das gut mit, weil
ich viel Zeit hier auf dem Flur verbringe. Er ist ganz schön lang,
wie eine Kegelbahn, und alle müssen an mir vorbei. Die
Spannung ist mit Händen zu greifen. Mein Vater muss jetzt
endlich die schweren Stellen hinkriegen und übt wie besessen
immer wieder dieselben Passagen. Mal langsam, mal schnell.
Manches wird besser, manches sperrt sich, manches bleibt
riskant.
Dieser Druck überträgt sich auf meine Mutter. Die
Vorbereitungen wachsen ihr über den Kopf. Zwar steht das
Essen nicht im Mittelpunkt, ausdrücklich nicht, immer wieder
wird darauf hingewiesen, dass es beim Hauskonzert nicht ums
Essen geht. Aber eine Kleinigkeit möchte man doch anbieten.
Auch die Strafgefangenen sollen nicht leer ausgehen. Für sie
gibt es Leberwurstbrote und Apfelsaft.
Am meisten strengt meine Mutter der Umgang mit dem
professionellen Geiger an. Er reist ein paar Tage vorher aus
Hamburg an, übernachtet bei uns, probt mit meinem Vater und
ist heikel mit dem Essen. Sobald er da ist, dreht sich alles um
ihn. Er ist Künstler, gibt den Ton an, setzt Maßstäbe, nicht nur
in musikalischen Fragen, sondern grundsätzlich. Mein Vater
kann froh sein, dass er diesen Musiker begleiten darf. Ein Glück
für ihn. Und obwohl er gewöhnlich selbstbewusst auftritt, auch
über Witz verfügt und schlagfertig ist, ordnet er sich diesem
Künstler wie selbstverständlich unter.
Meine Mutter bekommt für ihre Gastfreundschaft vom
Geiger aus Hamburg eine Unterrichtsstunde spendiert. Darauf
muss sie sich gut vorbereiten, hat aber kaum Zeit zum Üben.
Trotzdem ist sie dankbar. Unterricht bei einem so
hervorragenden Virtuosen ist etwas Besonderes. Nachher läuft
sie allerdings mit verweinten Augen herum. Die gnadenlose
Kritik an ihrem Spiel hat ihr zugesetzt. Mir versetzt es einen
Stich in den Magen, wenn sie mir so im Flur begegnet. Sie ist
nicht ansprechbar und schüttelt nur den Kopf, wenn ich sie
frage, was los ist. Sie hat aber zu allem ihre eigene Meinung
und lässt sich nicht unterkriegen. Am Esstisch widerspricht sie
dem Geigenkünstler, wo sie es notwendig findet, macht es
jedoch so, dass mein Vater nicht das Gefühl hat, der Mann
werde in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt.
Spät am Abend, wenn meine Eltern ins Bett gehen, höre ich
dann aus dem Schlafzimmer von meiner Mutter Sätze wie: Das
wird man ja wohl noch sagen dürfen, ohne dass der sich in
seiner Künstlerehre gleich auf den Schlips getreten fühlt.
Ob mein Vater davon träumt, Pianist zu sein, weiß ich nicht.
Er ist pragmatisch und denkt nur über Probleme nach, für die
er auch eine Lösung findet.
Ich vermute, er ist ganz zufrieden damit, genau das zu sein,
was er ist: ein besonders gut klavierspielender
Gefängnisdirektor.
Einmal kreuzt, während ich auf dem Flur stehe und ihm
beim Üben zuhöre, mein Bruder Werner auf. Er stellt sich mit
mir vor die Flügelzimmertür. Seine Augen leuchten, er legt den
Zeigefinger auf den Mund und lauscht.
Hör mal zu, flüstert er.
Von drinnen hören wir: tak tak tak tak.
Das ist das Metronom. Sonst ist Ruhe. Vermutlich inhaliert
unser Vater gerade noch die Schlagzahl, die er sich eingestellt
hat. Dann fängt er an. Eine Klaviersonate von Mozart. A-Moll.
Nichts fürs Hauskonzert, das spielt er nur zum Vergnügen. Auf
Anhieb findet er ein gutes Tempo, natürlicher Ausdruck, als ob
er eine Geschichte erzählt.
Pass auf, flüstert Werner.
Tatsächlich, beim zweiten Thema mit den Sechzehntel-
Läufen eilt unser Vater mit der Musik davon, die Schläge des
Metronoms bleiben zurück.
Hörst du das?
Ich nicke.
Er spielt zu schnell, kein Zweifel. Das merkt man sofort, weil
er schneller spielt, als das Metronom schlägt. Aber er spielt
weiter. Unbeeindruckt. Offensichtlich gefällt ihm sein eigenes
Tempo besser.
Mein Bruder lacht leise. Er hört es nicht!, sagt er. Es stört ihn
gar nicht! Merkst du das? Er hat einfach keinen Rhythmus.
Werner schüttelt immer wieder den Kopf, kann gar nicht
aufhören zu lachen, lässt mich stehen, schließt die Türen hinter
sich, um in seinem Zimmer Cello zu üben.
Er ist seit kurzem Musikstudent. Ich gehe noch zur
Grundschule.
Gut, hat mein Vater eben eine rhythmische Schwäche. Hilft
mir aber auch nicht weiter. Er ist streng und verlangt Respekt.
Ob er nun schneller spielt als das Metronom oder nicht.
Ein anderes Mal, als sich mein Vater in sein Flügelzimmer
zurückzieht, bleibe ich wieder vor der Tür stehen. Hör doch
mal zu, denke ich, vielleicht spielt er gleich wieder gegen das
Metronom an. Aber da kommt nichts. Kein Metronom, kein
Klavier. Nur Schritte auf dem Teppich.
Ich schaue durchs Schlüsselloch. Ist ja gerade niemand in
der Nähe. Ich wundere mich über das Bild vor meinem Auge:
Der Rahmen hat die Form einer Mensch-ärgere-dich-nicht-
Figur, im Zentrum mein Vater, der eine ziellose Runde auf dem
Teppich dreht. Irgendetwas beschäftigt ihn. Er findet einen
Fussel am Boden, hebt ihn auf und legt ihn sorgfältig auf den
Wohnzimmertisch. Er geht zu seinem Lieblingsgemälde,
Rembrandts «Mann mit dem Goldhelm». Sieht fast so aus, als ob
er mit dem Bild redet. Dann schreitet er zum Flügel, dreht sich
um und schaut direkt zu meiner Tür. Ich bekomme einen
Schreck, aber so dumm bin ich nicht: Er kann mich nicht sehen.
Er legt eine Hand auf den schwarzen Deckel des Instruments
und – verbeugt sich. Er steht allein in seinem Flügelzimmer und
verbeugt sich in Richtung der Tür, hinter der ich stehe! Dabei
lächelt er wie eine alte Katze und nickt mehrmals in
verschiedene Richtungen. Auch in meine. Als sei ich ein Saal
voller Leute! Der ist ja wie ich, schießt es mir durch den Kopf.
Jetzt zieht er auch noch sein Taschentuch aus der Hose, reibt
sich den Schweiß von den Handflächen, setzt sich ans Klavier,
wirft das Tuch gekonnt aufs Notenpult, neben das Metronom,
und spielt seine Mozartsonate.
Wieder gelingt ihm das Thema wunderschön. Einfach.
Schnörkellos. Mit dieser inneren Beweglichkeit, die aus Noten
überhaupt erst Musik macht.
Wem soll ich das bloß erzählen, was ich da gerade gesehen
habe? Mein Vater ist ein ernster Mann, ich kann ihn doch nicht
blamieren! Vielleicht träumt er doch davon, Pianist zu sein.
Mit Bach fangen sie an. Mein Gott, ist das schön, wenn der
Geiger mit seinem satten Bogenstrich eine Bachsonate anfängt.
Die Musik reißt gleich mit den ersten Takten eine Tür auf. Vor
Begeisterung kann ich meine Beine gar nicht still halten. Die
Geige strahlt und glänzt, ihr Ton befreit, schafft Platz, ist stark,
lebensbejahend, man atmet gleich ganz anders. Ich bin stolz, in
einer Familie zu leben, wo ich das in natura hören darf.
Es ist mehr als schön. Meine Eltern nennen das sinnlich. Ich
finde, so ein Geigenton ist eine Verführung. Eine Aufforderung
zur Lust, wie sie in meinem Leben sonst nicht vorkommt. Alle
Geiger, mit denen mein Vater spielt, haben ein Vibrato und
einen Bogenstrich, dass mir vor Staunen der Mund offen steht.
Und die Violinsonaten von Bach bis Brahms machen
unmissverständlich klar, dass der Mensch ein triebhaftes
Wesen ist. Das verunsichert die Anwesenden, es beunruhigt
auch die Strafgefangenen, die still sitzen und zuhören müssen.
Ich habe sie ja vor mir. Ich kann sie beobachten von meinem
super Platz. Ich merke, wie Leben in sie kommt und jeder
Einzelne entscheiden muss, ob ihm das gefällt oder nicht. Ob er
es zulassen möchte oder nicht.
Fräulein Arens zum Beispiel muss unmerklich lächeln. Sie
hat einen rötlichen Damenbart, der jetzt breiter wird und
sonnig schimmert. Pfarrer Kubis mit dem Holzbein bekommt
glühende Augen. Seine Frau übt Druck auf ihre Lippen aus.
Jeder wird berührt von der Musik und muss sich dazu
verhalten.
Jetzt entdecke ich auch die Köpfe meiner beiden größeren
Brüder. Sie passen gut zwischen die Gesichter der
Strafgefangenen. Martin, der älteste, macht gerade Abitur und
muss zum Militär. Werner als werdender Musiker braucht kein
Abitur.
Martin und Werner. Sie werden bald das Haus verlassen,
sagen meine Eltern. Furchtbar endgültig klingt das. Das Haus
verlassen? Kommen die nicht zurück?, frage ich.
Nur noch zu Besuch. Gewöhn dich schon mal an den
Gedanken und konzentrier dich ab jetzt auf deinen kleinen
Bruder.
Mit einem Schlag merke ich, wie sehr ich mich an meinen
älteren Brüdern orientiere. Täglich. An ihren Stimmen, ihrer
Widerborstigkeit, ihren Meinungen. Ohne sie wird der Alltag in
unserer Familie leblos sein. Ich sehe mich schon verloren
zwischen meinen Eltern, diesen beiden Panzern, deren
manövrierende Bewegungen ich nicht deuten kann.
Kümmere dich um Andreas, sagen sie immer wieder und
weisen mir damit ein Aufgabenfeld zu. Das macht mich ganz
panisch. Wie soll ich mit meinem kleinen Bruder spielen? Ich
spiele doch gar nicht mehr! Will ich auch gar nicht! Ich will bei
den Älteren dabei sein, zuhören, zugucken.
Zum Trost bekomme ich zu Weihnachten schon mal ein
Messer geschenkt. Es ist ein stehendes Messer mit einem
Hirschhorngriff in einer Lederscheide, die man am Hosengürtel
befestigt. Für die Freizeitfahrten mit dem CVJM. Ein
sogenanntes Fahrtenmesser.
Ist die Schneide auch scharf?, ist meine erste Frage am
Weihnachtstisch.
Draußen ausprobieren! Nicht drinnen! Rufen sie mir zu,
Mutter, Vater, Martin, Werner.
Wer bin ich damals? Es geht mir heute nicht anders als auf dem
Flur meiner Kindheit. Ich langweile mich kaum. Ich gucke
Löcher in die Luft. Ich führe Selbstgespräche. Ich bin derselbe
Träumer.
Mir schießt dieser idiotische Reflex durch den Kopf, ob man das
Gefängnis im Gesicht der Gefangenen sehen kann. Gibt es da
eine Spur ihrer Straftaten? Es muss doch was zu erkennen sein
von dem, was sie ausgefressen haben. Irgendwo muss sie sich
abbilden, die kriminelle Energie!
Kriminelle Energie. Hätte ich dieses Wort bloß nicht gehört.
Mein Vater verplappert sich oft. Er übersieht mich, und dann
ärgert er sich hinterher schwarz, dass ich dabeigesessen bin
und alles mitgehört habe. Er bemerkt mich nicht, weil er so
intensiv mit meiner Mutter und meinen älteren Brüdern redet.
Von Tino spricht er, dem Kindermörder.
Er hat wieder mit Tino geredet und ist erschüttert, wie weich
dieser Mensch ist. Nur noch ein Häufchen Unglück. Und Tino
sagt kaum noch etwas. Er ist verstummt. Er hat das schwerste
Verbrechen begangen, das man sich vorstellen kann, ist aber
völlig frei von jeder kriminellen Energie. Zwischen all seinen
Zellengenossen wirkt er wie jemand, der irrtümlich eingesperrt
wurde. Ich rede mir den Mund fusselig, sagt mein Vater, damit
ich ihn nur wieder zum Sprechen bringe. Er muss hier in die
Familie! Er muss zum Hauskonzert mitkommen. Er muss
begreifen, dass das Leben weitergeht.
Was ist das, kriminelle Energie?, frage ich meinen Vater.
Meine helle, durchdringende Stimme erschreckt ihn. Er ist
wütend, dass er über Tino geredet hat und ich dabei war. Er hat
mich wieder übersehen.
Warum bist du nicht im Bett?, schreit er. Es gibt keine
kriminelle Energie! Wenn du unbedingt wissen willst, was das
ist, schau dich selber an! Die Jungen, die hier in der Anstalt
sitzen, und besonders die, die zu unseren Hauskonzerten
kommen, haben alle gute Gründe, dass sie ihre Strafe absitzen
müssen. Und jetzt ist Schluss mit dem Thema!
Ja, das ist richtig. Im Vergleich zu Tino komme ich mir vor
wie ein charakterschwacher Kleinkrimineller. Meine Notlügen
und lächerlichen Gelddiebstähle haben keine Größe. Tino hat
Größe. Lamont auch. Sie werden von meinem Vater geachtet.
Das liegt an ihrer Persönlichkeit und an ihren Taten. Das eine
ist von dem andern nicht zu trennen.
Sicherheitshalber werde ich am nächsten Sonntag
weggeschickt, wenn mein Vater «Die Brüder Karamasow»
vorliest. Das Kapitel, wo Gruschenka Dimitri verführt, ist dran.
Da kommen anscheinend Sachen vor, die ich auf keinen Fall
hören soll.
Das kriegt Edgar nur in den falschen Hals. Überhaupt ist
Dostojewski für Edgar noch zu früh. Also ab in dein Zimmer!
Warum?, frage ich fassungslos. Dimitri ist in meiner
Phantasie mein Bruder Martin, Iwan ist Werner, und ich bin
Aljoscha. Das weiß natürlich keiner in meiner Familie.
Ich habe mich auf dieses Kapitel gefreut. Ich frage meinen
Vater: Wollen wir nicht erst mal abwarten, was kommt?
Raus, sagt er. Ich weiß schon, was kommt. Du erzählst sonst
nur dummes Zeug in der Nachbarschaft rum. Also ab jetzt!
Ich gehe vor die Tür. Da kann ich aber kaum noch was
verstehen. Alles muss ich mir selbst zusammenreimen. Vor
allem die Sätze über Aljoscha, die muss ich dringend wissen.
Damit ich weiß, wer ich bin.
Natürlich erzähle ich viel bei den Nachbarn rum, was ich bei
uns am Esstisch höre. Die Frauen der Aufsichtsbeamten, bei
denen ich nachmittags meinen Kakao trinke, sind sehr
neugierig. Und mein Vater, wenn er erst richtig in Schwung ist,
erzählt immer mehr, als er möchte.
Dass Frau Joswig, die mit Mann und Söhnen über uns wohnt
und einmal die Woche in unserem Badezimmer die Wanne
benutzt, nur noch eine Brust hat, ist meinem Vater neulich
gegen seinen Willen rausgerutscht. Er musste es sagen, weil er
beweisen wollte, dass ich Frau Joswig nicht durchs
Schlüsselloch nackt gesehen haben kann, wie ich behaupte. Ich
hätte dann sehen müssen, sagt er, dass sie nur eine Brust hat.
Das sei der Beweis, dass ich lüge.
Ich habe nur auf das schwarze Dreieck zwischen ihren
Oberschenkeln geschaut, sage ich wahrheitsgemäß. Sie
trocknete sich gerade ab und hielt wahrscheinlich das
Handtuch vor ihre Brüste.
Sie hat nur e i n e !, schreit mein Vater.
Die Geschichte mit der Brust habe ich rumerzählt, und sie
kam dann über Herrn Joswig wieder zurück zu meinem Vater.
Das war sehr schlecht für mich.
Man kann nichts erzählen, wenn Edgar am Tisch sitzt, sagt
mein Vater zerknirscht. Im Grunde können wir nur noch
stumm unsere Suppe essen.
Jetzt ist Mozart dran. Der langsame Satz dieser Sonate ist
besonders eingängig. Sagt mein Vater. Mozart habe ihn kurz
nach dem Tod seiner Mutter komponiert. Und mein Vater,
dessen Mutter in Königsberg beim Phosphorbombenangriff der
Briten verbrannt ist, lehnt sich zurück und spielt das Thema
mit geschlossenen Augen. Ja. Das Thema strahlt eine
Erschöpfung aus, der man sich gerne überlässt.
Lamont hat seine Freundin erschossen. Er ist gelernter
Buchhändler und arbeitet hier in der Buchbinderei. Er hat
unsere Noten, die nach dem Krieg in einem ausgebombten
Berliner Keller lagerten, alle wieder neu eingebunden und
liebevoll mit einem Lesebändchen aus roter Seide versehen.
Eigentlich wollte Lamont sich auch erschießen. Aber
nachdem seine Freundin tot war, hat die Kraft für ihn selbst
nicht mehr gereicht. So drückt mein Vater das aus. Er ist ein
halber Kleist, sagt mein Vater nachdenklich. Und auf meine
Frage, wer Kleist sei, erklärt er mir geduldig, obwohl er sich
ärgert, dass er sich mit Lamonts Mord schon wieder
verplappert hat, dass es sich bei Kleist um einen verzweifelten
jungen Dichter handle, der sich und seine Freundin am
Wannsee in Berlin erschossen hat.
Wann war das?, frage ich meinen Vater.
Im November. 1811.
Das ist ja lange her.
Ja, sagt mein Vater. Wie viel Jahre sind das? Na?
Ich bin schwach im Kopfrechnen, und mein Vater ist
ungeduldig. Aber er ist gut aufgelegt und hilft mir.
Welches Jahr haben wir jetzt?
1958.
Also? 58 minus 11?
Natürlich 47.
Also 147 Jahre ist Kleist tot. Ein Goethezeitgenosse. Zu
Lebzeiten wurde er als Dichter nicht richtig anerkannt, und
Goethe hat sich gemeinsam mit seinem Freund Schiller über
ihn lustig gemacht.
Und deshalb hat Kleist sich und seine Freundin erschossen?,
frage ich.
Mein Vater nimmt sich einen Augenblick Zeit und erzählt, als
sei er damals Gerichtsreporter gewesen: Das weiß man nicht so
genau. Goethe hat einen Roman geschrieben, in dem sich ein
junger Mann, Werther, aus Liebeskummer erschießt. Das war
ein Bestseller. Viele junge Leute, die selber Liebeskummer
hatten, haben sich nach der Lektüre von diesem Buch
erschossen. Lamont hat dies Buch auch gelesen. Mit seiner
Freundin. Aber er hat nicht begriffen, dass Goethe, der sich
eigentlich auch erschießen wollte, nur am Leben geblieben ist,
weil er das Buch geschrieben hat. Die Leiden des jungen
Werther.
Und weshalb ist Lamont ein halber Kleist?
Mein Vater befürchtet eine logische Schwäche bei mir und
wird etwas ungeduldig.
«Ein halber Kleist ist die Hälfte von einem ganzen», das ist
unter Juristen eine stehende Redewendung, sagt er. Wenn zwei
Menschen gemeinsam Selbstmord begehen, gibt es keinen
Schuldigen. Wenn sich aber zwei Menschen umbringen wollen,
und einer bleibt auf halbem Weg stehen? Was ist dann?
Dann gibt’s einen Schuldigen, antworte ich wie aus der
Pistole geschossen.
Gut, sagt mein Vater, sehr gut. So kannst du Jurist werden.
Das Interessante ist aber nun, dass man ja froh sein muss, wenn
jemand seinen Selbstmord noch kurz vor der Tat stoppt. Auch
wenn er inzwischen zum Mörder geworden ist.
Da muss man bei Lamont besonders froh sein, sage ich.
Du hast vollkommen recht. Aber das berücksichtigt kein
deutscher Richter. Deshalb ist der «halbe Kleist» ein juristisches
Beispiel für den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit.
Aha.
Plötzlich schaltet mein Vater wieder um. Erzähl das bloß
nicht wieder weiter! Die Sache mit Lamont ist mir nur so
rausgerutscht. Aber wenn mir morgen eine der Beamtenfrauen
in der Nachbarschaft sagt, dass sie Angst vor Lamont hat, weil
der seine Freundin erschossen hat, kannst du was erleben! Das
meine ich ernst.
Das erzähle ich bestimmt nicht weiter, verspreche ich und
überlege schon, mit wem ich mich am liebsten über Lamont
unterhalten würde.
Ich mag Lamonts Gesicht. Ich stelle es mir gerne vor. Seine
Lippen sind voll, es ist fleischig um Mund und Nase, ohne fett
zu sein. Die Augen sind tief und schwärmerisch, nicht eng,
sondern eher weit auseinanderliegend, das Haar lockig und
dunkel, aber nicht schwarz, das ganze Gesicht eher breit als
schmal. Wenn ich ihn heute unter den achtzig Gefangenen
nicht finde, wird dies ein verlorener Tag gewesen sein.
Meine Mutter erhebt sich von ihrem Stuhl. Sie steht zum
Umblättern auf. Sorgfältig verfolgt sie die Notenzeilen, achtet
aber gleichzeitig darauf, ob mein Vater ihr ein Zeichen gibt. Sie
muss sich entscheiden, ob sie selbständig umblättern will oder
auf den Blick meines Vaters warten soll. Jetzt nickt er
ungeduldig, sie greift nach dem Eselsohr unten auf der Seite
und beißt sich auf die Lippen, damit bloß die Noten nicht
runterfallen. Ihre Hände zittern. Ich glaube, sie ist aufgeregter
als mein Vater. Natürlich kann sie Noten lesen, aber nicht so
schnell, wie er spielt.
Ich würde wahnsinnig gern mit Lamont über seinen
versuchten Doppelselbstmord, aus dem ein Mord wurde,
sprechen. Ich würde ihm gerne sagen, wie froh ich bin, dass er
sich nicht erschossen hat. Mit ihm gemeinsam habe ich zum
ersten Mal Theater gespielt. Vor einem Jahr, auf der Bühne in
der Turnhalle vom Gefängnis. Fräulein Arens hat inszeniert,
«Was ihr wollt» von Shakespeare. Eine sogenannte
Volksfassung. Oft habe ich versucht, ein Gespräch mit ihm
anzufangen. Aber er guckte immer stur in sein Rollenbuch.
Lamont war Orsino, dieser liebeskranke Herzog, der immer
Musik hören will, um sich noch mehr in seine Sehnsucht nach
der Gräfin Olivia hineinzusteigern. Olivia will aber von Orsino
nichts wissen, und er kriegt sie auch nicht. Nicht mal am Ende
des Stücks. Er muss dann ein junges Mädchen nehmen, das sich
als Mann verkleidet hat, um bei ihm als Liebesbotschafter zu
arbeiten. Sie heißt Viola und wirbt unter dem Namen Cesario
bei Olivia für Orsino. Dabei verliebt sich Olivia in dieses als
Mann verkleidete Mädchen, und der junge Mann, der eigentlich
ein Mädchen ist, verliebt sich in Orsino. Das ist alles ziemlich
verworren, vor allem, wenn alle Schauspieler männliche
Strafgefangene sind, die dann Frauen spielen, die sich
wiederum als Männer verkleiden.
Ich hatte eine Rolle mit zwei Minisätzen. Am Anfang des
Stücks frage ich Lamont: «Wollt Ihr nicht jagen, gnädiger
Herr?» Ich frage das, um ihn von seinem Liebeskummer
abzulenken. Und Lamont fragt zurück: «Was, Curio?» Und ich
antworte, mit allem Optimismus, den ich aufbringen kann:
«Den Hirsch!» Und Lamont antwortet darauf mit einem dieser
komplizierten Sprachbilder von Shakespeare, die man erst
nach mehrmaligem Lesen verstehen kann: «Das tu ich ja! O wie
ich Olivia zum ersten Male sah, schien mir, sie reinigte die Luft
von einem giftigen Nebel. Von diesem Augenblicke an war ich
in einen Hirsch verwandelt, und meine Begierden, gleich
wilden, hungrigen Hunden, verfolgen mich seither.»
Lamont sprach Orsinos Text sehr langsam und verständlich,
in kölnischem Dialekt. Er wusste, was er sagte, und musste es
nicht spielen. Es klang traurig und aussichtslos. Hundert
Strafgefangene und viele Aufsichtsbeamte, die an den Wänden
standen und erstaunt, ja ungläubig auf die Bühne schauten,
konnten erleben, wie Lamont seine eigene Geschichte erzählte.
Ich habe ihm versunken zugehört und vergessen, dass ich ja
auch auf der Bühne stehe. Erst als Fräulein Arens aus der
ersten Reihe mehrmals aufgeregt in meine Richtung winkte
und flüsterte: Edgar, Menschenskind, du musst doch abgehen!,
habe ich die Bühne verlassen und aus der Gasse weiter
zugeschaut.
Ich baumele mit den Beinen auf meinem Stuhl und muss sagen,
dass mich Mozart manchmal schon langweilt. Irgendwie
komme ich hier gar nicht vor.
Das Schubert-Duo, das als Nächstes drankommt, spricht mich
mehr an, als mir lieb ist. Es besetzt meine Gefühle und raubt sie
mir gleichzeitig. Es macht mich zum Opfer. Immer von
derselben Melodie in endlosen Modulationen herumgeführt zu
werden, geht mir auf die Nerven. Schließlich wird man ganz
willenlos und weiß nicht mehr, wer man ist. Ich habe dem
nichts entgegenzusetzen. Mit dieser Musik kann ich nichts in
mir aufbauen.
Mein Bruder Werner schon. Aber er ist eben ein Musiker.
Mit seinen muskulösen Armen schaufelt er täglich Etüden wie
ein Kohlearbeiter. Klar, dass der auf dem Teppich bleibt, wenn
er die schönsten Melodiebögen aus den beiden Schubert-Trios
spielt. Mich schwemmt diese Musik weg. Wahrscheinlich
nehme ich Schuberts Sehnsucht zu wörtlich.
Ich bin ein mittelmäßiger Klavierschüler, habe Mühe mit
dem Notenlesen und dem Rhythmus. Harmonielehre ödet mich
an. Wenn ich das erste Stück aus Robert Schumanns
«Kinderszenen» übe, «Von fremden Ländern und Menschen»,
ahne ich, wie schön das klingen könnte, würde man es flüssig
spielen. Aber statt zu üben, nehme ich die Hände von den
Tasten und träume vor mich hin.
Das ist unbefriedigend und nicht günstig für meine
musikalische Entwicklung. Ganz ähnlich wie bei den Mädchen.
Wenn ich von einer nicht mehr weggucken kann, verfalle ich in
eine Starre und bin sprachlos. Am Abend forme ich einen
Kopfabdruck in mein Kissen und lege meine Wange vorsichtig
daneben. Auch das ist unbefriedigend und bringt mich nicht
weiter.
Manchmal kommt es vor, dass ich ausnahmsweise ein
Klavierstück zu Ende geübt habe und vorspielen kann.
Komischerweise klingt es gut, der Flügel singt, mehr sogar als
bei meinem Vater, die Musik atmet, und ich kann meine
zuhörende Umwelt dahingehend täuschen, dass sie glaubt, da
müsse doch mehr bei mir drin sein.
Es ist aber nicht mehr drin. Denn ich spiele vor allem einen
Pianisten, der ein Musikstück spielt.
Meine Stimmung ist jetzt im freien Fall. Ich versuche, mich
an den Bildern festzuhalten, die hier an den Wänden hängen.
Diese goldgerahmten Rembrandts und van Goghs. Aber es sind
Kunstdrucke, keine Bilder. Gedächtnisstützen, die an die
Originale erinnern sollen.
In der Hämelingerstraße bei Stellbrink, wo mein Vater die
Rahmen für die Drucke aussucht, steht im Schaufenster ein
richtiges Bild. Ein Original mit so dick aufgetragener Farbe,
dass ich mit der Handfläche drüberfahren möchte. Es zeigt eine
junge Frau in südlicher Kleidung, vollbusig, mit roten Lippen
und schwarzen, wehenden Haaren, die dem Betrachter
schwungvoll eine Obstschale entgegenhält. Unter dem Bild
steht: «Zigeunerin». Der Name des Malers ist gar nicht
angegeben.
Mein Vater findet es so kitschig, dass er sich an den Kopf
fasst bei der Vorstellung, jemand könne sich das ins
Wohnzimmer hängen. Er nimmt es sogar Herrn Stellbrink übel,
dass er so was in sein Schaufenster stellt.
Aber bei den Aufsichtsbeamten und ihren Frauen, die hier
rund um die Gefängnismauer wohnen, hängen solche Bilder.
Manchmal noch ein röhrender Hirsch dazu. Und alles
Originale.
Was für ein billiger Kitsch!, lästert mein Vater, als ginge
davon ein Angriff aus. Kommunismus und Kitsch, das sind die
zwei Bedrohungen seiner Welt. Vom Kommunismus verstehe
ich noch nicht so viel, aber die Diktatur seines guten
Geschmacks kann ich spüren. Ein unsichtbares Gitter scheint
Kunst vom Kitsch zu trennen, eine Art eiserner Vorhang. Auf
der richtigen Seite versammele sich die tonangebende Schicht
der Menschheit, sagt mein Vater.
Und auf der falschen?
Der Geiger, mit dem mein Vater heute auftritt, ist ein
Hamburger Kaufmannssohn, der als Schüler bereits
Tschaikowskys Violinkonzert öffentlich gespielt hat. Ein
ziemliches Ass also. Er erzählt uns, dass er extrem unter
Lampenfieber leidet. Vor seinen Solokonzerten hätte er sich am
liebsten in der Künstlergarderobe die Finger abgehackt, um
nicht in den Saal rausgehen zu müssen. Seine rechte Handkante
fährt auf die Finger seiner Linken wie ein Fallbeil, und er
wiederholt mit seinen fetten Lippen: Nur noch abhacken! Nur
noch abhacken! Damit endlich Schluss ist! Mit diesem
entsetzlichen Lampenfieber!
Deshalb hat er keine Solokarriere gemacht, sondern ist als
Vorgeiger der zweiten Geigen in einem Orchester für
Barockmusik untergetaucht. Zum Trost spekuliert er an der
Börse und sammelt kleine Goldstücke. Mir hat er eins gezeigt.
Er hat es aus seinem speckigen Portemonnaie geholt und mir
stolz in die Hand gedrückt. Mit Speichel auf den Lippen und
glänzenden Augen hat er gesagt: Da, eine echte Goldmünze!
Schau mal, wie blank die ist!
Ich habe mich artig bedankt, weil ich dachte, er will sie mir
schenken. Aber da hat er gekreischt, als würde ich ihm aufs
Hühnerauge treten: Zeigen will ich es dir! Bloß zeigen! Gib das
sofort wieder her!
Und während er das Portemonnaie schnell wieder dem
Schutz seiner Gesäßtasche anvertraut, ruft er empört: Dies Kind
glaubt, ich verschenke Gold!
Mit meinem Vater ist er streng. Die Geige unterm Kinn und
ohne sein Spiel zu unterbrechen, schreit er ihn beim Üben
gequetscht an: Nicht-ei-len! Nicht-ei-len! Irgendwann klopft er
mit dem Bogen aufs Notenpult des Flügels: Hier um den
Buchstaben Dora herum, Herr Doktor, ist noch Kuddelmuddel.
Das müssen Sie aber noch mal ganz sorgfältig üben, nicht?
Mein Vater schluckt das runter.
Ich kann nicht fassen, dass jemand so mit ihm redet wie er
sonst mit mir. Wahrscheinlich das Schicksal eines Dilettanten,
der mit Berufsmusikern spielen will. Sie lassen ihn spüren, dass
sie handwerklich eine andere Klasse sind. Aber mein Vater
steckt das ohne Widerspruch weg. Er liebt den Ton der Geige zu
sehr. Er ist süchtig danach, es ist seine Passion, er ist bereit,
dafür zu leiden. Er will einfach große Geiger begleiten. Dafür
schlägt sein Herz.
Auch meine Mutter spielt Geige. Und natürlich steht eine
Frage im Raum, die sie nicht stellt, die ihr aber vielleicht doch
manchmal durch den Kopf geht: Warum spielst du nicht mit
mir? Warum muss ich Essen kochen, Wäsche waschen, Kinder
erziehen? Warum müssen hier Geiger von auswärts anreisen,
für die ich die Arbeit mache und die mich dann in der
Geigenstunde runterputzen, dass mir Rotz und Wasser auf den
Kinnhalter läuft? Warum ist das mein Leben?
Jeden Tag holt sie ihre Geige hervor, nur eine halbe Stunde.
Das rettet sie. Sie will nicht in Hausarbeit ertrinken. Zum Üben
geht sie ins Elternschlafzimmer, wo auch ihr Schreibtisch steht.
Dabei höre ich meiner Mutter oft zu, wie immer durch die
geschlossene Tür, und mache mir so meine Gedanken. Es klingt,
als ob sie der Geige mit dem Bogen auf den Saiten nicht zu sehr
weh tun will. Es wirkt zu vorsichtig. Nicht hässlich, gar nicht.
Nicht zum Weglaufen, wie bei vielen, die sich an dieses
Instrument verirren. Ihr Ton klingt sympathisch. Aber es gibt
keinen Zweifel: Eine Geigerin ist sie nicht. Eher eine Anti-
Geigerin. Ein schnelles Vibrato steht nicht in ihrer Macht. Da
kann sie üben und noch mal üben, aus diesem Ton wird nichts.
Er entwickelt sich nicht. Der leidenschaftliche Zugriff, das
Verführerische, die anheizende Sinnlichkeit, die den Hörer im
Mark treffen will – das ist sie als Person nicht. Leider. Aber sie
liebt ihr Instrument innig und hält zäh an ihm fest.
Das Problem ist noch komplizierter. Meine Mutter will auf
den Hauskonzerten meines Vaters gar nicht auftreten. Es ist ihr
alles ein paar Nummern zu groß. Der offizielle Rahmen, das
ganze künstlerische Anspruchsdenken geht ihr gegen den
Strich.
Als sie 1936 seinen ersten Heiratsantrag ablehnte, hat sie
schon geahnt, dass ihre Interessen klaffen. Mein Vater hat sich
ins Zeug gelegt, um sie für das gemeinsame Leben zu gewinnen.
Sicher hat er auch gesagt: Du spielst Geige – ich spiele Klavier.
Das könnte doch so schön sein.
Es wird aber nicht nur schön. Gerade das mit Geige und
Klavier wird nicht so schön. Am Sonntagvormittag spielen sie
langsame Sätze. Aber irgendwann fällt meiner Mutter auf, dass
es Sozialdienst ist, den mein Vater da leistet. Er ist einfach nicht
begeistert von ihrem Spiel. Wenn man so süchtig nach dem
schönen Geigenton ist wie er, wird es zur Qual, diese Frau zu
begleiten. Sie spürt das. Sie wird sein Gefängnis, und befreien
kann ihn nur ein Profi, mit dem er üben und Konzerte geben
kann.
Dabei ist sie die Frau seines Lebens. Immer wieder sagt er:
Die oder keine! Aber wenn es um Kammermusik geht, ist ihre
Beziehung bedroht. Sie sprechen es nicht aus. Niemand will es
wahrhaben: sie selbst nicht, meine Brüder nicht – und ich? Ich
kann einfach nicht drüber hinweggucken.
Den Tag sehe ich noch genau vor mir, wo ich mit meinem
Fahrtenmesser vorm Sofatisch gesessen bin und nicht wusste,
wohin mit mir. Raus konnte ich nicht gehen, zu nass. Es goss in
Strömen. Ich habe den Flügel angeschaut, den neuen, blanken
Steinway meines Vaters. Das wird nichts mit mir als Pianist.
Mir fehlt da was. Ich mag gern Musik. Sie löst viel in mir aus,
aber sie macht mich immer zum Opfer. Sie zu gestalten? Das
packe ich nicht.
Auf dem Steinway liegt eine Reitpeitsche. Das Requisit
meines ältesten Bruders aus einer Schulaufführung, «Leonce
und Lena» heißt das Stück, von Büchner. Die letzte Aufführung,
bevor er die Schule verlässt. Er spielt Leonce. Ich hab es nicht
gelesen, es scheint lustig zu sein, mein Bruder hat ein bisschen
erzählt. Leonce ist ein Prinz aus dem Königreich Popo. Und
Lena kommt aus dem Königreich Pipi. Und der Vater von
Leonce, König Popo, läuft in der Unterhose rum, philosophiert
über Kant und ruft: «Der freie Wille steht da vorn ganz offen.»
Offensichtlich braucht Leonce in dem Stück eine
Reitpeitsche. Die Freundin meines Bruders spielt Lena.
Ich habe mein Messer in der Hand. Es muss kurz nach
Weihnachten sein, das Messer ist ja ein Weihnachtsgeschenk.
Jedenfalls habe ich es noch nicht ausprobiert.
Bald ist mein Bruder weg. Aber seit er diese Freundin hat,
die die Lena spielt, ist er sowieso weg. Innerlich. Meine Mutter
kann das gar nicht fassen, wie der innerlich weg ist, seit er
diese Freundin hat. Andauernd kriegt sie Weinkrämpfe. Wie
ein Kind, das etwas nicht hergeben will.
Ich schaue die Schneide von meinem Messer an. Wie scharf
ist die wohl? Ich lasse sie mal auf die Tischkante fallen. Sie hakt
sich sofort fest. Noch könnte ich sie zurückziehen. Aber ich will
wissen, wie hart das Holz ist, und drücke etwas nach. Es
passiert mir noch zu wenig. Ich schiebe die Klinge hin und her.
Jetzt sitzt sie einen Zentimeter im Holz. Ich werde nervös und
ziehe das Messer zu schnell weg. Dabei dreht sich die Klinge
und hebt einen ganzen Span hoch. Was ich da sehe, sieht nicht
gut aus. Unter der Politur hat das Holz eine ganz andere Farbe.
Viel heller. Ob ich das mit Schuhcreme abdecken kann?
Schnell hole ich eine Tischdecke, lege sie sternförmig so auf,
dass eine Ecke der Länge nach über der Macke hängt. Das muss
erst mal reichen.
Jetzt gehe ich auch noch auf den Flügel zu, nehme die
Reitpeitsche in die Hand und schlage sie gegen mein
Hosenbein. Es klatscht. Das kann man fester und weniger feste
machen. Kann jedenfalls weh tun.
Gut, dass mein Vater keine Reitpeitsche statt des Rohrstocks
benutzt. Es gibt einen Mitschüler von mir, der muss mit seinem
Vater, einem Marinepfarrer, und einer Reitpeitsche in den
Keller.
Ich nehme das Messer und setze es an der Mitte der Peitsche
an, 45 Grad, so wie man eben schnitzt. Ich habe keine Ahnung,
wieso ich das tue. Ich mag meinen Bruder, kann mir durchaus
vorstellen, dass ein Theaterrequisit lebenswichtig ist. Ich will
auch nur … ich will auch nur mal … ich will doch eigentlich gar
nicht … Schon ist es passiert. Die Reitpeitsche besteht plötzlich
aus zwei Teilen. Nur eine schmale Faser verbindet sie noch.
Unfassbar, wie schnell das passiert ist.
Meine Stimmung ist am Boden. Tiefer geht’s nicht. Komisch
sieht sie aus. Wie schlapp der vordere Teil herunterhängt. Ich
lege sie sorgfältig auf den Flügel zurück und schiebe die Teile
zusammen.
Wenn man sie so sieht, ahnt man nichts.
Ich stelle mir vor, wie mein Bruder die Peitsche vom Flügel
nimmt, der vordere Teil plötzlich 90 Grad herunterhängt, sehe
sein ungläubiges Gesicht vor mir und muss lachen. Ich muss so
lachen, dass ich mir von innen auf die Backen beiße.
Was für ein Teufel steckt bloß in mir? Wie lange werden sie
draufschlagen müssen auf mich, auf meinen Po, auf meinen
Rücken, in mein Gesicht, bis dieser Teufel endlich Reißaus
nimmt.
Kirmes
Heute ist mein Vater aus Wien zurückgekommen, von einer
Vollstreckungsleitertagung. Da treffen sich Gefängnisdirektoren
und Jugendrichter aus ganz Europa. Ich glaube, sie sprechen
über Resozialisierung.
Die Strafe soll in den sogenannten Papieren – das müssen die
Ausweise sein – in Zukunft schneller gelöscht werden. Die
Gesellschaft, sagt mein Vater und betont, dass wir das alle sind,
muss lernen, ehemalige Häftlinge wieder aufzunehmen, als
wären sie nie straffällig geworden. Das sei aber nicht so leicht,
die meisten Menschen sträubten sich dagegen. Sie wollen eben
niemanden in ihren Reihen, der schon mal gesessen hat. Am
besten sei, sagt mein Vater, wenn die Strafe gelöscht wird.
Wenn niemand etwas von der Vergangenheit des anderen
weiß. Anders gehe es wohl nicht.
Ich habe da noch eine andere Idee: Es wäre doch das
Einfachste, wenn die Gefängniszeit grundsätzlich nicht als
Makel angesehen wird, sondern als wertvolle Erfahrung, die
die meisten von uns nicht machen. Aber das hält mein Vater für
abwegig.
Er wirkt verändert, als er aus Wien zurückkommt. Geradezu
aufgewühlt. Das hat aber nichts mit der Tagung zu tun. Es liegt
an Wien, an dem Eindruck, den diese Stadt bei ihm hinterlassen
hat.
Erinnerungen an seine Heimat Berlin sind wach geworden,
an das alte Berlin, das Berlin vorm Krieg, das es nicht mehr
gibt. Wiens unzerstörte Prachtbauten und die Ringstraße haben
eine heftige Wehmut in ihm ausgelöst. Vor allem die Staatsoper
und das Burgtheater.
Und Werner Krauß, den er gestern Abend noch als König
Lear gesehen hat: Diese Aufführung muss ihm einen Schock
versetzt haben. Offensichtlich hat er plötzlich gemerkt, was er
in seinem Leben alles verloren hat.
Krauß war schon im Berlin der zwanziger Jahre sein
Lieblingsschauspieler. Da war auch unser Vater in seinen
Zwanzigern und ein leidenschaftlicher Theaterbesucher. Die
Aufführungen, in denen Krauß damals gespielt habe, hätten ihn
lange verfolgt. Das hat er uns oft erzählt. Tage habe er
gebraucht, um seine Ergriffenheit wieder abzuschütteln.
Als er jetzt mit seinem Koffer in der Hand unser Haus betritt,
sagt er statt ‹Guten Tag›: Ich habe gestern Krauß als Lear
gesehen! Dann versagt ihm die Stimme. Etwas schnürt ihm den
Hals zu, und als er über den Flur ins Schlafzimmer geht,
befindet er sich offensichtlich mit König Lear auf der Heide.
Das sehe ich ihm an. Ich kenne mich aus in seinem Gesicht.
Ebenso in der Geschichte von König Lear. Mein Vater hat sie so
oft erzählt, dass ich denke, ich hätte das Stück gelesen.
Während der langen Zugfahrt von Wien nach Herford hat er
mit dem Reclam-Heft in der Hand jeden Moment der
Aufführung noch mal ablaufen lassen. Vor allem Lears Angst
vor seinen Töchtern. Das Unrecht, das sie ihm zufügen.
Lear hat den drei Töchtern sein Reich vorzeitig vererbt. Er
hat sie gefragt, wer ihn am meisten liebt. Offensichtlich hat
Lear Angst, nicht genug geliebt zu werden. Ausgerechnet die
Jüngste, die sich weigert, seine Frage zu beantworten, verbannt
er in einem Anfall von Zorn. Und nachdem ihn die beiden
anderen Töchter mit einer überwältigenden Liebeserklärung
nach Strich und Faden belogen haben, schmeißen sie ihren
Vater raus und überlassen ihn schutzlos einem furchtbaren
Unwetter.
Das kann unser Vater nicht fassen. Am Esstisch lässt er das
Fleisch an seiner Gabel kalt werden, um uns den Wahnsinn
vorzuspielen, wenn Krauß sich mit Wind, Blitzen und Donner
gegen seine Töchter verbündet. Krauß oder Lear – das ist für
ihn dasselbe. Er fährt sich in die Haare, stiert in die Gegend und
wiederholt: Krauß war außer sich. Da war nichts mehr gespielt.
Dabei merkt er gar nicht, dass er selbst außer sich ist. Das
beunruhigt mich.
Unser Vater fühlt sich durch die Lear-Töchter so bedroht,
dass ich den Verdacht habe, er meint eigentlich uns: Martin,
Werner und mich. Aber meine beiden Brüder sind nicht
Goneril und Regan. Sie würden niemals einem Gloster die
Augen herausreißen und ihren Vater in den Wahnsinn treiben.
Sie sind mit Mitgefühl und Menschlichkeit gepolstert. So wie ich
auch. Wir sind keine Ungeheuer. Sicher sind wir auf unseren
Vater oft wütend. Er lässt uns ja spüren, welche Macht er über
uns hat, bis wir einundzwanzig sind. Und auch danach wird er
uns mit seinen knapp bemessenen Monatswechseln knebeln.
Aber deswegen sind wir noch lange keine Furien und
Rachegeister. Ich fürchte, dass Lear und Werner Krauß bei ihm
eine grundsätzliche Angst vor Nachkommen geweckt haben.
Ausgerechnet heute, am Tag seiner Rückkehr aus Wien, habe
ich die heftigste Tracht Prügel von ihm bekommen, an die ich
mich erinnern kann. Es ist wirklich mysteriös, wie es dazu
kommen konnte. Da hat sich ein völlig normaler, etwas
komplizierter Vorgang zu einer Handlung entwickelt, die mich
als raffinierten Lügner dastehen lässt. Sich zu rechtfertigen, ist
immer blöd, aber ich kann beim besten Willen keinen Fehler
bei mir finden, für den ich diese Prügel verdient hätte.
Am Vormittag – mein Vater war noch nicht zurück – hat
mich Otto Joswig gefragt, ob ich später mit ihm auf die Kirmes
gehen möchte. Natürlich war ich begeistert von seinem
Vorschlag. Otto ist acht Jahre älter als ich, ein Hüne, genauso
wie sein Bruder und sein Vater. Nur die Mutter ist zart. Wenn
Otto die Treppe herunterkommt, wird es dunkel im
Treppenhaus, weil er mit seinen breiten Schultern das
Fensterlicht abdeckt. Er stottert ein wenig, aber er spricht auch
nicht viel. Ganz anders als ich. Ich stottere auch, aber nur, weil
ich in zu kurzer Zeit zu viel zu erzählen habe.
Mit Otto auf die Kirmes zu gehen – das ist praktisch eine
ganz andere Kirmes für mich, als wenn ich da mit
Gleichaltrigen oder mit meiner Mutter hingehe. Otto
interessiert sich für Achterbahn, Wilde Maus und Schießen, isst
Würste statt Eis, er würde nie vorm Kaspertheater stehen
bleiben.
Als dann mein Vater in der Tür stand, mit Koffer und König-
Lear-Gesicht, habe ich Otto erst mal vergessen. Nach dem Essen
habe ich aber sofort von seinem Angebot er- zählt.
Wir wollen nicht, hat meine Mutter gesagt, dass Otto dich
einlädt.
Mein Vater hat sein Portemonnaie gezückt und mir fünf
Mark gegeben. Es wäre nett, hat er mir zugeflüstert, wenn ich
den Abwasch machen würde, dann könne er sich mit meiner
Mutter gleich hinlegen.
Ich habe mich bedankt, abgewaschen und gewartet. In
meinem Kinderzimmer. Otto ist nicht gekommen. Meine Eltern
haben länger geschlafen als sonst. Die große Stille brach aus.
Die kenne ich sehr gut. Dann liegt die ganze Welt hinter einer
dicken Scheibe.
Wann wird Otto kommen. Wird er mich finden. An welche
Tür wird er klopfen. Oder hat er mich vergessen.
Schließlich gehe ich die Treppe rauf und klingele bei Joswigs.
Die zarte Mutter öffnet. Ja?
Ist Otto da?
Otto? Was willst du denn von dem?
Der wollte mit mir auf die Kirmes gehen.
So? Hat er mir nix von gesacht.
Hat er mir vorhin versprochen.
Aber Otto ist gar nicht da.
Das versteh ich nicht.
Hast du da vielleicht was missverstanden?
Nein. Wann kommt der denn wieder?
Heute Abend. Spät.
Spät?
Ja sicher.
Ja, dann geh ich mal wieder.
Man sagt «Auf Wiedersehen», sagt Frau Joswig und schließt
die Tür.
Ich geh die Treppe runter.
Irgendwie traurig, nicht? So unzuverlässig, dieser Otto. Was
mach ich jetzt?
Ich gehe mal raus. Frische Luft schnappen.
Ich fühle die fünf Mark in der Hose, reibe mit der Hand das
Geldstück in der Tasche. Meine Beine tragen mich in Richtung
Kirmes.
Die Geräuschmischung aus Schlagern, Karussells,
Losverkäufern, Ausrufern vor den Schaubuden, brabbelnden
Menschenmassen, aufheulenden Sirenen, wenn die neue Runde
losgeht bei den Autoselbstfahrern, und Jauchzern von der
Achterbahn wecken meine Sehnsucht. Viel kraftvoller,
einladender ist diese Welt als König Lear mit seinen Angst- und
Rachephantasien. Die Menschen, die hier arbeiten, sind knallig
angezogen, ihre eng anliegende Kleidung scheint zum Körper
zu gehören, fast alle sind schwarzhaarig, manche haben eine
gelbliche Haut. Ich kann gar nicht weggucken. Es könnte mir
gefallen, diese Menschen anzufassen und von ihnen umarmt zu
werden.
Am meisten interessieren mich die Buden, wo draußen auf
einer kleinen Vorbühne verkürzt demonstriert wird, was man
drinnen gegen Geld ausführlicher sehen kann. Ich kann mich
gar nicht trennen von einer Art Teewagen, der ziemlich hoch
und von einem langen Tuch bedeckt ist. Darunter soll sich eine
Frau mit zwei Köpfen befinden. In der Vorstellung werde das
Tuch weggezogen, und man erlebt dann, wie die beiden Köpfe
miteinander sprechen.
Ich entscheide mich aber für den schlafenden Mohammed in
der Bude nebenan. Ich muss mir ja die fünf Mark gut einteilen.
Meine Damen und Herren!, ruft der Budendirektor mit dem
feinen Schnurrbart, Mohammed steht seit Jahren in seinem
Schrank im Tiefschlaf. Wir wecken ihn kurz für Sie auf. Mit
Hilfe von Starkstrom. Sie werden ihn ein paar Schritte gehen
sehen. Wir füttern ihn mit rohem Gemüse. Dann bringen wir
ihn wieder in seinen Schrank, und er schläft weiter, als sei
nichts gewesen. Mohammed überlebt uns alle. Wir wissen
nicht, wie alt er ist. Schon mein Großvater hat ihn im
Wintergarten im alten Berlin vorgeführt.
Außerdem sehen Sie hier Deliah mit der zehn Meter langen
Usambarapeitsche. Sie wird mir diese Zigarette mit der Peitsche
von den Lippen wegschlagen, ohne mich zu verletzen. Komm,
Deliah, lass mal die Peitsche knallen!
Eine üppige, gestiefelte Frau in engem, kackbraunem
Lederrock rollt schon mal mit einem Knall die zehn Meter lange
Usambarapeitsche aus. Sie macht das wie unbeteiligt, aber
kraftvoll. Durch die Lederschnur läuft eine Schlaufe immer
schneller auf die Spitze zu, entlädt sich mit Überschall im Knall
und hängt im selben Augenblick auch schon schlaff am Boden.
Lässig rollt Deliah ihre Peitsche wieder auf und schaut uns
gelangweilt an, mit einer Mähne aus blonden Dauerwellen und
zwei starren Brüsten unter dem engen Perlon-Pulli.
Der ganze Vorgang löst bei mir ein inneres Summen aus, wie
in Trance gehe ich die Treppe rauf zur Kasse und lege meine
fünf Mark auf den Teller.
Drinnen sehe ich den schlafenden Mohammed in seiner
überdimensionalen Schuhschachtel stehen, auf ein
funkenstiebendes Stromgeräusch hin beginnen seine
Augenlider zu zittern, er zeigt eine Weile nur das Weiß seiner
Augäpfel und stolpert dann ein paar Schritte wie ein Spastiker
über die Bühne. Er gibt auch Laute von sich, frisst Gemüse,
aber nur sein Kostüm ist wirklich gut. Wie aus
Tausendundeiner Nacht. Den Rest kann man vergessen. Das
kann ich auch, was der macht.
Ich habe dann noch viele Lose gekauft, weil ich einen
Fresseimer gewinnen wollte, aber in jedem aufgerissenen
Papier stand: Niete.
Dann bin ich Raupe gefahren. Ich mag dies sanfte Auf und
Ab, die Wellenbewegungen, die roten weichen Ledersitze und
das Heulen, wenn sich das grüne Zeltdach über den Wagen legt,
die Fahrt im Halbdunkel geschwinder wird und die Musik in
der Lautstärke anzieht. Das ist zwar alles für Liebespaare
erfunden, die sonst keine Gelegenheit zum Küssen haben, aber
ich träume dann von meiner Zukunft, und die ist auch schön.
Zum Schluss kaufe ich noch ein Eis, nicht so ein
kugelförmiges, italienisches Eis, sondern dies cremige Eis, das
wie eine Hochfrisur aus der Waffel steigt und das es nur auf
der Kirmes gibt. Ja, und dann – dann ist das Geld alle. Das geht
so schnell.
Und irgendwas stimmt nicht. Das spüre ich. Mit schwerem
Herzen und schweren Beinen gehe ich nach Hause. Ich weiß,
ich habe einen Fehler gemacht, aber ich weiß nicht genau,
welchen.
Das Geld habe ich bekommen, um mit Otto auf die Kirmes zu
gehen. Der hat sein Versprechen nicht gehalten. Was heißt das?
Ich hätte warten sollen. Ich hätte nicht allein gehen sollen.
Schmerzhaft wird mir bewusst, dass ich kein neues Geld
herstellen kann. Ich verstehe die Jungs hinter der Mauer, die
Raubüberfälle geplant und ausgeführt haben, um an so viel
Geld zu kommen, dass dies leidige Problem ein für alle Mal
erledigt ist.
Ich befinde mich bereits in der Sackgasse der Eimterstraße
mit dem grauen Tor am Ende und laufe an unserm
schmiedeeisernen Zaun vorbei.
Drinnen kocht mein Vater Kaffee.
Na, wie war’s mit Otto auf der Kirmes?
Schön.
Du bist aber jetzt allein nach Hause gekommen.
Ja. Otto ist noch geblieben.
Bums! Das hätte ich nicht sagen sollen. Das war absolut
unnötig. An dieser Stelle hätte ich den ganzen komplizierten
Vorgang erzählen sollen.
Mein Vater spürt sofort die leichte Unsicherheit in meiner
Stimme. Er ist einfach der geborene Staatsanwalt. Das kann
man nicht lernen. Das ist Instinkt.
Aber du warst mit Otto zusammen auf der Kirmes, oder?
Ja, sage ich noch mal.
Dann entsteht eine lange Pause, und die kommt meinem
Vater spanisch vor.
Da stimmt doch was nicht, sagt er. War Otto jetzt mit dir auf
der Kirmes oder nicht?
Nein, antworte ich, Otto konnte nicht.
Auch das war eine saublöde Antwort, nicht wahr? Wieso
sage ich: Otto konnte nicht? Hätte ich gesagt, dass ich auf ihn
gewartet habe, er mich aber wohl vergessen hat, und ich extra
bei seiner Mutter geklingelt und nach ihm gefragt habe und
dann enttäuscht allein auf die Kirmes gegangen bin, wäre alles
im grünen Bereich gewesen.
So entsteht wieder eine Pause, mein Vater setzt die
Kaffeekanne ab und sagt: Dann gib mir das Geld zurück.
Das habe ich nicht mehr.
Das hast du also auf der Kirmes schon ausgegeben.
Mhm.
Alles?
Ja.
Hast du dir die Geschichte mit Otto ausgedacht?
Nein. Warum?
Damit ich dir Geld gebe?
Nein, natürlich nicht.
Lüg mich nicht an!
Otto wollte mit mir auf die Kirmes gehen, sage ich fest und
deutlich.
Er fixiert mich und sagt beinahe freundlich: Dann gehen wir
jetzt zu Frau Joswig rauf und fragen sie einfach mal, ob das
auch stimmt.
Jetzt fängt mein Hirn zu rattern an: Ob das so günstig ist? Sie
wird ihm die Tür öffnen: Ach, Herr Doktor! Wie schön, Sie zu
sehen. Ob Otto mit Edgar auf die Kirmes wollte? Das kann ich
mir eigentlich kaum vorstellen. Das ist sicher ein
Missverständnis. Das wird sie sagen. Todsicher.
Und was würde mein Vater daraus folgern? Das will ich mir
gar nicht ausmalen.
Ich könnte jetzt sagen: Papa, warte, bis Otto kommt. Frag ihn
heute Abend. Aber würde Otto der Spannung, die dann im
Raum läge, standhalten? Wäre das nicht eine schwierige
Situation für ihn?
Wenn ich ihn beschwören würde: Otto, erinnere dich doch!
Heute Vormittag, auf der Treppe! Würde Otto dann nicht
anfangen zu stottern? Ottottottotto. Und würde er nicht mit
seinen breiten Schultern zucken? Als wüsste er nicht, was er
sagen soll?
Und ich würde wiederholen: Otto, erinnere dich doch! Und
mein Vater würde mich anbrüllen: Willst du etwa behaupten,
dass Otto lügt? Und das Geschirr würde im Schrank klirren.
Vielleicht stünden sogar Ottos Eltern im Hintergrund und
würden mit einer Stimme, unisono, sagen: Unser Otto lügt
nicht.
Das spielt sich alles in meinem Kopf ab, während mein Vater
mich fest im Blick hat. Was aber in diesem Moment passiert, ist,
dass mein Glaube an das, was wirklich war, schmilzt. Ich bin im
Recht, doch das Gefühl, im Unrecht zu sein, beherrscht mich
immer mehr.
Inzwischen steht auch der Rest der Familie in der Küchentür
und im Flur. Auch unser Hausmädchen steht dahinten an der
Wand. Von ihr kleckern geflüsterte Sätze an mein Ohr: Etja,
sach die Wahrheit! Das Schlimme, hör ich sie hauchen, sei die
Lüge, nicht das Geld.
Plötzlich schreit mein Vater mich an, als ob es um Tod und
Leben geht: Dass man bei dir nie weiß, was war!
Nach einer weiteren Pause, in der man die Fliegen an der
Scheibe summen hört, packt er mich am Handgelenk und reißt
mich mit sich fort: Komm mal mit ins Schlafzimmer.
Von da an versagt meine Fähigkeit zum Widerstand. Die
überraschende Schärfe in seiner Stimme, sein
Schraubstockblick, die Verfinsterung seiner Augenbrauen, die
nicht aufzuhaltende Motorik seiner Entschlossenheit legen
mich lahm.
Es ist ein Überfall. Er ist das stärkere Tier, das zum Angriff
übergeht. Ich stolpere ihm mit meinen kürzeren Beinen
hinterher: leise wimmernd – das muss ich gestehen. Meinen
Unterarm kann ich aus der Umklammerung seiner haarigen,
fleischigen Hand nicht lösen. Mir fehlt der Wille.
Von ihm kommt leise und bestimmt: Da hilft jetzt kein
Weinen. Das hättest du dir vorher überlegen sollen.
Er hat diesen stürmischen Sturzschritt. Ich weiß nicht genau,
welchen Weg er nimmt, um welche Ecken es geht. Ich kann nur
noch folgen.
Warum versuche ich nicht, mich zu rechtfertigen? Das Netz
aus Widersprüchen ist schon zu dicht. Warum bettele ich nicht:
Schlag mich nicht, bitte schlag mich doch nicht! Vielleicht bin
ich zu stolz und möchte um nichts mehr bitten. Und so stolpere
ich in den Fleischwolf der Bestrafung.
Energisch schließt er die Schlafzimmertür und lässt mein
Handgelenk los. Mit sicherem Griff holt er sich oben vom
Kleiderschrank, wo auch die Schüsseln mit den
Weihnachtsplätzchen abgestellt werden, den Rohrstock. Dann
packt er mein Genick und biegt meinen Körper über die
Ehebetten. Das hölzerne Fußteil drückt sich in meinem
Unterbauch ab, der heiße Urin rinnt mir ins Hosenbein.
Du Schwein!, stößt er aus, hörbar angestrengt. Ja, das ist
auch für ihn ein körperlich fordernder Vorgang.
Der Rohrstock pfeift, jauchzt, bevor er ins Fleisch schneidet,
Schlag um Schlag, schmerzhaft natürlich, wirklich schmerzhaft.
Seine linke Hand wechselt jetzt vom Genick zum Hosenbund,
damit er die Hose stramm ziehen kann. Ich habe Angst, dass er
meine Eier trifft, die sich nun abzeichnen, aber da passt er auf,
er trifft sie nicht. Ich weine und schreie. Abwechselnd. Mein
Gesicht drücke ich in die Daunendecken der Elternbetten: Wie
soll ich ihn je wieder anschauen?
Einmal wage ich, mich umzudrehen, um ihm ins Gesicht zu
sehen. Da ist seine verbissene Anstrengung, seine gerötete
Haut, der fratzenhafte Mund. Für die Dauer einer Sekunde
müssen sich die beiden Grimassen, meine und seine, aushalten.
Ich wende mich wieder um, streife mit dem Blick kurz die
Kopfkissen meiner Eltern, sehe die schwarzgenarbte Lederbibel
mit Goldschnitt auf dem Nachttisch meiner Mutter, sehe auf der
Seite seines Betts Rembrandts Reproduktion von der
«Judenbraut», und dann tunke ich das Gesicht wieder in die
Decke, dass mir schwarz vor Augen wird.
Wann hört der auf? Wann ist das zu Ende?
Mehr kann ich nicht denken.
Aber noch ist es nicht so weit. Noch ist nicht Heiligabend. Der
Start in die weihnachtliche Narkose war diesmal holprig. Heute
ist Nikolaus, und als ich gestern in die Küche komme, um meine
Stiefel zu putzen, steht unsere Mutter weinend am Fenster. Sie
hält mir zerbrochene Holzschafe entgegen, ihre Mundwinkel
zittern.
Ich sehe sofort: Krippenfiguren. Ich habe sie nicht beschädigt
und betrachte meine Mutter daher mit neutraler Neugierde.
Offenbar ist niemand außer uns beiden zu Hause. Ich bin ihr
einziges Publikum. Sie möchte erzählen. Ich fühle mich geehrt.
Sie kann aber nur in Bruchstücken berichten: Ich habe sie
wieder nicht geschafft. Zum vierten Mal.
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass dieser Satz
nichts mit den Schafen zu tun hat. Es muss die Fahrprüfung
sein. Sie hatte heute Termin. Es ist ihr vierter Versuch.
Schon beim letzten Mal hat der Prüfer sie begrüßt: Hallo,
Frau Selge! Wie schön. Alle Jahre wieder.
Sie ist jetzt bei zweihundertfünfundfünfzig Stunden
angekommen. Wenn sie wirklich noch mal durchgefallen ist,
wäre das eine Katastrophe. Das Ganze ist heikel. Unsere Mutter
sagt: Wenn ich die Fahrprüfung bestehe, bin ich in dieser
Familie vielleicht noch etwas wert. Natürlich ist das absurd.
Aber so sieht sie das.
Unser Vater erklärt meinen älteren Brüdern, die Art, wie
unsere Mutter sich zurzeit ausdrücke, verrate den Anfang der
Wechseljahre.
Für mich war seine Information nicht bestimmt, deshalb
konnte ich nicht nachfragen, was Wechseljahre genau sind,
welche Wirkung sie nach sich ziehen und so weiter. Jedenfalls
darf niemand in unserer Familie v o r unserer Mutter die
Fahrprüfung machen, geschweige denn die Fahrprüfung vor
ihr bestehen. Werner nicht. Mein Vater nicht. Martin ist beim
Militär, das ist eine Ausnahme. Ich bin noch keine Konkurrenz.
Das Auto ist schon seit einem halben Jahr gekauft. Es steht
ohne Nummernschild auf der Straße vor unserem Haus. Es
wird gelegentlich gewaschen, aber nicht gefahren. Nur mein
Vater dreht manchmal heimlich nachts ein paar Runden um die
Mauer seines Gefängnisses und übt Rückwärtsfahren.
Ich will meiner Mutter keinen Druck machen. Vorsichtig
kreise ich das Problem ein: Konntest du nicht einparken?
Nein! Sie schüttelt vehement den Kopf: Einparken war ganz
wunderbar. Gleich am Anfang.
Hast du die Vorfahrt nicht beachtet?
Doch. Habe ich. Bin schön langsam rangefahren, kurz
gestanden, flüssig weitergefahren.
Wir alle wissen, dass sie sich nur schleichend an
Vorfahrtsstraßen heranbewegt. Bei der letzten Prüfung ist ihr
Fahrlehrer, Herr Lauszus, ein ruhiger Schlesier, schon über
achtzig, ungeduldig geworden und hat sie in Gegenwart des
Prüfers gefragt: Wie lange wollen Sie da noch stehen? Wollen
Sie einen herbeizaubern?
Nein, sagt sie jetzt. Wunderbar. Ging tadellos. Fast zu gut.
Sie presst die Lippen aufeinander, ihre Tränen rinnen. Ich
muss ihr jeden Satz aus der Nase ziehen. Sie will es so.
Hattest du einen Unfall?
Sie nickt.
Was! Hast du jemanden überfahren?
Sie hält die Schafe in die Höhe: Alle kaputt. Alle kaputt.
Das klingt unverständlich, aber spannend.
Es war der Radfahrer, keucht sie. In der Innenstadt. Dieser
Radfahrer ist aus dem Nichts aufgetaucht.
Aha! Sie hat also einen Radfahrer überfahren.
Wie geht’s ihm?, frage ich.
Sie winkt ab. Ich habe gebremst. Schon bevor alle im Auto
geschrien haben, habe ich gebremst. Ich habe alles richtig
gemacht. Und dann ist es passiert. Plötzlich war ich im
Schaufenster. Ausgerechnet im Handarbeitsladen.
Das ist ja Wahnsinn, denke ich. Das ist ja brachial.
Mit dem Kühler durch die Scheibe?, frage ich.
Sie nickt, macht eine hilflose Bewegung mit den Schultern
und presst wieder die Lippen aufeinander.
Hoffentlich steht das morgen nicht in der Zeitung, denke ich.
Wenn das meine Mitschüler erfahren, habe ich einen schweren
Stand. Jetzt kann ich auch die Schafe einordnen. Der
Handarbeitsladen ist ihr Lieblingsgeschäft. Dort gibt es die aus
Olivenholz geschnitzten Krippenfiguren, die sie so mag. Jedes
Jahr kauft sie da einen neuen Hirten, ein neues Schaf, ein
Kamel oder einen neuen heiligen Dreikönig hinzu. Stück für
Stück. Diese Krippenfiguren hat es schon vorm Krieg in
Königsberg in Ostpreußen gegeben. Wir haben einen knienden
Hirten, der sogar die Flucht mitgemacht hat. Der
Handarbeitsladen ist das Geschäft, das im Dezember im
Zentrum unserer Geldausgaben steht. Hier kommt der ganze
Weihnachtsschmuck her, Transparente, Kerzenleuchter, Bie-
nenwachskerzen, Tischdecken, Stoffservietten; alles, was schön
ist und Bedeutung hat und festlich ist.
Wie kann man da reinfahren?
Nicht ich, sagt sie. Ich habe nichts gemacht. Gar nichts. Das
Auto hat einen Satz gemacht. Der Prüfer hat geschrien: Sehen
Sie den Radfahrer nicht? Herr Lauszus hat geschrien: Fahren
Sie zur Seite! Sonst muss ich eingreifen. Dann fallen wir wieder
durch.
Meine Mutter steht plötzlich wie eine Tragödin in der Küche,
mit geweiteten Augen, hält ihre Schafe hoch und ist jetzt ganz
in der Situation.
Ich b i n zur Seite gefahren! Ich habe das Auto auf den
Bürgersteig gerissen. Ich stand bereits. Quer. Es war kein
Fußgänger da. Es war alles gut. Ich bin rechtzeitig
ausgewichen. Ich habe den Radfahrer nicht angefahren.
Obwohl er schuld war. Herr Lauszus hat mich gelobt: «Das hat
sie doch prima gemacht!», hat er zum Prüfer auf der Rückbank
gerufen. Es war alles gut. Nur der Motor lief noch und heulte.
Das hat den Prüfer gestört, und er hat geschrien: Fuß vom Gas!
Meine Mutter bekommt jetzt was von einer Furie.
Ich hatte den Fuß gar nicht auf dem Gas! Sonst wären wir ja
nicht gestanden. Ich hab den Fuß zurückgerissen. Es war nicht
das Gas, es war die Kupplung. Und da hat das Auto einen Satz
gemacht. Ins Schaufenster.
In die Dekoration?, frage ich.
Sie nickt ernst: In die Krippe.
Dass sie wahrscheinlich vergessen hat, den Gang
rauszunehmen, sage ich ihr nicht. Stattdessen nehme ich sie in
den Arm. So gut ich das kann. Vorsichtig. Ich habe keine Übung
darin, weinende Eltern zu umarmen, bin auch nicht unbedingt
begeistert davon, wie ich das mache, aber ich wische ihr mit
dünner Kraft über die Schultern.
Eigentlich bewundere ich sie. Das ist ja ein richtiges Ereignis!
Mit dem Fahrschulauto durch das Schaufenster in sein
Lieblingsgeschäft zu fahren. Dabei eine Krippe umzustürzen.
Und das einen Tag vor Nikolaus! Ich finde das ungeheuer
kraftvoll und für meine zarte Mutter sehr ungewöhnlich.
Sie sagt: Ich bin sofort ausgestiegen. Ich hab schon gesehen,
dass Herr Lauszus und der Prüfer sich die Hände vors Gesicht
hielten. Die schämten sich für mich. Sollen sie doch! Ich bin in
den Laden gegangen. Alle Kundinnen und die Verkäuferin
haben mich angeschaut, als sei ich ein Schreckensengel. Ich bin
ins Schaufenster gestiegen und habe mich in die Scherben
gekniet. Habe die Schafe unter der Stoßstange hervorgeholt. Die
Krippe wieder aufgestellt. Dann ist Fräulein Butgereit
gekommen und hat mich getröstet: Frau Selge, lassen Sie das
doch! Schneiden Sie sich bloß nicht. Wollen Sie ein Glas
Wasser? Nehmen Sie die Schafe ruhig mit. Die können wir nicht
mehr verkaufen.
Jetzt stürmt mein Vater ins Haus.
Ich weiß alles, ruft er schon vom Flur her. Herr Lauszus hat
mich angerufen.
Er kommt in die Küche, drängt mich von seiner Frau weg,
obwohl ich ihm sofort Platz gemacht habe, umarmt sie: Signe,
Liebste! Er wiegt sie hin und her. Wir lassen uns doch nicht
entmutigen!
Er hat seine Hand in ihren Haaren. Seine Stimme strahlt
männliche Trostkraft aus.
Nach Weihnachten nimmst du noch mal ein paar Stunden,
und im Frühjahr, sollst du mal sehen, schaffst du die Prüfung.
Er zieht meine Mutter unnatürlich nah an sich heran. Dabei
schaut er sich nach mir um wie nach etwas Überflüssigem.
Also verziehe ich mich. Meine Mutter braucht mich nicht
mehr. Mache ich mal einen kleinen Spaziergang zum
Handarbeitsladen. Den Tatort anschauen. Die Gegend kenne ich
gut, Elisabethstraße, eigentlich eine einzige Kurve. Schöner Teil
von Herford. Auf der einen Seite fließt die Aa. Wichtigstes
Gebäude hier ist das Kino, das Capitol, direkt neben dem
Handarbeitsladen.
Es ist kein Mensch mehr da. Die Geschäfte sind schon
geschlossen. Nur das Kino leuchtet. Die unterschiedlichen
Rottöne aus dem Kassenraum reichen bis auf die Straße.
Sofort fällt mir das dramatische Plakat von «Einer kam
durch» mit Hardy Krüger auf. Ein Kriegsfilm. Vor drei Jahren
ist er rausgekommen. 1957. Bist du endlich da!, denke ich und
schaue Hardy Krüger an.
So lange dauert es, bis ein guter Film Herford erreicht. Das
ist das Elend in einer Kleinstadt. Meine Vettern aus Berlin
haben mir davon erzählt. Die Handlung spielt 1940. Ein
deutscher Pilot wird von den Tommys abgeschossen, rettet sich
mit abenteuerlicher Bruchlandung auf einem Feld, wird von
der Miliz gefasst und verhört, macht einen Fluchtversuch nach
dem anderen, bis es klappt und er zurück nach
Nazideutschland kommt. Die Briten haben sich gerühmt, dass
man aus ihren Lagern nicht ausbrechen kann. Aber der
Deutsche hat’s geschafft! Dann steigt er erneut in eine
Messerschmitt mit Hakenkreuz, macht wieder Jagd auf die
britische Luftwaffe und stürzt mit einem Motorschaden in die
Nordsee. Das Meer gibt ihn nicht mehr her.
Diesen Film will ich auf keinen Fall verpassen. Mir ist schon
«So weit die Füße tragen» durch die Lappen gegangen, weil wir
keinen Fernseher haben. Das darf nicht noch mal passieren. Ich
muss das sehen. Ich will den Raum spüren, aus dem die
Erwachsenen kommen.
Der Krieg ist die Zeit, wo alles passiert ist. Alle zehren vom
Krieg. Alle beziehen ihre Kraft aus dieser Zeit. Auch wenn sie
sich davon abstoßen. Nur ich habe keine Erinnerungen.
Niemand redet genau über die Abläufe damals. Jedenfalls nicht
Schritt für Schritt. Nicht in einer Reihenfolge, die einen Sinn
ergibt.
Wo kriege ich bloß das Geld für diesen Film her?
Ich kann gar nicht weggucken von dem Plakat: das lauernde
Gesicht Hardy Krügers mit der Pilotenkappe, das Hakenkreuz
auf dem Flieger im Hintergrund. Mir kommt vor: Das sind wir.
Das ist Deutschland. Immer auf dem Kiwief. In Deckung, aber
auf dem Sprung. Ich muss die ganze Geschichte sehen, die
dazugehört.
Einen halben Meter neben dem Plakat ist das
Handarbeitsgeschäft. Das Schaufenster sieht aus wie ein
Mosaik. Teilweise Bretter, teilweise Glas. Alles
zusammengehalten von Paketklebestreifen. Ich schaue durch
ein Scheibensegment. Sieht gut aus dahinter. Die Krippe. Maria
und Joseph. Einige Hirten. Wenige Schafe, aber Ochs und Esel
sind vollständig. Strohsterne. Weihnachtsschmuck,
Transparente, Kerzenleuchter, Stoffservietten mit Emblemen
von Tannenzweigen. Weiße Tischdecken mit eingestickten
roten Kerzen. Die ganze Auslage sieht ansprechend aus. Nur die
Scheibe selbst macht einen wüsten Eindruck, wie nach einem
Einbruch. Das zahlt wahrscheinlich die Versicherung der
Fahrschule. Wird nicht billig. So wenig, wie ich Hardy Krüger
bin, kann ich mir vorstellen, dass meine Mutter durch diese
Scheibe gefahren ist.
Beim Abendbrot erzählt mein Vater: Herr Lauszus hat noch vor
dem Ersten Weltkrieg einem Prinzen aus der Kaiserfamilie
Fahrunterricht gegeben. Es ist ein Glück für Herford, dass es
ihn hierher verschlagen hat. Er hat mir versprochen: Ich gebe
Ihnen mein Ehrenwort, Herr Doktor, ich werde nicht sterben,
bevor Ihre Frau die Fahrprüfung bestanden hat. Sie fährt
hervorragend, aber sie ist eben kein Prüfungsmensch.
Meine Mutter nickt.
Mein Vater ist noch im Dialog mit dem Fahrlehrer: Ich bin
ein Prüfungsmensch, habe ich Herrn Lauszus gesagt, darauf
können Sie sich verlassen. Bei mir holen Sie alles wieder rein.
Ich brauche nur fünfzehn Stunden. Aber ich mache meine
Fahrprüfung erst, wenn meine Frau bestanden hat. Das ist so
abgemacht.
Meine Mutter weiß nicht, wo sie hingucken soll. Ich bin eben
langsam, sagt sie und schaut zu Andreas an ihrer rechten Seite.
Sie streichelt seinen Arm. Wir beide sind eben langsam.
Andreas weiß nicht so recht, wie ihm geschieht.
Ihr seid die Schnellen. Dabei schaut sie mich und meinen
Vater an.
Langsam muss nicht schlecht sein. Sagt mein Vater. Langsam
heißt gründlich. Du bist viel gründlicher als wir. Dabei wirft er
mir einen strengen Blick zu.
Ich denke: Langsamkeit hält auf. Aber das sage ich natürlich
nicht.
Mein Vater nickt vor sich hin: An die dreihundert Stunden
werden wir wohl rankommen. Nach Einschätzung von Herrn
Lauszus. Das ist uns egal, habe ich ihm gesagt.
Die Züge seiner Zielstrebigkeit werden jetzt erkennbar. Die
sind irgendwann dazugekommen, denke ich. Sicher bald nach
seiner Schulzeit, als seine beiden Brüder gefallen und sein
Vater ausgezogen ist, er Geld verdienen, sich zugleich ausbilden
und um seine Mutter kümmern musste. Als ob er seitdem einen
Prozess gegen das Leben führt.
Soll ich jetzt ins Kino gehen, oder soll ich einfach nicht ins
Kino gehen? Meine Eltern brauche ich gar nicht zu fragen. Vor
Weihnachten kommt kein Kino in Frage.
Neben mir sitzt Werner. Er sagt nichts, hat Mitleid mit
unserer Mutter, andererseits würde er endlich gerne
Fahrstunden nehmen. Das spürt man.
Vor dem Essen habe ich, als er auf der Toilette war, in sein
Portemonnaie geschaut. So ein kleines, vom ewigen Sitzen am
Cello plattgedrücktes Ding. Es schmatzt richtig, wenn man es
auseinanderklappt. Da ist eine D-Mark drin, bei den Münzen,
die würde ich brauchen, an die Scheine gehe ich natürlich
nicht. Das müsste ich morgen Nachmittag machen.
Fünfzig Pfennig habe ich selber. Das ist so beschämend, so
kläglich. Seinen Bruder zu bestehlen, ist einfach scheiße. Er
wird es merken.
Sehr ernst und eindringlich sagt mir eine innere Stimme:
Dieser Film ist für dich persönlich gedreht worden. Damit du
ihn siehst. Hier sind alle wichtigen Informationen über den
Krieg beisammen, über Kameradschaft, über die
unzerstörbaren Kräfte von uns Deutschen. In diesem Film geht
es um etwas, das uns niemand wegnehmen kann. Das kann dir
nur Hardy Krüger erzählen. Und die Engländer, die mit ihm
zusammenspielen, geben ihm recht. Dieser Film wird dir
bestätigen, dass wir Deutschen einzigartige Qualitäten haben:
Mut, Stolz, Durchhaltewillen, Raffinesse.
Nachts wache ich immer wieder auf, weil ich die Soldaten in
diesem Film bereits miteinander sprechen höre. Ich bin nur
nicht dicht genug dran und kann ihre Worte nicht verstehen.
Ich weiß, es ist nicht gut, zu stehlen. Das braucht mir niemand
erzählen. Es ist nicht gut, seinem Bruder eine Mark aus dem
Geldbeutel zu klauen. Wer das nicht begreift, dem fehlt jedes
moralische Grundverständnis. Mir ist jedenfalls vollkommen
klar, dass man das nicht machen darf. Mich braucht auch
niemand zu verprügeln oder zu ohrfeigen, um mir das
beizubringen. Aber ich will diesen Film sehen. Und anders geht
es nicht.
Heute Nachmittag habe ich zu meiner Mutter gesagt, dass ich
zu Christian gehe, um lateinische Vokabeln zu lernen. Wir
schreiben morgen eine Arbeit. Es kann sein, dass ich etwas
später zum Abendessen zurück bin.
Als Werner eine Pause beim Üben einlegt, in den Garten
geht, ein paar Klimmzüge an der Teppichstange macht und sein
Quarkbrot isst, gehe ich in sein Zimmer und schaue nach: Die
D-Mark ist noch da. Und dann wandert sie in meine
Hosentasche.
Das ist gar nicht lange her. Drei Stunden vielleicht.
Dazwischen liegt der Film.
Von Hardy Krüger habe ich gelernt, dass kein Gefängnis
unüberwindlich ist. Man kommt überall raus. Ein Deutscher
jedenfalls. Aber man muss viel aushalten. Eine echte Spritze
voller Zuspruch und Ermutigung war das! Hat mir gutgetan.
Auf dem Rückweg vom Kino sind dann andere Bilder
stärker: Werners schwarzes Portemonnaie ohne die einsame D-
Mark zwischen dem klebrigen Leder. Wie soll ich ihn
angucken? Er wird am Tisch sitzen. Neben mir. Ich werde an
nichts anderes denken können als an diese D-Mark. Und ob er
sie schon vermisst.
Warum bin ich ein Dieb? Warum hat ein Filmplakat so eine
Macht über mich? Vielleicht geht es um etwas anderes.
Vielleicht will ich einfach Vertrauen brechen. Wenn ich genug
Geld hätte, würde ich mir dann ein anderes Verbot suchen, das
ich übertrete? Brauche ich die Übertretung? Weiß ich sonst
nicht, wer ich bin? Werde ich erst ein Mensch, wenn ich eine
Regel verletze? Bin ich ein Fallbeispiel, wie unser
Gefängnispsychologe das nennt?
Plötzlich bin ich zu Hause angekommen. Was für ein
grauenvolles Ziel, wenn man seinen Bruder bestohlen hat!
Wann werde ich endlich nicht mehr nach Hause kommen
müssen?
Im Flur höre ich schon das Gesumm am Tisch.
Ich öffne die Esszimmertür. Sie sitzen alle unter dem
warmen Licht der Lampe und löffeln Suppe. Rindsbrühe rieche
ich. Hm! Wäre das schön. Rindsbrühe zu essen, ohne gestohlen
zu haben. Auf meinem weißen, leeren Suppenteller liegt
Werners Portemonnaie. Keiner sagt was. Mir kommt vor,
bereits beim Öffnen der Tür hätte jemand noch schnell
geflüstert: Pssst, jetzt wollen wir mal sehen.
Ich bleibe vor dem Stuhl stehen, schaue auf meinen Teller
und frage blöd in die Runde: Was soll das?
Das fragen wir dich, sagt meine Mutter.
Werner zuckt die Schultern und sagt entschuldigend: Da war
heute Nachmittag noch eine Mark drin. Das weiß ich genau.
Ja und?, sage ich. Ich schaue auf das Portemonnaie. Ich fühle
mich selber wie aus Leder. Sollen sie mich doch totschlagen.
Wo kommst du her?, fragt mein Vater sachlich.
Von Christian. Wir haben Latein gemacht.
Meine Mutter blickt stöhnend zur Decke.
Mein Vater stützt sein Gesicht einen Moment lang in seine
Hände.
Warst du im Kino?, fragt er.
Ich überlege kurz und denke: Warum nicht. Lieber ein Ende
mit Schrecken. Ja, sage ich. «Einer kam durch». Mit Hardy
Krüger. Ein Kriegsfilm. Den haben alle gesehen. Ich wollte den
auch sehen.
Meine Mutter stöhnt noch einmal.
Das finde ich interessant, dass sie zweimal auf die gleiche
Weise stöhnt, egal, ob sie die Wahrheit hört oder die Lüge.
Du warst also nicht bei Christian?, fragt mein Vater.
Nein.
Du hast uns also belogen?
Ja.
Hast du aus Werners Portemonnaie eine Mark gestohlen?
Ja.
Ich weiß nicht, in welcher Sekunde mein Vater aufgestanden
ist und befohlen hat: Stell dich hin! Wann er ausgeholt hat. Ich
höre den Knall der Ohrfeige. Gut getroffen, denke ich. Im
nächsten Moment schlage ich mit dem Kopf an das
Birkenholzbuffet an der Wand und gehe zu Boden. Blitzschnell
stehe ich wieder auf den Beinen. Mein Vater sitzt schon wieder.
Setz dich hin und iss deine Suppe, sagt er.
Ich mache das. Ich setze mich hin. Jemand nimmt meinen
Teller, entfernt Werners Portemonnaie und schöpft mit der
Suppenkelle Rindsbrühe hinein. Mein Kopf dröhnt vom
Doppelschlag. Ob die Hand meines Vaters oder der Fall gegen
das Buffet schmerzhafter war, kann ich nicht entscheiden. Ich
habe kein Gefühl.
Gott sei Dank, denke ich. Endlich wissen alle Bescheid. Ich
muss an der Wirklichkeit nicht mehr rumdrücken oder
rummodellieren. Ich habe gestohlen, gelogen und diesen Film
gesehen. Die Spannung ist vorbei.
Iss, sagt mein Vater.
Ich tunke den Löffel ein und bemerke, dass meine Hand wild
zittert. Kein Tropfen Suppe würde meinen Mund erreichen.
Nimm deinen Teller und iss in der Küche, sagt mein Vater.
Ich stehe auf und will den Teller in die Hände nehmen. Das
geht gar nicht. Alle schauen zu.
Werner, trag Edgar seinen Teller in die Küche.
Werner steht auf und nimmt meinen Teller. Ich nehme den
Löffel.
Nimm dir noch eine Scheibe Brot mit, sagt meine Mutter.
Ich mache auch das und verlasse hinter Werner das
Esszimmer.
Der lange Weg über den Flur ist schön. Erlösende Schritte.
Am Küchentisch sitze ich vor meinem Teller, Werner steht
hinter mir. Nach einer Weile sagt er: Das ging leider nicht
anders. Er drückt mir kurz die Schulter.
Wird schon wieder, sagt er und verlässt die Küche.
Seine Freundlichkeit treibt mir massenhaft das Wasser aus
den Augen und den Rotz aus der Nase. Alles zusammen mit der
Rindsbrühe schmeckt salzig, aber sehr gut.
Ich befreie meine Füße aus den Schuhen. Neuerdings wird mir
alles zu klein. Oberhemden kneifen unterm Arm, Hosenbeine
werden kürzer. Obwohl ich wachse, verliere ich an Gewicht.
Wo soll das hinführen?
Gelächter
Vierhundert Eingesperrte habe ich in meinem Rücken und
denke an ihre von Stein und Eisen niedergehaltene Kraft. An
ihre Wut, ihre Sehnsucht nach Freiheit.
Wenn sich die Gartenkolonne zum Kamp aufmacht, um in
den Beeten und Gewächshäusern zu arbeiten, winken mir
immer wieder Einzelne von ihnen zu. Ich spüre dann ihre
Versuche, kurz aus der Gruppe auszuscheren und sich mir zu
nähern, ein paar Worte mit mir zu wechseln. Wie magnetisch
ziehen wir uns an, plötzlich steht einer vor mir: Hey, komm
doch mal her! Wer bist du? Was machst du hier? Wohnst du in
der Nähe? Da drüben? In dem großen Haus? Arbeitet dein
Vater hier? Was, der ist der Chef?
Manchmal sprudeln sie gleich mit ihrer eigenen Geschichte
heraus. Vor allem die Neuzugänge: Weißt du, warum ich hier
bin? Ich hab geklaut, aber nicht schlimm. Ich komm bald
wieder raus. Bei guter Führung ganz bald.
Bald – ein Wort, in das sie eine besondere Wärme legen, eine
große Hoffnung, die sie mir für einen Moment anvertrauen. Ein
ungewohnter Ton, den ich von zu Hause nicht kenne.
Ich sitze hier frei in der Sonne an der Mauer, ziehe die süßen
Schwaden von Karina ein. Genau genommen ist es so, dass die
Eingesperrten uns ernähren. Nicht nur, weil sie unser Gemüse
und unser Obst anbauen. Grundsätzlich, einfach weil sie da
sind. Wir leben von den Gesetzesbrechern. Alle, die hier
angestellt sind, die hier arbeiten, auch unser Vater, finden hier
ihr Auskommen. Unsere Häuser lagern sich um die
Gefängnismauer wie Bäuche um einen großen Suppentopf.
Meine Eltern sehen das natürlich anders. Aber ich muss ihre
Ansichten umdrehen, damit ich zu meinen eigenen komme.
Erst mal müssen Menschen Straftaten begehen und
Strafgefangene werden. Dann kann man mit ihrer Erziehung
Geld verdienen und sich in dem schönen Gefühl wärmen, etwas
Sinnvolles zu tun. Wir alle, die wir frei herumlaufen, haben
festgelegt, wo das Böse ist: innerhalb dieser Mauern. Da
befinden sich die Gestrauchelten, ihnen gilt unser ganzes
Erziehungsprogramm.
Was für eine wacklige Lage, in der ich mich befinde. Gerade
ich kann froh sein, nicht eingesperrt zu sein. Oft juckt es mir in
den Fingern, wenn ich an etwas vorbeikomme, das ich gut
gebrauchen könnte. Ständig benötige ich mehr Geld, als ich
besitze. Ich habe Lust, Dinge zu behaupten, die nicht stimmen.
Gebe wahllos Versprechungen ab, die ich nicht halten kann. Es
ist mein Blick auf die Welt, vor dem ich mich fürchte.
In Grimms Märchen gibt es die Geschichte von den sechs
Dienern. Ein Königssohn trifft auf seiner Wanderung durch den
Wald sechs Menschen mit besonderen Fähigkeiten und stellt sie
als Diener ein. Darunter ist einer, der trägt eine Binde um die
Augen, weil sonst alles zerspringen würde, was er ansieht. Der
guckt praktisch die Welt kaputt.
Mit dem bin ich doch verwandt!, habe ich sofort gedacht.
Überall sehe ich einen Riss hinein, und dann bleiben Teile
zurück, die nicht mehr zusammenpassen.
Alle naselang treffe ich auf Leute, die vom «Abschaum»
reden, von «Unerziehbaren», vom «Verbrechergesindel», das
sich hier im Gefängnis auf Staatskosten ernähren lässt. Es sei
gar nicht so lange her, sagt Herr Niewöhner und zieht
bedrohlich die Stirn nach oben, da habe man die
Sittlichkeitsverbrecher nach Düsseldorf-Derendorf geschickt
und sie dort fachgerecht mit chirurgischem Eingriff entmannt.
Zigeuner und Juden habe man nach Hamburg-Langenhorn
geschickt. Zu den Geisteskranken. Da seien sie gut aufgehoben
gewesen, denn sie seien prinzipiell unerziehbar. Die Juden und
die Zigeuner und die Kommunisten. Und die Polen. Von
Hamburg aus seien sie in die Lager weiterbefördert worden.
Jetzt lägen uns diese Verbrecher wieder auf der Tasche.
Herr Niewöhner ist Aufsichtsbeamter. Ich halte den Atem an
und fühle seinen Blick. Er erwartet Bestätigung. Ich sage nichts.
Ich erkenne den Riss zwischen uns, aber ich tue so, als hätte ich
noch die Binde um meine Augen. Dabei ist sie längst weg.
Herr Niewöhner fixiert mich und wartet auf meine Reaktion.
Die kriegt er aber nicht.
Dann lächelt er. Brauchst keine Angst zu haben, junger
Mann. Die Gestapo kommt nicht mehr.
Wieder macht er eine kleine Pause.
Weißt du, wer das ist, die Gestapo?
Ich nicke.
Er lacht und winkt ab: Die Gestapo gibt’s doch gar nicht
mehr. Er schaut mich die ganze Zeit an, als ob er eine Antwort
erwartet. Gut für uns, oder? Haben wir Glück gehabt, was? Er
lacht, wird geschüttelt vom Lachen, dass er sich fast
verschluckt: Die gibt’s nicht mehr! Keine Gestapo mehr!
Prustend stößt er heraus: Das wollen wir nie wieder erleben!
Was, junger Mann?
Er boxt mich leicht gegen die Brust, damit ich auch lache.
Es kommt aber nicht viel von mir. Ich sehe seine blitzenden
Zähne unter dem grauen Schnurrbart und errate, wo die
Gestapo untergekrochen ist. Ein super Versteck ist das, wo sie
niemand findet: Sie hat sich selbst verschluckt und fertig. Die
Gestapo strahlt wie ein Kind nach der Mahlzeit. Alles
aufgegessen! Keine Gestapo mehr da!
Auch Herr Niewöhner strahlt.
Solange ich den Blick mit ihm halten kann, sehe ich, dass ich
nicht der Einzige bin, der Angst hat. Es flackert in seinem Auge.
Zwei Ängstliche, die sich belauern.
Ich weiß nicht, ob das alles wirklich etwas mit unserem Keller
zu tun hat. Ich habe Angst, da runterzugehen.
Meine Angst sei pathologisch, sagt mein Vater.
Was auch immer das heißt.
Jedenfalls ist es ein Desaster, wenn er mich losschickt, um
Most oder Kompott raufzuholen. Ich kann mich nicht weigern.
Ich kann nicht sagen: Da gehe ich nicht runter. Das würde
extrem lächerlich wirken. Also erhebe ich mich vom Tisch,
verlasse das Esszimmer, wo meine ganze Schutztruppe ihre
Suppe löffelt, und mache mich auf in den Keller.
Auf Wiedersehen, denke ich, denn ich bin mir nicht sicher,
ob ich je zurückkomme.
Die ersten Stufen versuche ich noch mit Schwung zu
nehmen, aber mitten auf der Treppe werde ich ausgebremst,
weil mir die unüberschaubaren Räume da unten im
Halbdunkel signalisieren: Hier lauert Gewalt hinter jeder Ecke!
Wir sind angestrichen worden, murmeln die Wände, unter uns
schreit Blut. An uns kannst du nicht so einfach vorbeigehen.
Ich steh auf der Treppe, starre die Wände an und komme
nicht weiter. Nicht freiwillig. Überall spüre ich Augen.
Es ist keiner da, sage ich laut, und ich glaube das auch. Aber
meine Stimme zittert und widerlegt mich. Der Raum fühlt sich
zäh an. Das wird das «Pathologische» sein, von dem mein Vater
spricht.
Seine ungeduldige Stimme tönt vom Esstisch: Wo bleibt denn
unser Most?
Gleich!, rufe ich.
Wie lange sollen wir denn noch auf unseren Rhabarbersaft
warten?
Der gibt keine Ruhe. Die haben alle Durst da oben. Ich muss
mir einen Ruck geben und losrennen.
Ich lasse einen Angriffsschrei los, fliege beinahe über die
Stufen und durch den Kellerflur bis in den hintersten Raum, wo
die Saftflaschen liegen. Vor der Tür muss ich anhalten,
versuche, so schnell wie möglich den Schlüssel ins Loch zu
bringen, dann schlage ich mit der Hand auf den Lichtschalter
und muss diese vielen handgeschriebenen Flaschenetiketten
entziffern: Stachelbeere/Johannisbeere rot/Johannisbeere
schwarz/Holunder/Apfel/Birne, wo ist der verdammte Rha-
barber? Rhabarber! Da ist er. Und bin schon wieder weg und
rauf, in einem solchen Affentempo, dass ich außer Atem am
Esstisch ankomme, die Flasche auf die Tischplatte knalle und
keuche: Hier ist euer Most!
Was ist denn los? Erschreck uns doch nicht! Wir haben doch
keinen Geist im Haus.
Kopfschüttelnd zieht mein Vater den roten Gummipfropfen
von der Flasche und gießt sich und meiner Mutter ein.
Die sagt: Mensch, Edgar, dass du immer noch solche Angst
hast! Das ist aber nicht mehr normal.
Werners Augen leuchten. Ich bin sicher, er kann sich
vorstellen, was mit mir los ist.
Martin scheint unbeteiligt. Er kennt keine Angst. Er
verkörpert in unserer Familie den Mut. Wo ich romantisch in
die Strömung der Werre schaue, macht Martin Handstand auf
einem Brückenpfeiler. Oben von der Stiftberger Kirche aus, wo
meine Volksschule ist, brettert er mit dem Fahrrad in vollem
Tempo die steile Marienstraße runter und biegt 90 Grad links in
die Bismarckstraße ein, die genauso steil vom Stuckenberg
runterkommt. Verwettet sein Leben darauf, dass ihn kein Auto
erwischt. Herforder Roulette nennen wir das.
Er ist ein guter Pädagoge. Das weiß ich. Es gibt nichts, was
man bei ihm nicht lernen könnte. Er hat Geduld.
Ich schiebe mir die Kartoffeln rein, obwohl mir das Herz
noch bis zum Hals schlägt, und stelle mir vor, wie Martin mit
mir gemeinsam in den Keller geht. Immer wieder. Ganz
langsam. Durch alle Räume. In jede Ecke schauen wir. Und
dann wiederholen wir diesen Gang im Dunkeln. Er macht das
Licht aus, geht hinter mir her, schiebt mich in die Schwärze
und redet beruhigend auf mich ein.
Hier ist niemand, würde er sagen. Der Keller ist
menschenleer. Gewöhn dich daran.
Aber wenn ich ihm sagen würde, dass ich eigentlich vor
unsichtbaren Wesen Angst habe, müsste er kapitulieren. An
Geister von Verstorbenen glaubt er nicht.
Ich nehme ein paar tiefe Züge von Karinas Schokoladengeruch.
Komisch: Hier habe ich keine Angst. Hier kann ich sogar im
Dunkeln sitzen. Ich schleiche mich auch nachts in den Garten
des Mädchens, das ich liebe. Ich geh sogar in die
Spätvorstellung. Aber in unsern Keller will ich ums Verrecken
nicht.
Als meine Eltern mir gesagt haben, Herr Linnenbrügger sei tot
umgefallen, habe ich mich so geschämt, dass ich nicht auf die
Beerdigung wollte. Wegen der langen Zeit, die ich nicht mehr
bei ihnen war. Aber mein Vater hat darauf bestanden, dass ich
mitkomme: Das ist dein Freund gewesen! Da gehst du jetzt hin.
So lässt man Menschen nicht fallen, die einem mal was
bedeutet haben.
Und dann hat er sich mit mir auch noch in die erste Reihe
gestellt, direkt an den Rand der Grube. Anna stand auf der
andern Seite. Genau mir gegenüber.
Zum ersten Mal sehe ich ihr wieder in die Augen. Sie hat den
Trauerschleier von ihrem Hut für einen Moment nach oben
über die Krempe geschlagen. Ihr runzliges, verweintes Gesicht
lächelt mir zu. Dann lässt sie den Schleier wieder herunter und
faltet die Hände.
Auch mein Vater und ich haben Tränen in den Augen.
Gerade ist der Sarg runtergelassen worden. Pfarrer Podewils,
der eigentlich nur noch Aushilfe macht oder eben auf
besonderen Wunsch der Witwe noch mal antritt, hat zwei
Gebete verwechselt: das Vaterunser mit einem Tischgebet.
«Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns
aus Gnaden bescheret hast». Obwohl er das Gebet
durchdringend, mit Grabesstimme, intoniert, stört sich
niemand daran. Die Leute beten stumpfsinnig ihr Vaterunser
weiter. Nur ich denke an den Koloss, der im Sarg liegt, und
murmele blöderweise zu meinem Vater: Na dann guten
Appetit!
Daraufhin packt uns beide die Hysterie. In seinem schwarz
verkleideten Körper spüre ich kleine Explosionen. Unsere
Ellenbogen berühren sich, und das Tremolo seiner Muskeln
geht auf mich über. Ich sehe vorsichtig an ihm hoch. Krebsrot
beißt er sich auf die Unterlippe. Er verliert gerade den Kampf
gegen sein Zwerchfell. Fasziniert schaue ich ihn von der Seite
an. So habe ich ihn noch nie gesehen.
Wir müssen jetzt beide um unser Leben «Weinen» spielen.
Mit einem solchen Lachanfall darf er auf keinen Fall erwischt
werden.
Während ich mir Sorgen um ihn mache, wird mir klar, dass
ich selbst keineswegs ernst bin: Ich zittere wie er und grinse
hemmungslos. In diesem Augenblick fällt mein Blick auf Anna,
die gerade wieder den Schleier hebt, und binnen einer Sekunde
erkläre ich das Beben meines Körpers zum Ausdruck
verzweifelten Schluchzens. Ich hoffe, dass mein Vater das auch
so gut kann. Überzeugend klingt er nicht. Ich jedenfalls wirke
glaubhaft. Eine Dame hinter mir legt ihre Hand auf meine
Schulter und sagt zu ihrer Nachbarin: Der arme Junge.
Darauf entfährt meinem Vater ein Heuler. Einige drehen sich
um, weil sie einen Hund in unserer Nähe vermuten.
Mein Vater entfaltet seine Hände, presst sie auf die Gegend
seiner Galle und macht sich vom Acker. Ich glaube, das ist das
Klügste, was er machen kann.
Der Schützenverein hat gespielt. Viele haben ihre
Taschentücher gezückt. Die Schützen tragen Tracht. Die
Aufsichtsbeamten ihre Uniform. Die Frauen ihr feinstes
Schwarz. Eine sichtbare Ordnung und Feierlichkeit rund ums
Grab.
Nur mein Vater und ich tanzen aus der Reihe. Ich finde, das
passt. Wir haben eben eine Sonderstellung in Herford. Wer an
unserm Haus vorbeigeht, hört Musik, zu jeder Tageszeit. Wann
kümmert der sich eigentlich um seine Gefangenen?, fragen sich
die Angestellten. Ein Gefängnisdirektor, der mit seiner Familie
Tag und Nacht musiziert, kann nicht ganz richtig im Kopf sein.
Hier bin ich, sage ich etwas später und tippe an seine
Schulter. Er dreht sich ruckartig um und faucht mich an, ob ich
noch alle Kerzen auf dem Leuchter hätte! Wenn wir nicht auf
einer Beerdigung wären, müsste ich dich übers Knie legen! Wie
kann man so lachen, wenn andere Menschen trauern?
Du hast doch auch gelacht, sage ich vorsichtig.
Aber doch nur deinetwegen! Das hält ja kein Mensch aus
neben dir. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen. So was
Irres habe ich überhaupt noch nie erlebt!
Du hast aber zuerst gelacht, versuche ich, mich zu
verteidigen.
So ein Quatsch, schreit er unterdrückt.
Wir sind noch auf dem Friedhof, und vom Personal der
Strafanstalt um uns herum soll keiner was mitkriegen.
Er beugt sein Gesicht herunter, kommt dicht an mich heran
und stellt klar: Ich war die ganze Zeit todernst! Dich kann man
nicht mal auf Beerdigungen mitnehmen!
Ich wehre mich, so gut ich kann: Dein Ellbogen hat so
gezuckt. Das ist auf mich übergesprungen.
Jetzt regt er sich auf. Mit so viel Widerspruch hat er nicht
gerechnet. Das glaubst du doch selber nicht! Ich bin der
Vorstand dieser ganzen Leute! Die schauen auf mich. Die haben
Respekt vor mir. Was sollen die jetzt von mir denken? Dass ihr
Chef ein Hanswurst ist?
Wenn Podewils so einen Unsinn betet?, wende ich ein.
Haben die andern gelacht?, ruft er. Na? Haben die etwa
gelacht? Da denk mal drüber nach! Er hat jetzt wieder seinen
Staatsanwaltston drauf. Ich sage es dir in aller Klarheit: Bring
mich nie wieder zum Lachen!
Ich zucke mit den Schultern.
Hast du das verstanden? Er sieht mich scharf an. Offenbar ist
es ihm jetzt sehr ernst.
Ob du das verstanden hast, habe ich dich gefragt!
Ich suche in seinem Gesicht nach einer letzten Spur unserer
Lachorgie, finde aber nichts.
Ja, sage ich.
Nie wieder!
Ja.
Die letzte Strophe lassen sie weg. Denn sie sind ja keine
Kommunisten. Dann schließt Anna das Fenster endgültig.
Gustav, der sie nur auf dem Fagott begleitet hat, mit zarter
Unterstützung des Beckens, wird leiser, er spielt die letzte
Strophe, die sie nicht singen, piano, pianissimo. Und dann ist
nichts mehr. Er hebt noch einmal zwei Topfdeckel, sie bewegen
sich in Zeitlupe aufeinander zu und schweben, ohne sich zu
berühren, nach oben.
Jetzt ist die Kapelle abgezogen, sagt er erschöpft. Die gehen
jetzt zwei Häuser weiter, zu Ploegers.
Anna gibt ihm einen Kaffee, Gustav wischt sich den Schweiß
von der Stirn und sagt: Ploegers sind feine Leute. Die haben viel
mitgemacht.
Und dann fängt er an zu erzählen. Er weiß, was er sagen will
und was nicht. Er verfolgt eine Absicht. Ich soll etwas lernen.
Und ich hänge an seinen Lippen. Er erzählt vom Tod von Fritz
Bockhorst.
Anna ist das nicht recht. Sie steht hinter ihm am Kohlenherd,
eine Hand an der immer gefüllten Kaffeekanne, in der andern
den Becher, beides in demselben weiß-blauen Zwiebelmuster.
Sie pustet und nippt abwechselnd und sagt immer wieder:
Gustav, der Junge ist gerade sechs.
Aber er antwortet ihr: Was ich dem sagen will, kann keiner
früh genug lernen.
Die Linnenbrüggers haben keine Kinder, deshalb verschätzt
er sich vielleicht, was er einem Kind sagen darf, was nicht. Ich
liebe aber Menschen, die mich mit Informationen überfordern,
und so sind wir beide wie gesucht und gefunden.
Warum haben sie Bockhorst umgebracht?, frage ich ihn.
Weil er Flugblätter verteilt hat, gegen die Nazis. Und an die
Häuserwände hat er Parolen gemalt. Der war SPD und
Gewerkschaftler. Das hat schon gereicht. Ein Werkzeugmacher,
ein gewitzter Kopf, der viel reden konnte, ohne andere zu
verraten.
Wo haben sie den umgebracht?
Im Knast. Seine Frau hat verlangt, ihren Mann noch einmal
zu sehen. Das haben sie ihr erlaubt. Sie hatten ihn aufgebahrt,
in der Leichenhalle. Die Gestapo war dabei, als sie neben dem
Leichnam stand. Sie hat sofort den Hals ihres Mannes
abgesucht, ob sie die Striche sieht.
Welche Striche?
Vom Strick! Von der Strangulation! Im Knast heißt
Selbstmord zu neunzig Prozent: sich aufhängen.
Und? Hat Frau Bockhorst was gesehen?
Nichts. Da war gar nichts. Alles glatt. Aber die Zähne waren
blutverkrustet. Und ein Pflaster ist ihr aufgefallen, auf der
Stirn, über der Augenbraue. Das hat sie blitzschnell
weggerissen, bevor die Beamten sie daran hindern konnten.
War da was?
Da war ein Loch.
Anna sagt wieder: Lass es jetzt, Gustav.
Aber er redet weiter. Er spürt meine Neugier: Am 30. Juni 44
haben sie Fritz Bockhorst umgebracht. Und ein Jahr später hat
seine Frau die Gestapobeamten angezeigt. Was glaubst du, wie
das ausgegangen ist?
Ich zucke mit den Schultern.
Die Gestapo bestand darauf, dass es Selbstmord war. Und die
Richter haben das geglaubt.
Wer ihn auf dem Gewissen hat, erzählt Gustav nicht. Aber er
weiß es. Das merke ich an der Pause, die er macht, wenn ich
ihn frage.
Es ist nicht gut für dich, Etja, alles zu wissen, die Leute sind
ja noch da und halten zusammen. Niewöhners von nebenan
haben damals den Ton angegeben. Aber jetzt sind sie still.
Warum kann Frau Bockhorst die Gestapo jetzt nicht noch
mal anzeigen?, frage ich.
Gustav schüttelt den Kopf. Etja, wir denken immer, die
Zeiten ändern sich. Aber das stimmt nur halb. Die Menschen
bleiben dieselben.
Wir schweigen eine Weile.
Plötzlich sagt Anna an ihrem Kohlenherd, ganz leise, mit der
Tasse vor den Zähnen: Sag mal deinem Papa, er soll meinen
Gustav nicht so über die Höfe hetzen.
Ihr Mann lässt einen richtigen Trompetenschrei los: Anna!
Anna winkt ab, lächelt verschmitzt: Ich sach nix mehr.
Wir schweigen wieder. Ich verstehe nicht, was sie meint.
Gustav hat sich wieder beruhigt und erklärt mir etwas. Er
beugt sich über den Tisch zu mir, die Kante drückt sich in
seinen Bauch: Schau dir die Frau Ploeger an, wenn sie bei
Niewöhners vorbeigeht. Da kannst du viel lernen. Vor
Niewöhners Haus wird sie ein Stück langsamer. Mit einer
kleinen Bewegung schaut sie, ob sie beobachtet wird, dann geht
sie weiter. Etja, die ist einfach nur froh, dass sie da wieder ohne
Angst vorbeigehen darf.
Angina Pectoris
Meine letzte Begegnung mit Gustav vor seinem Tod liegt fast
vier Wochen zurück, und der Gedanke daran treibt mir das Blut
in den Kopf.
Ich stand vor dem Haus und sagte mir: Komm, besuch die
beiden wie früher! Ist doch egal, wie lange du nicht mehr da
warst.
Und schon bin ich die Treppen hoch, steh vor der Tür und
drehe mit meinem Zeigefinger Pirouetten auf dem
Klingelknopf.
Das kannst du nicht machen, ermahne ich mich, du kannst
bei denen nicht Alarmklingeln, die drehen doch durch in ihrer
Küche! Aber das Schellen in die Länge zu ziehen, ist purer
Genuss, und es ist so einfach. Ich höre diesen hellen Ton aus
lauter winzigen Tropfen, die aus meinem Zeigefinger fließen.
Als ob mein Finger Töne pissen könnte!
Dann höre ich Gustavs Ächzen hinten auf dem Flur und laufe
so schnell davon, dass ich fast über die Stufen stolpere. Hinter
der nächsten Ecke werfe ich mich gegen die Mauer und pruste
los, weil ich mir vorstelle, mit welcher Wucht sich Gustav vom
Küchentisch hochgestemmt hat und jetzt mit den Armen
ausholt, um seine massigen Oberschenkel anzutreiben, und so
ritsch, ratsch im Scherenschnitt zur Haustür tanzt, sie aufreißt
und mit fliegendem Atem ins Leere schaut.
Was ist bloß in mich gefahren? Das hat sich alles so schnell
in meinem Kopf entschieden. Anna und Gustav sind doch
meine Freunde! Wie konnte ich das bloß tun?
Es kommt noch schlimmer. Kaum sind die letzten Wellen
meines Gelächters verebbt, laufe ich zurück, wieder die
Treppen hoch, zur Haustür, und liebkose ein zweites Mal mit
dem Finger diesen Klingelknopf. Ich will den scheppernden Ton
auskosten, bis ich Gustavs Schritte höre. Aber da wird schon die
Tür aufgerissen, und sein halb entblößter, haarloser Arm
schnellt heraus, stößt vor zu meiner Joppe, packt mich am Hals
und zieht mich über die Fußmatte hinein in die Wohnung. Mit
dem Fuß schiebt er die Haustür zu. Dann drückt er seinen
Rücken an die Wand und lässt mich am ausgestreckten Arm
verhungern.
Das ist eine Wendung, mit der ich nicht gerechnet habe. Ich
muss das rückgängig machen, sofort, denke ich, aber natürlich
ist es zu spät. Er hat mir aufgelauert, weil er mich besser kennt
als ich mich selbst. Er hat gewusst, dass ich ein zweites Mal
klingele.
Gustav sagt nichts. Seine Augen scheinen geschlossen,
Atemstöße jagen über seine Lippen.
Die Sekunden wollen nicht vergehen, der Flur ist dunkel,
und von Anna keine Spur.
Lassen Sie mich bitte los. Es tut mir leid. Ich mach das nicht
wieder.
Jetzt hab ich dich!, zischt er.
Spielt er, oder ist es ernst?
Hast gedacht, du kannst mich an der Nase herumführen.
Kannst du aber nicht.
Es ist ihm ernst. Sehr sogar.
Wieder so eine lange Pause, und sein Griff lockert sich nicht.
Wir sind viele da draußen, lüge ich drauflos. Ich hab Angst,
er könnte was Unüberlegtes tun.
Linnenbrügger sagt nichts. Sein Gesicht ist mir zugewandt,
aber wegen seiner Elefantenwimpern sieht es aus, als ob er
schliefe.
Alles verloren, denke ich. Alle Samstage der letzten Jahre.
Dieser Moment löscht alle Freundschaft aus.
Es tut mir weh, sage ich.
Das soll es auch.
Vorsichtig taste ich mich an seine Faust und versuche, den
Griff zu lockern, aber er dreht meinen Kragen unerbittlich
weiter.
Es wird eng. Ich kann gerade noch in Richtung Küche
blicken. Keine Anna.
Mach das nie wieder. Hörst du?
Nein. Nie.
Hetz mich nie wieder über den Flur.
Nein, bestimmt nicht.
Dann beugt er sich vor, öffnet die Haustür einen kleinen
Spalt und lässt mich los. Wie ein Vogel entwische ich, ohne
mich umzudrehen.
Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe.
Könnte ich durch die Mauer schauen, sähe ich hinter mir auf
der anderen Seite den Sportplatz. Das ist der schönste von den
vier Gefängnishöfen, die alle aussehen wie riesige
Tortenstücke. Zwei gerade Seiten entlang der Zellengebäude
und ein Kreisbogen entlang der Mauer.
Das Gefängnis ist gebaut wie ein Kreuz. Panoptische
Kreuzform heißt das. In der Mitte ist eine zentrale Kanzel, von
der aus man in die vier Flügel und Zellenflure schauen kann.
Bei den Nazis war das der Platz von Herrn Niewöhner, danach
der von Gustav Linnenbrügger.
Jeden Vormittag zwischen elf und zwölf musste Gustav mit
meinem Vater einen Gang über die vier Höfe machen.
Unterwegs inspizierten sie die Werkstätten, und er meldete ihm
dabei die neuesten Vorkommnisse. Eigentlich sollte er meinem
Vater immer ein paar Schritte voraus sein, um vor ihm die Tore
auf- und hinter ihm wieder zuzuschließen. Aber mein Vater hat
diesen vorausstürzenden Gang, der legt einen solchen Zahn zu,
da ist Gustav einfach nicht mehr mitgekommen. Mit
Seitenstechen und schwer atmend ist er zurückgeblieben.
Mein Vater ist freundlich zu ihm. Er weiß, dass sein
Hauptverwalter Angina Pectoris hat. Also schließt er sich die
Türen selber auf und wartet mit seinem Katzenlächeln, bis Herr
Linnenbrügger angekommen ist: Lassen Sie sich bitte nicht von
mir hetzen, Herr Linnenbrügger. Ich kann einfach nicht
langsamer gehen. Ich hab so eine Unruhe in mir, verstehen Sie?
Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.
Herr Linnenbrügger ist alte Schule. Auch er hat eine Unruhe
in sich. Aber eher, wenn er zu schnell ist. Schlimm genug, dass
er bei dem Tempo nicht mithalten kann. Auf keinen Fall will er
seinen Chef noch länger warten lassen.
Der letzte Hof, den die beiden durchlaufen, ist der
Sportplatz. Und die letzte Strecke ist dann immer die Armin-
Hary-Bahn. Sie ist nur 95 Meter lang, weil dem Zellenflügel
5 Meter fehlen, um eine echte 100-Meter-Bahn daraus zu
machen. Dafür läuft der schnellste Gefangene beim Sportfest
auf dieser Strecke auch 11,2, nur eine Sekunde langsamer als
Armin Hary, der gerade in Rom zwei Goldmedaillen für
Deutschland geholt hat, 100-Meter-Sprint in 10,2 Sekunden plus
die 400-Meter-Staffel. Eigentlich ist er sogar mal 10,0 gelaufen,
in Zürich, aber die Sportfunktionäre, diese missgünstigen
Kommissköppe, haben dem aufmüpfigen Hary, wo sie konnten,
ein paar Zehntelsekunden draufgedrückt.
Wir sind hier wie die meisten Deutschen stolz auf unseren
eigenwilligen 100-Meter-Läufer und haben die Strecke nach
ihm benannt. Sie endet unmittelbar vor der Tür der
Gefängnisküche.
Und da zieht es meinen Vater nach seinem Inspektionsgang
magisch hin. Auf einem kleinen Extra-Tisch wird ihm um zwölf
das beste Stück Fleisch mit wenig Gemüse serviert. Das ist auch
in Ordnung, es gehört zu den Aufgaben eines Chefs, das Essen
für seine Gefangenen zu überprüfen.
Für meinen Vater bedeutet Fleisch auf dem Teller die
Wiederherstellung seiner Grundrechte. Zwischen Weihnachten
42 und der Währungsreform 48 war es Mangelware. Aber jetzt
kann er immer noch nicht fassen, dass es längst wieder genug
Fleisch gibt. Er glaubt es nur, wenn sich das erste Stückchen auf
der Gabel seiner Zunge nähert. Dann beruhigt sich sein
hungriger Blick, und er ist für alle Probleme der Welt wieder
ansprechbar. Das Erlebnis vom gebratenen, duftenden Schwein
oder Rind vor seiner Nase muss er ständig wiederholen. Jeden
Mittag erzählt er zu Hause, was es heute in der Gefängnisküche
gegeben hat. Das ist für unsere Mutter auch nicht gerade
einfach.
Gustav Linnenbrügger wartet, solange mein Vater isst, an
der Gefängnisküchentür, hält sich an den weiß gestrichenen
Eisenstäben fest und hofft, dass sich sein Atem beruhigt.
Bei ihrem letzten Gang über die Höfe ist er an dieser Tür
nicht mehr erschienen. Er ist auf der Armin-Hary-Bahn
zusammengebrochen. Als mein Vater fertig gegessen hat,
vermisst er seinen Hauptverwalter an der Tür und hört
stattdessen aufgeregte Stimmen vom Sportplatz. Da packt ihn
das kalte Grauen. Er ahnt, was passiert ist.
Zu Hause sitzt er schluchzend am Schreibtisch: Ich kann
doch nicht langsamer laufen, ich kann es einfach nicht! Ich hab
so eine Unruhe in mir. Es macht mich verrückt, wenn ich so
dahinschlendern muss. Ich hätte den Gang mit Herrn Meißner
machen müssen. Aber das wollte ich Linnenbrügger nicht
antun. Ich habe gehofft, bis zu seiner Pension hält er noch
durch!
Mein Vater hat auch Angina Pectoris. Aber er wusste es noch
nicht, als er mit seinem Hauptverwalter über die Höfe hetzte.
Auch ich habe unerwünschten Kalk in meiner
Vorderwandarterie. Genetischen Kalk. Uns treibt dieselbe
Unruhe. Und wehe, wir treffen auf Menschen, die nicht schnell
genug sind. Die hetzen wir über Gefängnishöfe und
Wohnungsflure.
Siehe, ich komme wie ein Dieb. Glückselig, der wacht und seine
Kleider bewahrt, damit er nicht nackt einhergehe und man
seine Schande sehe.
Mit Büchern, die mir ebenfalls das Leben ersetzen wie Filme,
mache ich es anders. Häufig bemerke ich beim Durchblättern
in der Buchhandlung, dass in einem Text von mir die Rede ist.
Dann besorge ich mir eine Zeitung, kehre ins Geschäft zurück
und trage das entsprechende Buch verdeckt aus dem Laden
heraus. So bin ich in den Besitz von Marcel Prousts «Auf der
Suche nach der verlorenen Zeit» gekommen.
Natürlich haben die Leute recht, wenn sie sagen, dass ich zu
jung bin, um Proust zu verstehen. Aber gleich auf der ersten
Seite war mir klar, wovon der Erzähler spricht. Er spricht von
seiner Kindheit. Man weiß nie genau, mit wem man es gerade
zu tun hat, mit dem Kind selbst oder mit dem Erwachsenen, der
sich an seine Kindheit erinnert. Jedenfalls geht’s ums
Einschlafen. Ein Junge, ungefähr in meinem Alter, vielleicht
etwas jünger, erwacht eines Abends eine halbe Stunde
nachdem er eingeschlafen ist, und hat alles Zeitgefühl verloren.
Was er vorm Einschlafen gelesen hat, was er während der
halben Stunde geträumt hat, alles stürzt mit anderen
Erinnerungen durcheinander, und plötzlich gibt es keine Zeit
mehr. Oder alles ist gleichzeitig, was aufs selbe hinausläuft.
Und weil mir das bekannt vorkam, habe ich dieses Buch
gestohlen.
Es gibt niemanden in meiner Umgebung, mit dem ich
darüber reden kann, dass es Zeit eigentlich nicht gibt. Gerade
hier an der Mauer frage ich mich oft, ob nicht alles gleichzeitig
passiert und nur durch unsere Art zu leben in ein
Nacheinander zerfällt. Ich neige dazu, das zu glauben. Leider
fehlt mir das Handwerkszeug, um das zu Ende zu denken.
Rembrandt war der Erste, der mich auf diese Idee gebracht
hat. Als ich mit meinem Vater in Dahlem war, weil er den
«Mann mit dem Goldhelm» bewundern wollte, stand ich im
Saal nebenan vor einem andern Rembrandt: «Simson bedroht
seinen Schwiegervater». Und da gehen mir anscheinend die
Augen auf, denn ich entdecke, dass dieser Maler eine
einzigartige Fähigkeit besitzt. Seine Farbe erzählt Zerfall. Er
malt nichts anderes als den Übergang der Welt in Moder, ganz
gleich, ob es sich um Steine, Stoffe oder Menschenfleisch
handelt. Was für eine berauschende Entdeckung. Mir jagt das
Blut durch die Adern und verrät mir, dass ich Teil dieses
Kreislaufs bin. In einem Augenblick habe ich begriffen, dass es
der Zerfall ist, der uns zusammenhält. Der alles zusammenhält.
Wie in einem feinen Regen vibriert die ganze Welt im Zerfall.
Das kann doch, denke ich mir, hier zwischen Gefängnismauer
und Bretterverschlag nicht anders sein als in der Kunst.
Der Weg aus meinem Alltag ins Dunkel des Kinosaals bis zu
dem Moment, wo das Licht auf der Leinwand zu flackern
beginnt, ist gespickt mit Schwierigkeiten. Ich bin noch vorm
Stimmbruch. An der Kinokasse vom Scala sitzt meistens nicht
die Kassiererin, sondern ihr verhaltensauffälliger Sohn. Er ist
etwas älter als ich und lacht ständig. Er besucht deshalb die
Hilfsschule, ist aber meiner Meinung nach sehr intelligent.
Wenn er mich sieht, hält er sich gleich die Hand vor den
Mund, um sein Grinsen zu verbergen. Bei Filmen ab sechzehn
versucht er mich ernsthaft zu fragen, wie alt ich bin. Ich drücke
auf meine Stimmbänder, als hätte ich mich verschluckt, und
sage: sechzehn.
Dann entfährt ihm ein Juchzer, er reißt die ersehnte
Kinokarte von der Rolle, drückt sie mir in die Hand und ruft
mir nach: Sag bloß meiner Mutter nix!
Wenn die an der Kasse sitzt, brauche ich die Eingangshalle
gar nicht zu betreten. Sie entdeckt mich schon von weitem und
schreit hinter der Glasabdeckung: Du blöder Knirps, hau bloß
ab und lass dich hier nie wieder blicken!
Manchmal schwingt sie auch ihre lange Taschenlampe und
ruft: Bist du schon wieder da, du Kretin? Willst du ’ne Tracht?
Eine weitere Schwierigkeit ist die Verabschiedung von
meinen Eltern. Viertel vor zehn muss ich aus dem Fenster.
Meine Eltern sind dann natürlich noch nicht im Bett. Irgendwie
muss ich verhindern, dass sie in mein Zimmer schauen, um mir
gute Nacht zu sagen. Also verabschiede ich mich gegen Viertel
nach neun mit einem vorgefertigten Satz: Entschuldigt mich
bitte, morgen wird ein anstrengender Schultag, ich muss früh
ins Bett. Gute Nacht! Dann küsse ich punktgenau die Stellen
ihrer Gesichter, die sie mir hinhalten, schaue noch, ob da
irgendwo Argwohn zu erkennen ist, und gehe in mein Zimmer.
Jetzt lasse ich ihnen eine Viertelstunde Zeit, falls sie noch
irgendeine Frage an mich haben. Dann gehe ich davon aus,
dass sie nicht mehr kommen.
Gegen elf liegen sie selbst im Bett. Da habe ich mich schon
längst aus dem Fenster gehangelt und begleite Charlton Heston
als Ben Hur durchs Altertum, Kirk Douglas als Spartacus oder
eben James Dean beim Autorennen.
Viele Filme haben Überlänge. Wenn ich zurückkomme, ist es
Nacht. Einen Hausschlüssel haben bei uns nur die Eltern. Ich
muss also hinten in den Hof und die schwere Mülltonne bis vor
mein Fenster rollen. Während ich in die Schwärze des Gartens
eintauche, erwacht meine Angst. Als würden sie in Sirup waten,
stemmen sich meine Beine gegen die Dunkelheit. Aber
gleichzeitig lache ich und verhöhne mich selbst.
Was soll denn James Dean von dir denken, wenn du zu feige
bist, in einen dunklen Garten zu gehen?
Meine Muskeln zucken vor Lust, weil sie etwas tun, wovor
sie Todesangst haben. Hinten am Schuppen, bei der
Jauchegrube mit dem verrosteten Eisenblech und der
rauschenden Tanne, halte ich es kaum noch aus. Zitternd
umschließe ich die Griffe der Mülltonne und freue mich
unbändig, dass ich es bis hierhin geschafft habe. Dann rolle ich
die Tonne, die je nach Wochentag unterschiedlich schwer ist,
den ganzen Weg bis vor mein Fenster und steige in mein
Zimmer ein. Keiner sieht mich.
Nur im Haus gegenüber ist ein erleuchtetes Fenster. Da sitzt
Pastor Kubis und wird mit seiner Predigt für den Sonntag nicht
fertig.
Während ich ins Zimmer gleite, spiele ich aus Übermut
Einbrecher. Ich falle über mein Kopfkissen her: Hab ich dich
endlich erwischt, Edgar! Diesmal entkommst du mir nicht!
Und dann erwürge ich das Kissen.
Aber leider muss ich noch mal raus. Auf Zehenspitzen
schleiche ich zur Haustür hinaus und rolle die Mülltonne
wieder zurück in den Garten. Da steigt die Angst von ganz
alleine.
Wenn ich die Tonne abgestellt habe, fühle ich mich
federleicht. Wieder hat mich mein Gelächter voll im Griff. Der
Triumph, alle Regeln verletzt und meine Angst besiegt zu
haben, lässt mich Arme und Beine von mir werfen und jubeln:
Ich bin ein Maharadscha!
Meine Eltern schlafen auf der andern Seite. Die hören nix.
Bequem schreite ich durch die Haustür.
Am Tag nachdem Kubis mich verraten hat, klopft meine Mutter
an meine Zimmertür. Ganz zart und zerbrechlich wirkt sie.
Wollen wir Tischtennis spielen?, fragt sie.
Etwas irritiert antworte ich: Ja, gerne. Ich hole nur meinen
Schläger.
Schleppend geht sie vor mir die Treppe rauf.
Die überlegt sich das noch mal, denke ich.
Oben auf unserm geräumigen Dachboden stellt sie sich vor
der Platte auf. Jetzt macht sie sicher gleich eine Angabe. Aber es
kommt nichts. Sie steht einfach nur da. Die Arme hängen
schlaff an ihr herunter.
Nun mach doch schon, bitte ich sie.
Da wirft sie den Ball in die Luft, führt auch eine müde
Schlagbewegung aus, aber viel zu tief, um den Ball überhaupt
treffen zu können. Der klackert sich auf dem Fußboden aus,
und sie denkt gar nicht daran, ihm nachzuschauen, um ihn
wieder aufzuheben.
Geht es dir nicht gut?, frage ich sie.
Edgar, hast du mir nichts zu sagen?, antwortet sie und schaut
mich an wie einen Fremden.
Pause.
Was soll ich dir zu sagen haben?
Na, das wirst du doch wissen.
Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass man auf so eine Frage
nicht eingehen darf. Hat der Buchhändler bemerkt, dass ich
den Proust geklaut habe? Könnte sein. Wahrscheinlich geht’s
ums Kino. Und um das Geld dafür.
Mein nächster Satz gerät mir etwas unwirsch: Sag doch, was
du meinst.
Sei bloß vorsichtig, warnt sie mich, schon etwas lauter als
zuvor.
Ich zucke die Schultern.
Du kannst auch gleich zu Papa runtergehen. Der wartet
schon auf dich.
Was soll man da machen? Eltern sind keine Einzelwesen,
sondern eine Institution.
Sehr ernsthaft sage ich: Ich finde das nicht fair, wie du mich
hier verhörst.
Jetzt wacht sie auf: Nicht fair? Nicht fair? Aber wir, deine
Eltern, sollen uns von dir anlügen lassen, ja? Das findest du
wohl fair!
Pause.
Ich will das jetzt von dir wissen, sagt sie und klopft mit der
Schlägerkante auf die Platte.
Ihre Augen bekommen Feuer. Friedrich der Große, mit
dessen Zügen sie in bestimmten Momenten Ähnlichkeit hat,
leuchtet durch sie hindurch.
Du belügst uns doch, legt sie nach.
Wieso?
Das darf doch nicht wahr sein!, ruft sie. Du belügst uns fast
täglich! Du stellst doch hier unser ganzes Zusammenleben in
Frage!
Pause.
Nun komm schon, gib dir einen Ruck!
Ich denke aber gar nicht daran, mir einen Ruck zu geben.
Dann redet sie einfach durch: Du erweckst hier doch einen
vollkommen falschen Eindruck. Du tust so, als wolltest du dich
gut auf die Schule vorbereiten. Und wir glauben dir das auch
noch! Dein Vater und ich schauen uns an, wenn du uns gute
Nacht gesagt hast. Sieh mal, ermutigen wir uns, wie vorbildlich
unser kleiner Edgar jetzt arbeitet. Und was machst du in
Wahrheit?
Pause.
Was soll denn das für eine Art Zusammenleben in diesem
Haus sein, wenn jeder dem andern so frech ins Gesicht lügt?
Wer sind wir denn für dich? Servietten, an denen du dir dein
Lügenmaul abwischst?
Das trifft mich. Aber ich denke auch: kein schlechtes Bild,
das mit den Servietten.
Mit so einem Menschen wollen wir nicht unter einem Dach
wohnen.
Ich musste das so machen, sage ich, damit ihr nicht plötzlich
in meinem Zimmer steht, um mir gute Nacht zu wünschen.
Sie scheint sich kurz zu wundern, dass ich doch sprechen
kann. Dann höhnt sie: Wir müssen uns in diesem Haus weder
guten Morgen noch gute Nacht sagen. Wir müssen uns
überhaupt nichts mehr sagen. Diese Missachtung anderen
Menschen gegenüber ist widerlich. Gar nicht, weil wir deine
Eltern sind. Vor denen hast du sowieso keine Achtung. Aber du
könntest Achtung haben vor Menschen, die dir glauben, was du
sagst.
Ich könnte sie drauf hinweisen, dass das Wesen der Lüge
darin besteht, bei anderen Menschen eine unrichtige Annahme
zu erzeugen. Aber ich lasse es.
Wie viele Filme hast du heimlich gesehen?
Zwei.
Jetzt hör aber auf! Sonst hol ich Papa rauf. Der wird die
Wahrheit schon rausprügeln. Allein Frau Jabs hat dich
mindestens zehnmal gesehen. Sie hat sich nur nie getraut, was
zu sagen. Weil sie das gar nicht glauben konnte: ein Kind
nachts vorm Hollywoodschinken!
Frau Jabs ist unsere Putzfrau. Erstaunlich, dass sie so oft ins
Kino geht. Ich hab sie da nie gesehen.
Wenn Pastor Kubis dich gestern Nacht nicht beobachtet
hätte, wie du auf der Mülltonne standst und dich abgestrampelt
hast, um in dein Zimmer zu kommen, würden wir dir immer
noch glauben. Ich frage dich jetzt noch mal: Wie oft warst du
heimlich im Kino?
Ich habe nicht mitgezählt.
Zehn Mal? Zwanzig Mal?
Eher zehn.
Mit welchem Geld?
Ich gestehe knapp meine Technik mit dem Küchenradio.
Technik nennst du das! Das ist gestohlenes Geld! Du weißt ja,
das Gefängnis ist nicht weit. Du brauchst nur aus dem Fenster
gucken. Dieses Geld wirst du abarbeiten. Mit Abwaschen.
Welche Filme hast du gesehen?
Ich zähle auf, was mir gerade einfällt: «Ben Hur», «Die Zehn
Gebote», «Spartacus», «König der Freibeuter», «Gekreuzte
Klingen». Dann den Film mit James Dean: «Denn sie wissen
nicht, was sie tun». Die Horrorfilme: «Die Fliege» und von Fritz
Lang «Dr. Mabuse» und «M – eine Stadt sucht einen Mörder«.
Natürlich «Der Glöckner von Notre Dame». Ein paar Franzosen
mit Jean Gabin und Belmondo. Dann die Western. Von denen
nenne ich ihr nur die besten wie «Die glorreichen Sieben» und
«Stagecoach» von John Ford. Am Schluss erwähne ich «Die
Katze auf dem heißen Blechdach» mit Liz Taylor und Paul
Newman. Die beiden sind für mich der Inbegriff eines
erotischen Paares. Ich erwarte mir vom bloßen Aussprechen
ihrer Namen eine Stärkung meiner Situation.
So. Jetzt habe ich den ganzen Ballast der Wahrheit
abgeladen. Soll sie sehen, wie sie damit zurechtkommt.
Meine Mutter schweigt. Mit jedem Filmtitel, den ich genannt
habe, muss sie meinen Wissensvorsprung erkennen. Sie ist
klein geworden auf der anderen Seite der Platte. Die Macht
ihrer moralischen Rigorosität scheint geschmolzen. Auf einmal
steht sie da wie ein Kind, das lange Zeit Mutter gespielt und nun
die Lust an dieser Rolle verloren hat.
Dann sagt sie verächtlich: «Die Katze auf dem heißen
Blechdach»! Das ist doch die Geschichte von diesem
Schwächling, der sich auf Krücken durch den ganzen Film
bewegt und seiner Frau kein Kind machen kann. Der um seinen
toten Freund trauert und seine Liebe zu ihm im Alkohol
ertränkt.
Paul Newman ist das, antworte ich trotzig und wundere
mich, dass sie diesen Film kennt.
Sie steht da wie ein todtrauriger Ausdruck deutschen Stolzes.
Geh mal runter zu deinem Vater und entschuldige dich, sagt sie.
Der wartet auf dich in seinem Arbeitszimmer.
Es tut mir leid, sage ich quer über die Platte.
Was tut dir leid?, fragt sie.
Die Lügen, der Diebstahl.
Sie zuckt hilflos die Schultern, und ich mache mich auf den
Weg.
Diese Treppe. Mit jeder Stufe abwärts bewege ich mich in
den Trichter der Bestrafung hinein. Warum tue ich das? Immer
wieder einen Fuß vor den anderen setzen, um mich zu
entschuldigen, um etwas wiedergutzumachen?
Weil ich die anderen an den Punkt bringen möchte, die
Sinnlosigkeit ihrer erzieherischen Bemühungen selbst zu
erkennen.
Mein Vater steht vor seinem Schreibtisch und schaut auf ein
Zeitungsblatt.
Es tut mir leid, sage ich von der Tür aus, dass ich euch so oft
belogen habe, wenn ich abends ins Kino gegangen bin.
Es klingt unbeholfen und nach Routine. Ein Gefühl der Reue
ist nicht vorhanden. Nur Müdigkeit.
Mein Vater dreht sich zu mir um, nimmt mich achselzuckend
zur Kenntnis, seine Augen sind mit etwas anderem beschäftigt.
Er verlässt das Zimmer durch die seitliche Tür, die Schiebetür
zum Flügelzimmer, schließt sie, ohne mich noch mal
anzuschauen, und spielt das Thema des ersten Satzes von
Mozarts A-Dur-Klavierkonzert, KV 488.
Kinderzimmer
Ich wache auf und höre meinen Vater unter der Dusche
stöhnen. Hohl klingt seine Stimme, trostlos, und schlägt mir
sofort auf den Magen. Das geht schon seit Minuten so. Vom
Durchlauferhitzer kommt kein Geräusch. Er duscht kalt.
Sicher denkt er, es hört ihn niemand. Vielleicht erinnert er
sich an früher. An die Winter in Russland. Vielleicht will er sich
überwinden und sucht die Härte. Vielleicht denkt er: Alles ist
viel zu schnell wieder viel zu bequem geworden. Das sagt er
manchmal.
Gestern beim Mittagessen hat er vom Krieg erzählt, von
Weißrussland, von den Partisanen, die den deutschen Soldaten
die Ohren abgeschnitten haben: Morgens, wenn wir aus
unseren Zelten kamen, fanden wir die Ohren unserer
Kameraden im Schnee. Wir haben sie eingesammelt und uns
auf die Suche gemacht. Immer der Blutspur nach, aber nicht zu
weit, um nicht in eine Falle zu laufen. Keinen haben wir je
wiedergefunden. Die Angst, selbst derjenige zu sein, der nicht
wiedergefunden wird, mit oder ohne Ohren, hat uns
zusammengeschweißt.
Jetzt springt drüben im Bad der Gasofen an, heult und faucht
im Dauerzustand. Mein Vater schreit auf. Kurze, abgerissene
Schreie. Er peinigt sich. Wahrscheinlich dreht er den Kalt-Hahn
gnadenlos immer weiter zu.
Ich schaue die Wand zum Bad an und hoffe inständig, dass
er den Gasofen wieder abstellt. Seine Schreie sind noch
unerträglicher als sein Stöhnen.
Ich lege mich auf den Rücken. Schaue zur Decke. Er schreit
weiter.
Unsere Räume sind über vier Meter hoch. In diesem
schmalen Durchgangszimmer liege ich wie in einem Schacht.
Drei Türen gibt es. Zum Elternschlafzimmer, zum Bad und zum
Esszimmer. Und ein schmales, hohes Fenster. Mit einer grünen
Gardine. Das ist wirklich nur ein Ort zum Durchqueren.
Hier liege ich, hier lebe ich. Gemeinsam mit meinem kleinen
Bruder.
Fast fünfzig Jahre ist er tot. Immer wieder muss ich mir ins
Gedächtnis rufen, dass ich in diesem Zimmer nicht eine einzige
Nacht ohne ihn geschlafen habe. So weit scheint er sich schon
aus meinem Leben entfernt zu haben. Das erschreckt mich.
Heute Morgen ist Andreas schon weg. Im Bad drüben ist es jetzt
ruhig.
Keine Ahnung, warum mich niemand geweckt hat. Ich stehe
auf, ziehe die grüne Kinderzimmergardine zurück und befreie
mich aus dem Unterwasserlicht. Draußen ist milchige Sonne.
Herbst. Ganz schön. Könnte man rausgehen.
An der Wand zum Bad ist eine große Schiefertafel, von
einem Strafgefangenen hergestellt und mit Dübeln für die
Ewigkeit befestigt. Vollgeschrieben mit Worten, die ich nicht
entziffern kann. Andreas ist Linkshänder. Die Erwachsenen
sind der Ansicht, dass es Dinge gibt, die man mit der rechten
Hand tun muss. Schreiben gehört dazu. Andreas schreibt viel
und flüssig auf seine Tafel. Aber nur Spiegelschrift.
Ich greife mir den kleinen Handspiegel, der hier liegt, und
lese, was auf der Tafel steht: «Andreas badet. Eintritt bei Strafe
verboten.» Irre, wie klar und genau die Buchstaben gemalt
sind. Nur zeigen sie alle in die falsche Richtung. Wahrscheinlich
hat er eine Schreibübung gemacht für einen Zettel, den er an
die Badezimmertür kleben möchte.
Ich blicke raus. Hinter der Fensterscheibe liegt der Garten.
Meine Arena, in der ich die letzten Jahre gespielt habe. Jeder
einzelne Fleck da draußen ist von mir abgespielt. Alles habe ich
verwandelt. Nichts ist mehr es selbst: der Birnbaum auf der
Wiese dahinten ist Generalfeldmarschall Kesselrings
Kampfflugzeug, die Astgabel der Pilotensitz, die Wiese darunter
mal Rotterdam, mal London, mal Warschau. Alles x-mal von
mir bombardiert, wiederaufgebaut und zerstört. Der
Gartenweg ist die Schelde, die Themse, die Weichsel. Wie ich es
brauche. Auf der Wiese liegen die Toten europäischer
Großstädte und die Trümmer ihrer Häuser. Da liegen auch die
unreifen Birnen vom Lieblingsbaum unseres Vaters, seiner
Guten Luise, die haben als Bomben herhalten müssen. Das hat
zu einer Auseinandersetzung geführt.
An allen Leichen, die auf der Wiese rumliegen, hat
Generalfeldmarschall Kesselring Gebete gesprochen, nachdem
ich die Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht habe. Auch
Errol Flynn hat als Herr der sieben Meere diese Wiese mit
seinem Piratenschiff durchpflügt, unzählige Feinde mit seinem
Fliederzweig abgestochen. Einige von ihnen sind so laut
verreckt, dass Nachbarn die Fenster aufgerissen und um Ruhe
gebeten haben. Errol hat zur Belohnung Gina Lollobrigida an
den Birnbaum gepresst und gierig die Rinde geküsst. Und am
Sitzplatz mit den weißen Gartenmöbeln habe ich das
Potsdamer Abkommen unterzeichnet, dreimal: als Stalin, als
Truman, als Churchill. Frankreich war noch nicht dabei.
Das kann man alles machen. Aber jetzt hängen mir
Rotterdam und Gina und Churchill und der ganze Rest zum
Hals raus, und es fällt mir schwer, alles wieder
zurückzuverwandeln in das, was es eigentlich ist. In Birnbaum,
Wiese, Gartenweg und so weiter.
Hinten am Steingarten hat alles angefangen, vor vielen
Jahren, ich glaube, als Andreas plötzlich auch auf der Welt war.
Ganz zahm und vorsichtig habe ich mich da einfach hingestellt,
auf die oberste Stufe des Steingartens, ich habe nichts gemacht,
mich nicht bewegt und nicht gesprochen, einfach nur hinter
meiner Stirn beschlossen: Ich bin Hannibal.
Und wie von selbst haben sich vor mir die Alpen über unsern
Garten gelegt, und ich konnte nach Norditalien schauen,
obwohl es bloß der Sandkasten war, und hinter mir habe ich
den Luftzug der dreißig afrikanischen Elefanten gespürt. Mit
ihren großen Ohren haben sie mir zugefächelt. Und so wenig,
wie man Elefanten auf ihren Riesenstampfern kommen hört, so
wenig konnten meine Eltern und Brüder wissen, mit was für
einer Granate der Weltgeschichte sie es zu tun hatten. Sie
haben mir zugerufen, gefälligst nicht so blöd rumzustehen,
sondern mal mit anzupacken und Stühle rauszutragen, damit
wir alle am Sitzplatz vor dem Rasen was essen können. Das
habe ich gemacht. Und weder Hannibal noch mir hat das einen
Zacken aus der Krone gebrochen. Tragen wir eben Stühle raus,
haben wir uns gesagt.
So habe ich mich verabschiedet aus der Wirklichkeit.
Aber da will ich jetzt wieder rein. Und das fängt mit dem
Zimmer an: Ich muss dieses Kinderzimmer verlassen! Ich muss
von Andreas weg! Den habe ich angesteckt mit meiner Manie,
alles zu verwandeln. Deshalb kann ich mich in seiner
Gegenwart nicht weiterentwickeln.
Außerdem ist das ja gar kein richtiges Zimmer. Hier stehen
nur unsere Betten, wie zwischen zwei riesigen Transistorradios
ohne Abschaltknopf: von links und rechts endlose Hörspiele,
aus dem Elternschlafzimmer und aus dem Bad.
Warum kann ich nicht Werners Zimmer haben? Der ist doch
nur am Wochenende da. Es liegt gleich neben der Haustür. Hat
zwei Fenster: eins zur Außentreppe hin und eins zur Straße. Da
kriegt man tagsüber mit, wer kommt, wer geht. Das ist nervig,
ist aber auch interessant. Fremdheit, Außenwelt. Nachts hätte
ich meine Ruhe, könnte mich vom Fenster aus auf die Treppe
runterhangeln und ins Kino gehen. In die Spätvorstellung. Das
wäre Freiheit.
Oder Martins Zimmer oben im ersten Stock. Der kommt nur
noch zu Besuch. Allerdings hat er seine Freundin hier in
Herford. Die müssen ja irgendwo hin.
Ein Bombenzimmer ist das da oben. Groß, ab vom Schuss. Da
guckt man weit raus. Über die Straße und die Gemüsegärten,
die Gefängnisgärtnerei, die Vorortstraßen und die Neubauten
am Ortsieker Weg, bis in die Schweichelner Berge, auf die
höchste Kuppe, die Egge, wo der Sendemast steht. Das ist auch
Freiheit.
Da könnte ich ungestört Romane lesen. Könnte mich von der
Vorlesestimme unseres Vaters unabhängig machen. Einfach
lesen, was ich will. So schnell, so langsam, wie ich es möchte.
Das Buch zuschlagen und weglegen, zurückblättern oder immer
wieder dieselbe Stelle lesen. Ich könnte einzelne Sätze
mitsprechen, Seiten überschlagen oder gleich aufs Ende
springen. Prüfen, ob ein Satz, den ich von meinem Vater im Ohr
habe, sich verändert, wenn ich ihn selbst lese.
Ich habe schon so viele Buchtitel gehört, die mich neugierig
machen. Thomas Manns «Joseph und seine Brüder», diese
Geschichte von Jakob und seinen Söhnen aus dem Alten
Testament. Die kenne ich ja bereits aus dem Kindergottesdienst.
Könnte ich mir einfach von Herrn Mann neu erzählen lassen.
Dostojewskis «Ein grüner Junge» müsste genau mein Buch sein.
«Hunger» von Hamsun haben sie mir weggenommen, wegen
der Marmeladenflecken, die ich auf den Seiten verteilt habe.
Diesen wahnsinnigen Anfang von «Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit» könnte ich wieder und wieder lesen und mir
jedes Mal einen Satz mehr hinzuerobern. Und «Die
Schattenlinie» von Joseph Conrad, der gar nicht so hieß,
eigentlich ein Pole war und immer zur See fuhr, wartet schon
lange auf mich.
Und zwischendurch könnte ich zum Horizont schauen.
Könnte in der Ferne, auf der Egge beim Sendemast, meinen
Blick ausruhen.
Ob meine Eltern mich so weit wegziehen lassen? In den
ersten Stock? Die haben doch Angst, dass ich sie da oben
vergesse! Und meine Schularbeiten gleich dazu.
Wie kriege ich das hin mit dem eigenen Zimmer? Wie kriege
ich das hin, dass ich eine Tür hinter mir zumachen kann?
Das «neue Heim» muss das Haus sein, in dem ich gerade stehe.
Herford. Und die Haft, von der Kesselring spricht, das
Zuchthaus in Werl, wo wir vorher gewohnt haben. Da sind wir
von Bückeburg hingezogen, Hals über Kopf, weil unsere Mutter
die Sandsteintreppe am Hauseingang nicht mehr sehen wollte,
wegen Rainer und der Handgranate.
Ich habe gehört, dass unser Vater in Werl eine Art Chef war,
für kurze Zeit. Richtig konnte er das nicht sein, weil der
wirkliche Chef die Besatzer waren, in diesem Fall ein britischer
Oberst. Vickers hieß er. Der hat unsern Vater bald
rausgeschmissen. Der Selge ist zu lasch, hat er entschieden.
Diesen Satz kenne ich von unserer Mutter, die das
offensichtlich nicht als ehrenrührig empfand und beim
Mittagessen erzählt hat. Unser Vater hat es trotzdem nicht so
gern gehört und ein überlegenes Gesicht aufgesetzt, um seine
Empfindung zu verbergen.
Er war für die Betreuung der eingesperrten hohen Offiziere
zuständig, die meisten von ihnen Generäle, und soll mit ihnen
fraternisiert haben. Inzwischen weiß ich, dass das Wort von
«frater» kommt, was «Bruder» heißt.
Der Umzug nach Herford ist knapp zehn Jahre her. An Werl
habe ich ein paar genaue Erinnerungen. Aber die glaubt mir
niemand. Die Erwachsenen sind der Ansicht: Erst ab dem
dritten Geburtstag kann man sich genau erinnern. Frühestens!
Sie sprechen in meinem Fall von Einbildungen. Was soll ich da
machen? Wahrscheinlich sind Erinnerungen nicht dazu da,
dass andere sie für wahr halten.
Wenn ich mir die Schrift von Generalfeldmarschall
Kesselring anschaue, muss ich sagen: Der Mann ist auch nicht
ohne Einbildung. Er unterschreibt ganz ähnlich wie Herbert
von Karajan. Hohe, parallele Buchstaben wie eine donnernde
Fliegerstaffel.
Karajans Unterschrift kenne ich aus einem Büchlein mit
Karikaturen von Musikern. Es muss hier ganz in der Nähe
stehen. Mein Vater hat es zum Geburtstag geschenkt
bekommen, so ein kleines Insel-Büchlein. Werner hat mir
erklärt, der Zeichner sei ein Antisemit. Die jüdischen Musiker
haben nicht unterschrieben. Vielleicht, weil der Karikaturist
sich auf ihre Nasen kapriziert hat. Die andern Musiker dagegen
haben brav ihr Autogramm unter ihr Konterfei gesetzt. Im
Nachwort hat der Zeichner behauptet, die Juden hätten eben
keinen Humor.
Karajan ist als Propellermaschine gezeichnet. Das hat ihm
sicher geschmeichelt, weil er ja nicht nur die Berliner
Philharmoniker dirigiert, sondern auch Pilot ist. Unser Vater
hat sehr gelacht über das Flugzeug mit der Karajan-Frisur.
Werner hat gleich eingewendet, dass Karajan zweimal in die
NSDAP eingetreten sei, um ja nichts zu verpassen.
Da war die Freude unseres Vaters vorbei.
Du kannst froh sein, hat er gemeint, wenn du je in deinem
Leben von Karajans Taktstock einen Einsatz bekommst.
Da spiele ich lieber im Kurorchester, hat Werner prompt
geantwortet, als mir von dieser Knattercharge einen Einsatz
geben zu lassen.
Diese Knattercharge, hat unser Vater schon leicht zitternd
entgegnet, reist gerade mit einem Heer von Musikern um den
Globus, um Deutschland an vorderster Front wieder
Weltgeltung zu verschaffen!
Na ja, hat Werner gesagt, dafür sei deutsche Musik ja auch
komponiert: für ihren Einsatz an vorderster Front, um
Deutschland Weltgeltung zu verschaffen. Praktisch in
Konkurrenz zum Volkswagen.
Darauf war Ruhe.
Während ich mit Karajans und Kesselrings Unterschriften
beschäftigt bin, habe ich nicht mitbekommen, dass meine
Eltern wieder im Zimmer stehen. Zwei Meter vor mir. Direkt
unter der Deckenleuchte. Weder habe ich die Haustür gehört,
noch, wie sie ihre Mäntel ausgezogen haben. Und was sie im
Flur geredet haben, muss mir auch entgangen sein.
Tatsächlich sind sie verändert und stehen mit ernsten
Gesichtern da. Meine dreckigen Hände und das Buch mit dem
Zettel nehmen sie gar nicht wahr.
Auf ihrem Weg in die Stadt seien sie wieder umgedreht, sagt
mein Vater, weil Mutti solche Magenstiche habe, dass sie
augenblicklich ins Bett müsse.
Ich nicke, klappe das Buch zu und stelle es in den Schrank
zurück. Dabei gleitet der Zettel mit den Unterschriften zu
Boden, direkt vor die Füße meines Vaters. Aber er bemerkt es
nicht. Ich schaue meine Mutter an. Warum geht sie nicht sofort
ins Bett? Sie steht reglos neben meinem Vater, hält beide Hände
auf der Magengegend, zwischen den Augenbrauen hat sie eine
senkrechte Falte, die Lippen sind schmal. Wenn man nichts von
ihren Magenstichen wüsste, würde man glauben, sie denke
scharf nach. Ihr Blick geht nach innen.
Einmal im Jahr hat unsere Mutter Magenstiche. Meistens im
November. Jedes Mal steht sie dann genau so da wie jetzt.
Manchmal fragt sie leise, ob ihr jemand eine heiße Milch
machen kann. Immer liegen die Hände übereinander, auf der
Magengegend, als würde sie ein Loch zuhalten. Und immer
vermittelt sie dabei den Eindruck äußerster Konzentration.
Da ist aller Spaß vorbei. Schlagartig verändern wir uns. Ich
lese in ihrem Ausdruck eine geheime Nachricht, dass morgen
der Jüngste Tag ist und ich in den nächsten vierundzwanzig
Stunden die Chance habe, noch einmal von vorne anzufangen
und alles gutzumachen. Aber auch meine Brüder und mein
Vater werden freundlicher, warmherziger. Alle bieten ihre
Hilfe im Haushalt an, jeder sieht die Sorge im Gesicht des
andern, allen wird bewusst, dass s i e eigentlich die Familie ist
und wir anderen ohne sie nur eine sinnlose Ansammlung
männlicher Wesen.
Das ganze Leben ist eine zerbrechliche Konstruktion, das
wissen wir jetzt und dürfen uns darüber wundern, dass wir das
immer wieder vergessen.
Kann ich dir eine Milch heiß machen?, frage ich meine
Mutter. Sie schüttelt kaum merklich den Kopf. Leise sagt sie: Ich
will nur noch ins Bett.
Aber sie bewegt sich nicht, auch mein Vater unterbricht
seinen Versuch, sie ins Schlafzimmer zu führen, umgehend.
Eine winzige Geste von ihr zeigt, dass sie nicht berührt werden
möchte. Oder gedrängt. Von jetzt an entscheidet sie selbst. Und
wir werden das respektieren und sie nur beobachten.
Ich glaube, ihre Magenstiche sind eine endgültige
Abrechnung mit uns. Wir können ihr den Buckel
runterrutschen.
Sie hat natürlich keinen Buckel. Nur einen ausgeprägten
Atlasknochen und einen sehr langen Hals. Mein Vater hat eine
Kunstpostkarte rahmen lassen, von einem
Renaissancegemälde. Es zeigt das Porträt einer Dame mit einem
markanten Atlasknochen. Das sei das Idealbild unserer Mutter.
Piero del Pollaiuolo – junge Frau im Profil. Das Bild hängt links
neben seinem Schreibtisch. Wenn mich seine Ohrfeigen beim
Lateinunterricht treffen, starre ich es an und halte mich an der
Geschichte von Atlas fest, der die Weltkugel nicht fallen lassen
darf, obwohl sie drückt wie Sau.
So, wie sie jetzt unter unserer Wohnzimmerlampe steht,
kann ich auf ihrer Stirn mit der Senkrechtfalte nur lesen: Es
reicht! In diese Richtung geht’s einfach nicht mehr weiter.
Immer wieder hat sie mit ihren Rollkuren die Magenstiche
zurückgedrängt. Und wir haben dann geglaubt: Jetzt sind sie
weg und kommen nicht zurück. Aber pünktlich, zu
Allerheiligen, sind sie wieder da. Und irgendwann werden sie
durchbrechen. Die stechen sich systematisch ihren Weg frei,
diese Stiche, von innen nach außen, und ihr Schlachtruf ist:
Alles falsch! Alles falsch gemacht im Leben!
Der Mann: Falsch!
Jedes Kind: Falsch!
Edgar: Eine Katastrophe!
Sie selbst: Gar nicht für Familie geschaffen!
Vielleicht gar nicht für Männer!
Pfarrfrau hätte sie werden sollen, an der Seite einer
Pfarrerin.
Kindergärtnerin an der Seite einer Kindergärtnerin.
Lyrikerin an der Seite einer Lyrikerin.
Abends mit einer Genossin über Gedichten sitzen.
Aber nicht für einen Mann die Beine breit machen.
Nicht diese Familie. Nicht dieser Haushalt.
Nicht die grausame Vernichtung der eigenen Begabung: ihr
Sprachgefühl. Das hat sie nämlich. Daraus hätte sie doch was
machen können.
Stattdessen: Spießrutenlaufen durch den täglichen Parcours
der Haushaltspflichten.
Diese Sisyphusarbeit, dieser entsetzliche Kreislauf der
Mahlzeiten. Haus sauber machen, aufstehen, Essen planen,
einkaufen, Töpfe rausholen, Messer raus, Bretter raus, Gemüse
schneiden, Bohnen schnippeln, Fleisch vorbereiten, Wasser
aufsetzen, Zwiebeln anbraten, aufpassen, dass nichts anbrennt,
nach dem Essen den ganzen Dreck wieder in die Küche tragen
und abwaschen, den Boden sauber halten, den Mülleimer
rausbringen, die Fußmatten ausschlagen, Wäsche waschen,
aufhängen, abnehmen, bügeln, zusammenfalten, haben die
Kinder genug zum Anziehen, was muss gestopft, genäht
werden, was muss in die Reinigung, das nimmt ja kein Ende,
Betten abziehen, Betten überziehen, Fenster putzen, Zettel
schreiben, was alles fehlt, die Vögel füttern, das Obst versorgen,
das einfach massenweise in Kisten von der Gartenkolonne vor
der Küchentür abgestellt wird, einkochen, einwecken,
entsaften, Gläser auskochen, Marmelade und immer wieder
Kompott. Und diese Mühe, die andern dazu zu bewegen,
mitzuhelfen, was sie ja nie von alleine machen. Sodass alles
letztlich an ihr hängen bleibt.
Alles bleibt an mir hängen! Das ist das gestöhnte Motto ihres
Lebens. Wie im Märchen von der goldenen Gans. Sie wird die
Töpfe, die Betten, die Besen, die Einkaufszettel, die ganze
Wäsche nicht mehr los, alles klebt an ihr dran.
Wenn sie abends erschöpft im Bett liegt, legt sich der Mann
neben sie und mahnt: Morgen kommt der Herr Sowieso zu
Besuch. Vielleicht können wir einen kleinen Streuselkuchen
backen. Dieser Streuselkuchen! Den die Schwiegermutter
immer besser gebacken hat als sie. Immer war der Boden vom
Streuselkuchen bei der Schwiegermutter dünner, die Streusel
dicker, süßer, buttriger, sind leichter auf der Zunge zergangen.
Immer wieder hat die Schwiegermutter versucht, der
Schwiegertochter beizubringen, wie man solche Streusel backt,
die auf der Zunge zergehen. Wie man den Boden beim
Streuselkuchen so zart hinkriegt, dass der schon die
Speiseröhre runter ist, bevor man denkt: Jetzt muss ich aber
mal den Boden wegkauen. Nein, bei einem Boden, wie ihn die
Schwiegermutter backt, kann man sich ganz darauf
konzentrieren, wie wundersam flüchtig die Streusel unter dem
Gaumen schmelzen. Der Boden darf eben nicht zu hart werden,
aber auch nicht zu feucht. Irgendwas ist immer falsch.
Und dann diese Sätze, die man mit dem Besuch wechseln
muss. Unverbindlich bis auf die Knochen. Aber ein leuchtendes
Gesicht dazu machen müssen, als hätte man die Glühbirne
erfunden. Ob’s gut geht, ob’s schlecht geht, die politische Lage
hin und her wälzen, wo sich sowieso alle einig sind, nichts, was
in die Tiefe geht, kein Gedanke kommt auf, wird entwickelt,
niemand hört richtig zu, alle spielen zuhören, alle setzen
interessierte Gesichter auf, aber nichts kommt an in den
Herzen. In ihrem jedenfalls nicht.
Der eigene Mann merkt nix, der hat seine Musik, sein
Klavier. Der kann zur Erholung locker mal Konversation
machen mit dem Besuch. Wenn’s ihm reicht, gähnt er wie der
Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer, und dann ergreift jeder
Besuch die Flucht und kommt so schnell nicht wieder. Er
könnte sich ja auch mal die Hand vors Maul halten!
Neulich hat ihr Mann sechs Psychologen eingeladen und
ihnen seinen Knast gezeigt, dann hat er Wein raufgeholt, seinen
Kröver Nacktarsch. Sie hat ihm gesagt: Ich will Apfelsaft, ich
vertrag keinen Wein. Die Säure frisst sich mir in den Magen.
Frisst sich rein. Verstehst du? Er hat ihr brav Apfelsaft
eingegossen, alle haben sich zugeprostet, ein guter Tropfen,
sagt er, und die blöden Psychologen nicken, einer sagt Spätlese,
was Quatsch ist, und sie trinkt und muss den ersten Schluck fast
ausspucken:
Was hast du mir denn hier eingegossen?
Apfelsaft, sagt er.
Der ist doch total vergoren, beschwert sie sich. Und beim
nächsten Schluck sagt sie, du hast mir Wein eingegossen,
keinen Apfelsaft, und er wird wirklich sauer und weist auf die
Gläser: Schau dir das an, sagt er, überall dieselbe Farbe, außer
bei dir.
Aber ich weiß doch, was ich trinke, fährt sie ihn an. Das ist
Wein!
Ich weiß auch, was ich trinke, antwortet er patzig, wir
wissen alle, was wir trinken, prost!
Und sie prosten sich wieder zu, diese Psychologen und ihr
Mann mit seinen schwachen Geschmacksnerven, und sie
nimmt die Flaschen vom Teewagen in die Hand, will sie mal
untersuchen, links Apfelsaft, rechts Wein, und hält sie gegen
das Licht und sagt freudestrahlend: Die Weinflasche ist doch
fast voll, und der Apfelsaft ist leer, du hast euch Apfelsaft
eingegossen, und ihr merkt es nicht mal!
Er schaut sie an mit einem Blick, der Scheidung bedeutet. Ihn
so zu blamieren! Ist sie noch ganz bei Trost?
Und dann sagt auch noch der jüngste Psychologieanwärter:
Entschuldigung, ich glaube, ich habe ebenfalls Apfelsaft, und
mein Vater trinkt und schaut in die Runde und sagt, du machst
mich ganz unsicher, und das klingt nicht gut, wie er das sagt,
das darf eine Frau nicht: Ihren Ehemann vor anderen
verunsichern, das ist gegen die Regel, und jetzt sagen alle
Psychologen nacheinander, ganz vorsichtig: Ich habe auch
Apfelsaft im Glas, aber das macht doch nichts, Herr Doktor, er
schmeckt sehr gut, so frisch, Herr Doktor. Und sie greift nach
seinem Glas, es reicht ihr nämlich inzwischen, trinkt einen
großen Schluck und ruft: Hier ist mein Apfelsaft!, und gibt ihm
ihr Glas, und er trinkt. Und? Was macht er? Anstatt sich zu
entschuldigen? Er strahlt einfach und ruft: Ja, das ist der Kröver
Nacktarsch! Das ist der Wein, den ich liebe, der ist doch
wunderbar! Ja, haben Sie wirklich alle Apfelsaft? Warum sagen
Sie denn nichts? Und er holt eine Karaffe und schüttet den
Apfelsaft aus allen Weingläsern in die Karaffe und holt neue
Gläser, Weingläser haben wir ja genug, und gießt Wein ein, und
alle prosten sich wieder zu, und er lacht und freut sich, dass
man sich so irren kann.
Diese Sicherheit bei ihm! Das hat sie schon immer gestört.
Diese Sicherheit, wenn er in Wahrheit voll danebenliegt.
Als er das erste Mal um ihre Hand angehalten hat, hat sie
nein gesagt. Und ist bei ihrem Nein geblieben. Obwohl alle
enttäuscht waren. Vor allem ihr Vater hatte sich so auf diesen
Schwiegersohn gefreut: Jurist wie er selbst, begabter Pianist,
Spaß an Wortspielen, gesunde Gesinnung, national,
gutaussehend. Vor den Cousinen wirft er in der Küche Meißner
Porzellanteller in die Luft und fängt sie zirkusreif auf. Was will
man mehr? Mit dem kann er alle Violinsonaten rauf und runter
spielen. Der schafft sogar die César-Franck-Sonate im Tempo.
Es wär so schön gewesen!
Aber die Tochter hat nein gesagt. Und war auch noch stolz
darauf. Nein, nein, nein.
Doch ihre Rechnung hat sie ohne die Männer gemacht. Nach
einem Jahr, als sie eine Krise hat, nicht weiß, ob sie Literatur
studieren soll oder Theologie, oder doch besser Kindergärtnerin
werden, und als der Führer die Rolle der Frau neu bestimmt,
die Nation ihre große Erhebung erlebt und jeder fragt, was die
Frauen denn für Deutschland leisten können, da schreibt ihr
eigener Vater hinter ihrem Rücken diesem juristischen
Pianisten oder diesem pianistischen Juristen: Es lohne sich,
noch mal nachzufragen. Ein zweiter Antrag könne vielleicht
Erfolg haben. Diese Tochter, die Signe, wisse gerade nicht
weiter in ihrem Leben. Wenn man sie jetzt nicht zu sehr
drängt, wenn man viel Verständnis zeigt, könnte die Antwort
diesmal anders ausfallen.
Und der Edgar – ja, mein Vater heißt Edgar! – lädt sie zum
«Rosenkavalier» ein, und im dritten Akt, im Duett von Oktavian
und Sophie, ist es passiert. Dieses Duett ist schuld, dass sie hier
mit ihren Magenstichen unter der Wohnzimmerlampe steht.
Als Oktavian im dritten Akt singt:
Spür nur dich, spür nur dich allein
und dass wir beieinander sein!
hat er seine Hand auf ihre einfach draufgelegt, ohne Druck, und
sie hat sie nicht zurückgezogen, weil er sie in diesem
Augenblick anschaut. Und er hat ja wirklich schöne, tiefblaue
Augen, und sein Blick ist weich und ernst, da gab’s kein Zurück
mehr.
Und sie verloben sich, und er schreibt rührend ausführliche
Briefe, und ganz vorsichtig malt er aus, wie es werden wird, das
gemeinsame Lesen, das gemeinsame Musizieren, und wie sie
aufgehen werden im Volks-Ganzen und dabei doch besonders
bleiben, stellt in den Briefen seine Freunde vor, schildert sie in
den zartesten Farben und bittet sie, diese Menschen doch bald
auch etwas lieb zu haben.
Warum hat sie diese öde Sackgasse nicht bemerkt? Warum
hat sie das nicht herausgelesen, dass da einer alles im Voraus
festlegt? Die ganze Zukunft vorbetoniert? Weil er immer schon
vorher weiß, was er erleben will.
Ihr Körper hat es gewusst. Auf dem Hochzeitsfoto sieht sie
aus wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Und
schlafen will sie auch erst mal nicht mit ihm.
Er drängt sie nicht. Das ist seine gute Seite. Mit ihr hat er
wirklich eine Engelsgeduld. Erst im «Wilden Mann», in
Meersburg, auf der Hochzeitsreise zum Bodensee. Da macht sie
das mit: Dieses Ein-Fleisch-Sein von Mann und Frau, von dem
er immer spricht und sagt, das stehe so in der Bibel. Und wovon
er neuerdings behauptet, die Ehefrau sei dazu gesetzlich
verpflichtet. Er meint das allgemein. Aber in Wahrheit meint er
sie. Das spürt sie schon. Irgendwann hat sie eben mitgemacht.
Hat’s auch ganz schön gefunden. Aber nie so schön wie er.
Immer wenn sie Magenstiche hat, denke ich: Ich bin schuld. Ich
habe wieder zu viel über die Juden geredet.
Einmal habe ich ihr ein Foto von den Kratzspuren an den
Wänden in den Gaskammern gezeigt. Das war 2000, drei Jahre
nach ihrer Magenoperation, neun Monate vor ihrem Tod. Wie
ein Zwölfjähriger bin ich in ihre Wohnung gelaufen, habe sie
aufgefordert, sich dieses Foto anzusehen, das ich gerade in der
Zeitung entdeckt hatte.
Während sie noch Zeit braucht, um zu realisieren, was sie da
sieht, erzähle ich von den Kapos, die außerhalb der
Gaskammern warteten, während sich innen das Zyklon B
verteilte. Einer der Kapos, die zum Teil auch Juden waren, hat
davon berichtet, dass sie das Kratzen der Erstickenden an den
Wänden mitgehört hätten. Und dass es für viele in den
Kammern eine halbe Stunde gedauert habe, bis sich das Gas,
das von der Decke her durch Schüttrohre in die Raummitte
geleitet worden sei, auch zu denen hin ausbreitete, die an den
Wänden standen. Und er hat erzählt, wie sie die Leichen
auseinanderreißen mussten, weil sich die nackten Menschen in
ihrem Todeskampf so ineinander verkrallt hätten. Und wie sie
alles Zahngold aus den Kiefern herausbrachen, bevor sie die
Körper in die Öfen schoben.
Ich habe immer weiter geredet. In der Küche meiner Mutter.
Vorm Herd. Wie ein Fachmann. Wie ein Historiker, der auf den
Holocaust spezialisiert ist. Weil ich gerade dieses Foto entdeckt
hatte.
Währenddessen sucht meine Mutter mit dem Bild in der
Hand nach dem Küchenstuhl, um sich zu setzen.
Ich erzähle weiter: dass der Weg der Juden von der Rampe,
wo die Züge angekommen seien und sie aus den Waggons
springen mussten, bis zu ihrer Einäscherung in den
Verbrennungsöfen nicht länger als zwei Stunden gedauert
habe. Dass die Familien und Freunde, wenn sie von den Zügen
heruntergesprungen seien, sich an den Händen festhielten.
Dass die Ankommenden noch nicht gewusst hätten, was auf sie
zukam. Dass sie gesehen hätten, wie die SS-Männer
Spazierstöcke in der Hand hielten und Schäferhunde an der
Leine. Dass das nichts Gutes bedeutet habe. Dass sie von Minute
zu Minute begriffen hätten: Dieser Ort hat nichts mit einem
Arbeitslager zu tun, wie sie es erwartet hatten. Dass sie vor
allem nicht getrennt werden, sondern um jeden Preis
zusammenbleiben wollten. Dass sie sich deshalb immer an den
Händen hielten. Die Kinder und ihre Mütter. Die Kinder und
ihre Väter. Die Geschwister. Die Männer und ihre Frauen. Die
Freunde. Die Freundinnen. Die Fremden, die innerhalb der
Sekunden, in denen sie begriffen, was ihnen bevorstand, zu
Zusammengehörenden wurden.
Dass die SS-Männer diese Spazierstöcke, die zuvor so
unpassend an ihnen ausgesehen hätten, plötzlich in die Höhe
hoben. Dass sie mit diesen Spazierstöcken auf alle Hände
einschlugen, die sich festhielten. Dass die Stöcke niedersausten
auf die Hände, sodass sie sich loslassen mussten. Dass diese SS-
Leute blitzschnell entschieden, wer ins Gas kommt. Wer noch
zur Arbeit taugt. Wer zu den medizinischen Versuchen soll.
Dass diejenigen, die noch eine sehr begrenzte Zeit leben
durften, kolonnenweise in Baracken getrieben wurden, im
Laufschritt, wo sie sich nackt ausziehen mussten, mit kaltem
Wasser abgespritzt und binnen Minuten rasiert wurden.
Gläubige, schamhafte Juden, kahlgeschoren am Schädel und am
Geschlecht. Von Fremden. Zu Hunderten in einem Raum.
Und dass sie dann zur Tätowierung an die Tische mussten
und ihre Nummer eingeritzt bekamen. Dass ihnen eine Art Sack
zugeworfen wurde, den sie sich überziehen sollten, ein Sack
mit Löchern für Kopf und Arme. Aus hartem Stoff. Und dass
innerhalb von einer halben Stunde aus Menschen anonyme
Wesen geworden waren.
Eine Überlebende, im Alter meiner Mutter, aus einer
vergleichbaren sozialen Schicht, ähnlich gekleidet wie sie, mit
ähnlicher Wortwahl, vielleicht auch aus Berlin Charlottenburg,
hat einmal den Satz gesagt: «Es dauerte keine halbe Stunde, und
dann war alles, was an uns menschlich war, weg.»
Auf diesen Satz wollte ich hinaus. Den wollte ich meiner
Mutter gerne erzählen. Aber ich kam nicht dazu. Weil sie schon
zuvor solche Stiche im Magen verspürt hatte, dass sie mich bat,
ihre Wohnung zu verlassen. Sie könne nicht mehr.
Kaum war ich draußen, hätte ich mir am liebsten die Zunge
abgebissen.
Was bin ich für ein Kindskopf! Selbstverständlich habe ich
ihr das Foto gezeigt, weil ich eine Wirkung bei ihr erzielen
wollte. Aber als ich die dann sah, habe ich mich nur noch
geschämt.
Ich habe mich entschuldigt. Aber sie hat nur gelacht. Das
müsse sie schon aushalten, hat sie gesagt. Aber ihr Magen sei
eben nicht mehr so robust.
Jetzt löst sie sich von ihrem Platz unter der Wohnzimmerlampe
und geht Richtung Schlafzimmer. Eine Welle der Entspannung
muss durch sie hindurchgegangen sein.
Mein Vater bückt sich und hebt den Zettel mit den neun
Unterschriften auf. Er sagt, ohne den Hauch einer
Zurechtweisung: Tu den doch wieder ins Buch, wo er hingehört,
sonst vermisst man ihn später.
Bei Martin
Martin ist da. Schon seit einigen Tagen. Er hat einen
schweren Unfall hinter sich. Jetzt ruht er sich hier aus.
Ich finde, es ist eine Ehre für uns, dass er für kurze Zeit da
oben in seinem Zimmer schläft. Überhaupt: Tage, wo die ganze
Familie unter einem Dach ist, fühlen sich prall an. Auch wenn
ich dann erst recht übersehen werde.
Eigentlich studiert Martin bereits Literatur, in Freiburg. Aber
er wollte noch einmal an einer Wehrübung teilnehmen, um
Leutnant der Reserve zu werden, wegen der höheren
Abfindung. Dabei ist diesmal eben der Unfall passiert.
Mir ist ausdrücklich gesagt worden, ich soll ihn bitte in Ruhe
lassen, ihn nicht in Gespräche verwickeln. Aber ich passe nur
den richtigen Augenblick ab, um ihn zu besuchen. Ich möchte
dringend etwas mit ihm besprechen. Etwas, das mir am Herzen
liegt.
Martin kennt mich gut, aber er kann mir trotzdem zuhören,
als ob ich ein Fremder wäre. Das ist mir viel wert. Hier zu
Hause tun ja alle so, als sei ich ein aufgeschlagenes Kochbuch
mit sattsam bekannten Rezepten. Jeder vervollständigt meine
Sätze. Das nervt.
Was ich ihm erzählen will, habe ich noch niemandem
erzählt. Ich habe es noch nie ausgesprochen. Es ist ein Problem,
von dem ich weiß, es ist da, aber ich will es partout nicht in
Worte fassen. Ich werde warten, bis ich mit Martin in einem
Gespräch bin, und dann werde ich loslegen. Mal sehen, wohin
mich das führt.
Martin sieht sehr verändert aus. Er bewegt sich ganz normal,
ist auch geistig voll da, spricht wie immer. Eine Spur lauter
vielleicht. Sein Kopf ist mit einem Verband eingewickelt, auch
die Ohren. Nur Augen, Mund und Nase sind frei.
Seine Wunde ist oben am Schädel. Die Ärzte haben dort
mehrere Lagen von Mullbinden geschichtet, unter dem
Verband, sodass seine schöne Kopfform länglicher ist als sonst.
Martins Nase ist plötzlich so weiß wie sein Verband. Die kenne
ich alle, sagt er. Die sehe ich vor mir. Die habe ich mal
getroffen.
Ich hoffe auf eine spannende Geschichte und schaue mich
nach einer Sitzgelegenheit um. Leider ist da nur eine Fußbank.
Aber bitte.
Martin setzt sich in seinen Schreibtischstuhl. Der hat
Kugelräder und ist auf höchste Position eingestellt. Seine Beine,
die in Knobelbechern stecken, legt er auf der hellen
Ahornplatte ab.
1950 war ich so alt wie du jetzt, beginnt er. Da machte Papa
seinen Abschiedsbesuch im Zuchthaus Werl und hat mich
mitgenommen. Er wollte den Generälen noch mal die Hand
schütteln. Es war ja sein Aufgabenbereich gewesen, sich um die
zu kümmern. Unser Vater hat das gern gemacht. Jeder General
hat eine zweite Zelle gekriegt, als Wohnzimmer, dazu einen
Knappen, morgens, zum Stiefel-Anziehen. Außerdem bekamen
sie Bücher, Schokolade, Cognac, Wein und vor allem Zigaretten.
Und wie waren die Generäle so?, frage ich.
Pass mal auf, sagt mein Bruder und sieht mich eindringlich
an: Wenn ich dir jetzt von meinen Erinnerungen erzähle, dann
möchte ich, dass das meine Erinnerungen bleiben. Ich bin es,
der mit Papa im Zuchthaus diese Generäle besucht hat. Bitte
verändere das nicht. Ich will nicht, dass mir irgendjemand
demnächst erzählt: Ihr jüngerer Bruder hat ja mit Ihrem Vater
im Zuchthaus Werl die eingesperrten Generäle besucht!
Keine Sorge, sage ich.
Martin zieht die Augenbrauen hoch: Jaja!
Dann fährt er fort: Also, nach einem Jahr ist unser Vater in
Werl krachend rausgeflogen. Das Zuchthaus war total
überbelegt. Hauptsächlich mit ehemaligen Zwangsarbeitern,
Polen. Die wussten im Mai 45 nicht, wohin. Niemand wollte die
haben. Ostpolen gehörte zu Russland, Westpolen war russische
Besatzungszone. Unser Land war ein einziges Durcheinander.
Eine Völkerwanderung. Über vier Millionen russische
Kriegsgefangene, die nach Osten geschickt werden mussten.
Millionen deutsche Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die in den
Westen drängten. Hunderttausende aus den K Zs, die auch
nicht beliebt waren und nicht wussten, wohin. Mundraub war
das Verbrechen der Stunde. Niemand hatte was zu essen. Nur:
Wenn Polen klauten, wurden sie definitiv eingesperrt. Wenn
sie eine Bäuerin vergewaltigten und den Ehemann erschlugen,
wurden sie erschossen. Morgens um vier. In der
Neheimerstraße. Hinterm Zuchthaus. Bis Ende 46.
Martin macht eine kurze Pause.
Aber die Generäle bekamen eine zweite Zelle, fährt er fort.
Sogar einen kleinen Gefängnisgarten hat Papa für sie anlegen
lassen. Zum Rauchen. Und für General von Manstein hat Papa
an seinem letzten Arbeitstag noch einen Plattenspieler
mitgebracht und Schallplatten. Wie ein Kind hat er sich auf
Mansteins Gesicht gefreut. Der stand im Ruf, abends auf dem
Schlachtfeld, wenn alles vorbei war, oder auch in einer
nächtlichen Kampfpause, Mozart zu hören. Im Zelt.
Auch wenn er verloren hat?, frage ich.
Auch wenn er verloren hat. Das war denen gegen Ende des
Krieges wurscht, ob sie gewinnen oder verlieren. Generäle
machen ihren Beruf, sie verschieben Massen von Menschen.
Das ist ihr Geschäft. Am Ende, wenn die Soldaten tot sind, geht’s
für die Generäle mit der nächsten Generation wieder von vorn
los … Aufs Ganze gesehen, sind Menschen durchaus bereit, ihre
Kinder zu schlachten. Daran hat sich seit Zeus und Uranus
nichts geändert.
Martin macht eine kurze Geste, als müsse er kotzen, um
mich daran zu erinnern, dass Zeus als letztes der
aufgefressenen Kinder seinem Vater Uranus gerade noch aus
dem Hals springen konnte und überlebte.
Jaja, lacht er, das ist die Urangst aller Väter vor ihren
Nachkommen! Dann erzählt er weiter: Als wir auf das große
Eisentor zugingen, hat mich Papa rechts an der Hand gehalten,
in der linken trug er den Tonträger von Philips, diese
Hutschachtel zum Aufklappen. Die wollen dich sehen, hat er
mir zugeflüstert. Die haben extra nach dir gefragt. Sie hätten so
lange kein Kind mehr gesehen. Ihr ältester Sohn ist doch
zwölf?, haben sie gefragt. Oder? Ja, bringen Sie doch den
Zwölfjährigen mit!
So habe ich die kennengelernt. Und gestaunt, wie harmlos
die aussahen. Die Helden unserer Eltern. Zu deren Wohnung
unser Vater jetzt die Schlüssel hatte. Die lümmelten auf einem
staubigen Platz mit Zimmerpflanzen in Blumentöpfen rum wie
Schüler und qualmten um die Wette. Amerikanische Zigaretten.
Wir sind kaltgestellt, haben sie ständig wiederholt und sich
die Hände gerieben.
Papa hat sie getröstet: Bald kommt ja Besuch vom
Bundeskanzler. Und Generäle braucht das Land immer.
Da haben sie gegrinst. Und dann hat er ihnen erklärt, warum
Oberst Vickers ihn rausgeschmissen hat und dass er deshalb
leider nicht dabei sein kann, wenn der Adenauer kommt.
Machen Sie sich nichts draus, Herr Doktor, hat Kesselring
gesagt und unserm Vater auf die Schulter geklopft. Sie haben
Ihre Sache gut gemacht.
Ja, haben die andern gemurmelt. Wie ein Echo. Gut gemacht.
Gut gemacht.
Und was haben sie zu dir gesagt?, frage ich Martin.
Nicht viel. Mit mir konnten die gar nichts anfangen.
Freundlich genickt haben sie. Du wirst mal einer von uns, was?
Papa hat mir über die Haare gestrichen. Das weiß ich noch.
Er war stolz auf mich.
Als wir gegangen sind, hat Kesselring ihm dieses Buch hier in
die Hand gedrückt. Da seien schöne Bilder drin. Von seinem
Kriegsmaler. Könnten wir auch als Reiseführer benutzen, wenn
wir mal wieder nach Italien fahren. Wo hast du das übrigens
gefunden?, fragt Martin mich.
Ganz normal, sage ich, im Bücherschrank.
Mein Bruder atmet tief und lang durch. Aber das stimmt
nicht, fährt er fort. Ich werde nie wie die! Das sind Schlächter.
Ich weiß nicht, wie viele Millionen Menschen die auf dem
Gewissen haben, allein diese neun traurigen Gestalten
zwischen den Blumentöpfen! Ich werde Oberleutnant der
Reserve, nehme meinen Sold und gehe wieder nach Freiburg.
Außerdem: Im Kopf bin ich sowieso längst in der Literatur.
Warum hast du nicht verweigert?, frage ich vorsichtig.
Ich drück mich doch nicht!, fährt Martin auf. Außerdem
brauche ich die Abfindung. Von Papa gibt’s nicht viel.
Zweihundertfünfzig Mark im Monat. Davon kannst du nicht
leben und nicht sterben. Wirst du auch noch erfahren.
Martin zieht jetzt seine Uniformjacke aus und schaut noch
mal auf die Namen.
Weißt du, die sind immer so misstrauisch umeinander
rumgestrichen. Haben kaum gesprochen und sich gegenseitig
beobachtet. Und geraucht.
Wieso waren die misstrauisch?
Jeder war eifersüchtig, ob der andere vielleicht früher
entlassen wird. Von Manstein und Kesselring hatten die besten
Chancen. Ursprünglich waren sie zum Tod verurteilt, dann
bekamen sie lebenslang, und Jahr für Jahr wurde die Strafe
verkürzt. 53 waren sie beide raus.
Und wieso ging das so schnell?
Die wurden eben gebraucht, Adenauer wollte sie auf seiner
Seite. Als Wahlkampfhelfer. Die Generäle hatten Millionen
Anhänger: enttäuschte ehemalige deutsche Soldaten, wie unser
Vater. Wer die aus dem Knast rausholen konnte, gewann ihre
Soldaten als Wähler. Offiziell ging’s um den Aufbau der
Bundeswehr. Wenn Kesselring und von Manstein dabei helfen,
eine Parlamentsarmee aufzubauen, werden vielleicht aus
Nazisoldaten noch glühende Demokraten. Das war Adenauers
Spekulation. Und dann die Amis: Die waren damals noch relativ
unerfahren in moderner Kriegsführung und wollten von
deutscher Taktik profitieren, denn wir waren angesehene
Kriegshandwerker, in der ganzen Welt. Von Manstein war
Erfinder des Blitzkriegs in Polen. Seinen Soldaten hat er
massenweise Pervitin verabreicht.
Was ist das?, frage ich.
Drogen, Amphetamine. Deutsche Soldaten konnten drei Tage
und Nächte durchkämpfen, ohne zu schlafen. In Frankreich hat
von Manstein mit seinem Sichelschnitt die Deutschen innerhalb
einer Woche von Flandern nach Paris gebracht. Und
Kesselrings Heldentaten kennst du ja.
Warum war Kesselring zum Tod verurteilt?, will ich wissen.
Wegen Geiselerschießungen. Kesselring hat auf seinem
Italienfeldzug über dreihundert Italiener erschießen lassen. In
den Ardeatinischen Höhlen, südlich von Rom. Als Vergeltung
für einen Anschlag auf deutsche Soldaten. Über dreihundert!
Stell dir das mal vor! Für dreißig deutsche Soldaten. Immer das
Zehnfache, plus einem Zuschlag, wie beim Metzger. So haben
die das gerechnet. Und dann Alte und Kinder erschossen. Und
fünfundsiebzig jüdische Geiseln. Wetten, dass er davon nichts
schreibt in diesem Reiseführer für schützenswerte
Baudenkmäler?
Und von Manstein?, sage ich.
Martin winkt ab und gibt mir das Buch zurück: Manstein!
Der hat nach der Einnahme der Krim vierzehntausend
Zivilisten erschießen lassen. Juden, Sintis und Krimtataren. Das
Massaker von Simferopol. Schon mal gehört? Trotzdem stand
er in Nürnberg als Hauptzeuge. Nicht als Angeklagter! Erst 49
hat ihn ein britisches Militärgericht zu zwölf Jahren Haft
verurteilt. 53 wurde er entlassen, auf Initiative Churchills und
Adenauers. Jetzt lebt er auf seinem Gut.
Und die andern?
Einige sitzen noch. Simon zum Beispiel. Der war General der
SS. Kommandant des ersten K Zs überhaupt. In Sachsenburg.
Durchhaltepatriot bis zum Anschlag. Zwei Tage vor Kriegsende
hat er in Brettheim bei Ansbach den Bürgermeister erschießen
lassen, weil der ein paar Hitlerjungen entwaffnet hat, um ihr
Leben zu retten. Aber sich selbst hat er zwei Tage später
freiwillig den Amis übergeben. Die Grausamsten sind immer
die größten Feiglinge.
Martin deutet auf die Widmung: Oberst Wolff, der hier als
Letzter auf dem Zettel steht, war ein besonders schlimmer
Finger. Kommandant von Rom. Hat mit Papst Pius verhandelt
und Rom zur offenen Stadt erklärt. Um die Baudenkmäler zu
schützen. Aber vorher hat er waggonweise Juden nach
Treblinka transportieren lassen und ihnen höhnisch Glück auf
die Reise gewünscht.
Das sind alles reisende Henker, die hier unterschrieben
haben. Schlächter und Henker. Und die wünschen unserer
Familie, dass ein glücklicher Stern auf unserm Weg leuchten
soll! Bei dem Wort «leuchten» können die nur an
Leuchtraketen und explodierende Geschosse denken. Die
können nur töten. Die fühlen sich als Urenkel von Clausewitz.
Demokratie finden die zum Kotzen. Die meisten sind sowieso
adlig und haben bis heute nicht verkraftet, dass das
Gottesgnadentum passé ist. Sie waren rundum glücklich, weil
Hitler sie endlich machen ließ. Aber nach 45 wollten sie von
nichts was gewusst haben. Haben alles der SS in die Schuhe
geschoben. Die Wehrmacht soll immer sauber gewesen sein.
Diese Strategie hat funktioniert.
Ich bin total von den Socken: So kenne ich meinen Bruder
gar nicht. So habe ich den noch nie reden hören. Lernt man das
bei der Bundeswehr?, frage ich.
Aber Martin ist noch nicht fertig: Es gibt Menschen, die
werden geboren, um ihr Leben lang das Kriegshandwerk
auszuüben. Die warten nur auf die Gelegenheit, ihr Wissen
anwenden zu können. Und es gibt Politiker, die sind mit nichts
anderem beschäftigt, als diese Gelegenheit herbeizuführen.
Weil sie sich die Welt nicht anders vorstellen können als im
Kriegszustand. Sie denken: Das muss so sein. Die reden so lange
auf uns ein, bis wir ihnen glauben. Und dann verheizen sie uns
in der Schlacht.
Und heute, frage ich, wie ist das heute bei der Bundeswehr?
Martin drückt seine Zigarette aus.
Unsere Parlamentsarmee ist ausschließlich zur Verteidigung
da. Friedenssicherung. Laut Verfassung. Aber im Grunde hast
du recht. Das, was man verteidigen soll, wird immer größer.
Irgendwann verteidigt man die Freiheit in Ostasien. Wie die
Amis jetzt in Korea. Irgendwann werden wir da mitmachen
müssen. Ich bin gespannt, mit welchem guten Argument wir
mal in unseren ersten Auslandseinsatz hineinstolpern werden.
Und wer die Schlägertype sein wird, die das dann zu
verantworten hat!
Martin holt uns jetzt mal einen Eiercognac. Er hat gestern
frisch gemixt, ich könne auch einen Schluck haben.
Er entschuldigt sich, dass der Cognac noch nicht in die
Flasche umgefüllt ist. Aus einer Milchkanne gießt er uns beiden
in bunte Gläschen ein. Wir prosten uns zu, der
Höhenunterschied zwischen uns ist beträchtlich, und mir
kommt vor, dass dieser Eiercognac stärker ist als der, den
unsere Eltern trinken, aber ich bin natürlich kein Fachmann.
Martin zündet sich die zweite Zigarette an und bläst den
Rauch scharf rechts und links an meinem Gesicht vorbei. Ich
habe den Eindruck, dass er sich mit mir als jüngerem
Gesprächspartner gar nicht so unwohl fühlt. Jedenfalls hält er
mich nicht für zu doof, um seinen Ausführungen zu folgen.
Ich denke, das ist jetzt der Augenblick, wo ich von mir
erzählen muss. Plötzlich komme ich mir sehr kindlich vor, habe
Angst, ihn zu enttäuschen.
Ich sitze oft im Birnbaum auf unserer Wiese hinterm
Schuppen und spiele Kesselring, fange ich an.
Aha.
Martin wendet den Blick nicht ab. Und wie machst du das?
Na ja, ich stelle mir vor, dass der Birnbaum ein
Kampfflugzeug ist.
Soso.
Ja, ich sitze da in einer engen Astgabel. Auf dem Pilotensitz.
Es gibt ein paar kurze Äste in der Nähe, die benutze ich als
Steuerknüppel und Hebel für die Luke zum Bombenabwurf.
Bist du dafür nicht zu alt?
Die Frage habe ich befürchtet.
Ich spiele sogar die Flugmotoren mit, sage ich leise.
Martin sagt: Mach mal. Wie hört sich das an?
Ich gebe ihm eine kurze Probe und lasse meine Lippen
flattern, steigere mich aber nicht hinein. Es ist ohnehin
ziemlich peinlich.
Und das macht dir Spaß?, fragt er.
Na ja, du muss dir vorstellen, was ich sehe.
Was siehst du denn?
Unsere Wiese ist Rotterdam, und der Gartenweg ist die
Schelde. Der Apfelbaum vor der Küche ist das Begleitflugzeug.
Die Pappeln auf der Hansastraße, von denen ich nur die Spitzen
hinter den Häusern sehe, sind entfernte Geschwader.
Bei Martin mehren sich Zweifel, also in dem Ausschnitt, den
ich von seinem Gesicht sehe.
Es tut mir leid, entschuldige ich mich, ich kann es nicht
besser beschreiben. Ich habe Funkkontakt zu diesen Bäumen
und gebe den Einsatzbefehl, die Bodenluken zum Abwurf der
Bomben zu öffnen.
Und dann?
Ich suche ein geeignetes Ziel. Über den Dächern von
Rotterdam.
Du siehst doch nicht Rotterdam!, sagt er entschieden. Also,
du hast doch nicht das alte Stadtbild von Rotterdam vor Augen!
Ich muss kurz überlegen.
Du hast recht. Es spielt eigentlich gar keine Rolle, was ich
sehe. Ich spüre nur diesen enormen Druck zu bombardieren.
Und dann ist die Wiese eben nicht mehr so eindeutig Wiese,
sondern eine verschwommene Fläche. Und ich sage mir dann:
Das da unten ist Rotterdam.
Das heißt, du siehst einfach nicht richtig hin.
Ja, sage ich, kann sein. Trotzdem spiele ich «hinsehen».
Außerdem produziere ich ja laute Explosionsgeräusche.
Kannst du das mal machen?
Nicht so gerne, aber ich kann’s ja mal versuchen.
Und am Beispiel des Wortes «kattawumm» demonstriere ich
eine Explosion, damit Martin einen Eindruck vom
Bombeneinschlag bekommt.
Ist gut, ist gut!, ruft er. Und dann?
Mir wird heiß. Ich nähere mich dem Kern meines Problems.
Aber erst mal erzähle ich weiter: Kesselring beugt sich weit aus
dem Flugzeug und schaut sich die Zerstörung an.
Das geht nicht, unterbricht mein Bruder mich, aus so einem
Flugzeug kann man sich nicht hinausbeugen. Das stürzt ab.
Gut, sage ich, aber bei mir geht es eben. Ich kann auch
schnell mal landen, aussteigen und einen Spaziergang über die
Leichenfelder machen, zwischen den qualmenden Trümmern.
Ich mache es einfach, weil mir danach ist.
Martin stößt die Luft über die Stimmbänder aus.
Ich spreche auch ein paar Gebete für den ein oder anderen
Toten, sage ich.
Alles auf unserer Wiese?
Ja, natürlich.
Du siehst Leichen auf unserer Wiese?
Ich will sie sehen, und dann liegen sie da auch. Zwischen den
Birnen. Ich werfe ja mit echten Birnen.
Als Bomben?
Ja, sage ich, du verstehst genau, was ich meine. Ich reiße
wahllos unreife Birnen ab und werfe sie auf Rotterdam.
Auf die Wiese, verbessert er mich.
Ja.
Und was hat Papa dazu gesagt? Das ist sein Lieblingsbaum!
Tatsächlich stand er bei einem dieser Angriffe unerwartet
auf dem Gartenweg, sage ich.
Auf der Schelde, sagt Martin, der ganz in meiner
Vorstellungswelt angekommen ist.
Genau.
Du meinst also, Papa ging wie Jesus übers Wasser.
Ja, aber gar nicht friedlich, sondern er hat mich angeschrien,
ob ich von allen guten Geistern verlassen bin.
Das kann ich mir vorstellen, sagt Martin.
Komm da augenblicklich runter!, hat er gerufen. Ich bin aber
vorsichtshalber auf dem Baum geblieben und habe ihm
gestanden, dass ich gerade Rotterdam bombardiere.
Komischerweise hat er genickt und sich sofort beruhigt. Er hat
sich gebückt, ein paar Birnen aufgesammelt und gesagt, das ist
seine gute Luise, ich soll das bitte nicht noch mal machen.
Wenn du London bombardierst oder Warschau, was ist dann
anders?, fragt Martin.
Im Prinzip nichts, sage ich. Der Gartenweg ist dann die
Themse oder die Weichsel.
Und was bewirkt die Veränderung der Namen bei dir?
Masse. Einfach nur Masse. Mehr Städte, mehr Bomben, mehr
Flüsse, mehr Tote.
Mehr Gebete, ergänzt Martin.
Richtig, sage ich. Ich will bombardieren und Gebete
sprechen.
Martin holt jetzt die nächste Zigarette raus. Bietet mir auch
eine an.
Danke, sage ich, ich will nicht, ich muss husten.
Aber ich kann doch rauchen, oder?
Klar.
Wieso sind diese Spiele ein Problem für dich? Klingt doch, als
ob es dir gefällt.
Sein Streichholz zischt und zeigt mir eine energische
Flamme.
Weil ich sie nicht mehr spielen will.
Dann lass es doch.
Das ist eben das Problem. Die Spiele spielen mich.
Das musst du mir erklären.
Ich schaue Martin an, zögere und sage dann: Es ist
zwanghaft.
Ich bin wahnsinnig froh, dass mir diese Formulierung
einfällt. Das ist eben das Gute, wenn man sich vorher nicht
überlegt, was man sagen will. «Zwanghaft» heißt das Wort. Da
wäre ich vorher nie drauf gekommen.
Ich gehe durch den Garten, erkläre ich ihm, sehe den
Birnbaum und habe sofort den Wunsch, Kesselring zu sein.
Mein Gang verändert sich ohne mein Zutun. Ich spüre
Kesselrings Bauch, seine Knobelbecher, seine Uniform. Kaum
sehe ich den Birnbaum, schon sage ich zu einer nicht
vorhandenen Person: Adjutant, machen Sie die Maschine klar
zum Aufklärungsflug! Diese nicht vorhandene Person nickt
kurz und sagt: Jawoll, Herr Generalfeldmarschall. Dann hebe
ich die Hand, ziehe einen unsichtbaren Handschuh stramm und
grüße in der Ferne General Jodl.
Jodl?, fragt Martin. Der war doch immer im
Führerhauptquartier.
Ja, aber der ist jetzt eben mal draußen am Flugfeld.
Du meinst am Sandkasten.
Hinterm Sandkasten. Mir gefällt sein Name. Deswegen ist
der jetzt auch da.
Mann Mann Mann, sagt Martin, das klingt wirklich ganz
schön schräg.
Das ist nur eine kleine Auswahl, sage ich. Mein Hirn ist total
bevölkert. Da sind so viele Menschen, wie mir Sätze einfallen.
Ich kann gar keinen Satz sprechen, ohne dass ich mir ein
fremdes Gesicht dazu vorstelle … Das ist nicht lustig.
Ich mache eine Pause. So, jetzt ist er dran.
Da fallen mir Papas Zwerge ein, sagt Martin nachdenklich.
Was für Zwerge?
Als er nach dem Krieg in Bethel in der psychiatrischen Klinik
gearbeitet hat, als Pfleger, gab es in der geschlossenen
Abteilung einen ehemaligen Bankdirektor. Mit dem hat sich
unser Vater gern auf dem Flur getroffen und sich von ihm
erklären lassen, wie die Börse funktioniert. Mitten im Gespräch
hat sich der Bankdirektor selbst unterbrochen: Herr Dr. Selge,
schaun Sie mal, da, unten an der Tür von meinem Zimmer, ja
sehen Sie das denn nicht!, da kommen lauter kleine Zwerge
raus, immer wieder neue, die wollen mir meine Börseninfos
abluchsen und dann selber spekulieren. Aber vor Ihnen haben
sie Angst, Herr Dr. Selge, deshalb hauen sie ab und purzeln
dahinten die Treppe hinunter. Das ist doch unglaublich, dass
das niemand verhindert! Ich scheuche die sonst mit dem Besen
aus meinem Zimmer, aber irgendeiner versteckt sich immer
und hält den andern am nächsten Morgen die Tür auf.
Es entsteht eine Pause.
Ich sehe keine Zwerge, Martin. Die Wiese bleibt bei mir
Wiese. Es ist mein Wille, Trümmer zu sehen. Leichen. Ich will
das so, verstehst du?
Könntest du die Leichen denn auch malen? Oder die
Trümmer?
Gute Frage.
Du hast recht, sage ich, kann ich nicht. Genau genommen
spiele ich nur: Zerstören, Töten, und danach Gebet. Zerstören,
Töten, Beten. Immer in dieser Reihenfolge: Zerstören, Töten,
Beten.
Plötzlich fühle ich mich erschöpft.
Martin nickt, raucht und denkt nach.
Langsam wird es dunkel. Irgendjemand zielt von der Straße
her mit Fallobst in unser Fenster, trifft aber nicht. Es klatscht
stattdessen rechts und links an der Hauswand.
Das ist Sausi Beier, sagt Martin. Der will mich zum Handball
abholen.
Handball? Mit dem Kopf? Du kannst dich doch jetzt nicht in
ein Tor stellen!
Mach ich auch nicht. Aber zugucken will ich schon.
Außerdem ist da ein Epileptiker dabei, der kann mir seinen
Helm leihen.
Aber die Erschütterung, Martin. Du hast doch einen
Schädelbasisbruch.
Basis glaube ich nicht. Ich pass schon auf. Mach dir mal
keine Sorgen.
Das ist ja gefährlicher als Herforder Roulette.
Jaja, sagt er. Sieh du mal lieber zu, dass du nicht so viel töten
musst.
Natürlich, sage ich und bin still.
Wen spielst du noch?, fragt er mich nach einer Weile.
Dr. Baumann, antworte ich.
Martin lacht: Schöner Name. Dr. Baumann würde ich gern
kennenlernen.
Du kennst ihn bereits.
Wer ist es?
Er sitzt vor dir.
Wahrscheinlich habe ich das mit einer Totengräberstimme
gesagt, denn Martin lacht, dass sein Verband wackelt: Da wäre
ich jetzt nicht drauf gekommen!
Mir ist zumute wie im Abwärtsfahrstuhl. Wahrscheinlich ist
der Eiercognac schuld. Mit der Geschichte gebe ich mich jetzt
endgültig in seine Hand. Ich fange trotzdem an zu erzählen. Es
ist mir plötzlich wurscht, was für Folgen das hat.
Dr. Baumann ist Lehrer, sage ich. Auf dem Dachboden, hier
gleich neben uns, hinter der Tischtennisplatte, stehen alte
Stühle, ein Tisch und ein paar Kisten. Das ist seine Schule. «Das
Dachbodengymnasium». Eine höhere Schule für
Schwererziehbare und Leistungsunwillige.
Martins Blick ist hellwach.
In einer der Kisten liegen Baumanns Zensurenbücher
versteckt. Kalenderähnliche Büchlein, wie sie offiziell von
Lehrern verwendet werden, um die Leistungen der Schüler zu
notieren. Man kann sie regulär beim Buchhändler kaufen.
Baumann besitzt drei Stück davon, voll mit Namen von zwei bis
drei Schulklassen. Jede Klasse hat zwanzig Schüler. Bei drei
Klassen pro Heft sind das rund hundertachtzig Namen, die
Baumann auswendig kennen sollte. Viel Arbeit zu Beginn des
Schuljahres.
Ein kurzer Kontrollblick: Martin scheint nicht gelangweilt.
Herr Baumann, fahre ich fort, geht auf den Dachboden in
seine Schule für Schwererziehbare und macht da sozusagen
meine Schularbeiten, indem er die einzelnen Schüler abfragt.
Er gilt allgemein als guter Lehrer, aber hexen kann er auch
nicht. Bis er mein Pensum draufhat, werden nicht wenige
Fünfer und Sechser verteilt. Der Letzte kriegt ’ne Eins, und ich
hoffe, Herr Baumann beherrscht dann meinen Stoff. Am
nächsten Tag in der wirklichen Schule versage ich trotzdem.
Und zwar mit Pauken und Trompeten. Dann hadere ich mit
Baumann und schärfe ihm ein, dass er seine Schüler härter
rannehmen muss.
Martins Augen sind groß.
Wer ist das, der Herrn Baumann da was einschärft?
Der Direktor.
Hat der auch einen Namen?
Dr. Rothaus, sage ich leise.
Und dann erzähle ich Martin auch noch, dass ich neulich
eine sehr ungemütliche Lateinstunde in Papas Arbeitszimmer
erleben musste. Danach hätte ich die Treppe nicht mehr
raufgehen können. So fertig sei ich gewesen.
Ich glaube, das nennt man «spontane Verzweiflung», sage
ich, oder?
Ich blicke Martin an, aber der sagt nichts.
An der untersten Stufe hätte ich nicht gewusst, wohin:
rechts, links, geradeaus oder zurück. Plötzlich sei Dr. Rothaus
auf mich zugetreten. Er hat mich hinten an der Schulter
berührt. Ich wollte Sie nicht erschrecken, hat er gesagt. Aber
wie gut, dass ich Sie treffe! Wir haben im Kollegium über Sie
gesprochen. Ich wollte mich mal bei Ihnen bedanken. Im
Namen aller. Wir sind so froh, dass Sie bei uns sind. Sie haben
eine der schwierigsten Klassen da oben. Niemand mag da
unterrichten. Aber seit Sie Klassenlehrer sind, kommen uns die
Schüler wie ausgewechselt vor. Sie sind wirklich ein großer
Pädagoge! Das wollte ich Ihnen einmal gesagt haben. Und jetzt
wünsche ich Ihnen eine gute Schulstunde.
Komischerweise haben mir diese Worte sehr geholfen: Ich
konnte die Treppe raufgehen, in meine Klasse, alle sind
aufgestanden und haben mich begrüßt, und ich habe gesagt:
Heute machen wir kein Latein, sondern Religion. Und ich habe
meine Lieblingsschülerin, Uschi Brandenburg, gebeten, uns
allen etwas über die Schöpfungsgeschichte zu erzählen, wer
ihrer Meinung nach schuld ist an dieser Apfelgeschichte vom
Baum der Erkenntnis. Ob es da überhaupt eine Schuld gibt.
Eine schöne Schulstunde war das. Sehr harmonisch.
Tiefer kann ich nicht fallen, denke ich jetzt. Und werde so
müde, dass ich von der Fußbank rutsche, meine Beine
ausstrecke und mich gerade noch mit dem Oberarm auf dem
Bänkchen abstützen kann.
Ich werde sehr bald einschlafen. Ich will es auch.
Dr. Baumann ist ein Träumer, Edgar, höre ich Martin sagen,
ohne Verachtung. Aber ich fürchte, du musst dir schon einen
Plan zurechtlegen, wie du mit der Wirklichkeit klarkommen
willst. Dr. Baumann wird es jedenfalls nicht schaffen.
Martins Worte rauschen durch mich hindurch wie ein Text,
auf den ich lange gewartet habe. Jeder Satz berührt mich und
bleibt mir zugleich fremd.
Deine Wirklichkeit ist dein Vater, sagt Martin. Er ist stärker
als du. Und das wird auch noch eine Zeitlang so bleiben. Darauf
musst du dich einstellen.
Martin überlegt kurz, und ich fühle mich wie beim Arzt.
Voller Spannung will ich erfahren, was mit mir los ist.
Nimm dir einen Nachhilfeschüler, sagt er. Einen echten. Dem
erklärst du, was er wissen will. Einen wirklichen, lebendigen
Nachhilfeschüler. Einen, der eine Klasse unter dir ist. Und dem
versuchst du, den Ablativus absolutus oder den AcI so zu
erklären, dass er ihn versteht. Was meinst du, was das für ein
Erfolgserlebnis für dich wird! Außerdem verdienst du damit
Geld für deine Kinobesuche.
Schön, wie Martin das sagt. Hätte ich mir auch alles selbst
sagen können. Hab ich aber nicht. Und wenn? Wenn ich es mir
gesagt hätte? Hätte ich danach gehandelt? Dazu hätte ich erst
mal dran glauben müssen. An das glauben, was man einsieht,
ist noch mal eine Extraschwierigkeit.
Ich bedanke mich bei Martin und gehe schlafen.
Als ich nachts aufwache, höre ich eine erstickte Szene zwischen
meinen Eltern. Da sie alles hastig in ihre Kopfkissen sprechen,
kriege ich nicht mit, worüber sie reden. Das Sprechen scheint
sie zu ermüden, und bald höre ich nur noch ihren Schlafatem.
Es ist erregend hell. Niemand hat die Gardine vorgezogen.
Draußen ist Vollmond. Alles leuchtet.
Ich stehe auf, klemme mein Kissen unter den Arm, ziehe das
Bettzeug hinter mir her und gehe über den Flur zur Holztreppe
in den ersten Stock. Stufe für Stufe. Durch die Fenster im
Treppenhaus scheint der Mond. Ganz die Farbe vom
Eiercognac. Da wird mir sofort wieder schlecht. Weil das
Bettzeug so gemütlich hinter mir die Stufen herunterhängt, lege
ich mich auf die Decke und ruhe mich aus. Die Schatten an der
gegenüberliegenden Wand sind gigantisch.
Dann klopfe ich bei Martin an.
Ja bitte.
Er sitzt im Bett. Auch hier phänomenales Mondlicht. Martins
länglicher Kopf lehnt in der Ecke. Mit seinem hellen Verband
sieht er aus wie ein drittes Fenster.
Kann ich hier auf dem Teppich schlafen?, frage ich.
Natürlich.
Kommt deine Freundin heute nicht?
Nein, sagt er, die wird von ihrem Vater bewacht und kann
nicht raus. Manchmal lässt mich ihre Mutter rein, durchs
Fenster. Aber das ist im Augenblick blöd mit meinem
Kopfverband.
Ich habe noch eine Frage, sage ich. Kesselring hat in seiner
Widmung von Papas edlem Menschentum geredet. Was meint
er damit?
Martin überlegt einen Moment. Den Ausdruck kannst du
vergessen, erklärt er mir aus seiner Mondecke. Der ist für
immer vergiftet. Den haben die Nazis reserviert. Nur für sich.
Für ihresgleichen. Das musst du dir klarmachen und an die
Juden und die K Zs denken!
Kann man so einen Ausdruck nie mehr gebrauchen?, frage
ich meinen Bruder.
Nein, sagt er. Wir nicht. Wir können den nie wieder
gebrauchen. Wir müssen andere Wörter finden, wenn wir
etwas Gutes über den Menschen sagen wollen.
Mir fallen die Musikstudenten ein, die Werner immer wieder
zu uns nach Haus bringt. Der Geiger Jack Glatzer zum Beispiel.
An dem Tag, als er uns besuchte, hat Werner ausdrücklich zu
unseren Eltern gesagt, Jack sei Jude, Amerikaner, Deutsch sei
seine Muttersprache. Er habe Verwandte, die seien in
Auschwitz vergast worden. Unser Vater hat die Augenbrauen
hochgezogen, genickt und wie ein Wolf, der Kreide gefressen
hat, gesagt: Wir wollen ja nur ein paar Trios zusammen spielen.
Und dann erzähle ich Martin von Rechtsanwalt Brand und
seiner Schwester.
Die kenne ich gar nicht, sagt Martin.
Ich erkläre ihm, dass wir die auch nicht kannten. Sie
mussten von unseren Hauskonzerten gehört haben. Auf einmal
war eine Einladung da. Wir sollten sie besuchen. Einfach so.
Mutti und Papa wussten nicht, wie ihnen geschah. Es sind
Juden, sagten sie etwas verwirrt. Eine alteingesessene
Herforder Familie. Er spiele Geige, hat Herr Brand noch
erwähnt. Sie könnten doch gemeinsam musizieren. Komm, wir
versuchen das mal, hat Papa gesagt. Vielleicht klappt’s. Und
dann haben wir sie besucht. Da es eine Einladung für den
Nachmittag war, durfte ich mit.
Auf dem Weg haben sie mich erinnert: Das sind Juden. Pass
auf, was du sagst! Als könnte ich was Falsches sagen.
Ausgerechnet ich.
Ich wusste gar nicht, dass es so schöne alte Fachwerkhäuser
in Herford gibt. Mit einem Garten zur alten Werre hin und
gemauerter Loggia, eingewachsen mit Efeu und Glyzinien. Ein
Nachmittag wie aus einer anderen Zeit.
Fast geräuschlos und schon etwas gebückt bewegten sich der
weißhaarige Rechtsanwalt und seine ebenso weißhaarige
Schwester zwischen ihren alten Möbeln. Gründerzeit mit Samt.
Aus Meißner Porzellan haben wir unsern Kaffee getrunken. Es
gab einen Kuchen mit Gewürzen, die ich nicht kannte. Sie
sprachen viel leiser als wir, waren sehr freundlich, aber alles
wirkte auch ein bisschen eingeübt. Selten habe ich unsere
Eltern so steif gesehen, so unbeholfen. Die Unterhaltung stockte
ständig. Als würden die Brands kein Deutsch sprechen.
Bis sie Musik machten.
Irgendwann hat Rechtsanwalt Brand seine Geige rausgeholt
und Papa an den Stutzflügel geleitet. Er hat ihn am Oberarm
angefasst und hingeführt. Als sei das leichter, als miteinander
zu sprechen. Papa wusste nicht, wie er gucken sollte, und hat
dann gleich den Flügeldeckel aufgestellt. Wie im Konzert.
Rechtsanwalt Brand hat sehr fein Geige gespielt. Aber
natürlich ist er noch mehr Laie als Papa. Immer wieder hat er
abgebrochen, seine Geige nachgestimmt und zu sich selbst
gesagt: Das muss ich etwas langsamer spielen.
Es war Beethoven. Frühlingssonate.
Mein Gott, wie viele Jahre ist das her, dass ich das gespielt
habe!, hat Herr Brand seiner Schwester zugerufen.
Die stand auf und hat den Deckel des Flügels wieder
geschlossen: Sonst verstehe ich meinen Bruder ja gar nicht, hat
sie Papa übers Notenbrett zugerufen, aber mit Humor. Sie
spielen so kräftig! Und dabei hat mein Bruder so einen schönen
Ton!
Papa hat das wohl als Affront empfunden. Hört er ja nicht so
gerne, wenn man ihm sagt, dass er zu laut spielt. Konterte dann
gleich: Der Flügel klingt sehr matt.
Der stand während der NS-Zeit in einem feuchten Keller, hat
Herr Brand erklärt. Der muss erst wieder hergerichtet werden.
So lange sind wir noch nicht wieder zurück.
Wo waren Sie denn?, habe ich gefragt.
Papa hat mir einen strengen Blick zugeworfen.
Im Ausland, hat Herr Brand ganz ruhig gesagt.
Dann haben sie weitergespielt.
Sein Ton war wirklich schön, nur mit dem Rhythmus hatten
sie Schwierigkeiten, mein Vater und Herr Brand. Die Synkopen
am Anfang vom dritten Satz, dem Scherzo, diese in der
Violinstimme und in der Klavierbegleitung ständig
wechselnden, leicht versetzten Vogelrufe waren ein solches
Durcheinander, dass ich lachen musste.
Niemand lachte mit.
Da musste ich mir wieder auf die Backen beißen. Vor allem,
weil Papa an dieser Stelle durchgehend Au! Au! Au! schrie, als
ob er sich die Finger quetscht.
Die Schwester versuchte, mit Mutti auf dem Sofa ein
Gespräch anzufangen. Aber es entwickelte sich nicht richtig.
Und Mutti hat schließlich gesagt, sie kann nicht gleichzeitig
zuhören und sprechen. Und etwas später hat sie das noch mal
erklärt: Sie könne immer nur eine Sache gleichzeitig machen,
das sei ihre Schwäche.
Wir sind früh gegangen. Ich wäre gerne länger geblieben.
Es geht eben doch nicht, hat Mutti auf dem Rückweg vor sich
hin gemurmelt. Leider.
Meine geliebte Signe! Wie schön, dass ich dich bald wieder in
meinen Armen halten kann! Dein dich liebender Edgar.
Warum habe ich bloß keinen eigenen Namen?, habe ich meine
Mutter damals gefragt.
Das ist eben mein Lieblingsname, war ihre Antwort.
Und warum heißt du Signe? So heißt doch kein Mensch.
Das muss mein Vater aufgeschnappt haben, als er mit seinem
Schiff an Norwegen vorbeigefahren ist.
Mal sagt Papa Signe zu dir, mal Singne. Was ist richtig?
Wie man will. Es hat mal einen Film aus Schweden gegeben:
Signe, das Mädchen von den Inseln.
Worum geht’s da?
Ich kann mich gar nicht erinnern, ob wir den überhaupt
gesehen haben.
Das Mädchen von den Inseln. Das passt. Meine Mutter war ein
Naturkind. Keinen See konnte sie auslassen, ohne zu baden,
kein Meer besuchen, ohne zu schwimmen. Niedrige
Temperaturen schreckten sie nicht ab. Sie nannte sie frisch.
Oder schön kalt. Wie mein Vater liebte sie Wechselduschen. In
verschneite Berge fuhr sie nicht ohne ihre Ski. Bis ins hohe
Alter. Sie liebte lange Bahnfahrten und Bahnbekanntschaften.
Mit ihrem Blick glitt sie in andere Gesichter wie in einen
Handschuh. Wer ihr gegenübersaß, konnte nur wegschauen
oder aufstehen und den Platz wechseln. Oder eben ein
Gespräch mit ihr beginnen.
An dem Nachmittag, als sie mir die Karte meines Vaters
vorgelesen hatte, sah sie sich gezwungen, eine ungewöhnliche
Erziehungsmaßnahme an mir vorzunehmen.
Es war ein erster Kälteeinbruch im Oktober, und sie wollte
den kleinen Eisenofen in meinem Kinderzimmer heizen. Als sie
die Klappe öffnete, fielen ihr Schulbrote entgegen. Der Ofen
war gestopft voll. Den ganzen Sommer hindurch hatte ich die
von ihr geschmierten Stullen darin gestapelt.
Ich spielte gerade im Garten, war in meine üblichen
Kampfszenen verwickelt, als ich sie rufen hörte.
Vor dem Ofen liegt bereits der ganze Inhalt auf dem Boden,
sauber eingewickelte Päckchen, der Schimmelpelz unter dem
durchscheinenden Papier verbreitet ätzenden Geruch. Ich bin
erstaunt über die Menge. Da liegt ein halbes Jahr, denke ich.
Hätte ich die bloß über die Gartenmauer geworfen!
Sie fragt mich, ob ich dazu etwas sagen möchte.
Das sind meine Schulbrote.
Und? Wie kommen die in den Ofen?
Die haben in meinem Ranzen schlecht gerochen.
Meine Mutter ist erschüttert. Aber ich kann ihr nicht helfen,
ich bleibe diesem Berg von Broten gegenüber stumpf. Die
dazugehörigen Sätze kenne ich bis zum Abwinken: dass sie
nach dem Krieg gehungert haben, dass meine Brüder abends
vorm Ins-Bett-Gehen eine Brotkante wie ein Stück Schokolade
kauten, dass Brot überhaupt ein Geschenk Gottes ist, dass
Millionen Kinder in Indien glücklich wären, wenn sie nur mal
eins meiner Schulbrote essen dürften.
Wenn ich in der Pause ihre kleinen Päckchen auswickelte,
machte meine Speiseröhre dicht. Es lag nicht nur am Aufstrich.
Es lag auch an ihr. Ich kann mir das nicht erklären.
Du wirst jetzt diesen fürchterlichen Haufen draußen in die
Aschentonne bringen und dann wieder hierherkommen. Ich
werde mir inzwischen etwas für dich überlegen.
Sie meint es ernst.
Als ich zurückkomme, hält sie einen Teppichklopfer in der
Hand. Ich frage sie, ob ich ihr nicht lieber den Rohrstock vom
Kleiderschrank holen soll. Sie antwortet, dass sie durchaus
wisse, wo der Stock liege, aber sie ziehe dieses Ding vor. Ich
solle mich bitte bücken. Dies sei anscheinend die einzige
Sprache, die ich verstehe.
So frei im Raum fehlt mir der Halt. Ich vermisse die
stützende Kante des väterlichen Betts und den Griff im Genick.
Mit ihr ist es anders. Schwebend und unwirklich. Es kann
doch nicht wahr sein, dass sie mich schlagen wird, geht mir
durch den Kopf. Trotzdem strecke ich ihr wie verlangt meinen
Hintern entgegen.
Nein, sagt sie entrüstet, so will ich das nicht. Dreh dich um,
schau mich an und dann bück dich.
Das wird aber kompliziert, denke ich. Da hat sie mit dem
Teppichklopfer einen weiten Weg bis zu meinem Po. Aber ich
mache es, wie sie will, korrigiere den Abstand noch etwas, um
beim Hinunterbeugen mit meiner Stirn ihre Brüste nicht zu
streifen. Als sie ihren Rock ein Stück hochschiebt, um meinen
Kopf zwischen ihre Knie zu klemmen, wird mir klar, dass sie
durchaus ein Bild vor Augen hat, dem sie folgt.
So war ich noch nie mit ihr verbunden. Ihre Knie drücken
gegen meine Wangen, und ihre Nylonstrümpfe rutschen auf
meiner Haut hin und her. Ein Gefühl, das man nie vergisst. Ich
bin gespannt auf den ersten Schlag. Er ist mittelfest.
Au!, sagt sie erschrocken, das war etwas zu stark.
Nein, das ist sehr gut, ermutige ich sie und muss vermeiden,
die Strumpfhose beim Sprechen zwischen die Lippen zu
kriegen.
Du, ich kann auch anders, droht sie von oben.
Darauf versucht sie einige feste Schläge, aber auch die sind
eher eine Behauptung. Ein Moment wie auf dem Theater: Sie
spielt Schlagen. Es ist gut zum Aushalten, tut überhaupt nicht
weh, und so spiele ich Weinen, obwohl sie mich nicht darum
gebeten hat. Ich schluchze, um ihr das Gefühl zu geben, dass
ihre Strafe eine Wirkung hat.
Sie hört sehr bald auf, lockert ihre Knie, ich ziehe meinen
Kopf unter ihrer Rockfalte hervor, richte mich auf.
Sie schaut mich an und sagt: So weh kann das jetzt nicht
getan haben.
Der Blick, mit dem wir uns danach ansahen, ist mir deutlich in
Erinnerung. Wir waren beide unsicher, was wir da gerade
erlebt hatten. Möglicherweise sind wir sogar rot geworden. Mit
der glitschigen Bewegung zwischen ihren Nylons heraus war
die Idee der Bestrafung endgültig futsch. Ich musste aufpassen,
nicht zu grinsen. Auch sie kam mir weich und unsicher vor. Sie
suchte nach einem passenden Abschlusssatz:
Ich hoffe, dass es bei dieser einmaligen Aktion bleibt und du
nie wieder Brot wegwirfst.
Ich habe freundlich genickt.
Guck mal, jetzt hast du sie wieder, deine Frau, denke ich neben
ihm in der Straßenbahn, mit meiner Hand auf seiner Schulter,
und komme mir vor wie ein Kindermädchen, das ganz in seiner
Arbeit aufgeht und kein eigenes Leben hat.
Da, wo ich gerade den Hörer aufgelegt hatte, konnte ich nicht
stehen bleiben. Ein winziger Flur vor meinem Münchner
Studentenzimmer in der Herrnstraße 17, 4. Stock. Du hast mich
da mal besucht. War noch nicht lange her.
Gut, von jetzt aus ist es natürlich wahnsinnig lange her.
Neben mir stand, fast während des ganzen Telefonats, mein
Mitbewohner Ulrich. Der kam raus aus seinem Zimmer, hörte
einen Augenblick zu, ging wieder rein, wieder raus, immer auf
Strümpfen. Der merkte, dass ich schlechte Nachrichten bekam.
Er hatte Löcher in den Socken, seine beiden großen Zehen
schauten heraus, als wollten sie mitreden, und als ich fertig
war, fragte er: Ist was Schlimmes passiert?
Auf keinen Fall wollte ich Ulrich erklären, was mit meiner
Familie los war. Auf keinen Fall wollte ich mit buddhistischen
Sprüchen getröstet werden und einen Joint mit ihm auf seiner
Matratze rauchen.
Damit möchte ich erst mal allein sein, sagte ich.
Ja, das verstehe ich. Aber nur, dass du das weißt: Wenn du
reden willst, bin ich für dich da.
Was für eine Sanftmut und Freundlichkeit der hatte. Und ich
konnte nichts damit anfangen!
Dabei kann ich gar nicht allein sein. Alle schlechten
Nachrichten treiben mich vom Stuhl hoch, raus auf die Straße,
aber auch da finde ich keine Ruhe, und nachdenken kann ich
schon gar nicht. Stattdessen gerate ich manisch in Tagträume,
laufe einfach los, und während meine Beine die Kilometer
fressen, mobilisiere ich alle Ohrwürmer klassischer
Klaviermusik und stelle mir vor, ich sei eine geniale
Einzelbegabung von einem Pianisten. Am liebsten bin ich ein
achtjähriger, verwachsener kleiner Junge mit dicken
Brillengläsern, der Franz Liszts Schneetreiben-Etüde im
Affenzahn über die Tasten wischt. Ich sehe mich am
Konzertflügel in der Carnegie Hall in New York spielen, und
unsere Eltern sitzen auf billigen Plätzen und halten sich vor
Aufregung die Hand vor den Mund. Und am Ende tritt Arturo
Benedetti Michelangeli auf sie zu und sagt in Trapattoni-
Deutsch: Haben Sie einen Sohn vielleicht! Können Sie sein stolz!
Können wir alle was noch lernen!
Und während ich mich solchen Illusionen hingebe, bin ich
längst in Schwabing angekommen, in der Fendstraße, bei der
Gaststätte Weinbauer, und habe Hunger. Hackbraten, denke
ich. Ich darf jetzt nicht auch noch vom Fleisch fallen!
Warum hatte ich mir so oft diese Frage gestellt: Was ist das
Schlimmste, was mir überhaupt passieren kann? Und warum
hatte ich mir immer dieselbe Antwort gegeben: dass dir etwas
passiert, Andreas! Das ist das Schlimmste.
Das wollte ich nie erleben. Dass dir ein Unglück zustößt, das
habe ich über Jahre zur schlimmsten Vorstellung überhaupt
erhoben. Warum bloß? Es gab keinen Anlass.
Du sahst gut aus. Richtig gesund. Rosig. Wohlgenährt. Es war
eine Freude, dich anzuschauen. Du warst der Ruhigste von uns
allen. Schienst phlegmatisch, warst sorgfältig und klug, und auf
deiner Geige hast du einen satten, fetten Ton produziert. Dein
Bogen klebte an den Saiten, war wie angewachsen. Kein Blatt
Papier passte dazwischen. Am Esstisch hast du oft den Arm
aufgestützt, deinen schönen, schweren Kopf auf den
Handrücken gelegt und in die Ferne geschaut. So hast du als
Kind vor dich hingeträumt. Schon in der Grundschule rief dein
Lehrer immer wieder: Andreas, dreh an den Motor! Das gefiel
dir. Das hast du uns selbst erzählt. Du lachst gern über dich
selbst, und das mag ich an dir.
Vielleicht gab es, denke ich jetzt, so etwas wie einen
unausgesprochenen Auftrag unserer Eltern an mich, gut auf
dich aufzupassen. Wegen des großen Unglücks in unserer
Familie. Rainer und die Handgranate.
Du warst im Unterschied zu mir ein Kind des
Wirtschaftswunders. Du bist lange gestillt worden und hast
danach die gute Milch von Humana bekommen. Nicht mit
Wasser verlängerte Mehlpampe wie ich.
Warum kaufte ich mir einen großen, schwarzen Hut, als ich
mich auf den Weg nach Mainz machte, um an deinem
Krankenbett Weihnachten zu feiern?
Ich steckte meinen Kopf mit Hut durch die Tür des
Krankenzimmers und sagte mit verstellter Stimme: Ich bin der
Gevatter Tod. Guten Tag. Und du lachtest, und ich sah
erschreckt in dein aufgedunsenes Gesicht. Der stirbt, schoss es
mir durch den Kopf.
Schnell versiegelte ich diesen Gedanken.
In der Hand hielt ich Grimms Märchenbuch, die Ausgabe mit
den Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls, aus der ich dir so oft
vorgelesen hatte und unsere älteren Brüder mir. Manchmal
auch unsere Mutter.
Sehr selten unser Vater. Der las mir immer nur das kürzeste
Märchen vor, das vom süßen Brei. Diese Geschichte von einem
armen, stets hungrigen Kind, das von einer alten Frau ein
Töpfchen geschenkt bekommt, dem es sagen soll: Töpfchen
koche! Und dann kocht das Töpfchen Brei, so viel man essen
will, und es hört erst auf zu kochen, wenn man sagt: Töpfchen
steh! Aber das Kind vergisst die Worte, die das Töpfchen mit
dem Kochen aufhören lassen. Es bekommt Angst, läuft aus dem
Haus, in die weite Welt, und das Töpfchen kocht und kocht, und
die ganze Welt versinkt im Brei.
Das war Papas Lieblingsmärchen. Weil es kurz war und weil
er abends immer ans Klavier zum Üben wollte. Außerdem
stillte es in seiner Erinnerung den Hunger, den er im Krieg und
in der Zeit danach erlebt hatte.
Mein Lieblingsmärchen war und ist bis heute: Der Gevatter
Tod. Ein armer Mann, der viele Kinder hat und schließlich nicht
mehr weiß, wen er um die Patenschaft seines jüngsten Sohnes
bitten soll, begegnet dem Tod, der einwilligt. Als der Junge
herangewachsen ist – die Grimms sagen immer
«heranwachsen» –, trifft er zum ersten Mal seinen Paten. Der
verspricht, einen berühmten Arzt aus ihm zu machen. Er gibt
ihm ein Kraut, das alle Krankheiten der Welt heilt, aber er
schränkt seine Gabe ein. Wenn ich, sagt der Tod, am Kopf des
Kranken stehe, kannst du ihm das Kraut des Lebens geben.
Aber wenn ich an seinen Füßen stehe, mein Lieber, gehört der
Kranke mir. Untersteh dich, ihm dann das Kraut zu geben.
Es kommt, wie es kommen muss. Der Junge wird ein
berühmter Arzt, aber der Tod steht nicht immer da, wo er soll.
Gerade bei den Kranken, die der Arzt besonders gerne retten
möchte, steht der Tod an der falschen Stelle. Der Arzt überlegt,
wie er seinem Gevatter ein Schnippchen schlagen kann. Er
dreht das Krankenbett einfach um, sodass der Tod richtig steht.
Der Tod wird zornig und warnt seinen Patensohn
eindringlich, ihn nicht noch einmal zu verscheißern. O weh!
Und dann erkrankt die Königstochter, die natürlich
wunderschön ist, und der junge Arzt kann nicht widerstehen
und gibt ihr das Heilkraut. Natürlich wird er belohnt mit allem,
was das Herz begehrt, vor allem mit der Königstochter selbst.
Aber der Patenonkel passt ihn eines Tages auf der Straße ab,
legt ihm seine kalte Hand ums Genick und führt ihn zu einer
unterirdischen Höhle, wo unendlich viele Kerzen brennen,
große, mittelgroße und kleine. Das sind die Lebenslichter,
erklärt der Pate seinem Schützling. Ach, sagt dieser, ganz
bezaubert: Zeig mir doch mein eigenes Lebenslicht! Und der
Tod weist auf ein klägliches Flämmchen, das bis zum Boden
runtergebrannt ist und kurz vorm Erlöschen noch einmal wild
um sich schlägt. Der junge Arzt erschrickt – und bittet seinen
Patenonkel, ihm doch ein neues Lebenslicht aufzustecken. Der
Tod nickt, greift nach einer schönen, langen Kerze und will sie
an dem verglimmenden Flämmchen entzünden. Aber er stellt
sich wohl mit Absicht ungeschickt an und löscht mit dem Ärmel
das Flämmchen seines Patensohnes. Im selben Moment sinkt
der Arzt leblos zu Boden.
Kannst du dich an das Bild erinnern, das Ruth Koser-
Michaëls dazu gemalt hat, Andreas? Zwischen den Kerzen steht
der schwarz gekleidete Tod, mit Schlapphut und einem Gesicht
wie aus dunklem Stroh. Er sieht ein bisschen aus wie eine
Vogelscheuche oder Fastnachtsfigur, und neben ihm, zwei
Köpfe kleiner, der junge Arzt, mit blauer Pelerine, Gehstock und
spitzem rotem Hut. Seine Gesichtshaut ist frisch, und er schaut
voller Vertrauen zu seinem Patenonkel auf.
Ob das alles wirklich so im Märchenbuch steht? Ich habe
nicht nachgeguckt. Mein Gedächtnis ist mir lieber.
Dieses Märchen habe ich dir sofort an deinem Krankenbett
vorgelesen. Du wolltest das. Ohne es auszusprechen, haben wir
es beide wie eine Art Voodoo gebraucht. Es sollte Zauberkraft
entwickeln. Wir wollten uns stark zeigen gegen deine
Krankheit.
Aber der Zauber wirkte nicht.