Edgar Selge - Hast Du Uns Endlich Gefunden

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Edgar Selge

Hast du uns endlich gefunden


Roman
Über dieses Buch
«Eine Erinnerung ist noch keine Erzählung. Soll sie das werden,
beginnt die Fiktion.» (Edgar Selge)

Eine Kindheit um 1960. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel


Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg
ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch
Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was
sie ihre verlorenen Jahre nennen.
Doch überall spürt der Junge Risse. Gebannt verfolgt er die
politischen Auseinandersetzungen, die seine älteren Brüder mit
Vater und Mutter am Esstisch führen. Aber er bleibt Zuschauer.
Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Phantasie.
Dieses Kind erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den
eigenen Blick auf die Welt.

Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich.


Voller Witz und Musikalität.
Vita
Edgar Selge gehört zu den bedeutendsten Charakterdarstellern
Deutschlands. 1948 geboren, wuchs er im ostwestfälischen
Herford als Sohn eines Gefängnisdirektors auf. Seine
Schauspielausbildung schloss er 1975 an der Otto Falckenberg
Schule in München ab. Zuvor studierte er Philosophie und
Germanistik in München und Dublin sowie klassisches Klavier
in Wien. Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen
ausgezeichnet. Edgar Selge lebt mit der Schauspielerin
Franziska Walser zusammen. Die beiden haben zwei Kinder.
«Hast du uns endlich gefunden» ist sein literarisches Debüt.
Für meine Brüder
Welcome, then,
thou unsubstantial air that I embrace!

Sei willkomm’n,
Du körperlose Luft, die ich umarme!
König Lear I V,1
Hauskonzert
Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im
Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede
freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich
bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist
aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder
Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei
und unterhält sich mit mir.
Mein Vater übt immer fürs Hauskonzert. Ist eins vorbei,
steht das nächste vor der Tür. Wir leben praktisch zwischen
zwei Hauskonzerten. Jedes für sich ist wiederum eine
Doppelveranstaltung. Am Vormittag kommen die Gefangenen
aus der Jugendstrafanstalt von nebenan. Natürlich nicht alle.
Das wären ja vierhundert. Aber um die achtzig sind es schon.
Mein Vater trifft eine Auswahl, als Gefängnisdirektor hat er
eine gute Übersicht. Am Abend kommen die Freunde meiner
Eltern, Akademikerpaare aus unserer Kleinstadt.
An solchen Tagen muss viel umgeräumt werden. Die Jungs
aus der Anstalt, wie wir sie nennen, bringen ihre Stühle zum
Konzert mit. Dafür müssen unsere Möbel aus dem Weg. Also
Tische in die Ecken, Stühle und Sessel neben die Sofas an die
Wand. Vor der Abendveranstaltung muss mit unserem eigenen
Mobiliar eine konzertartige Anordnung hergestellt werden.
Und danach muss alles wieder an seinen ursprünglichen Platz
zurück. Dieses Hin- und Herräumen übernehmen vier
Strafgefangene unter Anleitung meines Vaters.
Die Woche davor ist anstrengend. Ich kriege das gut mit, weil
ich viel Zeit hier auf dem Flur verbringe. Er ist ganz schön lang,
wie eine Kegelbahn, und alle müssen an mir vorbei. Die
Spannung ist mit Händen zu greifen. Mein Vater muss jetzt
endlich die schweren Stellen hinkriegen und übt wie besessen
immer wieder dieselben Passagen. Mal langsam, mal schnell.
Manches wird besser, manches sperrt sich, manches bleibt
riskant.
Dieser Druck überträgt sich auf meine Mutter. Die
Vorbereitungen wachsen ihr über den Kopf. Zwar steht das
Essen nicht im Mittelpunkt, ausdrücklich nicht, immer wieder
wird darauf hingewiesen, dass es beim Hauskonzert nicht ums
Essen geht. Aber eine Kleinigkeit möchte man doch anbieten.
Auch die Strafgefangenen sollen nicht leer ausgehen. Für sie
gibt es Leberwurstbrote und Apfelsaft.
Am meisten strengt meine Mutter der Umgang mit dem
professionellen Geiger an. Er reist ein paar Tage vorher aus
Hamburg an, übernachtet bei uns, probt mit meinem Vater und
ist heikel mit dem Essen. Sobald er da ist, dreht sich alles um
ihn. Er ist Künstler, gibt den Ton an, setzt Maßstäbe, nicht nur
in musikalischen Fragen, sondern grundsätzlich. Mein Vater
kann froh sein, dass er diesen Musiker begleiten darf. Ein Glück
für ihn. Und obwohl er gewöhnlich selbstbewusst auftritt, auch
über Witz verfügt und schlagfertig ist, ordnet er sich diesem
Künstler wie selbstverständlich unter.
Meine Mutter bekommt für ihre Gastfreundschaft vom
Geiger aus Hamburg eine Unterrichtsstunde spendiert. Darauf
muss sie sich gut vorbereiten, hat aber kaum Zeit zum Üben.
Trotzdem ist sie dankbar. Unterricht bei einem so
hervorragenden Virtuosen ist etwas Besonderes. Nachher läuft
sie allerdings mit verweinten Augen herum. Die gnadenlose
Kritik an ihrem Spiel hat ihr zugesetzt. Mir versetzt es einen
Stich in den Magen, wenn sie mir so im Flur begegnet. Sie ist
nicht ansprechbar und schüttelt nur den Kopf, wenn ich sie
frage, was los ist. Sie hat aber zu allem ihre eigene Meinung
und lässt sich nicht unterkriegen. Am Esstisch widerspricht sie
dem Geigenkünstler, wo sie es notwendig findet, macht es
jedoch so, dass mein Vater nicht das Gefühl hat, der Mann
werde in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt.
Spät am Abend, wenn meine Eltern ins Bett gehen, höre ich
dann aus dem Schlafzimmer von meiner Mutter Sätze wie: Das
wird man ja wohl noch sagen dürfen, ohne dass der sich in
seiner Künstlerehre gleich auf den Schlips getreten fühlt.
Ob mein Vater davon träumt, Pianist zu sein, weiß ich nicht.
Er ist pragmatisch und denkt nur über Probleme nach, für die
er auch eine Lösung findet.
Ich vermute, er ist ganz zufrieden damit, genau das zu sein,
was er ist: ein besonders gut klavierspielender
Gefängnisdirektor.
Einmal kreuzt, während ich auf dem Flur stehe und ihm
beim Üben zuhöre, mein Bruder Werner auf. Er stellt sich mit
mir vor die Flügelzimmertür. Seine Augen leuchten, er legt den
Zeigefinger auf den Mund und lauscht.
Hör mal zu, flüstert er.
Von drinnen hören wir: tak tak tak tak.
Das ist das Metronom. Sonst ist Ruhe. Vermutlich inhaliert
unser Vater gerade noch die Schlagzahl, die er sich eingestellt
hat. Dann fängt er an. Eine Klaviersonate von Mozart. A-Moll.
Nichts fürs Hauskonzert, das spielt er nur zum Vergnügen. Auf
Anhieb findet er ein gutes Tempo, natürlicher Ausdruck, als ob
er eine Geschichte erzählt.
Pass auf, flüstert Werner.
Tatsächlich, beim zweiten Thema mit den Sechzehntel-
Läufen eilt unser Vater mit der Musik davon, die Schläge des
Metronoms bleiben zurück.
Hörst du das?
Ich nicke.
Er spielt zu schnell, kein Zweifel. Das merkt man sofort, weil
er schneller spielt, als das Metronom schlägt. Aber er spielt
weiter. Unbeeindruckt. Offensichtlich gefällt ihm sein eigenes
Tempo besser.
Mein Bruder lacht leise. Er hört es nicht!, sagt er. Es stört ihn
gar nicht! Merkst du das? Er hat einfach keinen Rhythmus.
Werner schüttelt immer wieder den Kopf, kann gar nicht
aufhören zu lachen, lässt mich stehen, schließt die Türen hinter
sich, um in seinem Zimmer Cello zu üben.
Er ist seit kurzem Musikstudent. Ich gehe noch zur
Grundschule.
Gut, hat mein Vater eben eine rhythmische Schwäche. Hilft
mir aber auch nicht weiter. Er ist streng und verlangt Respekt.
Ob er nun schneller spielt als das Metronom oder nicht.
Ein anderes Mal, als sich mein Vater in sein Flügelzimmer
zurückzieht, bleibe ich wieder vor der Tür stehen. Hör doch
mal zu, denke ich, vielleicht spielt er gleich wieder gegen das
Metronom an. Aber da kommt nichts. Kein Metronom, kein
Klavier. Nur Schritte auf dem Teppich.
Ich schaue durchs Schlüsselloch. Ist ja gerade niemand in
der Nähe. Ich wundere mich über das Bild vor meinem Auge:
Der Rahmen hat die Form einer Mensch-ärgere-dich-nicht-
Figur, im Zentrum mein Vater, der eine ziellose Runde auf dem
Teppich dreht. Irgendetwas beschäftigt ihn. Er findet einen
Fussel am Boden, hebt ihn auf und legt ihn sorgfältig auf den
Wohnzimmertisch. Er geht zu seinem Lieblingsgemälde,
Rembrandts «Mann mit dem Goldhelm». Sieht fast so aus, als ob
er mit dem Bild redet. Dann schreitet er zum Flügel, dreht sich
um und schaut direkt zu meiner Tür. Ich bekomme einen
Schreck, aber so dumm bin ich nicht: Er kann mich nicht sehen.
Er legt eine Hand auf den schwarzen Deckel des Instruments
und – verbeugt sich. Er steht allein in seinem Flügelzimmer und
verbeugt sich in Richtung der Tür, hinter der ich stehe! Dabei
lächelt er wie eine alte Katze und nickt mehrmals in
verschiedene Richtungen. Auch in meine. Als sei ich ein Saal
voller Leute! Der ist ja wie ich, schießt es mir durch den Kopf.
Jetzt zieht er auch noch sein Taschentuch aus der Hose, reibt
sich den Schweiß von den Handflächen, setzt sich ans Klavier,
wirft das Tuch gekonnt aufs Notenpult, neben das Metronom,
und spielt seine Mozartsonate.
Wieder gelingt ihm das Thema wunderschön. Einfach.
Schnörkellos. Mit dieser inneren Beweglichkeit, die aus Noten
überhaupt erst Musik macht.
Wem soll ich das bloß erzählen, was ich da gerade gesehen
habe? Mein Vater ist ein ernster Mann, ich kann ihn doch nicht
blamieren! Vielleicht träumt er doch davon, Pianist zu sein.

Im langen Gänsemarsch kommen die Sträflinge vom


Gefängnistor bis in unsere Wohnung. Jeder trägt einen
Holzstuhl, die Aufsichtsbeamten stehen mit einigen Metern
Abstand auf der kleinen Stichstraße und passen auf, dass
keiner abhaut. Laut hallen ihre Kommandos durch unsere
Dienstwohnung: «Die Stühle leise abstellen! Die Hacken nicht so
aufs Parkett knallen! Finger weg von den Möbeln an der
Wand!» Die Gefangenen in ihren Blaumännern füllen mit
Stimmen und Geruch unsere Zimmer, drei große Räume:
Esszimmer, Flügelzimmer, Arbeitszimmer, durch Schiebetüren
miteinander verbunden. Im Flügelzimmer, in den beiden
Polstergruppen rechts und links von der Tür, sitzen bereits ein
paar Gefängnisangestellte: der Psychologe, die beiden Pfarrer,
der Arzt sowie einige Fürsorger und Lehrer, die meisten mit
ihren Frauen, der katholische Pfarrer mit seiner Schwester.
Außerdem Fräulein Arens, die einzige Frau, die im Gefängnis
arbeitet. Sie ist Fürsorgerin, leitet die Theatergruppe der
Strafgefangenen und kommt aus dem Rheinland. Mein Vater
nennt sie eine kluge Frau, weil sie frei und ohne Konzeptpapier
sprechen kann. Auch wenn der Minister aus Düsseldorf da ist.
Sie sitzt allein.
An den Wänden und im Flur stehen die Aufsichtsbeamten in
grüner Uniformjacke und Dienstmütze und warten darauf, dass
es endlich losgeht, damit sie sich auch setzen können.
Dann kommt mein Vater durch die Flügelzimmertür,
gemeinsam mit dem Geiger aus Hamburg, beide in Schwarz. Sie
verbeugen sich vor dem applaudierenden Publikum, richten
sich an ihren Instrumenten ein, rücken die Noten zurecht.
Zuletzt kommt meine Mutter und setzt sich links neben meinen
Vater, zum Umblättern. Dann ist einen Moment Ruhe. Mein
Vater hebt seine buschigen Augenbrauen und fixiert über den
Brillenrand hinweg den Geiger, der den Bogen hebt. Und los
geht die wilde Fahrt durch die klassische Musik.
Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann.
Manchmal Brahms.
Nur Violinsonaten.

Mein musizierender Vater inmitten seiner Strafgefangenen.


Wie vielen Menschen habe ich davon schon erzählt. Immer
wieder neu, immer wieder anders. Mein ganzes Leben geht das
schon so.
Jetzt sitze ich hier und schreibe das auf. Hoffentlich
verschwinde ich nicht zwischen den Sätzen. Je genauer ich bin,
desto fremder werde ich mir.
Die Gefangenen kommen einer nach dem andern durch unsere
Haustür. Das ist eine Flut. Achtzig junge Männer. Beide
Haustürflügel sind geöffnet, damit sie mit ihren Stühlen
nirgendwo anstoßen. Sie entern unsere Wohnung wie ein
Schiff.
Dass die immer so reinpoltern müssen!, sagt meine Mutter in
der Küche, wo sie die Schnittchen schmiert. Sie macht sich
Sorgen ums Parkett. Das können wir gleich wieder abziehen
und neu versiegeln. Warum kann er seine Hauskonzerte nicht
drüben machen, in seiner Anstalt? Da hat er doch unendlichen
Platz!
Eigentlich ist meine Mutter nicht so. Da muss irgendein
Problem im Busch sein, von dem ich nichts weiß.
Ist doch klar, warum unser Vater die Gefangenen zu uns
holt. Gefängnismauern und Steinböden haben zu viel Hall. Wie
Kirchen. Bei uns sind die Räume über vier Meter hoch, mit
Holzböden, an den Fenstern schwere Gardinen, es gibt einen
großen Perserteppich unterm Flügel, die drei Zimmer haben
zusammen hundertzwanzig Quadratmeter: Das ist eine
Bombenakustik!
Außerdem: Gefängnis von innen ist nicht jedermanns Sache.
Der Geigenprofi könnte erschrecken. Überall Zellenflure und
Gitter. Jede Tür muss auf- und zugeschlossen werden, bevor die
nächste Tür auf- und zugeschlossen wird. Das nervt. Manchmal
hört man Gebrüll. Besucher irritiert das.
Ich glaube aber, es gibt noch einen anderen Grund, warum
mein Vater seine Jungs gern in unserer Wohnung haben
möchte: Sie sollen mal Familie kennenlernen. Sollen mal sehen,
wie wir leben. Er ist stolz auf sein Zuhause. Meine Mutter
müsste das eigentlich wissen.
Die Gefangenen tragen Nagelschuhe. Wie sollen die nicht
poltern? Die dürfen auch nicht stehen bleiben, wenn sie
reinkommen und sich ausgiebig umgucken: Ah, hier ist es aber
schön! Die müssen durchgehen und Platz machen für die, die
nach ihnen kommen. Die sind auch nicht persönlich
eingeladen. Nur vereinzelt kennen wir ihre Namen.
Das sind Gefangene. Das ist Masse. Uniformierte Masse. Ja,
Masse ist gut für den Künstler, der vorspielen will. Masse
applaudiert kräftig. Masse kann frenetisch sein.
Die Akademikerpaare, die am Abend zu uns kommen,
bewegen sich vorsichtig wie Störche. Und dauernd flüstern sie.
Die Stimme bleibt ihnen im Hals stecken, wenn sie Bravo rufen.
Dagegen ist das hier ein Truppenbesuch.
Hier, ruft jetzt einer, aber richtig laut, damit es alle hören,
guck mal: mein Buffet! Das ist mein Buffet! Das habe ich
gemacht! Er breitet die Arme aus und versucht, den
sechstürigen Schrank aus Birkenholz, der in unserem
Esszimmer steht, in seiner Länge zu umspannen. Ich denke, er
kriegt gleich einen Anschiss vom Aufsichtsbeamten. Die sollen
unsere Möbel nicht anfassen. Aber der uniformierte Beamte ist
Tischlermeister, er stellt sich neben den Gefangenen, schaut
sich das Buffet an und sagt: Tipptopp, hast du sauber
hingekriegt. Hat der Chef gekauft. Ist doch eine Ehre. Kannst
dich freuen. Jetzt setz dich hin.
Und der setzt sich auch, kann sich aber gar nicht wieder
einkriegen.
Das ist mein Gesellenstück!, ruft er der ganzen Traube zu, in
der er sitzt. Hab ich vom Meister ’ne Auszeichnung für gekriegt.
Und da liegt jetzt das Silber von Frau Selge drin, sagt sein
Nebenmann.
Kannst ja mal nachschauen, meint ein anderer.
Hab ich alles ausgeschlagen, die Besteckkästen, mit Samt!
Dann bleibt sein Blick an dem van Gogh hängen, einem
eingerahmten Kunstdruck, mitten über seinem Buffet. Ein weiß
blühender Birnbaum auf einem Stück Acker. Das irritiert ihn.
Er zeigt immer wieder hin und schüttelt den Kopf.
Offensichtlich gibt das Bild dem Möbelstück eine Bedeutung, an
die er bei der Herstellung nicht im Traum gedacht hat.
Immer mehr Gefangenen fällt jetzt auf, dass sie alles selbst
gemacht haben, was sie hier sehen. Jeden Tisch, jeden Schrank:
Bücherschränke, Eckschränke, schöne Stücke. Viel Nussbaum.
Jeden Stuhl haben sie gebaut und die Polstergarnituren
gefertigt. Liebevoll die Heizungsumkleidungen entworfen, wie
kleine Spielzeuggefängnisse. Sogar das Parkett haben sie
abgezogen und versiegelt. Wir sind hier von einer
unglaublichen Fleißarbeit umgeben.
Das sind alles ihre Gesellenstücke. Der uniformierte
Tischlermeister streicht mit Daumen und Zeigefinger an einem
Holzstab entlang, der unterhalb einer Stofflampe herläuft. Dies,
sagt er, ist das einzige Stück Holz in dieser Wohnung, das nicht
durch meine Hände gegangen ist. Die Gefangenen, die das
hören, lachen.
Nur die beiden schwarzen Flügel sind Fremdkörper. Ein
alter Blüthner und der neue Steinway. Zwei respekteinflößende
Instrumente mit goldenen Metallrädern. Den Blüthner hat die
Mutter meiner Mutter gleich nach unserm Einzug geschickt.
Aus Berlin. Damit es weitergeht mit der Musik.
Viel haben wir nicht gehabt. Wir sind Flüchtlinge, aus
Königsberg in Ostpreußen. Wir haben einiges hinter uns. Ich
natürlich nicht. Ich bin erst 48 geboren. Aber meine Eltern.
Meine Brüder.

Ursprünglich sind sie Berliner. Meine Mutter stammt aus dem


feinen Beamtenviertel gleich beim Funkturm im Berliner
Westen, Hölderlinstraße, mein Vater aus Lichterfelde. Mein
Vater aus einer Musikerfamilie, meine Mutter aus einer
Musikliebhaber-Familie.
Die bringen mal richtig Berliner Konzertluft ins
ostwestfälische Herford! Der Krieg ist verloren, der
Nationalstolz im Eimer, die Nachkriegszeit haben sie
überstanden, mit Ach und Krach, aber die Kultur ist übrig
geblieben. Davon sind sie überzeugt. Auch wenn kein jüdischer
Künstler mehr im Land ist.
Die Kultur steckt in ihnen, die ist unverwüstlich. Gedichte
haben sie im Kopf, vor allem meine Mutter, Musik haben sie im
Blut und in den Fingern, vor allem mein Vater.
Unsere Eltern verfügen über eine trotzige Kraft der
Lebensbejahung. Irgendwie ist noch viel Energie da. Alles muss
jetzt nachgeholt werden. Komprimiert. Fiebrig und intensiv. Sie
wissen noch, was das ist: ein Volk, eine Identität, ein
Zusammengehörigkeitsgefühl.
Und jetzt haben sie die Moral für sich entdeckt, vor allem
den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge. Dabei stehe ich
im Fokus. Denn ich habe einen Hang zur Unaufrichtigkeit.
Meine Eltern sind fest entschlossen, mich davon zu befreien.
Irgendwann sind sie nicht mehr da, dann können sie nichts
mehr für mich tun.

Ich sitze zwischen den Strafgefangenen und warte wie alle


darauf, dass es endlich losgeht. Einen super Platz habe ich:
erste Reihe Esszimmer Mitte, zwischen den Schiebetüren.
Meine Füße baumeln ins Flügelzimmer. Ich habe einen guten
Blick auf die Musiker und auf das gesteckt volle Zimmer
dahinter. Vierzig Strafgefangene Stuhl an Stuhl. Und dann gibt’s
ja noch die vierzig in meinem Rücken.
Aber was mich verrückt macht, ist, dass die mich alle
anschauen. Das ist schwer auszuhalten. Wo höre ich selbst auf,
und wo fangen die Strafgefangenen an?
Schließlich verliere ich die Fassung und muss grinsen. Damit
das bloß niemand merkt, ziehe ich die Backen zwischen die
Zähne, bis es weh tut. Sieht sicher blöd aus, aber irgendwie
muss ich mich festhalten. Sie sehn mich an, denke ich, sie sehn
mich an. Nur dieser Gedanke beherrscht mich. Wo sind bloß
meine älteren Brüder?
Noch nie habe ich die beiden gefragt: Wie fühlt ihr euch
eigentlich unter den Strafgefangenen? Musik ist eben das große
Thema in unserer Familie, nicht die Strafgefangenen, die
gehören einfach dazu. So wie die Nachbarn und das Gefängnis
vor der Haustür. Wir sind immer die, die draußen sind. Das
finden wir in Ordnung.
Ist es ja auch. Die Strafgefangenen werden mit Respekt
behandelt, klassische Musik wird ihnen nahegebracht, sie
werden in die Familie einbezogen, sie arbeiten für uns, stellen
unsere Möbel her, heizen unser Haus, halten den Garten in
Schuss, bauen unser Gemüse an, manchmal haut einer ab,
sperrt den Aufsichtsbeamten, der ihn zum Heizen begleitet hat,
im Keller ein, schnappt sich eins unserer Fahrräder und türmt.
Ja, das kommt schon vor. Sogar bei denen, die bereits
Freigänger sind, also außerhalb des Gefängnisses eine Arbeit
haben, frühmorgens den Knast verlassen und nachmittags spät
zurückkommen. Gerade dann hauen sie ab. Kurz vor ihrer
Entlassung. Natürlich werden sie gefasst. Und verlegt in ein
anderes Gefängnis mit einem weiteren Jahr Haft. Mindestens.
Das regt mich wahnsinnig auf. Warum warten die nicht ab?
Es dauert doch gar nicht mehr lange, dann sind sie sowieso frei!
Mein Vater zieht die Stirn hoch, blickt in die Ferne und nickt
unmerklich vor sich hin. Meistens fertigt er meine Fragen
schnell ab. Diese nicht. Er zuckt mit den Schultern. Offenbar
gibt es da auch bei ihm noch einen ungelösten Rest. Seine
Kriegsgefangenschaft ist noch nicht so lange her. Er kann die
Ausreißer verstehen. Er weiß, wie das ist, wenn sich nach
langer Zeit der Tag der Entlassung nähert, der Tag, von dem
man die ganze Zeit geträumt hat. Er greift sich mit beiden
Händen an die Brust, den Hals, spielt mir die Beklemmung in
einer Zelle vor, die einem immer enger erscheint. Man will nur
noch raus. Raus! Raus!
Trotzdem verstehe ich nicht, dass einer heute abhaut, wenn
er morgen entlassen wird.
Das ist eben Gefängnis, erklärt er mir geduldig. Wenn die
Tür hinter dir ins Schloss fällt und der Riegel von außen
zugeschoben wird, beginnt eine andere Zeitrechnung.
Aha, denke ich. Eine andere Zeitrechnung.

Mit Bach fangen sie an. Mein Gott, ist das schön, wenn der
Geiger mit seinem satten Bogenstrich eine Bachsonate anfängt.
Die Musik reißt gleich mit den ersten Takten eine Tür auf. Vor
Begeisterung kann ich meine Beine gar nicht still halten. Die
Geige strahlt und glänzt, ihr Ton befreit, schafft Platz, ist stark,
lebensbejahend, man atmet gleich ganz anders. Ich bin stolz, in
einer Familie zu leben, wo ich das in natura hören darf.
Es ist mehr als schön. Meine Eltern nennen das sinnlich. Ich
finde, so ein Geigenton ist eine Verführung. Eine Aufforderung
zur Lust, wie sie in meinem Leben sonst nicht vorkommt. Alle
Geiger, mit denen mein Vater spielt, haben ein Vibrato und
einen Bogenstrich, dass mir vor Staunen der Mund offen steht.
Und die Violinsonaten von Bach bis Brahms machen
unmissverständlich klar, dass der Mensch ein triebhaftes
Wesen ist. Das verunsichert die Anwesenden, es beunruhigt
auch die Strafgefangenen, die still sitzen und zuhören müssen.
Ich habe sie ja vor mir. Ich kann sie beobachten von meinem
super Platz. Ich merke, wie Leben in sie kommt und jeder
Einzelne entscheiden muss, ob ihm das gefällt oder nicht. Ob er
es zulassen möchte oder nicht.
Fräulein Arens zum Beispiel muss unmerklich lächeln. Sie
hat einen rötlichen Damenbart, der jetzt breiter wird und
sonnig schimmert. Pfarrer Kubis mit dem Holzbein bekommt
glühende Augen. Seine Frau übt Druck auf ihre Lippen aus.
Jeder wird berührt von der Musik und muss sich dazu
verhalten.
Jetzt entdecke ich auch die Köpfe meiner beiden größeren
Brüder. Sie passen gut zwischen die Gesichter der
Strafgefangenen. Martin, der älteste, macht gerade Abitur und
muss zum Militär. Werner als werdender Musiker braucht kein
Abitur.
Martin und Werner. Sie werden bald das Haus verlassen,
sagen meine Eltern. Furchtbar endgültig klingt das. Das Haus
verlassen? Kommen die nicht zurück?, frage ich.
Nur noch zu Besuch. Gewöhn dich schon mal an den
Gedanken und konzentrier dich ab jetzt auf deinen kleinen
Bruder.
Mit einem Schlag merke ich, wie sehr ich mich an meinen
älteren Brüdern orientiere. Täglich. An ihren Stimmen, ihrer
Widerborstigkeit, ihren Meinungen. Ohne sie wird der Alltag in
unserer Familie leblos sein. Ich sehe mich schon verloren
zwischen meinen Eltern, diesen beiden Panzern, deren
manövrierende Bewegungen ich nicht deuten kann.
Kümmere dich um Andreas, sagen sie immer wieder und
weisen mir damit ein Aufgabenfeld zu. Das macht mich ganz
panisch. Wie soll ich mit meinem kleinen Bruder spielen? Ich
spiele doch gar nicht mehr! Will ich auch gar nicht! Ich will bei
den Älteren dabei sein, zuhören, zugucken.
Zum Trost bekomme ich zu Weihnachten schon mal ein
Messer geschenkt. Es ist ein stehendes Messer mit einem
Hirschhorngriff in einer Lederscheide, die man am Hosengürtel
befestigt. Für die Freizeitfahrten mit dem CVJM. Ein
sogenanntes Fahrtenmesser.
Ist die Schneide auch scharf?, ist meine erste Frage am
Weihnachtstisch.
Draußen ausprobieren! Nicht drinnen! Rufen sie mir zu,
Mutter, Vater, Martin, Werner.

Wer bin ich damals? Es geht mir heute nicht anders als auf dem
Flur meiner Kindheit. Ich langweile mich kaum. Ich gucke
Löcher in die Luft. Ich führe Selbstgespräche. Ich bin derselbe
Träumer.

Mir schießt dieser idiotische Reflex durch den Kopf, ob man das
Gefängnis im Gesicht der Gefangenen sehen kann. Gibt es da
eine Spur ihrer Straftaten? Es muss doch was zu erkennen sein
von dem, was sie ausgefressen haben. Irgendwo muss sie sich
abbilden, die kriminelle Energie!
Kriminelle Energie. Hätte ich dieses Wort bloß nicht gehört.
Mein Vater verplappert sich oft. Er übersieht mich, und dann
ärgert er sich hinterher schwarz, dass ich dabeigesessen bin
und alles mitgehört habe. Er bemerkt mich nicht, weil er so
intensiv mit meiner Mutter und meinen älteren Brüdern redet.
Von Tino spricht er, dem Kindermörder.
Er hat wieder mit Tino geredet und ist erschüttert, wie weich
dieser Mensch ist. Nur noch ein Häufchen Unglück. Und Tino
sagt kaum noch etwas. Er ist verstummt. Er hat das schwerste
Verbrechen begangen, das man sich vorstellen kann, ist aber
völlig frei von jeder kriminellen Energie. Zwischen all seinen
Zellengenossen wirkt er wie jemand, der irrtümlich eingesperrt
wurde. Ich rede mir den Mund fusselig, sagt mein Vater, damit
ich ihn nur wieder zum Sprechen bringe. Er muss hier in die
Familie! Er muss zum Hauskonzert mitkommen. Er muss
begreifen, dass das Leben weitergeht.
Was ist das, kriminelle Energie?, frage ich meinen Vater.
Meine helle, durchdringende Stimme erschreckt ihn. Er ist
wütend, dass er über Tino geredet hat und ich dabei war. Er hat
mich wieder übersehen.
Warum bist du nicht im Bett?, schreit er. Es gibt keine
kriminelle Energie! Wenn du unbedingt wissen willst, was das
ist, schau dich selber an! Die Jungen, die hier in der Anstalt
sitzen, und besonders die, die zu unseren Hauskonzerten
kommen, haben alle gute Gründe, dass sie ihre Strafe absitzen
müssen. Und jetzt ist Schluss mit dem Thema!
Ja, das ist richtig. Im Vergleich zu Tino komme ich mir vor
wie ein charakterschwacher Kleinkrimineller. Meine Notlügen
und lächerlichen Gelddiebstähle haben keine Größe. Tino hat
Größe. Lamont auch. Sie werden von meinem Vater geachtet.
Das liegt an ihrer Persönlichkeit und an ihren Taten. Das eine
ist von dem andern nicht zu trennen.
Sicherheitshalber werde ich am nächsten Sonntag
weggeschickt, wenn mein Vater «Die Brüder Karamasow»
vorliest. Das Kapitel, wo Gruschenka Dimitri verführt, ist dran.
Da kommen anscheinend Sachen vor, die ich auf keinen Fall
hören soll.
Das kriegt Edgar nur in den falschen Hals. Überhaupt ist
Dostojewski für Edgar noch zu früh. Also ab in dein Zimmer!
Warum?, frage ich fassungslos. Dimitri ist in meiner
Phantasie mein Bruder Martin, Iwan ist Werner, und ich bin
Aljoscha. Das weiß natürlich keiner in meiner Familie.
Ich habe mich auf dieses Kapitel gefreut. Ich frage meinen
Vater: Wollen wir nicht erst mal abwarten, was kommt?
Raus, sagt er. Ich weiß schon, was kommt. Du erzählst sonst
nur dummes Zeug in der Nachbarschaft rum. Also ab jetzt!
Ich gehe vor die Tür. Da kann ich aber kaum noch was
verstehen. Alles muss ich mir selbst zusammenreimen. Vor
allem die Sätze über Aljoscha, die muss ich dringend wissen.
Damit ich weiß, wer ich bin.
Natürlich erzähle ich viel bei den Nachbarn rum, was ich bei
uns am Esstisch höre. Die Frauen der Aufsichtsbeamten, bei
denen ich nachmittags meinen Kakao trinke, sind sehr
neugierig. Und mein Vater, wenn er erst richtig in Schwung ist,
erzählt immer mehr, als er möchte.
Dass Frau Joswig, die mit Mann und Söhnen über uns wohnt
und einmal die Woche in unserem Badezimmer die Wanne
benutzt, nur noch eine Brust hat, ist meinem Vater neulich
gegen seinen Willen rausgerutscht. Er musste es sagen, weil er
beweisen wollte, dass ich Frau Joswig nicht durchs
Schlüsselloch nackt gesehen haben kann, wie ich behaupte. Ich
hätte dann sehen müssen, sagt er, dass sie nur eine Brust hat.
Das sei der Beweis, dass ich lüge.
Ich habe nur auf das schwarze Dreieck zwischen ihren
Oberschenkeln geschaut, sage ich wahrheitsgemäß. Sie
trocknete sich gerade ab und hielt wahrscheinlich das
Handtuch vor ihre Brüste.
Sie hat nur e i n e !, schreit mein Vater.
Die Geschichte mit der Brust habe ich rumerzählt, und sie
kam dann über Herrn Joswig wieder zurück zu meinem Vater.
Das war sehr schlecht für mich.
Man kann nichts erzählen, wenn Edgar am Tisch sitzt, sagt
mein Vater zerknirscht. Im Grunde können wir nur noch
stumm unsere Suppe essen.

Kriminelle Energie. Wie dieses Wort in mir arbeitet.


Kann sein, dass ich alles durcheinanderbringe, wie mein
Vater sagt. Kann sein, dass ich alles aus seinem Zusammenhang
reiße. Dass ich Dinge verbinde, die nichts miteinander zu tun
haben.
Tino, dem sein Kindermord die Sprache verschlägt, hat
nichts zu tun mit Frau Joswig, die eine Brust verloren hat.
Würde mein Vater sagen. Aber in meinem Kopf sieht das eben
anders aus. Da steht das Bild meines Vaters, der in Luzern an
der sonnigen Kappeler-Brücke in einen weißfleischigen Pfirsich
beißt, sich von oben bis unten besudelt und dabei glücklich
strahlt, gleichberechtigt neben dem Bild von Tino, dem
Kindermörder, und der nackten Frau Joswig, die sich in
unserem Badezimmer ihre Brust abtrocknet. Hier, in diesen
Räumen, bei diesem Hauskonzert, gehört das für mich
zusammen: mein Vater am Flügel, der eine Bachsonate
begleitet, Frau Joswig, die mit verschränkten Armen in die
Sofaecke gedrückt neben Fräulein Arens und Pastor Kubis sitzt,
und Tino, den ich in der ersten Reihe entdecke, genau mir
gegenüber auf der anderen Seite des Flügelzimmers. Die wilde
Gigue vom letzten Satz der Bachsonate verbindet uns, und der
saugende Geigenton tut alles dafür, diesen verschiedenen
Leben einen gemeinsamen Sinn zu geben.
Tinos Gesicht ist extrem vertrauenerweckend. Er kann
höchstens neunzehn sein. Ich halte ihn aber für dreißig oder
älter. Es ist großflächig, blass, unbeweglich und hat einen
gütigen Ausdruck. Ich kann ihn unentwegt angucken, solange
er meinen Blick nicht bemerkt. Jetzt sitzt er vornübergebeugt,
die Ellbogen auf den Oberschenkeln, und hält seinen Kopf mit
den Händen fest. Die Musik stürzt in ihn hinein, und so wie ich
mir auf die Backen beißen muss, wenn ich fremde Blicke nicht
aushalte, so muss er seinen Kopf festhalten, weil er die
Schönheit dieser Musik sonst nicht erträgt.
Ja, ich suche Spuren in den Gesichtern der Strafgefangenen.
Ich hätte das gerne, dass das Leben und seine Umstände sich so
in die Gesichter malen, dass man deren Ausdruck in die
Geschichten des Lebens zurückverwandeln kann. Aber das
Leben wächst anders ins Gesicht. Unsichtbar. Man ahnt
vielleicht eine Wucht vergangener Ereignisse, mehr nicht.
Ich weiß eigentlich so gut wie gar nichts über die
Strafgefangenen. Es ist eine Schande, wie wenig ich weiß. Was
heißt das schon: Jemand ist ein Kindermörder! Überhaupt:
Mörder! Was für ein monströses Wort, das einige wie ein
Kainszeichen vor sich hertragen müssen. Und sie sehen alle
ganz verschieden aus: lustig, ernst, ängstlich, verschlossen,
offen, manche haben erwartungsvolle Kindergesichter, manche
schauen wie vom Leben zu früh erschöpft und zur Trauer
verdammt.
Lamont zum Beispiel. Wo ist der eigentlich? Ich habe ihn
noch gar nicht gesehen. Vielleicht sitzt er hinter mir.
Wie Tino sieht Lamont viel älter aus, als er ist, und hat eine
lange Strafe abzusitzen. Er würde nie vor seiner Entlassung
türmen. Ich glaube, er kann sich aus dem Gefängnis gar nicht
mehr wegdenken. Vielleicht muss man ihn eines Tages in die
Freiheit zerren.
Bei uns bleibt er leider nur, bis er achtzehn ist.
Möglicherweise kann ihn mein Vater noch etwas länger
dabehalten, aber das muss er dem Jugendrichter ausführlich
begründen. Spätestens mit zwanzig ist Schluss mit Jugendstrafe,
dann kommt Erwachsenenvollzug. Da sind auch meinem Vater
die Hände gebunden. Und im Erwachsenenvollzug herrschen
rauere Sitten als bei uns, da ist die Rückfallquote hoch. Da
lernen viele erst, was kriminelle Energie ist.

Jetzt ist Mozart dran. Der langsame Satz dieser Sonate ist
besonders eingängig. Sagt mein Vater. Mozart habe ihn kurz
nach dem Tod seiner Mutter komponiert. Und mein Vater,
dessen Mutter in Königsberg beim Phosphorbombenangriff der
Briten verbrannt ist, lehnt sich zurück und spielt das Thema
mit geschlossenen Augen. Ja. Das Thema strahlt eine
Erschöpfung aus, der man sich gerne überlässt.
Lamont hat seine Freundin erschossen. Er ist gelernter
Buchhändler und arbeitet hier in der Buchbinderei. Er hat
unsere Noten, die nach dem Krieg in einem ausgebombten
Berliner Keller lagerten, alle wieder neu eingebunden und
liebevoll mit einem Lesebändchen aus roter Seide versehen.
Eigentlich wollte Lamont sich auch erschießen. Aber
nachdem seine Freundin tot war, hat die Kraft für ihn selbst
nicht mehr gereicht. So drückt mein Vater das aus. Er ist ein
halber Kleist, sagt mein Vater nachdenklich. Und auf meine
Frage, wer Kleist sei, erklärt er mir geduldig, obwohl er sich
ärgert, dass er sich mit Lamonts Mord schon wieder
verplappert hat, dass es sich bei Kleist um einen verzweifelten
jungen Dichter handle, der sich und seine Freundin am
Wannsee in Berlin erschossen hat.
Wann war das?, frage ich meinen Vater.
Im November. 1811.
Das ist ja lange her.
Ja, sagt mein Vater. Wie viel Jahre sind das? Na?
Ich bin schwach im Kopfrechnen, und mein Vater ist
ungeduldig. Aber er ist gut aufgelegt und hilft mir.
Welches Jahr haben wir jetzt?
1958.
Also? 58 minus 11?
Natürlich 47.
Also 147 Jahre ist Kleist tot. Ein Goethezeitgenosse. Zu
Lebzeiten wurde er als Dichter nicht richtig anerkannt, und
Goethe hat sich gemeinsam mit seinem Freund Schiller über
ihn lustig gemacht.
Und deshalb hat Kleist sich und seine Freundin erschossen?,
frage ich.
Mein Vater nimmt sich einen Augenblick Zeit und erzählt, als
sei er damals Gerichtsreporter gewesen: Das weiß man nicht so
genau. Goethe hat einen Roman geschrieben, in dem sich ein
junger Mann, Werther, aus Liebeskummer erschießt. Das war
ein Bestseller. Viele junge Leute, die selber Liebeskummer
hatten, haben sich nach der Lektüre von diesem Buch
erschossen. Lamont hat dies Buch auch gelesen. Mit seiner
Freundin. Aber er hat nicht begriffen, dass Goethe, der sich
eigentlich auch erschießen wollte, nur am Leben geblieben ist,
weil er das Buch geschrieben hat. Die Leiden des jungen
Werther.
Und weshalb ist Lamont ein halber Kleist?
Mein Vater befürchtet eine logische Schwäche bei mir und
wird etwas ungeduldig.
«Ein halber Kleist ist die Hälfte von einem ganzen», das ist
unter Juristen eine stehende Redewendung, sagt er. Wenn zwei
Menschen gemeinsam Selbstmord begehen, gibt es keinen
Schuldigen. Wenn sich aber zwei Menschen umbringen wollen,
und einer bleibt auf halbem Weg stehen? Was ist dann?
Dann gibt’s einen Schuldigen, antworte ich wie aus der
Pistole geschossen.
Gut, sagt mein Vater, sehr gut. So kannst du Jurist werden.
Das Interessante ist aber nun, dass man ja froh sein muss, wenn
jemand seinen Selbstmord noch kurz vor der Tat stoppt. Auch
wenn er inzwischen zum Mörder geworden ist.
Da muss man bei Lamont besonders froh sein, sage ich.
Du hast vollkommen recht. Aber das berücksichtigt kein
deutscher Richter. Deshalb ist der «halbe Kleist» ein juristisches
Beispiel für den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit.
Aha.
Plötzlich schaltet mein Vater wieder um. Erzähl das bloß
nicht wieder weiter! Die Sache mit Lamont ist mir nur so
rausgerutscht. Aber wenn mir morgen eine der Beamtenfrauen
in der Nachbarschaft sagt, dass sie Angst vor Lamont hat, weil
der seine Freundin erschossen hat, kannst du was erleben! Das
meine ich ernst.
Das erzähle ich bestimmt nicht weiter, verspreche ich und
überlege schon, mit wem ich mich am liebsten über Lamont
unterhalten würde.
Ich mag Lamonts Gesicht. Ich stelle es mir gerne vor. Seine
Lippen sind voll, es ist fleischig um Mund und Nase, ohne fett
zu sein. Die Augen sind tief und schwärmerisch, nicht eng,
sondern eher weit auseinanderliegend, das Haar lockig und
dunkel, aber nicht schwarz, das ganze Gesicht eher breit als
schmal. Wenn ich ihn heute unter den achtzig Gefangenen
nicht finde, wird dies ein verlorener Tag gewesen sein.

Meine Mutter erhebt sich von ihrem Stuhl. Sie steht zum
Umblättern auf. Sorgfältig verfolgt sie die Notenzeilen, achtet
aber gleichzeitig darauf, ob mein Vater ihr ein Zeichen gibt. Sie
muss sich entscheiden, ob sie selbständig umblättern will oder
auf den Blick meines Vaters warten soll. Jetzt nickt er
ungeduldig, sie greift nach dem Eselsohr unten auf der Seite
und beißt sich auf die Lippen, damit bloß die Noten nicht
runterfallen. Ihre Hände zittern. Ich glaube, sie ist aufgeregter
als mein Vater. Natürlich kann sie Noten lesen, aber nicht so
schnell, wie er spielt.
Ich würde wahnsinnig gern mit Lamont über seinen
versuchten Doppelselbstmord, aus dem ein Mord wurde,
sprechen. Ich würde ihm gerne sagen, wie froh ich bin, dass er
sich nicht erschossen hat. Mit ihm gemeinsam habe ich zum
ersten Mal Theater gespielt. Vor einem Jahr, auf der Bühne in
der Turnhalle vom Gefängnis. Fräulein Arens hat inszeniert,
«Was ihr wollt» von Shakespeare. Eine sogenannte
Volksfassung. Oft habe ich versucht, ein Gespräch mit ihm
anzufangen. Aber er guckte immer stur in sein Rollenbuch.
Lamont war Orsino, dieser liebeskranke Herzog, der immer
Musik hören will, um sich noch mehr in seine Sehnsucht nach
der Gräfin Olivia hineinzusteigern. Olivia will aber von Orsino
nichts wissen, und er kriegt sie auch nicht. Nicht mal am Ende
des Stücks. Er muss dann ein junges Mädchen nehmen, das sich
als Mann verkleidet hat, um bei ihm als Liebesbotschafter zu
arbeiten. Sie heißt Viola und wirbt unter dem Namen Cesario
bei Olivia für Orsino. Dabei verliebt sich Olivia in dieses als
Mann verkleidete Mädchen, und der junge Mann, der eigentlich
ein Mädchen ist, verliebt sich in Orsino. Das ist alles ziemlich
verworren, vor allem, wenn alle Schauspieler männliche
Strafgefangene sind, die dann Frauen spielen, die sich
wiederum als Männer verkleiden.
Ich hatte eine Rolle mit zwei Minisätzen. Am Anfang des
Stücks frage ich Lamont: «Wollt Ihr nicht jagen, gnädiger
Herr?» Ich frage das, um ihn von seinem Liebeskummer
abzulenken. Und Lamont fragt zurück: «Was, Curio?» Und ich
antworte, mit allem Optimismus, den ich aufbringen kann:
«Den Hirsch!» Und Lamont antwortet darauf mit einem dieser
komplizierten Sprachbilder von Shakespeare, die man erst
nach mehrmaligem Lesen verstehen kann: «Das tu ich ja! O wie
ich Olivia zum ersten Male sah, schien mir, sie reinigte die Luft
von einem giftigen Nebel. Von diesem Augenblicke an war ich
in einen Hirsch verwandelt, und meine Begierden, gleich
wilden, hungrigen Hunden, verfolgen mich seither.»
Lamont sprach Orsinos Text sehr langsam und verständlich,
in kölnischem Dialekt. Er wusste, was er sagte, und musste es
nicht spielen. Es klang traurig und aussichtslos. Hundert
Strafgefangene und viele Aufsichtsbeamte, die an den Wänden
standen und erstaunt, ja ungläubig auf die Bühne schauten,
konnten erleben, wie Lamont seine eigene Geschichte erzählte.
Ich habe ihm versunken zugehört und vergessen, dass ich ja
auch auf der Bühne stehe. Erst als Fräulein Arens aus der
ersten Reihe mehrmals aufgeregt in meine Richtung winkte
und flüsterte: Edgar, Menschenskind, du musst doch abgehen!,
habe ich die Bühne verlassen und aus der Gasse weiter
zugeschaut.

Jetzt kommt der schnelle Schlusssatz der Mozartsonate. Da


schaue ich meinen Vater nicht an. Ich habe Angst, dass er sich
dann verspielt. Er strahlt nicht mehr diese Sicherheit aus wie
im langsamen Satz.
Ich denke: Gleich verspielst du dich. Und wenn er sich dann
wirklich verspielt, bin ich schuld.
Dazu kommt, dass mein Vater bei den schwierigen
Klavierstellen mit seinem Unterkiefer so unschön hin und her
mahlt. Ich möchte nicht, dass man das sieht, und deshalb
schaue ich auch nicht hin. Ich kenne diesen mahlenden
Unterkiefer von mir selbst.
Bei dem Geiger mit seinem satten, saftigen Ton, der einem
unter die Haut geht, flitzen die Finger übers Griffbrett, und der
Bogen saugt sich an den Saiten fest, Temperament und
Kontrolle halten sich die Waage. Aber diese Geige, die ihm
zwischen Kinn und Schultern steckt und die das Fett am Hals so
wulstig aufwirft, macht sein Kindergesicht auch nicht gerade
schön.
Wo gehen eigentlich die Blicke der Strafgefangenen hin?
Manche schauen auf ihre Oberschenkel, manche schauen mich
an, offen, ja provozierend. Da guck ich gleich weg. Einige
schauen auf die Musiker, andere aus den Fenstern. Wieder
andere blicken staunend auf unsere Bücherschränke und die
Bilder an den Wänden. Die interessieren mich. Mit denen rede
ich. In meinen Gedanken.
Ja, sage ich zu ihnen, wir haben so viele Bücher. Wir sind
Menschen, die Bücher lesen. Und wisst ihr, wer in den
Bilderrahmen steckt, die über den Bücherschränken hängen?
Das sind unsere Hausgötter! Dieser übergroße Kopf, der
keineswegs glücklich aussieht, sondern dem ein Gewitter im
Gesicht steht, das jeden Moment losbrechen kann, das ist
Beethoven, gemalt von Waldmüller. Der müde Typ, der so
weggetreten nach innen schaut, als sei er gar nicht da, ist
Robert Schumann. Der Kurzsichtige mit der Brille, der sich
schüchtern nach unten wegduckt, ist Schubert. Und das ist
Bach, der so gequält ein Notenblatt vor sich hinhält, als hätte er
Magenschmerzen. Glücklich sehen die alle nicht aus.
Was denkt ihr, wenn ihr die seht und diese Musik hört, die
euer Chef da mit dem fremden, fiedelnden Mann spielt? Was
denkt ihr, wenn ihr mich seht? Du hast es gut? Oder denkt ihr:
Wir sind zwar im Knast, aber du bist in der Irrenanstalt. Oder
denkt ihr nichts von alldem, weil die Musik euch fesselt wie ein
Naturereignis?
Vielleicht schauen sie sich auch viel hilfloser in unserer
Wohnung um, als ich es mir vorstellen kann. Vielleicht denken
sie, das sei eine Idylle. Das wäre aber ein Irrtum. Wir kämpfen
hier täglich hart um ein Zusammenleben, in dem Fröhlichkeit
und gute Laune oberstes Gebot sind. Unsere Eltern wollen
beweisen, dass der Krieg und die sogenannte schlechte Zeit
vorbei sind. Jetzt muss Glanz her. Auch in den Gesichtern soll
es glitzern vor Optimismus. Das ist Arbeit und hat eher mit
Zubeißen zu tun als mit Genuss. Musizieren ist Anstrengung,
Drill, manchmal auch Erniedrigung. Die Freude kommt
vielleicht am Schluss in Form einer Belohnung dazu.
Ob sich die Strafgefangenen so ein Leben aussuchen würden,
wenn sie die Wahl hätten?
Ich habe jedenfalls schon mal versucht, hier auszubrechen.
Aus dieser Musikanstalt. Vor vier Jahren. Da war ich noch nicht
in der Schule. Ja, ich habe tatsächlich schon eine Vergangenheit
als Ausbrecher. Mir war das hier alles zu anstrengend.
Ich weiß nicht mehr genau, warum ausgerechnet an dem
Tag. Ich hole mir eine Brotmarke aus der Küchenschublade,
hell für Weißbrot. Damit gehe ich zum Gefängnistor und
drücke auf den Klingelknopf. Herr Gnegel schließt mir auf. Na
Etja, was willste denn? Ich halte ihm meine Marke hin. Der
kleine Gnegel. Den kennen alle, die hier sitzen. Ich darf
reinkommen und mir in dem gemütlich-miefigen Pförtnerraum
ein Brot aus dem Schrank aussuchen. Ich bedanke mich und
mache mich auf den Weg.
Wohin? Am besten mal Richtung Bahnhof. Ich biege in die
Hansastraße, und eine ungeheure Vorfreude packt mich, als ich
diese lange und breite Strecke vor mir sehe, die zum Bahnhof
führt. Aha, das ist die Freiheit, von der alle sprechen, denke ich,
und voller Abenteuerlust beiße ich in das Weißbrot. Während
ich noch kaue, sehe ich jemanden, den ich gut kenne. Es ist
mein Vater. Er kommt auf mich zu. Keine Ahnung, was der hier
zu suchen hat. Und schon fragt er mich, wo ich hinwill.
In die weite Welt, antworte ich, völlig verdattert.
Na, sagt er, dann komm mal mit nach Hause. Fasst mich am
Ohr und führt mich durch die ganze Eimterstraße zurück in
unsere Dienstwohnung.
Guck mal, wen ich da gefunden habe, sagt er zu meiner
Mutter und lässt mein Ohr los.
Meine Mutter empfindet meinen Fluchtversuch als
Kränkung, als mangelnde Dankbarkeit gegen sie. Sie schüttelt
den Kopf und spricht nicht mit mir. Mein Vater nimmt es
weniger persönlich, er sieht nur die Gefahr, aus der er mich
zurückgeholt hat: Da hast du noch mal Glück gehabt, dass ich
zufällig vorbeigekommen bin.
Für ein paar Tage darf ich das Haus nicht verlassen. Am
nächsten Sonntag wird mein Weißbrot aufgeschnitten, und
meine beiden Brüder bestehen darauf, dass ich die
angefressenen Scheiben alleine essen muss. Zerknirscht kaue
ich auf meinem Brot herum.
Ich hab es nicht geschafft! Es ist eine Niederlage. Ich weiß
nicht, wie ich es umsetzen soll, richtig abzuhauen. Ich bin
einfach noch zu klein. Ich komme hier nicht weg.

Ich baumele mit den Beinen auf meinem Stuhl und muss sagen,
dass mich Mozart manchmal schon langweilt. Irgendwie
komme ich hier gar nicht vor.
Das Schubert-Duo, das als Nächstes drankommt, spricht mich
mehr an, als mir lieb ist. Es besetzt meine Gefühle und raubt sie
mir gleichzeitig. Es macht mich zum Opfer. Immer von
derselben Melodie in endlosen Modulationen herumgeführt zu
werden, geht mir auf die Nerven. Schließlich wird man ganz
willenlos und weiß nicht mehr, wer man ist. Ich habe dem
nichts entgegenzusetzen. Mit dieser Musik kann ich nichts in
mir aufbauen.
Mein Bruder Werner schon. Aber er ist eben ein Musiker.
Mit seinen muskulösen Armen schaufelt er täglich Etüden wie
ein Kohlearbeiter. Klar, dass der auf dem Teppich bleibt, wenn
er die schönsten Melodiebögen aus den beiden Schubert-Trios
spielt. Mich schwemmt diese Musik weg. Wahrscheinlich
nehme ich Schuberts Sehnsucht zu wörtlich.
Ich bin ein mittelmäßiger Klavierschüler, habe Mühe mit
dem Notenlesen und dem Rhythmus. Harmonielehre ödet mich
an. Wenn ich das erste Stück aus Robert Schumanns
«Kinderszenen» übe, «Von fremden Ländern und Menschen»,
ahne ich, wie schön das klingen könnte, würde man es flüssig
spielen. Aber statt zu üben, nehme ich die Hände von den
Tasten und träume vor mich hin.
Das ist unbefriedigend und nicht günstig für meine
musikalische Entwicklung. Ganz ähnlich wie bei den Mädchen.
Wenn ich von einer nicht mehr weggucken kann, verfalle ich in
eine Starre und bin sprachlos. Am Abend forme ich einen
Kopfabdruck in mein Kissen und lege meine Wange vorsichtig
daneben. Auch das ist unbefriedigend und bringt mich nicht
weiter.
Manchmal kommt es vor, dass ich ausnahmsweise ein
Klavierstück zu Ende geübt habe und vorspielen kann.
Komischerweise klingt es gut, der Flügel singt, mehr sogar als
bei meinem Vater, die Musik atmet, und ich kann meine
zuhörende Umwelt dahingehend täuschen, dass sie glaubt, da
müsse doch mehr bei mir drin sein.
Es ist aber nicht mehr drin. Denn ich spiele vor allem einen
Pianisten, der ein Musikstück spielt.
Meine Stimmung ist jetzt im freien Fall. Ich versuche, mich
an den Bildern festzuhalten, die hier an den Wänden hängen.
Diese goldgerahmten Rembrandts und van Goghs. Aber es sind
Kunstdrucke, keine Bilder. Gedächtnisstützen, die an die
Originale erinnern sollen.
In der Hämelingerstraße bei Stellbrink, wo mein Vater die
Rahmen für die Drucke aussucht, steht im Schaufenster ein
richtiges Bild. Ein Original mit so dick aufgetragener Farbe,
dass ich mit der Handfläche drüberfahren möchte. Es zeigt eine
junge Frau in südlicher Kleidung, vollbusig, mit roten Lippen
und schwarzen, wehenden Haaren, die dem Betrachter
schwungvoll eine Obstschale entgegenhält. Unter dem Bild
steht: «Zigeunerin». Der Name des Malers ist gar nicht
angegeben.
Mein Vater findet es so kitschig, dass er sich an den Kopf
fasst bei der Vorstellung, jemand könne sich das ins
Wohnzimmer hängen. Er nimmt es sogar Herrn Stellbrink übel,
dass er so was in sein Schaufenster stellt.
Aber bei den Aufsichtsbeamten und ihren Frauen, die hier
rund um die Gefängnismauer wohnen, hängen solche Bilder.
Manchmal noch ein röhrender Hirsch dazu. Und alles
Originale.
Was für ein billiger Kitsch!, lästert mein Vater, als ginge
davon ein Angriff aus. Kommunismus und Kitsch, das sind die
zwei Bedrohungen seiner Welt. Vom Kommunismus verstehe
ich noch nicht so viel, aber die Diktatur seines guten
Geschmacks kann ich spüren. Ein unsichtbares Gitter scheint
Kunst vom Kitsch zu trennen, eine Art eiserner Vorhang. Auf
der richtigen Seite versammele sich die tonangebende Schicht
der Menschheit, sagt mein Vater.
Und auf der falschen?

Der Geiger, mit dem mein Vater heute auftritt, ist ein
Hamburger Kaufmannssohn, der als Schüler bereits
Tschaikowskys Violinkonzert öffentlich gespielt hat. Ein
ziemliches Ass also. Er erzählt uns, dass er extrem unter
Lampenfieber leidet. Vor seinen Solokonzerten hätte er sich am
liebsten in der Künstlergarderobe die Finger abgehackt, um
nicht in den Saal rausgehen zu müssen. Seine rechte Handkante
fährt auf die Finger seiner Linken wie ein Fallbeil, und er
wiederholt mit seinen fetten Lippen: Nur noch abhacken! Nur
noch abhacken! Damit endlich Schluss ist! Mit diesem
entsetzlichen Lampenfieber!
Deshalb hat er keine Solokarriere gemacht, sondern ist als
Vorgeiger der zweiten Geigen in einem Orchester für
Barockmusik untergetaucht. Zum Trost spekuliert er an der
Börse und sammelt kleine Goldstücke. Mir hat er eins gezeigt.
Er hat es aus seinem speckigen Portemonnaie geholt und mir
stolz in die Hand gedrückt. Mit Speichel auf den Lippen und
glänzenden Augen hat er gesagt: Da, eine echte Goldmünze!
Schau mal, wie blank die ist!
Ich habe mich artig bedankt, weil ich dachte, er will sie mir
schenken. Aber da hat er gekreischt, als würde ich ihm aufs
Hühnerauge treten: Zeigen will ich es dir! Bloß zeigen! Gib das
sofort wieder her!
Und während er das Portemonnaie schnell wieder dem
Schutz seiner Gesäßtasche anvertraut, ruft er empört: Dies Kind
glaubt, ich verschenke Gold!
Mit meinem Vater ist er streng. Die Geige unterm Kinn und
ohne sein Spiel zu unterbrechen, schreit er ihn beim Üben
gequetscht an: Nicht-ei-len! Nicht-ei-len! Irgendwann klopft er
mit dem Bogen aufs Notenpult des Flügels: Hier um den
Buchstaben Dora herum, Herr Doktor, ist noch Kuddelmuddel.
Das müssen Sie aber noch mal ganz sorgfältig üben, nicht?
Mein Vater schluckt das runter.
Ich kann nicht fassen, dass jemand so mit ihm redet wie er
sonst mit mir. Wahrscheinlich das Schicksal eines Dilettanten,
der mit Berufsmusikern spielen will. Sie lassen ihn spüren, dass
sie handwerklich eine andere Klasse sind. Aber mein Vater
steckt das ohne Widerspruch weg. Er liebt den Ton der Geige zu
sehr. Er ist süchtig danach, es ist seine Passion, er ist bereit,
dafür zu leiden. Er will einfach große Geiger begleiten. Dafür
schlägt sein Herz.
Auch meine Mutter spielt Geige. Und natürlich steht eine
Frage im Raum, die sie nicht stellt, die ihr aber vielleicht doch
manchmal durch den Kopf geht: Warum spielst du nicht mit
mir? Warum muss ich Essen kochen, Wäsche waschen, Kinder
erziehen? Warum müssen hier Geiger von auswärts anreisen,
für die ich die Arbeit mache und die mich dann in der
Geigenstunde runterputzen, dass mir Rotz und Wasser auf den
Kinnhalter läuft? Warum ist das mein Leben?
Jeden Tag holt sie ihre Geige hervor, nur eine halbe Stunde.
Das rettet sie. Sie will nicht in Hausarbeit ertrinken. Zum Üben
geht sie ins Elternschlafzimmer, wo auch ihr Schreibtisch steht.
Dabei höre ich meiner Mutter oft zu, wie immer durch die
geschlossene Tür, und mache mir so meine Gedanken. Es klingt,
als ob sie der Geige mit dem Bogen auf den Saiten nicht zu sehr
weh tun will. Es wirkt zu vorsichtig. Nicht hässlich, gar nicht.
Nicht zum Weglaufen, wie bei vielen, die sich an dieses
Instrument verirren. Ihr Ton klingt sympathisch. Aber es gibt
keinen Zweifel: Eine Geigerin ist sie nicht. Eher eine Anti-
Geigerin. Ein schnelles Vibrato steht nicht in ihrer Macht. Da
kann sie üben und noch mal üben, aus diesem Ton wird nichts.
Er entwickelt sich nicht. Der leidenschaftliche Zugriff, das
Verführerische, die anheizende Sinnlichkeit, die den Hörer im
Mark treffen will – das ist sie als Person nicht. Leider. Aber sie
liebt ihr Instrument innig und hält zäh an ihm fest.
Das Problem ist noch komplizierter. Meine Mutter will auf
den Hauskonzerten meines Vaters gar nicht auftreten. Es ist ihr
alles ein paar Nummern zu groß. Der offizielle Rahmen, das
ganze künstlerische Anspruchsdenken geht ihr gegen den
Strich.
Als sie 1936 seinen ersten Heiratsantrag ablehnte, hat sie
schon geahnt, dass ihre Interessen klaffen. Mein Vater hat sich
ins Zeug gelegt, um sie für das gemeinsame Leben zu gewinnen.
Sicher hat er auch gesagt: Du spielst Geige – ich spiele Klavier.
Das könnte doch so schön sein.
Es wird aber nicht nur schön. Gerade das mit Geige und
Klavier wird nicht so schön. Am Sonntagvormittag spielen sie
langsame Sätze. Aber irgendwann fällt meiner Mutter auf, dass
es Sozialdienst ist, den mein Vater da leistet. Er ist einfach nicht
begeistert von ihrem Spiel. Wenn man so süchtig nach dem
schönen Geigenton ist wie er, wird es zur Qual, diese Frau zu
begleiten. Sie spürt das. Sie wird sein Gefängnis, und befreien
kann ihn nur ein Profi, mit dem er üben und Konzerte geben
kann.
Dabei ist sie die Frau seines Lebens. Immer wieder sagt er:
Die oder keine! Aber wenn es um Kammermusik geht, ist ihre
Beziehung bedroht. Sie sprechen es nicht aus. Niemand will es
wahrhaben: sie selbst nicht, meine Brüder nicht – und ich? Ich
kann einfach nicht drüber hinweggucken.

Plötzlich spüre ich einen Stoß im Rücken:


Wie lange dauert das noch?
Ich drehe mich um. Den Gefangenen kenne ich nicht.
Ich weiß es nicht, sage ich, eine halbe Stunde vielleicht noch.
Eine Beethovensonate, und dann ist Schluss.
Eine halbe Stunde!, ruft der hinter mir.
Psscht, zischt es von den Seiten.
Aber der lässt nicht locker: Wirklich eine ganze halbe
Stunde?
Ich drehe den Kopf zur Seite und flüstere: Sie lassen die
Wiederholungen der Exposition immer weg, damit es schneller
geht.
Gefällt mir gut, die Musik. Meint der von hinten. Sag mal:
Raucht dein Vater?
Klar, der raucht, antworte ich.
Weißt du, wo er sie versteckt?
Was meint der? Soll ich Zigaretten klauen?
Ich schüttle den Kopf. Das geht nicht, sage ich, das kann ich
nicht machen.
Seine Nachbarn lachen. Einer stimmt mir zu: Tu das lieber
nicht. Sonst gibt’s Dresche für dich, und er hier geht wieder in
Einzelhaft.
Nachher gibt’s Schnittchen und Apfelsaft, sage ich.
Hoffentlich genug, antwortet er. Und jetzt sei ruhig, es geht
wieder los.
Das nächste Stück holt mich sofort wieder zurück.
Beethoven, A-Dur Sonate op. 30. Der erzählt ja richtig mit
seinen Tönen! Der spricht mit einem! Als ob er eine Antwort
erwartet.
Mein Vater hat das begriffen. Das sieht und hört man. Und
die Geiger, diese Profis, haben begriffen, dass mein Vater das
begriffen hat. Und sehen deshalb über manches weg, was er
pianistisch nicht bieten kann. Mein Vater kann zuhören,
während er auf dem Klavier begleitet. Er antwortet regelrecht
auf die Melodien und kurzen Einwürfe der Violine. Das kann
nicht jeder, auch nicht jeder Profi. Er ist schon der geborene
Kammermusiker. Was der Beethoven erzählt, ist dringend.
Mein Vater fühlt das. Auch wenn er nie darüber spricht. Diese
Musik ist voller Erlebnis, da geht es um was. Nur kann man es
nicht in Sprache übertragen. Es ist wie mit dem Gesicht, das
sich nicht in die Geschichten des Lebens zurückübersetzen
lässt. In dieser Musik tobt sich das Leben aus und ist sich selbst
genug.
Dieser Beethoven ist eine andere Art von Dostojewski. Er
seufzt, schlägt um sich, sinkt resigniert in sich zusammen und
hofft Unmögliches. Alle Verwicklungen, das ganze Elend, die
ganze Freude, die das Leben bereithält, gestaltet und durchlebt
er.
Auch die Strafgefangenen merken, dass es ihrem Chef mit
seinem Geiger um etwas geht. Dass die Gefühle zeigen. Für
einige ist das peinlich. Sie wollen das gar nicht so genau
mitkriegen. Aber die Ohren sind wehrlos. Und man kann sie
sich im Konzert schlecht zuhalten.

Als der letzte Ton dieser so beredten Beethoven-Musik


verklungen ist, die Gefangenen frenetisch applaudiert und die
Angestellten auf den Polstermöbeln nachdrücklich ihr Lob
gehaucht haben; als vor allem der Profigeiger anerkennend
genickt hat, da fällt etwas von meinem Vater ab, und er ist
glücklich. Er kommt mir gar nicht mehr vor wie mein ständiger
Erzieher, dem immer neue Aufgaben für mich einfallen: Heb
mal dies auf, heb mal das auf, hast du deine Schularbeiten
schon gemacht, hast du die Lateinarbeit zurückgekriegt, schon
Klavier geübt, hilf mir mal mit dem Teppich hier, lass uns die
Fransen ordentlich hinlegen, bring mir mal Kehrwisch und
Schaufel, wer hat denn da sein Bonbonpapier liegen lassen, wer
hat das hier schon wieder kaputt gekriegt, lüg mich nicht an,
wer soll das sonst gewesen sein, was, du warst das nicht, dann
muss der Rohrstock her, komm mal mit ins Schlafzimmer.
Nichts von alldem. Jetzt, in dem Augenblick nach diesem
Konzert, ist er ein anderer Mensch. Er hat seine Arbeit hinter
sich gebracht, eine riskante Arbeit, die geglückt ist. Und er ist
darüber froh und erleichtert. Er fühlt keinen Druck mehr, auch
keinen Zeitdruck, er atmet schön langsam aus. Und ist einfach
da.
Das Hausmädchen bringt ihm ein Handtuch, er wischt sich
das Gesicht ab, greift nach einem Glas verzuckertem
Orangensaft und trinkt es genussvoll aus. Nach dem letzten
Schluck ruft er: Ah, schmeckt das gut! Lebenssaft! Das ist
Lebenssaft! Und fährt sich noch einmal mit dem Handtuch
unter den Hemdkragen, den Nacken entlang, er schwitzt,
schöner Schweiß, Schweiß von geglücktem Dasein. Er strahlt
bescheiden, seine Augen, seine Haut glänzen, er winkt ab, als er
die Macke sieht, die ich mit meinem neuen Fahrtenmesser in
den hochpolierten Nussbaumtisch geschnitzt habe, meint, da
wollen wir heute mal nicht so genau hingucken. Ich kann das
gar nicht fassen, diese Großmut, vor zwei Tagen ist er noch im
Karree gesprungen, als er die Macke gesehen hat. Ich könnte
ihn umarmen, weil er einfach nur glücklich ist. Aber wie lange
hält das an?
Ängstlich merke ich, wie die Augenblicke verstreichen, wie
die Zeit seines Glücks vergeht, wie meine Mutter an ihn
herantritt und Probleme mitbringt: Die Gefangenen sollen jetzt
ihre Schnittchen haben und das Glas Apfelsaft kriegen, dann
müssen sie raus, vier von ihnen bleiben da zum Umräumen,
weil heute Abend alles noch mal von vorne losgeht, da kommen
ja deine Freunde.
Ja, sagt mein Vater, wir müssen weitermachen.
Sein Duo-Partner hat sich schon nach oben ins Gästezimmer
verzogen. Er darf sich ausruhen für seinen Auftritt am Abend.
Gleich bringt man ihm sogar noch seine Hühnersuppe rauf.
Deine Rotary-Freunde kommen schon bald, fügt meine
Mutter noch ganz unnötig hinzu.
Mein Vater versteht den Vorwurf und sagt: Mit ihren Frauen.
Ihre Frauen kommen ja schließlich auch.
Aber es sind d e i n e Freunde, erwidert meine Mutter, vor
allem sind es deine Freunde.
Nein, sagt mein Vater, Schottkys kommen auch. Und Frau
Schottky ist deine Freundin.
Ja, sagt meine Mutter, aber ob sich eine Nervenärztin
wohlfühlt zwischen deinen ganzen Fabrikanten und
Behördenleitern, weiß ich auch nicht.
Mein Vater zieht die Augenbrauen hoch. Er weiß, wann er
die Auseinandersetzung mit seiner Frau beenden muss, damit
sie vor uns Kindern nicht eskaliert, und so macht er sich an die
Arbeit. Er drängt die Aufsichtsbeamten zum Abmarsch der
Gefangenen und sucht sich vier Jungs der Stufe zwei aus, die
ihm beim Umräumen helfen. Sobald die achtzig Stühle raus
sind, muss mit unserer eigenen Einrichtung die
Konzertatmosphäre für den Abend hergestellt werden.

Spielst du auch Klavier?


Das ist der von vorhin, der wollte, dass ich Zigaretten klaue.
Ich bin der Heinz.
Ja, sage ich. Ich heiße Edgar.
Warum spielst d u nicht für uns?
Ich zucke mit den Schultern.
Bist du nicht gut genug?
Mein Gott, ist der direkt, denke ich.
Und deine Brüder?
Spielen auch.
Besser als du?
Ja.
Hat ganz schön schnelle Finger, dein Papa.
Du auch, sagt ein anderer zu Heinz, einer, den ich nicht
kenne.
Wir lachen alle drei.
Worüber lachst du?, fragt mich Heinz.
Jetzt reicht’s mir, und ich sage laut: Weil er sagt, dass du
schnelle Finger hast. Ist ja klar, was das heißt.
Heinz gehört zu den vier Jungs, die umräumen sollen.
Der runde Nussbaumtisch kommt wieder in die Ecke zu den
hellen Polstermöbeln!, ruft mein Vater quer durchs Zimmer.
Weiß ich, Chef, ruft Heinz zurück. Weiß ich noch von vorhin.
Offensichtlich weiß Heinz, wo bei uns die Möbel stehen. Das
fühlt sich an, als hätten wir einen neuen Freund in der Familie.
Das ist mein Tisch, sagt er, als er das schwere Teil im
Alleingang in die Polsterecke schleppt. Den hab ich gemacht,
fügt er hinzu, mit Betonung auf «ich». Er stellt ihn ab, mit
Wucht, das Ding ist wirklich schwer, lässt ihn aber nicht los.
Das große Rad der Tischplatte hält er fest in seinen Händen und
bleibt in dieser Haltung stehen. Blickt auf die Platte.
Zum ersten Mal fällt mir auf, was das für ein tolles Stück ist.
Aus einer einzigen großen Wurzel geschnitten.
Hat der Heinz doch schön hingekriegt, sagt der andere, den
ich nicht kenne.
Ist mir wirklich gelungen, meint Heinz selbst über sein
Gesellenstück. Jetzt steh ich hier bei euch, jeden Tag. Und ihr
könnt eure Weingläser draufstellen. Ich weiß noch, wie mein
Meister gesagt hat: Wenn du dies Wurzelholz versaust, gebe ich
dir nie wieder eins! Dann machst du nur noch Spanplatte. Da
wirst du ganz schön nervös. Meine Hände haben schon
geschwitzt, wenn ich das Holz nur von weitem gesehen hab!
Das ist echt Arbeit.
Heinz schaut mich von unten an.
Das Holz will nicht immer so, wie du willst. Wenn du da mit
dem Hobel rangehst, hast du Manschetten. Das lebt, das Holz.
Die Maserung bricht unglaublich schnell, da schmirgelst du
ganze Vormittage, bis dir die Arme schmerzen.
Ich nicke.
Wer hat das hier versaut?, fragt er plötzlich und zeigt auf die
Macke, die ich mit meinem Fahrtenmesser in die Kante
geschnitzt habe. Den würde ich gerne mal zur Rede stel- len.
Das trifft mich unvorbereitet. Ich bin richtig erschrocken.
Sieht man mir das an? So eine Scheiße! Ich habe gedacht, ich
muss mich wegen dieser Macke nur auf den Zorn meines Vaters
gefasst machen, und das ist schon schlimm genug. Aber dass ich
auf den Hersteller des Tisches treffe, damit habe ich nicht
gerechnet.
Und Heinz hört nicht auf: Das ist ungerecht! Der das gemacht
hat, sagt er und schaut auf die Macke, der läuft frei rum, und
ich sitz ein. Da krieg ich ’ne Wut.
Das kann man doch nicht vergleichen, denke ich. Und dann
kommt die Frage aller Fragen, die Frage meiner Kindheit,
meines Lebens:
Warst d u das?
Heinz steht immer noch gebeugt über dem Tisch, seine
muskulösen Hände an der Platte, und fragt mich von unten
herauf: Du lügst mich nicht an, oder?
Sein Blick steht wie eine Eins.
Aber ich lüge. Ich denke nicht daran, die Wahrheit zu sagen.
Was geht ihn das an, verdammt noch mal! Das ist meine Sache.
Das geht keinen was an. Es reicht, dass ich meinem Vater die
Wahrheit sagen musste. Ich bin in einer schwachen Situation,
aber ich hole mir Kraft aus der Lüge.
Ja, sage ich und schau ganz ruhig die Macke an. Das sieht
wirklich nicht gut aus. Das war mein Freund Rainer Menke.
Rainer Menke? Kenn ich den?, fragt Heinz.
Weiß ich doch nicht.
Du warst das wirklich nicht?
Ich mache eine Kopfbewegung, die bedeutet, es liegt
außerhalb jeder Vorstellungskraft, dass ich das gemacht habe.
Ich bin jetzt überzeugend. Das spüre ich. Mein Körper hat sich
gestreckt. Da kann sich Heinz jetzt mal dran abarbeiten.
Den möchte ich kennenlernen, sagt er, lässt den Tisch los
und richtet sich auch auf. Du bist doch einer von uns, oder?
Ich verstehe nicht, was er meint.
Du spielst doch Theater bei uns. Du warst die kleine
Hofschranze in «Was ihr wollt».
Ja, sage ich, aber dich habe ich da nicht gesehen.
Ich war auch nicht dabei, sagt Heinz, ich war in Einzelhaft,
aber ich gehöre zur Theatergruppe. Und wir sind alle gefragt
worden, ob wir das wollen, dass du bei uns mitspielst.
Das erstaunt mich.
Wir kannten dich. Über die Gartenkolonne. Du steckst doch
öfter mit dem Philipp zusammen.
Ja, den kenne ich.
Ja, eben. Sagt Heinz. Und wir haben über dich gesprochen
und fanden dich in Ordnung.
Danke, sage ich und nicke.
Ich spiele jetzt den Mandarin in «Turandot», sagt Heinz. Da
ist ’ne gute Rolle für dich drin, die solltest du spielen.
Gerne, sage ich.
Also, bis dann. Und dann tippt er noch mal auf die Macke im
Tisch: Und den hier – er sieht mir in die Augen –, den will ich
kennenlernen.
Endlich haut er ab. Mit den drei andern. Ich bin heilfroh.
Niemals im Leben werde ich diese Rolle in «Turandot» spielen.
Mit Heinz möchte ich nicht auf Theaterproben sein.
Alles so, wie’s sein soll, Chef?, fragt der Aufsichtsbeamte
meinen Vater.
Wunderbar, antwortet er. Danke. Auch an die vier Jungs
bitte.
Richte ich aus.
Dann sind sie alle fort, und ich bin mit meiner Familie
wieder allein.

Den Tag sehe ich noch genau vor mir, wo ich mit meinem
Fahrtenmesser vorm Sofatisch gesessen bin und nicht wusste,
wohin mit mir. Raus konnte ich nicht gehen, zu nass. Es goss in
Strömen. Ich habe den Flügel angeschaut, den neuen, blanken
Steinway meines Vaters. Das wird nichts mit mir als Pianist.
Mir fehlt da was. Ich mag gern Musik. Sie löst viel in mir aus,
aber sie macht mich immer zum Opfer. Sie zu gestalten? Das
packe ich nicht.
Auf dem Steinway liegt eine Reitpeitsche. Das Requisit
meines ältesten Bruders aus einer Schulaufführung, «Leonce
und Lena» heißt das Stück, von Büchner. Die letzte Aufführung,
bevor er die Schule verlässt. Er spielt Leonce. Ich hab es nicht
gelesen, es scheint lustig zu sein, mein Bruder hat ein bisschen
erzählt. Leonce ist ein Prinz aus dem Königreich Popo. Und
Lena kommt aus dem Königreich Pipi. Und der Vater von
Leonce, König Popo, läuft in der Unterhose rum, philosophiert
über Kant und ruft: «Der freie Wille steht da vorn ganz offen.»
Offensichtlich braucht Leonce in dem Stück eine
Reitpeitsche. Die Freundin meines Bruders spielt Lena.
Ich habe mein Messer in der Hand. Es muss kurz nach
Weihnachten sein, das Messer ist ja ein Weihnachtsgeschenk.
Jedenfalls habe ich es noch nicht ausprobiert.
Bald ist mein Bruder weg. Aber seit er diese Freundin hat,
die die Lena spielt, ist er sowieso weg. Innerlich. Meine Mutter
kann das gar nicht fassen, wie der innerlich weg ist, seit er
diese Freundin hat. Andauernd kriegt sie Weinkrämpfe. Wie
ein Kind, das etwas nicht hergeben will.
Ich schaue die Schneide von meinem Messer an. Wie scharf
ist die wohl? Ich lasse sie mal auf die Tischkante fallen. Sie hakt
sich sofort fest. Noch könnte ich sie zurückziehen. Aber ich will
wissen, wie hart das Holz ist, und drücke etwas nach. Es
passiert mir noch zu wenig. Ich schiebe die Klinge hin und her.
Jetzt sitzt sie einen Zentimeter im Holz. Ich werde nervös und
ziehe das Messer zu schnell weg. Dabei dreht sich die Klinge
und hebt einen ganzen Span hoch. Was ich da sehe, sieht nicht
gut aus. Unter der Politur hat das Holz eine ganz andere Farbe.
Viel heller. Ob ich das mit Schuhcreme abdecken kann?
Schnell hole ich eine Tischdecke, lege sie sternförmig so auf,
dass eine Ecke der Länge nach über der Macke hängt. Das muss
erst mal reichen.
Jetzt gehe ich auch noch auf den Flügel zu, nehme die
Reitpeitsche in die Hand und schlage sie gegen mein
Hosenbein. Es klatscht. Das kann man fester und weniger feste
machen. Kann jedenfalls weh tun.
Gut, dass mein Vater keine Reitpeitsche statt des Rohrstocks
benutzt. Es gibt einen Mitschüler von mir, der muss mit seinem
Vater, einem Marinepfarrer, und einer Reitpeitsche in den
Keller.
Ich nehme das Messer und setze es an der Mitte der Peitsche
an, 45 Grad, so wie man eben schnitzt. Ich habe keine Ahnung,
wieso ich das tue. Ich mag meinen Bruder, kann mir durchaus
vorstellen, dass ein Theaterrequisit lebenswichtig ist. Ich will
auch nur … ich will auch nur mal … ich will doch eigentlich gar
nicht … Schon ist es passiert. Die Reitpeitsche besteht plötzlich
aus zwei Teilen. Nur eine schmale Faser verbindet sie noch.
Unfassbar, wie schnell das passiert ist.
Meine Stimmung ist am Boden. Tiefer geht’s nicht. Komisch
sieht sie aus. Wie schlapp der vordere Teil herunterhängt. Ich
lege sie sorgfältig auf den Flügel zurück und schiebe die Teile
zusammen.
Wenn man sie so sieht, ahnt man nichts.
Ich stelle mir vor, wie mein Bruder die Peitsche vom Flügel
nimmt, der vordere Teil plötzlich 90 Grad herunterhängt, sehe
sein ungläubiges Gesicht vor mir und muss lachen. Ich muss so
lachen, dass ich mir von innen auf die Backen beiße.
Was für ein Teufel steckt bloß in mir? Wie lange werden sie
draufschlagen müssen auf mich, auf meinen Po, auf meinen
Rücken, in mein Gesicht, bis dieser Teufel endlich Reißaus
nimmt.
Kirmes
Heute ist mein Vater aus Wien zurückgekommen, von einer
Vollstreckungsleitertagung. Da treffen sich Gefängnisdirektoren
und Jugendrichter aus ganz Europa. Ich glaube, sie sprechen
über Resozialisierung.
Die Strafe soll in den sogenannten Papieren – das müssen die
Ausweise sein – in Zukunft schneller gelöscht werden. Die
Gesellschaft, sagt mein Vater und betont, dass wir das alle sind,
muss lernen, ehemalige Häftlinge wieder aufzunehmen, als
wären sie nie straffällig geworden. Das sei aber nicht so leicht,
die meisten Menschen sträubten sich dagegen. Sie wollen eben
niemanden in ihren Reihen, der schon mal gesessen hat. Am
besten sei, sagt mein Vater, wenn die Strafe gelöscht wird.
Wenn niemand etwas von der Vergangenheit des anderen
weiß. Anders gehe es wohl nicht.
Ich habe da noch eine andere Idee: Es wäre doch das
Einfachste, wenn die Gefängniszeit grundsätzlich nicht als
Makel angesehen wird, sondern als wertvolle Erfahrung, die
die meisten von uns nicht machen. Aber das hält mein Vater für
abwegig.
Er wirkt verändert, als er aus Wien zurückkommt. Geradezu
aufgewühlt. Das hat aber nichts mit der Tagung zu tun. Es liegt
an Wien, an dem Eindruck, den diese Stadt bei ihm hinterlassen
hat.
Erinnerungen an seine Heimat Berlin sind wach geworden,
an das alte Berlin, das Berlin vorm Krieg, das es nicht mehr
gibt. Wiens unzerstörte Prachtbauten und die Ringstraße haben
eine heftige Wehmut in ihm ausgelöst. Vor allem die Staatsoper
und das Burgtheater.
Und Werner Krauß, den er gestern Abend noch als König
Lear gesehen hat: Diese Aufführung muss ihm einen Schock
versetzt haben. Offensichtlich hat er plötzlich gemerkt, was er
in seinem Leben alles verloren hat.
Krauß war schon im Berlin der zwanziger Jahre sein
Lieblingsschauspieler. Da war auch unser Vater in seinen
Zwanzigern und ein leidenschaftlicher Theaterbesucher. Die
Aufführungen, in denen Krauß damals gespielt habe, hätten ihn
lange verfolgt. Das hat er uns oft erzählt. Tage habe er
gebraucht, um seine Ergriffenheit wieder abzuschütteln.
Als er jetzt mit seinem Koffer in der Hand unser Haus betritt,
sagt er statt ‹Guten Tag›: Ich habe gestern Krauß als Lear
gesehen! Dann versagt ihm die Stimme. Etwas schnürt ihm den
Hals zu, und als er über den Flur ins Schlafzimmer geht,
befindet er sich offensichtlich mit König Lear auf der Heide.
Das sehe ich ihm an. Ich kenne mich aus in seinem Gesicht.
Ebenso in der Geschichte von König Lear. Mein Vater hat sie so
oft erzählt, dass ich denke, ich hätte das Stück gelesen.
Während der langen Zugfahrt von Wien nach Herford hat er
mit dem Reclam-Heft in der Hand jeden Moment der
Aufführung noch mal ablaufen lassen. Vor allem Lears Angst
vor seinen Töchtern. Das Unrecht, das sie ihm zufügen.
Lear hat den drei Töchtern sein Reich vorzeitig vererbt. Er
hat sie gefragt, wer ihn am meisten liebt. Offensichtlich hat
Lear Angst, nicht genug geliebt zu werden. Ausgerechnet die
Jüngste, die sich weigert, seine Frage zu beantworten, verbannt
er in einem Anfall von Zorn. Und nachdem ihn die beiden
anderen Töchter mit einer überwältigenden Liebeserklärung
nach Strich und Faden belogen haben, schmeißen sie ihren
Vater raus und überlassen ihn schutzlos einem furchtbaren
Unwetter.
Das kann unser Vater nicht fassen. Am Esstisch lässt er das
Fleisch an seiner Gabel kalt werden, um uns den Wahnsinn
vorzuspielen, wenn Krauß sich mit Wind, Blitzen und Donner
gegen seine Töchter verbündet. Krauß oder Lear – das ist für
ihn dasselbe. Er fährt sich in die Haare, stiert in die Gegend und
wiederholt: Krauß war außer sich. Da war nichts mehr gespielt.
Dabei merkt er gar nicht, dass er selbst außer sich ist. Das
beunruhigt mich.
Unser Vater fühlt sich durch die Lear-Töchter so bedroht,
dass ich den Verdacht habe, er meint eigentlich uns: Martin,
Werner und mich. Aber meine beiden Brüder sind nicht
Goneril und Regan. Sie würden niemals einem Gloster die
Augen herausreißen und ihren Vater in den Wahnsinn treiben.
Sie sind mit Mitgefühl und Menschlichkeit gepolstert. So wie ich
auch. Wir sind keine Ungeheuer. Sicher sind wir auf unseren
Vater oft wütend. Er lässt uns ja spüren, welche Macht er über
uns hat, bis wir einundzwanzig sind. Und auch danach wird er
uns mit seinen knapp bemessenen Monatswechseln knebeln.
Aber deswegen sind wir noch lange keine Furien und
Rachegeister. Ich fürchte, dass Lear und Werner Krauß bei ihm
eine grundsätzliche Angst vor Nachkommen geweckt haben.
Ausgerechnet heute, am Tag seiner Rückkehr aus Wien, habe
ich die heftigste Tracht Prügel von ihm bekommen, an die ich
mich erinnern kann. Es ist wirklich mysteriös, wie es dazu
kommen konnte. Da hat sich ein völlig normaler, etwas
komplizierter Vorgang zu einer Handlung entwickelt, die mich
als raffinierten Lügner dastehen lässt. Sich zu rechtfertigen, ist
immer blöd, aber ich kann beim besten Willen keinen Fehler
bei mir finden, für den ich diese Prügel verdient hätte.
Am Vormittag – mein Vater war noch nicht zurück – hat
mich Otto Joswig gefragt, ob ich später mit ihm auf die Kirmes
gehen möchte. Natürlich war ich begeistert von seinem
Vorschlag. Otto ist acht Jahre älter als ich, ein Hüne, genauso
wie sein Bruder und sein Vater. Nur die Mutter ist zart. Wenn
Otto die Treppe herunterkommt, wird es dunkel im
Treppenhaus, weil er mit seinen breiten Schultern das
Fensterlicht abdeckt. Er stottert ein wenig, aber er spricht auch
nicht viel. Ganz anders als ich. Ich stottere auch, aber nur, weil
ich in zu kurzer Zeit zu viel zu erzählen habe.
Mit Otto auf die Kirmes zu gehen – das ist praktisch eine
ganz andere Kirmes für mich, als wenn ich da mit
Gleichaltrigen oder mit meiner Mutter hingehe. Otto
interessiert sich für Achterbahn, Wilde Maus und Schießen, isst
Würste statt Eis, er würde nie vorm Kaspertheater stehen
bleiben.
Als dann mein Vater in der Tür stand, mit Koffer und König-
Lear-Gesicht, habe ich Otto erst mal vergessen. Nach dem Essen
habe ich aber sofort von seinem Angebot er- zählt.
Wir wollen nicht, hat meine Mutter gesagt, dass Otto dich
einlädt.
Mein Vater hat sein Portemonnaie gezückt und mir fünf
Mark gegeben. Es wäre nett, hat er mir zugeflüstert, wenn ich
den Abwasch machen würde, dann könne er sich mit meiner
Mutter gleich hinlegen.
Ich habe mich bedankt, abgewaschen und gewartet. In
meinem Kinderzimmer. Otto ist nicht gekommen. Meine Eltern
haben länger geschlafen als sonst. Die große Stille brach aus.
Die kenne ich sehr gut. Dann liegt die ganze Welt hinter einer
dicken Scheibe.
Wann wird Otto kommen. Wird er mich finden. An welche
Tür wird er klopfen. Oder hat er mich vergessen.
Schließlich gehe ich die Treppe rauf und klingele bei Joswigs.
Die zarte Mutter öffnet. Ja?
Ist Otto da?
Otto? Was willst du denn von dem?
Der wollte mit mir auf die Kirmes gehen.
So? Hat er mir nix von gesacht.
Hat er mir vorhin versprochen.
Aber Otto ist gar nicht da.
Das versteh ich nicht.
Hast du da vielleicht was missverstanden?
Nein. Wann kommt der denn wieder?
Heute Abend. Spät.
Spät?
Ja sicher.
Ja, dann geh ich mal wieder.
Man sagt «Auf Wiedersehen», sagt Frau Joswig und schließt
die Tür.
Ich geh die Treppe runter.
Irgendwie traurig, nicht? So unzuverlässig, dieser Otto. Was
mach ich jetzt?
Ich gehe mal raus. Frische Luft schnappen.
Ich fühle die fünf Mark in der Hose, reibe mit der Hand das
Geldstück in der Tasche. Meine Beine tragen mich in Richtung
Kirmes.
Die Geräuschmischung aus Schlagern, Karussells,
Losverkäufern, Ausrufern vor den Schaubuden, brabbelnden
Menschenmassen, aufheulenden Sirenen, wenn die neue Runde
losgeht bei den Autoselbstfahrern, und Jauchzern von der
Achterbahn wecken meine Sehnsucht. Viel kraftvoller,
einladender ist diese Welt als König Lear mit seinen Angst- und
Rachephantasien. Die Menschen, die hier arbeiten, sind knallig
angezogen, ihre eng anliegende Kleidung scheint zum Körper
zu gehören, fast alle sind schwarzhaarig, manche haben eine
gelbliche Haut. Ich kann gar nicht weggucken. Es könnte mir
gefallen, diese Menschen anzufassen und von ihnen umarmt zu
werden.
Am meisten interessieren mich die Buden, wo draußen auf
einer kleinen Vorbühne verkürzt demonstriert wird, was man
drinnen gegen Geld ausführlicher sehen kann. Ich kann mich
gar nicht trennen von einer Art Teewagen, der ziemlich hoch
und von einem langen Tuch bedeckt ist. Darunter soll sich eine
Frau mit zwei Köpfen befinden. In der Vorstellung werde das
Tuch weggezogen, und man erlebt dann, wie die beiden Köpfe
miteinander sprechen.
Ich entscheide mich aber für den schlafenden Mohammed in
der Bude nebenan. Ich muss mir ja die fünf Mark gut einteilen.
Meine Damen und Herren!, ruft der Budendirektor mit dem
feinen Schnurrbart, Mohammed steht seit Jahren in seinem
Schrank im Tiefschlaf. Wir wecken ihn kurz für Sie auf. Mit
Hilfe von Starkstrom. Sie werden ihn ein paar Schritte gehen
sehen. Wir füttern ihn mit rohem Gemüse. Dann bringen wir
ihn wieder in seinen Schrank, und er schläft weiter, als sei
nichts gewesen. Mohammed überlebt uns alle. Wir wissen
nicht, wie alt er ist. Schon mein Großvater hat ihn im
Wintergarten im alten Berlin vorgeführt.
Außerdem sehen Sie hier Deliah mit der zehn Meter langen
Usambarapeitsche. Sie wird mir diese Zigarette mit der Peitsche
von den Lippen wegschlagen, ohne mich zu verletzen. Komm,
Deliah, lass mal die Peitsche knallen!
Eine üppige, gestiefelte Frau in engem, kackbraunem
Lederrock rollt schon mal mit einem Knall die zehn Meter lange
Usambarapeitsche aus. Sie macht das wie unbeteiligt, aber
kraftvoll. Durch die Lederschnur läuft eine Schlaufe immer
schneller auf die Spitze zu, entlädt sich mit Überschall im Knall
und hängt im selben Augenblick auch schon schlaff am Boden.
Lässig rollt Deliah ihre Peitsche wieder auf und schaut uns
gelangweilt an, mit einer Mähne aus blonden Dauerwellen und
zwei starren Brüsten unter dem engen Perlon-Pulli.
Der ganze Vorgang löst bei mir ein inneres Summen aus, wie
in Trance gehe ich die Treppe rauf zur Kasse und lege meine
fünf Mark auf den Teller.
Drinnen sehe ich den schlafenden Mohammed in seiner
überdimensionalen Schuhschachtel stehen, auf ein
funkenstiebendes Stromgeräusch hin beginnen seine
Augenlider zu zittern, er zeigt eine Weile nur das Weiß seiner
Augäpfel und stolpert dann ein paar Schritte wie ein Spastiker
über die Bühne. Er gibt auch Laute von sich, frisst Gemüse,
aber nur sein Kostüm ist wirklich gut. Wie aus
Tausendundeiner Nacht. Den Rest kann man vergessen. Das
kann ich auch, was der macht.
Ich habe dann noch viele Lose gekauft, weil ich einen
Fresseimer gewinnen wollte, aber in jedem aufgerissenen
Papier stand: Niete.
Dann bin ich Raupe gefahren. Ich mag dies sanfte Auf und
Ab, die Wellenbewegungen, die roten weichen Ledersitze und
das Heulen, wenn sich das grüne Zeltdach über den Wagen legt,
die Fahrt im Halbdunkel geschwinder wird und die Musik in
der Lautstärke anzieht. Das ist zwar alles für Liebespaare
erfunden, die sonst keine Gelegenheit zum Küssen haben, aber
ich träume dann von meiner Zukunft, und die ist auch schön.
Zum Schluss kaufe ich noch ein Eis, nicht so ein
kugelförmiges, italienisches Eis, sondern dies cremige Eis, das
wie eine Hochfrisur aus der Waffel steigt und das es nur auf
der Kirmes gibt. Ja, und dann – dann ist das Geld alle. Das geht
so schnell.
Und irgendwas stimmt nicht. Das spüre ich. Mit schwerem
Herzen und schweren Beinen gehe ich nach Hause. Ich weiß,
ich habe einen Fehler gemacht, aber ich weiß nicht genau,
welchen.
Das Geld habe ich bekommen, um mit Otto auf die Kirmes zu
gehen. Der hat sein Versprechen nicht gehalten. Was heißt das?
Ich hätte warten sollen. Ich hätte nicht allein gehen sollen.
Schmerzhaft wird mir bewusst, dass ich kein neues Geld
herstellen kann. Ich verstehe die Jungs hinter der Mauer, die
Raubüberfälle geplant und ausgeführt haben, um an so viel
Geld zu kommen, dass dies leidige Problem ein für alle Mal
erledigt ist.
Ich befinde mich bereits in der Sackgasse der Eimterstraße
mit dem grauen Tor am Ende und laufe an unserm
schmiedeeisernen Zaun vorbei.
Drinnen kocht mein Vater Kaffee.
Na, wie war’s mit Otto auf der Kirmes?
Schön.
Du bist aber jetzt allein nach Hause gekommen.
Ja. Otto ist noch geblieben.
Bums! Das hätte ich nicht sagen sollen. Das war absolut
unnötig. An dieser Stelle hätte ich den ganzen komplizierten
Vorgang erzählen sollen.
Mein Vater spürt sofort die leichte Unsicherheit in meiner
Stimme. Er ist einfach der geborene Staatsanwalt. Das kann
man nicht lernen. Das ist Instinkt.
Aber du warst mit Otto zusammen auf der Kirmes, oder?
Ja, sage ich noch mal.
Dann entsteht eine lange Pause, und die kommt meinem
Vater spanisch vor.
Da stimmt doch was nicht, sagt er. War Otto jetzt mit dir auf
der Kirmes oder nicht?
Nein, antworte ich, Otto konnte nicht.
Auch das war eine saublöde Antwort, nicht wahr? Wieso
sage ich: Otto konnte nicht? Hätte ich gesagt, dass ich auf ihn
gewartet habe, er mich aber wohl vergessen hat, und ich extra
bei seiner Mutter geklingelt und nach ihm gefragt habe und
dann enttäuscht allein auf die Kirmes gegangen bin, wäre alles
im grünen Bereich gewesen.
So entsteht wieder eine Pause, mein Vater setzt die
Kaffeekanne ab und sagt: Dann gib mir das Geld zurück.
Das habe ich nicht mehr.
Das hast du also auf der Kirmes schon ausgegeben.
Mhm.
Alles?
Ja.
Hast du dir die Geschichte mit Otto ausgedacht?
Nein. Warum?
Damit ich dir Geld gebe?
Nein, natürlich nicht.
Lüg mich nicht an!
Otto wollte mit mir auf die Kirmes gehen, sage ich fest und
deutlich.
Er fixiert mich und sagt beinahe freundlich: Dann gehen wir
jetzt zu Frau Joswig rauf und fragen sie einfach mal, ob das
auch stimmt.
Jetzt fängt mein Hirn zu rattern an: Ob das so günstig ist? Sie
wird ihm die Tür öffnen: Ach, Herr Doktor! Wie schön, Sie zu
sehen. Ob Otto mit Edgar auf die Kirmes wollte? Das kann ich
mir eigentlich kaum vorstellen. Das ist sicher ein
Missverständnis. Das wird sie sagen. Todsicher.
Und was würde mein Vater daraus folgern? Das will ich mir
gar nicht ausmalen.
Ich könnte jetzt sagen: Papa, warte, bis Otto kommt. Frag ihn
heute Abend. Aber würde Otto der Spannung, die dann im
Raum läge, standhalten? Wäre das nicht eine schwierige
Situation für ihn?
Wenn ich ihn beschwören würde: Otto, erinnere dich doch!
Heute Vormittag, auf der Treppe! Würde Otto dann nicht
anfangen zu stottern? Ottottottotto. Und würde er nicht mit
seinen breiten Schultern zucken? Als wüsste er nicht, was er
sagen soll?
Und ich würde wiederholen: Otto, erinnere dich doch! Und
mein Vater würde mich anbrüllen: Willst du etwa behaupten,
dass Otto lügt? Und das Geschirr würde im Schrank klirren.
Vielleicht stünden sogar Ottos Eltern im Hintergrund und
würden mit einer Stimme, unisono, sagen: Unser Otto lügt
nicht.
Das spielt sich alles in meinem Kopf ab, während mein Vater
mich fest im Blick hat. Was aber in diesem Moment passiert, ist,
dass mein Glaube an das, was wirklich war, schmilzt. Ich bin im
Recht, doch das Gefühl, im Unrecht zu sein, beherrscht mich
immer mehr.
Inzwischen steht auch der Rest der Familie in der Küchentür
und im Flur. Auch unser Hausmädchen steht dahinten an der
Wand. Von ihr kleckern geflüsterte Sätze an mein Ohr: Etja,
sach die Wahrheit! Das Schlimme, hör ich sie hauchen, sei die
Lüge, nicht das Geld.
Plötzlich schreit mein Vater mich an, als ob es um Tod und
Leben geht: Dass man bei dir nie weiß, was war!
Nach einer weiteren Pause, in der man die Fliegen an der
Scheibe summen hört, packt er mich am Handgelenk und reißt
mich mit sich fort: Komm mal mit ins Schlafzimmer.
Von da an versagt meine Fähigkeit zum Widerstand. Die
überraschende Schärfe in seiner Stimme, sein
Schraubstockblick, die Verfinsterung seiner Augenbrauen, die
nicht aufzuhaltende Motorik seiner Entschlossenheit legen
mich lahm.
Es ist ein Überfall. Er ist das stärkere Tier, das zum Angriff
übergeht. Ich stolpere ihm mit meinen kürzeren Beinen
hinterher: leise wimmernd – das muss ich gestehen. Meinen
Unterarm kann ich aus der Umklammerung seiner haarigen,
fleischigen Hand nicht lösen. Mir fehlt der Wille.
Von ihm kommt leise und bestimmt: Da hilft jetzt kein
Weinen. Das hättest du dir vorher überlegen sollen.
Er hat diesen stürmischen Sturzschritt. Ich weiß nicht genau,
welchen Weg er nimmt, um welche Ecken es geht. Ich kann nur
noch folgen.
Warum versuche ich nicht, mich zu rechtfertigen? Das Netz
aus Widersprüchen ist schon zu dicht. Warum bettele ich nicht:
Schlag mich nicht, bitte schlag mich doch nicht! Vielleicht bin
ich zu stolz und möchte um nichts mehr bitten. Und so stolpere
ich in den Fleischwolf der Bestrafung.
Energisch schließt er die Schlafzimmertür und lässt mein
Handgelenk los. Mit sicherem Griff holt er sich oben vom
Kleiderschrank, wo auch die Schüsseln mit den
Weihnachtsplätzchen abgestellt werden, den Rohrstock. Dann
packt er mein Genick und biegt meinen Körper über die
Ehebetten. Das hölzerne Fußteil drückt sich in meinem
Unterbauch ab, der heiße Urin rinnt mir ins Hosenbein.
Du Schwein!, stößt er aus, hörbar angestrengt. Ja, das ist
auch für ihn ein körperlich fordernder Vorgang.
Der Rohrstock pfeift, jauchzt, bevor er ins Fleisch schneidet,
Schlag um Schlag, schmerzhaft natürlich, wirklich schmerzhaft.
Seine linke Hand wechselt jetzt vom Genick zum Hosenbund,
damit er die Hose stramm ziehen kann. Ich habe Angst, dass er
meine Eier trifft, die sich nun abzeichnen, aber da passt er auf,
er trifft sie nicht. Ich weine und schreie. Abwechselnd. Mein
Gesicht drücke ich in die Daunendecken der Elternbetten: Wie
soll ich ihn je wieder anschauen?
Einmal wage ich, mich umzudrehen, um ihm ins Gesicht zu
sehen. Da ist seine verbissene Anstrengung, seine gerötete
Haut, der fratzenhafte Mund. Für die Dauer einer Sekunde
müssen sich die beiden Grimassen, meine und seine, aushalten.
Ich wende mich wieder um, streife mit dem Blick kurz die
Kopfkissen meiner Eltern, sehe die schwarzgenarbte Lederbibel
mit Goldschnitt auf dem Nachttisch meiner Mutter, sehe auf der
Seite seines Betts Rembrandts Reproduktion von der
«Judenbraut», und dann tunke ich das Gesicht wieder in die
Decke, dass mir schwarz vor Augen wird.
Wann hört der auf? Wann ist das zu Ende?
Mehr kann ich nicht denken.

Ja. So wird das gewesen sein.


Wenn ich das lese, wieder und wieder lese, fühlt sich der alte
Mann wie ein erkalteter Planet, der von frühen
Naturereignissen träumt. Was unter den tektonischen Platten
rumort, kann das noch mal ausbrechen?

Im Sturmschritt verlässt mein Vater nach vollzogener Strafe


das Zimmer und knallt die Tür zu. Die Aktion ist zu Ende. Er
wird nicht zurückkommen. Die Strafe liegt hinter mir. Ich bin
sicher.
Die Tränen fließen noch und lassen nur Farben durch. Keine
Umrisse. Meine Fäuste formen sich und zittern. Noch schwankt
der Boden.
Die Welt tanzt. Die Kleiderschränke, das Fenster mit seinem
Bild von draußen, die Nachttische, die Betten und Kissen, der
Sekretär meiner Mutter, ihre Flakons auf dem Toilettentisch,
alles tanzt, im Tränenschleier.
Mein einziger Gefährte ist ein wildes, ungezähmtes
Aufschluchzen. Immer wieder wird es aus der Mitte des
Körpers hochgeworfen, mit einem wütenden, dunklen Bellen.
Der Muskel, der dafür zuständig ist, arbeitet wie ein
selbständiger Partner. Er spielt jetzt die Hauptrolle und hält
mich aufrecht. Zwerchfell heißt er. Mein neuer Verbündeter.
Langsam beruhigt sich die Welt um mich herum und findet
ihre Form.
Ein neuer Schöpfungstag.
Als ich aus dem Schlafzimmer ins Kinderzimmer trete, liegt
da Andreas auf dem Fußboden. Er spielt stumm mit seiner
Holzeisenbahn. Er trägt eine dunkelblaue Cordhose mit Latz,
darunter einen weinroten Pullover. Er hebt den Kopf und sieht
mich mit seinen großen, dunklen Augen an, als sei ich eine
Erscheinung. Er hat alles mit angehört. Sein Blick ist weich und
streift mich wie mit Tentakeln. Er sagt keinen Ton. Ganz leicht
zieht er die Luft über die gespannte Unterlippe ein und
beobachtet mich, hellwach.
Ich knie mich zu ihm hinunter, und er gibt mir einen
Waggon seiner Holzeisenbahn. Wir schieben diese Spielzeuge
hin und her, als bügelten wir ein bisschen den Fußboden.
Todestag
Eigentlich stehen wir nach dem Tischgebet sofort auf. Ein
Gebet gibt es vor dem Essen und eins danach. Vorher: Komm
Herr Jesus sei du unser Gast und segne was du uns aus Gnaden
bescheret hast Amen. Danach: Herr wir danken dir denn du
bist freundlich und deine Güte wäret ewiglich Amen.
Nach dem ersten Gebet fassen wir uns an den Händen,
heben einmal gemeinsam die Arme und sagen «Gesegnete
Mahlzeit». Dann lassen wir uns wieder los und machen uns
über das Essen her. Bei besonderen Anlässen heben wir die
Arme dreimal, sagen Mahlzeit, Mahlzeit, Mahlzeit, Klatsch! und
klatschen dazu in die Hände und lachen. Nach dem Essen gibt’s
nur einen kurzen Händedruck mit dem Nachbarn rechts und
links, dann stehen alle auf.
Heute ist es anders. Das merke ich schon an dem
langsameren Rhythmus, mit dem unsere Mutter das
Schlussgebet spricht. Das Wort Amen schließt nicht ab, sondern
bleibt offen.
Die hat was vor, denke ich.
Heute ist Rainers Todestag, sagt sie. Zehn Jahre ist das jetzt
her.
Sie blickt zwischen uns hindurch. Niemand steht auf.
Mir gefällt dieser Moment sehr. Von mir aus könnte der ewig
dauern. Unsere Mutter lässt die Zeit schleifen. Sie spricht ihre
Sätze wie jemand, der lange auf etwas wartet und vergessen
hat, worauf. Das überträgt sich auf uns, sogar auf unseren
ungeduldigen Vater.
Wir sind alle da. Ist das Zufall? Links von mir sitzt Werner,
neben ihm, am schmalen Tischende, Martin in
Bundeswehruniform, daneben Andreas. Er hat die Ellbogen auf
der Tischplatte, stützt seinen großen Kopf auf den Handrücken,
die Gabel hängt ihm aus der Faust. Eigentlich ist eine solche
Haltung bei uns verboten, aber unser Vater weist ihn heute
nicht zurecht. Andreas’ Blick richtet sich auf unsere Mutter, die
neben ihm sitzt und die etwas sieht, das wir alle nicht sehen. In
ihrem Gesicht bahnt sich etwas an, ohne dass man die
Veränderung schon beschreiben könnte. Neben ihr, am
Kopfende, sitzt mein Vater, wunderbar sanft und in sich
gekehrt. Daneben, meiner Mutter gegenüber, bin ich. Das ist
der ganze Kreis.
Einer fehlt.
Ich weiß, dass ich noch einen Bruder hatte. Ich war
anderthalb, als er starb. Ich kenne ihn nur aus den Geschichten
der anderen. In meiner Wahrnehmung ist er eine einzige Er-
zählung, unterstützt durch sein Foto auf dem Bücherschrank,
ein professionelles Porträt aus einem Fotogeschäft in
Bückeburg. Rundes, hellwaches Lausbubengesicht im
Halbprofil. Er zieht die Backen nach innen, weil er sein Lachen
verstecken will. Seine Augen explodieren förmlich vor Lust. Ja,
man kann das Foto nicht sehen, ohne ebenfalls zu lachen.
Rainer hat gemeinsam mit Werner eine Handgranate im
Bückeburger Palaisgarten gefunden. Sie haben das Ding nach
Hause getragen, auf eine Stufe der Sandsteintreppe vor der
Haustür gelegt, und Rainer, der zwei Jahre jünger ist als
Werner, soll gesagt haben: Wer mir dieses Ding aufmacht,
kriegt von mir einen Groschen. Es war aber niemand da, der
das Ding aufmachen wollte.
Dann mach ich es eben selber, hat er gesagt, bevor er einen
Krocketschläger in die Hände nahm und auf die Granate
einschlug.
Bis hierher kommen meine Eltern, wenn sie am Tisch von
Rainers Tod erzählen wollen. Dann brechen sie ab. Sie schaffen
es nie bis ans Ende.
Unsere Mutter versucht es trotzdem. Aber der
Erinnerungsschmerz krallt sich in ihr Gesicht, zerrt an ihrem
Kinn, ihren Wangen, ihrer Stirn, und durch die Wege ihrer
Falten rinnen immer neue Tränen.
Sie schützt ihr Gesicht nicht mit den Händen, sie dreht sich
nicht weg. Sie schaut mit nassen Augen an uns vorbei. Ihr
Körper hält mit großer Anspannung den Schmerzwellen stand,
ihr Brustkorb zittert, und ihre Hand greift nach der meines
Vaters, dem jetzt auch die Tränen runterlaufen. Er hat die Brille
abgenommen, unter buschigen Augenbrauen liegt die dunkle
Schönheit seines Blicks. Auch er schaut zwischen uns hindurch,
und ich erschrecke vor der Leere in seinem Gesicht. Ich denke,
ich kenne ihn doch. Aber ich sehe einen fremden, alten Mann.
Die Geräusche ihres Weinens sind leise. Ein kurzatmiges
Wimmern meiner Mutter, ein langgezogener, tiefer, fast
singender Ton meines Vaters. Sie nehmen sich Zeit.
Meine Aufmerksamkeit ist geteilt. Links neben mir sitzt
Werner. Er war doch beteiligt an dem Unfall! Er ist doch eine
Hauptfigur dieser Geschichte! Sie haben die Granate zu zweit
gefunden und nach Hause gebracht. Bei der Explosion ist er
schwer verletzt worden. Davon zeugen jetzt noch ein paar
Narben an seinem Knie. Warum sprechen unsere Eltern ihn
nicht an? Warum fragen sie ihn nichts? Warum sagt auch er
von sich aus nichts? Sein Ausdruck bleibt rätselhaft. Er schaut
meine Eltern an wie eine Sphinx. Er ist ein einziges Geheimnis,
ein verschnürtes Paket, das an unserem Tisch sitzt.
Auch Martin sagt nichts. Er setzt, so scheint es mir, unseren
Eltern etwas trotzig den Ausdruck von Stabilität und Kraft
entgegen. Wer weiß, wie es in ihm aussieht. Er war an diesem
Katastrophentag ungefähr so alt wie ich jetzt. Mal heißt es, er
war an dem Nachmittag im CVJM, dann wieder, er war auf
einer Geburtstagsfeier bei den drei Dürrkopp-Kindern. Warum
waren Werner und Rainer nicht auch auf dem Geburtstag? Die
waren doch auch mit denen befreundet! Warum sind Werner
und Rainer allein durch den Palaisgarten gestreift?
Weil unsere Mutter gesagt hat, dass immer nur einer von
ihnen zum Kindergeburtstag gehen kann. Deshalb. Sie essen
sonst zu viel. Sie sind ja Flüchtlingskinder und haben immer
Hunger.
Aber darüber wird nicht gesprochen. Vielleicht, weil alle
fühlen, dass das für unsere Mutter unerträglich sein muss. Es
ist passiert, als sie ihren Nachmittagsschlaf gemacht hat. Unser
Vater war nicht da. Er arbeitete in Hamm, am
Oberlandesgericht, und kam erst abends zurück.
Andreas’ Augen sind immer größer geworden, das Weinen
seiner Mutter löst ein ungläubiges Staunen in ihm aus.
Nach einer Weile beruhigen sich unsere Eltern, und sie
versuchen nun doch, ein paar Geschichten über Rainer
loszuwerden.
Ja, lacht unser Vater plötzlich, weißt du noch – offensichtlich
spricht er nur mit seiner Frau –, weißt du noch, Rainer konnte
so schnell rechnen, dass er die zweite Klasse überspringen
durfte und in Werners Klasse kam. Und auch dort verblüfft er
alle wieder mit seiner Geschwindigkeit. Er begreift so schnell!
Er meldet sich pausenlos und schnippt schon mit den Fingern,
bevor die Lehrerin die Frage zu Ende gestellt hat. Dabei weiß er
das Ergebnis noch gar nicht! Und wenn er drankommt,
überbrückt er die Sekunden, die er noch zum Rechnen braucht,
indem er ganz schnell die Aufgabe wiederholt: vier mal
achtzehn, vier mal achtzehn, ach wie puppig, das ist ja puppig
leicht, vier mal zehn ist vierzig, vier mal acht ist
zweiunddreißig, vierzig und zweiunddreißig ist
zweiundsiebzig!
Und je mehr unser Vater den kleinen Rainer in seiner
Schulklasse nachspielt, desto zuverlässiger kommt das Weinen
zurück und zwingt ihn zur Pause.
Das hat uns Werner aus der Schule erzählt, sagt unsere
Mutter ganz ruhig und versucht, auch eine Geschichte zu
erzählen.
Das mit dem Ball war so typisch für Rainer, fängt sie an. Er
warf immer wieder seinen Ball von der Terrasse im ersten
Stock runter auf die Sandsteintreppe vorm Hauseingang, wo
Herr Engelhardt fegte. Unser strenger Hauswirt, der uns
ständig zur Ordnung mahnt. Aber mit Rainer ist er milder.
Rainers Charme macht ihn weich. Also wirft er den Ball zu ihm
zurück. Und Rainer wirft ihn wieder runter. Vielleicht will er
den Besen treffen. Irgendwann wird Herr Engelhardt
ungeduldig: Rainer, wenn du jetzt noch einmal den Ball
runterwirfst, musst du mir zehn Pfennig aus deiner Spardose
zahlen! Rainer überlegt kurz und ruft: Darauf soll’s mir nicht
ankommen! Und wirft den Ball wieder runter.
Wir machen ein kurzes, zustimmendes Geräusch, das
ausdrücken soll, dass wir das auch lustig finden. Wir kennen
alle Geschichten über Rainer, aber wir hören immer wieder
aufmerksam zu, als könnte zwischen den Sätzen noch eine
neue, unbekannte Information aufblitzen.
Plötzlich erstarrt unsere Mutter, hält sich die Hand vor den
Mund, es schüttelt sie. Offenbar sieht sie wieder etwas Neues
vor sich: Warum hab ich das bloß gemacht? Warum hab ich ihn
bloß da stehen lassen und nicht mitgenommen? Das hat mir
hinterher so leidgetan!
Unser Vater greift ihren Arm. Quäl dich doch nicht, Signe,
sagt er ganz ruhig zu ihr.
Ich halte es vor Spannung nicht aus und frage: Was war
denn?
Und aus meiner Mutter bricht heraus, nicht für mich,
sondern für die Welt, in einem Zug, fast auf einen Atem: Das
war sein letztes Weihnachten, als wir Heiligabend in die Kirche
gegangen sind, da hat er sich die Hände nicht gewaschen,
obwohl ich ihm andauernd gesagt habe: Mit den dreckigen
Händen nehme ich dich nicht mit zum Weihnachtsgottesdienst,
damit kommst du mir nicht zur Krippe! Er hat sie sich trotzdem
nicht gewaschen, also habe ich gesagt, dann bleibst du eben zu
Hause. Und auf dem Weg zur Schlosskirche habe ich mich nicht
ein einziges Mal umgedreht. Ich hab gar nicht gemerkt, dass er
hinter uns hergelaufen ist. Erst vorm Kirchenportal, mitten
unter den Leuten, als er sich an mir vorbeidrücken wollte, habe
ich ihn entdeckt und so unsanft nach draußen geschoben: Du
gehst erst nach Hause und wäschst dir die Hände! Und was hab
i c h gemacht? Gesungen, gebetet, in die Lichterbäume
geschaut und der Predigt zugehört und ihn ganz vergessen. Und
wie wir nach einer Stunde rauskommen, steht er verfroren vor
der Tür, streckt mir seine Hände entgegen und fragt: Darf ich
jetzt die Krippe anschauen?
Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist! Es war sein
letztes Weihnachten.
Unsere Mutter würgt noch gerade diesen Satz heraus, steht
auf und rennt aus dem Zimmer.
Keiner sagt etwas, alle erheben sich, jeder bringt brav seinen
Teller in die Küche. Mein Vater bereitet die Wärmflasche vor,
steht ruhig vorm Gasherd, bis das Wasser kocht, und murmelt,
bevor er geht: Den Abwasch machen wir später zusammen.
Ich mache den Abwasch aber trotzdem. Allein. Jetzt sofort.
Ich wüsste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich mache es langsam
und gründlich.
Es geht ein Riss durch das Leben unserer Eltern. Die
Geborgenheit, die unser Alltag sein will, ist nichts Sicheres.
Aber ihr Wunsch, Rainers Tod rückgängig zu machen, tut mir
gut.

Fünfundvierzig Jahre später streife ich mit Werner durch den


Bückeburger Palaisgarten.
Wo ist der Busch, wo der Baum, unter dem die Granate
gelegen hat? Als könnte ich sie dort noch entdecken, suchen
meine Augen nach der verrufenen Stelle. Ich spähe nach einem
schwarzen Fleck, auf den Werner zugehen könnte, um zu
sagen: Hier war es!
Der schlendert aber wie unbeeindruckt neben mir her,
schlaksig, einen guten Kopf größer als ich, das dichte, schwarze
Haar aus der Familie meines Vaters inzwischen vollständig
versilbert. Generalstabsmäßig überblickt er den Park nach
allen Seiten: Ja. Hier muss es irgendwo gewesen sein.
Aber wo, denke ich, wo?
Das sieht jetzt alles ein bisschen anders aus, meint er. Ich
glaube, es gab einen Zaun um den ganzen Garten. Man durfte
hier nicht rein. Aber irgendwo war ein Loch, da sind wir durch.
Wir haben viele Sachen gefunden, die wir gut brauchen
konnten. Besteck. Tassen. Teller. Einen Ball, aus Stoff und
Lederresten zusammengenäht, ein unförmiges Ding, das kaum
rollte. Damit haben wir Nachmittage lang Fußball gespielt, mit
den drei Dürrkopp-Kindern. Bei denen Martin zum Geburtstag
war, als ich mit Rainer hier rumgestreift bin.
So wie wir jetzt, denke ich und schaue ihn von der Seite an.
Wir waren die Flüchtlingskinder, sagt er. Uns konnte man in
diesem verschlafenen Städtchen leicht erkennen, wir sahen
anders aus. Weil wir kein Badezimmer hatten, durften wir
einmal in der Woche unten bei Engelhardts die Wanne
benutzen. Das war nicht selbstverständlich. Was, Flüchtlinge
baden auch? Haben die ganz naiv gefragt. War nicht böse
gemeint. Die konnten sich das einfach nicht vorstellen.
Flüchtlinge waren nicht beliebt. Die haben uns ja die zwei
Zimmer, in denen wir wohnten, nicht freiwillig gegeben. Wir
wurden denen zugeteilt, fertig. Zwei Zimmer mit einer
Kochplatte und Wasseranschluss.
Eine vollkommene Idylle, denke ich, wenn ich mich umsehe:
das Barockpalais aus Sandstein, die geschwungenen
Freitreppen, der Schlossteich, der wilde Park mit den
gewaltigen Kastanien.
Hier ist Rainer mal ins Wasser gefallen und wäre fast
ertrunken, sagt Werner. Martin und ich wussten nicht, was wir
machen sollten, und haben nur geschrien wie am Spieß.
Plötzlich ist ein Engländer aufgetaucht, ein Soldat. Der ist mit
Riesenschritten auf uns zugestürzt, konnte gerade noch Rainers
Kopf sehen und hat ihn aus dem Teich gezogen.
Die Geschichte kenne ich. Hier ist also der Ort, der dazu
passt.
Als ob sich der Krieg mit seinem langen Arm Rainer
unbedingt noch holen wollte, sage ich.
Denkt man jetzt, sagt Werner. Eigentlich haben wir so ein
Glück gehabt: Bis auf Papas Mutter, die nicht mehr mit auf die
Flucht wollte und in Königsberg beim Angriff der Briten
verbrannt ist, haben wir alle überlebt. Wir sind rechtzeitig
geflohen. Überall haben uns die Verwandten aufgenommen.
Inzwischen laufen wir die Parkstraße entlang. Werner gibt
die Richtung vor. Plötzlich bleibt er stehen.
Das Haus war es. Er zeigt auf ein aufwendig renoviertes
Gebäude aus der Gründerzeit. Hellroter Klinker, mit einem
Spitzdach und einer breiten Einfahrt.
Wir stehen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und
starren auf dieses Haus, das mit uns etwas zu tun haben soll
und das jetzt ein unbekanntes Leben umschließt. Eigentlich
schauen wir nur auf die fünf Stufen der Sandsteintreppe, die
zum Eingang führen.
Komm, sagt Werner, wir gehen da mal rein. Ist ja kein Tor
vor der Einfahrt. Da oben auf dem Balkon stand dein
Kinderwagen. Da warst du drin.
Das beeindruckt mich. Es ist eher eine kleine Terrasse als ein
Balkon. In meiner Vorstellung richte ich mich da oben gleich
mit dem Kinderwagen ein. Jetzt bin ich Teil der Geschichte. Ich
gehöre dazu. Ich bin dabei.
Werner steht an der Eingangstreppe, und seine Cellisten-
Hände tasten über die Stufen. Hier, auf diese oder auf diese
Stufe hat Rainer die Granate gelegt. Und gesagt, wer mir das
Ding aufmacht, kriegt zehn Pfennig. Dann hat er den
Krocketschläger geholt und draufgeschlagen. Vorsichtig bin ich
ein kleines Stück zur Seite gegangen. Dann hat mich eine
Druckwelle erfasst und weggeschleudert. Hierhin.
Werner geht an die Seite der Einfahrt, wo die Asphaltierung
aufhört und das Blumenbeet anfängt. Mit sparsamen
Bewegungen deutet er die Druckwelle an. Er muss sich selbst
erst orientieren, während er erzählt.
Ich war sofort weg, sagt er. Das Erste, was ich dann
wahrgenommen habe, war die Stimme von Herrn Engelhardt.
Der muss unten aus seiner Praxis gelaufen sein. Und ganz
langsam, wie in Zeitlupe, sehe ich Mutti um die Ecke kommen.
Da, wo jetzt die Garage angebaut ist, konnte man ums Haus
gehen. Sie hielt die Hände vor der Brust, guckte nur und wagte
nicht weiterzugehen. Herr Engelhardt rief ihr zu: Einer ist tot,
und einer lebt! Den Satz habe ich gehört. Und dann bin ich
ohnmächtig geworden.
Werner macht eine Pause. Seine Erinnerung ist scharf und
pur. Seine Stimme zittert nicht, seine Augen sind trocken.
Das Erste, sagt er, was ich im Krankenhaus gesehen habe,
waren zwei Polizisten in Zivil, die an meinem Bett standen und
mich ausfragten. Bis sie genug wussten und wieder weggingen.
Hast du schlimme Schmerzen gehabt?
Kann ich mich nicht erinnern. Wahrscheinlich schon.
Und Mutti und Papa?
Sie werden irgendwann gekommen sein. Ja sicher. Die
werden schon gekommen sein. Als Papa abends mit dem Zug in
Bückeburg ankam und die Bahnhofstraße entlanglief, ist ihm
ein Kind aus der Nachbarschaft entgegengelaufen und hat
geschrien: Rainer ist tot! Rainer ist tot!
Das sind diese Sätze, die man ein Leben lang wiederholt,
wenn man ein Ereignis nicht fassen kann.
Verloren stehen wir noch eine Weile herum.
Ich habe ihn noch einmal gesehen, sagt Werner. Da, vom
Beet aus, wo ich gelegen habe. Rainer stand an der Treppe, hielt
sich den Bauch und wankte in Richtung Straße. Da ist er
zusammengebrochen.
Ich bekomme eine Wut auf dieses Haus in der Sonne, das so
harmlos tut, als hätte es keine Geschichte. Am liebsten würde
ich Sturm klingeln und sagen: Schönen guten Tag, wir sind ein
Teil dieses Hauses. Und ohne zu fragen eintreten und auf die
kleine Terrasse im ersten Stock gehen, wo mein Kinderwagen
stand.
Wir schauen uns an, nicken uns zu, eigentlich können wir
jetzt gehen.
Mutti hat erzählt, sie hat in einem Auto gesessen und Rainer
auf dem Schoß gehabt. Ein zuckendes Bündel. Ein zuckendes
Menschenbündel. Sein Herz hat noch geschlagen. Hat sie
gesagt. Und irgendwann bewegte sich nichts mehr in meinen
Armen, da war alles reglos auf meinem Schoß.

Und immer wieder vergisst man jemanden. Was war mit


Martin? Der muss doch an diesem Tag auch nach Hause
gekommen sein!
Ich habe ihn mal gefragt nach diesem Moment.
Ich kann mich nur an die Nächte erinnern, hat er gesagt, an
dieses verzweifelte Weinen unserer Mutter, das nie aufhörte in
der Nacht, und die unermüdlichen Versuche unseres Vaters, sie
zu trösten.
Das hörte nicht auf. Jede Nacht. Nur eine dünne Wand
dazwischen. Daran kann ich mich erinnern. Weil ich nicht
einschlafen konnte. Irgendwann haben sie mich zu den
Verwandten nach Hamburg gegeben.
Traum von meiner Mutter
Seit sich die Welt so rührend um mich kümmert, seit ich
gebeten werde, wegen der Pandemie die Wohnung nicht zu
verlassen, zu meinem Schutz, altere ich im Zeitraffer. In
meinen Träumen, die jede Nacht ihre Netze auswerfen, tauchen
neuerdings meine Eltern als zuverlässiger Beifang auf.
Ich träume, dass sie verlorengegangen sind, irgendwo im
Chaos der Welt. Sie irren umher und suchen mich verzweifelt.
Und träumend quält mich der Gedanke, dass sie nicht
zurückfinden können, weil sie die Orientierung verloren
haben.
Vielleicht hat sich ihr altes Zuhause auch aufgelöst, vielleicht
wissen sie einfach nicht, wo ich bin und wo sie mich suchen
sollen.
Oder sie denken, ich will sie nicht mehr sehen. Und so haben
sie mich abgeschrieben, traurig, achselzuckend,
schicksalsergeben. Langsam haben sie sich an den Gedanken
gewöhnt, dass Kinder irgendwann von ihren Eltern nichts mehr
wissen wollen. Das ist wohl der Lauf der Welt, trösten sie sich
gegenseitig.
Plötzlich nimmt der Traum eine Wendung, und ich treffe sie
wieder. In absoluter Fremde finde ich wie durch Zufall das
billige Hotelzimmer, in dem sie leben. Ich betrete es, aber sie
sind ausgeflogen.
Ich finde Spuren: eine Handtasche meiner Mutter, Schuhe
unterm Bett, die mir bekannt vorkommen, eine Jacke meines
Vaters überm Stuhl. Überglücklich gehe ich nebenan auf die
Toilette.
Da höre ich die Tür. Ich unterbreche den Druck der Blase,
ziehe in Windeseile die Hose hoch, stürze ins Zimmer und sehe
meine Mutter in ihrem Staubmantel vor dem geöffneten
Hotelschrank stehen. Sie scheint etwas zu suchen.
Sie ist zurückgekommen! Aus dem Wirrwarr der Welt ist sie
in ihr Hotelzimmer zurückgekommen! Sie wohnt hier
tatsächlich. Vielleicht sogar mit meinem Vater. Und ich bin
auch hier. Ich habe das Zimmer gefunden. Ein kleines
Hotelzimmer unter den Billionen von Zimmern, die es auf
dieser Welt gibt. Was für ein unfassliches Glück.
Sie dreht sich um, hat mich gehört, ich sehe ihr erstauntes,
mädchenhaftes Gesicht, das in der langen Zeit, seit ich sie
vermisse, eher jünger geworden ist.
Bist du da, sage ich leise.
Sie freut sich, aber sie ist gar nicht mal so überrascht. Eine
sanfte Freundlichkeit schimmert auf ihrem Gesicht, und mir
wird bewusst, dass dies das Wertvollste, Schönste ist, das ich je
kennengelernt habe. Aber die Freundlichkeit bleibt bei ihr, sie
wiegt sich in den Zügen ihres Gesichts, sie reicht nicht bis zu
mir. Die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz
und können diesen Ausdruck nicht bis in mein Herz tragen.
Wie schön, sagt sie. Hast du uns endlich gefunden.
Du hast mich doch geboren!, entfährt es mir, und ich denke
noch: Was für ein dummer Satz.
Doch sie schüttelt den Kopf. Oder vielleicht sind es nur ihre
Augen, die sagen: Nein, nein. Das ist ein Irrtum. Ich habe
niemanden geboren.
Und dann redet sie von meinem Vater und sagt, er komme
sicher jeden Moment zur Tür herein: Ich hole ihn und erzähle
ihm, dass du da bist. Er wird sich so freuen.
Und dann geht sie hinaus, bevor ich sagen kann: Warte doch!
Ich folge ihr nicht, weil ich begreife, dass ich träume. Ich
habe sie nicht umarmt, ja, nicht einmal berührt.
Ich weiß, sie kommt nicht wieder.
Weihnachten
Meine Eltern lieben Weihnachten. Ich kann mich sehr gut
freuen. Das passt doch. Ich mache Weihnachten jetzt seit zwölf
Jahren mit. Trotz der Wiederholung ist meine Freude noch
echt. Manchmal helfe ich etwas nach.
Unsere Eltern geben sich wirklich Mühe. Sie öffnen sich,
zeigen Wärme und sind sehr zugewandt. In der Nacht vorm
ersten Advent schlagen sie unsere Stiefel, die wir vor die
Haustür stellen, mit Weihnachtspapier aus, füllen sie bis in die
Zehenspitzen mit einer Mandarine, einem Apfel, einem
Marzipanbrot, Weihnachtsgebäck und bauen für meinen
kleinen Bruder und mich je einen Adventskalender vor der
Schuhspitze auf.
Auf den Bücherschränken im Flügelzimmer reihen sie
Transparente aneinander. Überall im Raum verteilen sie
Kerzenleuchter, Engel und Hirten, ein goldenes Glockenspiel,
den duftenden Adventskranz mit straff gebügelten roten
Bändern und kleine Teller mit den ersten selbst gebackenen
Weihnachtsplätzchen. Dabei schauen sie uns schelmisch an
und nehmen unsere Freude auf wie einen Spielball.
Jedes Jahr staune ich wieder neu über die Wirkung der vom
Kerzenlicht beleuchteten Transparente. All diese andächtigen,
bunten Figuren, Maria, Joseph, die Engel, die Hirten, die drei
Könige, sind um dieses Kind in der Krippe angeordnet, dessen
Göttlichkeit sie akzeptieren. Aber erst das wacklige Kerzenlicht
dahinter scheint sie in religiöse Erregung zu versetzen.
Gottes Idee, sich in Gestalt seines Sohnes in eine Krippe zu
legen, in totaler Armut, überwölbt von einer wunderschönen
Mutter und unter den Augen eines erstaunlich sanftmütigen
Ersatzvaters, der sprachlos danebensteht, löst bei mir einen
Rausch aus. Geschenke alleine schaffen das nicht. Weder
Kasperpuppen noch Teile einer Modelleisenbahn. Und auch
nicht das Weihnachtsgebäck. Die ganze Vielfalt der Lebkuchen,
die Haselnussstängchen, die Prager Kuchen, das mit Zitronat
versetzte Schokoladenkonfekt, sind erst durch ihren
Zusammenhang mit der Weihnachtsgeschichte mehr als eine
normale, klebrige Süßigkeit. Der Biss in die Plätzchen mit ihrer
speziellen Gewürzmischung schmeckt nur so gut, weil die
Frage, wie Gottvater und Sohn dieselbe Person sein können,
immer mitgekaut wird.
Den entscheidenden Schub geben mir die am Abend
mehrstimmig gesungenen Weihnachtslieder, meistens begleitet
von Klavier, Geige oder Flöten. Ich singe keinen Alt, keine
zweite Stimme, sondern nur Sopran, also Melodie.
Bei meinem Lieblingslied «Ich steh an deiner Krippen hier»
komme ich mühelos in die Höhe, genieße den Diskant und
schneide messerscharf die Töne heraus. Tief unter mir
mäandern die Harmoniefolgen am Klavier und der Bass meines
Vaters, manchmal unterstützt von meinen Brüdern,
dazwischen etwas unsicher die Geige meiner Mutter. Solange
ich so singen kann, reicht das Weltall von den Sternen bis in
jede Zelle meines Körpers hinein.
Noch vor meiner Schulzeit hat man mich einmal in eine
Narkose versetzt, ich glaube, mit Äther, den man mir durch ein
Sieb ins Gesicht gespritzt hat. Wucherungen aus Nebenhöhlen
und Rachen mussten entfernt werden. In diesem Tiefschlaf
hielt mich ein einziges Bild gefangen. Ich lag auf Wüstensand
und schaute in den nachtblauen, von Sternen übersäten
Himmel. Sonst war nichts. Aber der Weltraum war erfüllt: von
Glück.
In dieser Stimmung gleite ich durch die Adventszeit auf den
Weihnachtsgottesdienst zu, am 24. Dezember um 16 Uhr in der
Gefängniskirche. Das ist das Ziel. Die Gefangenen haben
brennende Kerzen vor sich auf der Kirchenbank. Mein Bruder
Martin sitzt uns im Rücken und lässt die Orgel rauschen. Er
zieht alle Register, die das Instrument hergibt. Vor uns am Altar
strahlen zwei deckenhohe Weihnachtsbäume, und wenn dann
die vierhundert Jungs in «O du fröhliche» einfallen, dann ist
Weihnachten bei mir angekommen. Der Gesang hat eine solche
Gewalt, dass wir uns alle mit glänzenden Augen ansehen. Wo
man hinschaut, schimmern Tränen.
Dann liefert unser Vater seine Weihnachtsansprache ab,
über die er sich die Woche zuvor das Hirn zermartert hat. Er
fängt an wie immer: «Liebe Jungs!», und sein leitender Gedanke
ist trostreich, im Sinne von «Das wird schon wieder». Gott
reicht seinen Gefangenen die Hand, sie sollen gewiss sein, dass
er sie nicht im Stich lässt, und wenn sie gleich in ihre Zellen
zurückgehen und ihre kleinen Pakete aufmachen, sollen sie
spüren, wie die Liebe ihrer Angehörigen sie auch in der
größten Einsamkeit begleitet. Sie sollen gewiss sein, dass sie mit
Gott einen neuen Anfang machen können. Dass man sein Leben
ändern kann. Dass Gott an sie glaubt und deshalb seinen Sohn
in der Krippe geschickt hat. Und dass auch er, mein Vater, an
sie glaubt, ebenso wie alle seine Mitarbeiter, und dass sie
gemeinsam jedem von ihnen helfen werden, wieder Fuß zu
fassen in diesem Leben, das auch andere, schönere Seiten für
sie bereithält.
Wenn mein Vater fertig ist und seine Rührung bis zum
Schluss zurückgehalten hat, singen alle «Stille Nacht, heilige
Nacht». Das ist noch mal eine Steigerung. Sobald die
vierhundert Stimmen raufrutschen müssen, um «Alles schläft,
einsam wacht» zu singen, entlädt sich ein solcher
Massenseufzer hin zur Gnade Gottes, dass ich gleichzeitig
heulen und lachen könnte.
Dann beginnt ein endloses Händeschütteln mit den
Mitarbeitern unseres Vaters, während Martin die Orgel noch
mal brausen lässt und die Strafgefangenen Bank für Bank
abrücken in ihre Zellenflure.
Ich bin so erfüllt von Gottesgegenwart, dass ich nicht
verstehen kann, warum es nicht allen anderen genauso geht.
Wenn der Anstaltspsychologe mit seinen dicken Brillengläsern
auf uns zuwatschelt und uns verschmitzt zuruft: Na? Auch
bekehrt?, frage ich mich, warum er nicht spürt, dass diese
Nacht eine ganz andere ist, dass Gottes unendlicher Atem in
diesem kalten Dezemberwind weht und uns hält, tröstet,
Hoffnung macht und uns die Todesfurcht nimmt, dass die
Geborgenheit, die er uns anbietet, unfassbar, ja
schwindelerregend ist.
Vielleicht bin ich zu euphorisch. Wahrscheinlich ist meine
Fontanelle noch nicht ganz zugewachsen. Meine Hirngrütze,
die ich da oben in meiner Suppenschüssel balanciere, ist sehr
empfänglich für alle vorstellbaren göttlichen Strahlen und
Einflüsse.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch ist nicht Heiligabend. Der
Start in die weihnachtliche Narkose war diesmal holprig. Heute
ist Nikolaus, und als ich gestern in die Küche komme, um meine
Stiefel zu putzen, steht unsere Mutter weinend am Fenster. Sie
hält mir zerbrochene Holzschafe entgegen, ihre Mundwinkel
zittern.
Ich sehe sofort: Krippenfiguren. Ich habe sie nicht beschädigt
und betrachte meine Mutter daher mit neutraler Neugierde.
Offenbar ist niemand außer uns beiden zu Hause. Ich bin ihr
einziges Publikum. Sie möchte erzählen. Ich fühle mich geehrt.
Sie kann aber nur in Bruchstücken berichten: Ich habe sie
wieder nicht geschafft. Zum vierten Mal.
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass dieser Satz
nichts mit den Schafen zu tun hat. Es muss die Fahrprüfung
sein. Sie hatte heute Termin. Es ist ihr vierter Versuch.
Schon beim letzten Mal hat der Prüfer sie begrüßt: Hallo,
Frau Selge! Wie schön. Alle Jahre wieder.
Sie ist jetzt bei zweihundertfünfundfünfzig Stunden
angekommen. Wenn sie wirklich noch mal durchgefallen ist,
wäre das eine Katastrophe. Das Ganze ist heikel. Unsere Mutter
sagt: Wenn ich die Fahrprüfung bestehe, bin ich in dieser
Familie vielleicht noch etwas wert. Natürlich ist das absurd.
Aber so sieht sie das.
Unser Vater erklärt meinen älteren Brüdern, die Art, wie
unsere Mutter sich zurzeit ausdrücke, verrate den Anfang der
Wechseljahre.
Für mich war seine Information nicht bestimmt, deshalb
konnte ich nicht nachfragen, was Wechseljahre genau sind,
welche Wirkung sie nach sich ziehen und so weiter. Jedenfalls
darf niemand in unserer Familie v o r unserer Mutter die
Fahrprüfung machen, geschweige denn die Fahrprüfung vor
ihr bestehen. Werner nicht. Mein Vater nicht. Martin ist beim
Militär, das ist eine Ausnahme. Ich bin noch keine Konkurrenz.
Das Auto ist schon seit einem halben Jahr gekauft. Es steht
ohne Nummernschild auf der Straße vor unserem Haus. Es
wird gelegentlich gewaschen, aber nicht gefahren. Nur mein
Vater dreht manchmal heimlich nachts ein paar Runden um die
Mauer seines Gefängnisses und übt Rückwärtsfahren.
Ich will meiner Mutter keinen Druck machen. Vorsichtig
kreise ich das Problem ein: Konntest du nicht einparken?
Nein! Sie schüttelt vehement den Kopf: Einparken war ganz
wunderbar. Gleich am Anfang.
Hast du die Vorfahrt nicht beachtet?
Doch. Habe ich. Bin schön langsam rangefahren, kurz
gestanden, flüssig weitergefahren.
Wir alle wissen, dass sie sich nur schleichend an
Vorfahrtsstraßen heranbewegt. Bei der letzten Prüfung ist ihr
Fahrlehrer, Herr Lauszus, ein ruhiger Schlesier, schon über
achtzig, ungeduldig geworden und hat sie in Gegenwart des
Prüfers gefragt: Wie lange wollen Sie da noch stehen? Wollen
Sie einen herbeizaubern?
Nein, sagt sie jetzt. Wunderbar. Ging tadellos. Fast zu gut.
Sie presst die Lippen aufeinander, ihre Tränen rinnen. Ich
muss ihr jeden Satz aus der Nase ziehen. Sie will es so.
Hattest du einen Unfall?
Sie nickt.
Was! Hast du jemanden überfahren?
Sie hält die Schafe in die Höhe: Alle kaputt. Alle kaputt.
Das klingt unverständlich, aber spannend.
Es war der Radfahrer, keucht sie. In der Innenstadt. Dieser
Radfahrer ist aus dem Nichts aufgetaucht.
Aha! Sie hat also einen Radfahrer überfahren.
Wie geht’s ihm?, frage ich.
Sie winkt ab. Ich habe gebremst. Schon bevor alle im Auto
geschrien haben, habe ich gebremst. Ich habe alles richtig
gemacht. Und dann ist es passiert. Plötzlich war ich im
Schaufenster. Ausgerechnet im Handarbeitsladen.
Das ist ja Wahnsinn, denke ich. Das ist ja brachial.
Mit dem Kühler durch die Scheibe?, frage ich.
Sie nickt, macht eine hilflose Bewegung mit den Schultern
und presst wieder die Lippen aufeinander.
Hoffentlich steht das morgen nicht in der Zeitung, denke ich.
Wenn das meine Mitschüler erfahren, habe ich einen schweren
Stand. Jetzt kann ich auch die Schafe einordnen. Der
Handarbeitsladen ist ihr Lieblingsgeschäft. Dort gibt es die aus
Olivenholz geschnitzten Krippenfiguren, die sie so mag. Jedes
Jahr kauft sie da einen neuen Hirten, ein neues Schaf, ein
Kamel oder einen neuen heiligen Dreikönig hinzu. Stück für
Stück. Diese Krippenfiguren hat es schon vorm Krieg in
Königsberg in Ostpreußen gegeben. Wir haben einen knienden
Hirten, der sogar die Flucht mitgemacht hat. Der
Handarbeitsladen ist das Geschäft, das im Dezember im
Zentrum unserer Geldausgaben steht. Hier kommt der ganze
Weihnachtsschmuck her, Transparente, Kerzenleuchter, Bie-
nenwachskerzen, Tischdecken, Stoffservietten; alles, was schön
ist und Bedeutung hat und festlich ist.
Wie kann man da reinfahren?
Nicht ich, sagt sie. Ich habe nichts gemacht. Gar nichts. Das
Auto hat einen Satz gemacht. Der Prüfer hat geschrien: Sehen
Sie den Radfahrer nicht? Herr Lauszus hat geschrien: Fahren
Sie zur Seite! Sonst muss ich eingreifen. Dann fallen wir wieder
durch.
Meine Mutter steht plötzlich wie eine Tragödin in der Küche,
mit geweiteten Augen, hält ihre Schafe hoch und ist jetzt ganz
in der Situation.
Ich b i n zur Seite gefahren! Ich habe das Auto auf den
Bürgersteig gerissen. Ich stand bereits. Quer. Es war kein
Fußgänger da. Es war alles gut. Ich bin rechtzeitig
ausgewichen. Ich habe den Radfahrer nicht angefahren.
Obwohl er schuld war. Herr Lauszus hat mich gelobt: «Das hat
sie doch prima gemacht!», hat er zum Prüfer auf der Rückbank
gerufen. Es war alles gut. Nur der Motor lief noch und heulte.
Das hat den Prüfer gestört, und er hat geschrien: Fuß vom Gas!
Meine Mutter bekommt jetzt was von einer Furie.
Ich hatte den Fuß gar nicht auf dem Gas! Sonst wären wir ja
nicht gestanden. Ich hab den Fuß zurückgerissen. Es war nicht
das Gas, es war die Kupplung. Und da hat das Auto einen Satz
gemacht. Ins Schaufenster.
In die Dekoration?, frage ich.
Sie nickt ernst: In die Krippe.
Dass sie wahrscheinlich vergessen hat, den Gang
rauszunehmen, sage ich ihr nicht. Stattdessen nehme ich sie in
den Arm. So gut ich das kann. Vorsichtig. Ich habe keine Übung
darin, weinende Eltern zu umarmen, bin auch nicht unbedingt
begeistert davon, wie ich das mache, aber ich wische ihr mit
dünner Kraft über die Schultern.
Eigentlich bewundere ich sie. Das ist ja ein richtiges Ereignis!
Mit dem Fahrschulauto durch das Schaufenster in sein
Lieblingsgeschäft zu fahren. Dabei eine Krippe umzustürzen.
Und das einen Tag vor Nikolaus! Ich finde das ungeheuer
kraftvoll und für meine zarte Mutter sehr ungewöhnlich.
Sie sagt: Ich bin sofort ausgestiegen. Ich hab schon gesehen,
dass Herr Lauszus und der Prüfer sich die Hände vors Gesicht
hielten. Die schämten sich für mich. Sollen sie doch! Ich bin in
den Laden gegangen. Alle Kundinnen und die Verkäuferin
haben mich angeschaut, als sei ich ein Schreckensengel. Ich bin
ins Schaufenster gestiegen und habe mich in die Scherben
gekniet. Habe die Schafe unter der Stoßstange hervorgeholt. Die
Krippe wieder aufgestellt. Dann ist Fräulein Butgereit
gekommen und hat mich getröstet: Frau Selge, lassen Sie das
doch! Schneiden Sie sich bloß nicht. Wollen Sie ein Glas
Wasser? Nehmen Sie die Schafe ruhig mit. Die können wir nicht
mehr verkaufen.
Jetzt stürmt mein Vater ins Haus.
Ich weiß alles, ruft er schon vom Flur her. Herr Lauszus hat
mich angerufen.
Er kommt in die Küche, drängt mich von seiner Frau weg,
obwohl ich ihm sofort Platz gemacht habe, umarmt sie: Signe,
Liebste! Er wiegt sie hin und her. Wir lassen uns doch nicht
entmutigen!
Er hat seine Hand in ihren Haaren. Seine Stimme strahlt
männliche Trostkraft aus.
Nach Weihnachten nimmst du noch mal ein paar Stunden,
und im Frühjahr, sollst du mal sehen, schaffst du die Prüfung.
Er zieht meine Mutter unnatürlich nah an sich heran. Dabei
schaut er sich nach mir um wie nach etwas Überflüssigem.
Also verziehe ich mich. Meine Mutter braucht mich nicht
mehr. Mache ich mal einen kleinen Spaziergang zum
Handarbeitsladen. Den Tatort anschauen. Die Gegend kenne ich
gut, Elisabethstraße, eigentlich eine einzige Kurve. Schöner Teil
von Herford. Auf der einen Seite fließt die Aa. Wichtigstes
Gebäude hier ist das Kino, das Capitol, direkt neben dem
Handarbeitsladen.
Es ist kein Mensch mehr da. Die Geschäfte sind schon
geschlossen. Nur das Kino leuchtet. Die unterschiedlichen
Rottöne aus dem Kassenraum reichen bis auf die Straße.
Sofort fällt mir das dramatische Plakat von «Einer kam
durch» mit Hardy Krüger auf. Ein Kriegsfilm. Vor drei Jahren
ist er rausgekommen. 1957. Bist du endlich da!, denke ich und
schaue Hardy Krüger an.
So lange dauert es, bis ein guter Film Herford erreicht. Das
ist das Elend in einer Kleinstadt. Meine Vettern aus Berlin
haben mir davon erzählt. Die Handlung spielt 1940. Ein
deutscher Pilot wird von den Tommys abgeschossen, rettet sich
mit abenteuerlicher Bruchlandung auf einem Feld, wird von
der Miliz gefasst und verhört, macht einen Fluchtversuch nach
dem anderen, bis es klappt und er zurück nach
Nazideutschland kommt. Die Briten haben sich gerühmt, dass
man aus ihren Lagern nicht ausbrechen kann. Aber der
Deutsche hat’s geschafft! Dann steigt er erneut in eine
Messerschmitt mit Hakenkreuz, macht wieder Jagd auf die
britische Luftwaffe und stürzt mit einem Motorschaden in die
Nordsee. Das Meer gibt ihn nicht mehr her.
Diesen Film will ich auf keinen Fall verpassen. Mir ist schon
«So weit die Füße tragen» durch die Lappen gegangen, weil wir
keinen Fernseher haben. Das darf nicht noch mal passieren. Ich
muss das sehen. Ich will den Raum spüren, aus dem die
Erwachsenen kommen.
Der Krieg ist die Zeit, wo alles passiert ist. Alle zehren vom
Krieg. Alle beziehen ihre Kraft aus dieser Zeit. Auch wenn sie
sich davon abstoßen. Nur ich habe keine Erinnerungen.
Niemand redet genau über die Abläufe damals. Jedenfalls nicht
Schritt für Schritt. Nicht in einer Reihenfolge, die einen Sinn
ergibt.
Wo kriege ich bloß das Geld für diesen Film her?
Ich kann gar nicht weggucken von dem Plakat: das lauernde
Gesicht Hardy Krügers mit der Pilotenkappe, das Hakenkreuz
auf dem Flieger im Hintergrund. Mir kommt vor: Das sind wir.
Das ist Deutschland. Immer auf dem Kiwief. In Deckung, aber
auf dem Sprung. Ich muss die ganze Geschichte sehen, die
dazugehört.
Einen halben Meter neben dem Plakat ist das
Handarbeitsgeschäft. Das Schaufenster sieht aus wie ein
Mosaik. Teilweise Bretter, teilweise Glas. Alles
zusammengehalten von Paketklebestreifen. Ich schaue durch
ein Scheibensegment. Sieht gut aus dahinter. Die Krippe. Maria
und Joseph. Einige Hirten. Wenige Schafe, aber Ochs und Esel
sind vollständig. Strohsterne. Weihnachtsschmuck,
Transparente, Kerzenleuchter, Stoffservietten mit Emblemen
von Tannenzweigen. Weiße Tischdecken mit eingestickten
roten Kerzen. Die ganze Auslage sieht ansprechend aus. Nur die
Scheibe selbst macht einen wüsten Eindruck, wie nach einem
Einbruch. Das zahlt wahrscheinlich die Versicherung der
Fahrschule. Wird nicht billig. So wenig, wie ich Hardy Krüger
bin, kann ich mir vorstellen, dass meine Mutter durch diese
Scheibe gefahren ist.

Beim Abendbrot erzählt mein Vater: Herr Lauszus hat noch vor
dem Ersten Weltkrieg einem Prinzen aus der Kaiserfamilie
Fahrunterricht gegeben. Es ist ein Glück für Herford, dass es
ihn hierher verschlagen hat. Er hat mir versprochen: Ich gebe
Ihnen mein Ehrenwort, Herr Doktor, ich werde nicht sterben,
bevor Ihre Frau die Fahrprüfung bestanden hat. Sie fährt
hervorragend, aber sie ist eben kein Prüfungsmensch.
Meine Mutter nickt.
Mein Vater ist noch im Dialog mit dem Fahrlehrer: Ich bin
ein Prüfungsmensch, habe ich Herrn Lauszus gesagt, darauf
können Sie sich verlassen. Bei mir holen Sie alles wieder rein.
Ich brauche nur fünfzehn Stunden. Aber ich mache meine
Fahrprüfung erst, wenn meine Frau bestanden hat. Das ist so
abgemacht.
Meine Mutter weiß nicht, wo sie hingucken soll. Ich bin eben
langsam, sagt sie und schaut zu Andreas an ihrer rechten Seite.
Sie streichelt seinen Arm. Wir beide sind eben langsam.
Andreas weiß nicht so recht, wie ihm geschieht.
Ihr seid die Schnellen. Dabei schaut sie mich und meinen
Vater an.
Langsam muss nicht schlecht sein. Sagt mein Vater. Langsam
heißt gründlich. Du bist viel gründlicher als wir. Dabei wirft er
mir einen strengen Blick zu.
Ich denke: Langsamkeit hält auf. Aber das sage ich natürlich
nicht.
Mein Vater nickt vor sich hin: An die dreihundert Stunden
werden wir wohl rankommen. Nach Einschätzung von Herrn
Lauszus. Das ist uns egal, habe ich ihm gesagt.
Die Züge seiner Zielstrebigkeit werden jetzt erkennbar. Die
sind irgendwann dazugekommen, denke ich. Sicher bald nach
seiner Schulzeit, als seine beiden Brüder gefallen und sein
Vater ausgezogen ist, er Geld verdienen, sich zugleich ausbilden
und um seine Mutter kümmern musste. Als ob er seitdem einen
Prozess gegen das Leben führt.
Soll ich jetzt ins Kino gehen, oder soll ich einfach nicht ins
Kino gehen? Meine Eltern brauche ich gar nicht zu fragen. Vor
Weihnachten kommt kein Kino in Frage.
Neben mir sitzt Werner. Er sagt nichts, hat Mitleid mit
unserer Mutter, andererseits würde er endlich gerne
Fahrstunden nehmen. Das spürt man.
Vor dem Essen habe ich, als er auf der Toilette war, in sein
Portemonnaie geschaut. So ein kleines, vom ewigen Sitzen am
Cello plattgedrücktes Ding. Es schmatzt richtig, wenn man es
auseinanderklappt. Da ist eine D-Mark drin, bei den Münzen,
die würde ich brauchen, an die Scheine gehe ich natürlich
nicht. Das müsste ich morgen Nachmittag machen.
Fünfzig Pfennig habe ich selber. Das ist so beschämend, so
kläglich. Seinen Bruder zu bestehlen, ist einfach scheiße. Er
wird es merken.
Sehr ernst und eindringlich sagt mir eine innere Stimme:
Dieser Film ist für dich persönlich gedreht worden. Damit du
ihn siehst. Hier sind alle wichtigen Informationen über den
Krieg beisammen, über Kameradschaft, über die
unzerstörbaren Kräfte von uns Deutschen. In diesem Film geht
es um etwas, das uns niemand wegnehmen kann. Das kann dir
nur Hardy Krüger erzählen. Und die Engländer, die mit ihm
zusammenspielen, geben ihm recht. Dieser Film wird dir
bestätigen, dass wir Deutschen einzigartige Qualitäten haben:
Mut, Stolz, Durchhaltewillen, Raffinesse.
Nachts wache ich immer wieder auf, weil ich die Soldaten in
diesem Film bereits miteinander sprechen höre. Ich bin nur
nicht dicht genug dran und kann ihre Worte nicht verstehen.

Ich weiß, es ist nicht gut, zu stehlen. Das braucht mir niemand
erzählen. Es ist nicht gut, seinem Bruder eine Mark aus dem
Geldbeutel zu klauen. Wer das nicht begreift, dem fehlt jedes
moralische Grundverständnis. Mir ist jedenfalls vollkommen
klar, dass man das nicht machen darf. Mich braucht auch
niemand zu verprügeln oder zu ohrfeigen, um mir das
beizubringen. Aber ich will diesen Film sehen. Und anders geht
es nicht.
Heute Nachmittag habe ich zu meiner Mutter gesagt, dass ich
zu Christian gehe, um lateinische Vokabeln zu lernen. Wir
schreiben morgen eine Arbeit. Es kann sein, dass ich etwas
später zum Abendessen zurück bin.
Als Werner eine Pause beim Üben einlegt, in den Garten
geht, ein paar Klimmzüge an der Teppichstange macht und sein
Quarkbrot isst, gehe ich in sein Zimmer und schaue nach: Die
D-Mark ist noch da. Und dann wandert sie in meine
Hosentasche.
Das ist gar nicht lange her. Drei Stunden vielleicht.
Dazwischen liegt der Film.
Von Hardy Krüger habe ich gelernt, dass kein Gefängnis
unüberwindlich ist. Man kommt überall raus. Ein Deutscher
jedenfalls. Aber man muss viel aushalten. Eine echte Spritze
voller Zuspruch und Ermutigung war das! Hat mir gutgetan.
Auf dem Rückweg vom Kino sind dann andere Bilder
stärker: Werners schwarzes Portemonnaie ohne die einsame D-
Mark zwischen dem klebrigen Leder. Wie soll ich ihn
angucken? Er wird am Tisch sitzen. Neben mir. Ich werde an
nichts anderes denken können als an diese D-Mark. Und ob er
sie schon vermisst.
Warum bin ich ein Dieb? Warum hat ein Filmplakat so eine
Macht über mich? Vielleicht geht es um etwas anderes.
Vielleicht will ich einfach Vertrauen brechen. Wenn ich genug
Geld hätte, würde ich mir dann ein anderes Verbot suchen, das
ich übertrete? Brauche ich die Übertretung? Weiß ich sonst
nicht, wer ich bin? Werde ich erst ein Mensch, wenn ich eine
Regel verletze? Bin ich ein Fallbeispiel, wie unser
Gefängnispsychologe das nennt?
Plötzlich bin ich zu Hause angekommen. Was für ein
grauenvolles Ziel, wenn man seinen Bruder bestohlen hat!
Wann werde ich endlich nicht mehr nach Hause kommen
müssen?
Im Flur höre ich schon das Gesumm am Tisch.
Ich öffne die Esszimmertür. Sie sitzen alle unter dem
warmen Licht der Lampe und löffeln Suppe. Rindsbrühe rieche
ich. Hm! Wäre das schön. Rindsbrühe zu essen, ohne gestohlen
zu haben. Auf meinem weißen, leeren Suppenteller liegt
Werners Portemonnaie. Keiner sagt was. Mir kommt vor,
bereits beim Öffnen der Tür hätte jemand noch schnell
geflüstert: Pssst, jetzt wollen wir mal sehen.
Ich bleibe vor dem Stuhl stehen, schaue auf meinen Teller
und frage blöd in die Runde: Was soll das?
Das fragen wir dich, sagt meine Mutter.
Werner zuckt die Schultern und sagt entschuldigend: Da war
heute Nachmittag noch eine Mark drin. Das weiß ich genau.
Ja und?, sage ich. Ich schaue auf das Portemonnaie. Ich fühle
mich selber wie aus Leder. Sollen sie mich doch totschlagen.
Wo kommst du her?, fragt mein Vater sachlich.
Von Christian. Wir haben Latein gemacht.
Meine Mutter blickt stöhnend zur Decke.
Mein Vater stützt sein Gesicht einen Moment lang in seine
Hände.
Warst du im Kino?, fragt er.
Ich überlege kurz und denke: Warum nicht. Lieber ein Ende
mit Schrecken. Ja, sage ich. «Einer kam durch». Mit Hardy
Krüger. Ein Kriegsfilm. Den haben alle gesehen. Ich wollte den
auch sehen.
Meine Mutter stöhnt noch einmal.
Das finde ich interessant, dass sie zweimal auf die gleiche
Weise stöhnt, egal, ob sie die Wahrheit hört oder die Lüge.
Du warst also nicht bei Christian?, fragt mein Vater.
Nein.
Du hast uns also belogen?
Ja.
Hast du aus Werners Portemonnaie eine Mark gestohlen?
Ja.
Ich weiß nicht, in welcher Sekunde mein Vater aufgestanden
ist und befohlen hat: Stell dich hin! Wann er ausgeholt hat. Ich
höre den Knall der Ohrfeige. Gut getroffen, denke ich. Im
nächsten Moment schlage ich mit dem Kopf an das
Birkenholzbuffet an der Wand und gehe zu Boden. Blitzschnell
stehe ich wieder auf den Beinen. Mein Vater sitzt schon wieder.
Setz dich hin und iss deine Suppe, sagt er.
Ich mache das. Ich setze mich hin. Jemand nimmt meinen
Teller, entfernt Werners Portemonnaie und schöpft mit der
Suppenkelle Rindsbrühe hinein. Mein Kopf dröhnt vom
Doppelschlag. Ob die Hand meines Vaters oder der Fall gegen
das Buffet schmerzhafter war, kann ich nicht entscheiden. Ich
habe kein Gefühl.
Gott sei Dank, denke ich. Endlich wissen alle Bescheid. Ich
muss an der Wirklichkeit nicht mehr rumdrücken oder
rummodellieren. Ich habe gestohlen, gelogen und diesen Film
gesehen. Die Spannung ist vorbei.
Iss, sagt mein Vater.
Ich tunke den Löffel ein und bemerke, dass meine Hand wild
zittert. Kein Tropfen Suppe würde meinen Mund erreichen.
Nimm deinen Teller und iss in der Küche, sagt mein Vater.
Ich stehe auf und will den Teller in die Hände nehmen. Das
geht gar nicht. Alle schauen zu.
Werner, trag Edgar seinen Teller in die Küche.
Werner steht auf und nimmt meinen Teller. Ich nehme den
Löffel.
Nimm dir noch eine Scheibe Brot mit, sagt meine Mutter.
Ich mache auch das und verlasse hinter Werner das
Esszimmer.
Der lange Weg über den Flur ist schön. Erlösende Schritte.
Am Küchentisch sitze ich vor meinem Teller, Werner steht
hinter mir. Nach einer Weile sagt er: Das ging leider nicht
anders. Er drückt mir kurz die Schulter.
Wird schon wieder, sagt er und verlässt die Küche.
Seine Freundlichkeit treibt mir massenhaft das Wasser aus
den Augen und den Rotz aus der Nase. Alles zusammen mit der
Rindsbrühe schmeckt salzig, aber sehr gut.

Weihnachten wird kommen wollen wie jedes Jahr. Das weiß


ich.
Ich habe dann nicht mehr abgewaschen, bin die Treppe
raufgegangen auf den Dachboden. Über unsere schöne lange
Holztreppe. Jetzt sitze ich hier. Toll, dass ich im Haus ein
Refugium habe, so weit weg von meiner Familie.
Aber ich ahne, dass das geschlossene System mit Gott nicht
mehr so wasserdicht sein wird. Weihnachten wird nur noch
daran erinnern, dass Christus auf die Welt gekommen ist. Also
theoretisch. Gott wird nicht mehr unmittelbar anwesend sein.
Wie der Unterschied beim katholischen und protestantischen
Abendmahl: Oblate und Wein werden etwas bedeuten. Aber sie
werden nicht mehr Leib und Blut Christi sein.
Traum von meinem Vater
Heute Nacht bin ich im Traum meinem Vater begegnet. Ich
bewege mich durch die Wohnung meiner Kindheit, öffne vom
Esszimmer her die Schiebetüren zum Flügelzimmer, und da
sitzt er in einem der Polstersessel, gegenüber Rembrandts
«Mann mit dem Goldhelm», der, wie man jetzt weiß, gar nicht
von Rembrandt stammt, und schaut sich das Bild an.
Bewegungslos.
Ich freue mich, ihn wiederzusehen, bleibe aber erst mal auf
Distanz und bin ganz auf sein Aussehen fixiert. Ich suche nach
Spuren von Verwesung in seinem Gesicht, finde aber nichts.
Sein silbriges Haar liegt ein bisschen lang auf den Ohren, die
Augenbrauen sind noch buschiger als früher. Seine fleischigen,
behaarten Hände hängen reglos über der Sessellehne.
Insgesamt wirkt er etwas dünner und blasser als zu Lebzeiten.
Ich selbst habe gar keinen Körper. Ich bestehe
gewissermaßen nur aus meinem Sehvermögen und schwebe
auf ihn zu wie eine Kamera.
Eine ungewöhnliche Stille geht von ihm aus und hält mich
davon ab, ihm zu nahe zu kommen.
Etwas stimmt mit seinem Anzug nicht. Das Grau ist
verblichen. Der Stoff ist durchscheinend wie Butterbrotpapier,
aber das Fischgrätenmuster ist noch deutlich zu erkennen. Ich
frage mich, ob er wirklich lebt. Nach und nach nehme ich seine
Atmung wahr. Seine Jacke hebt und senkt sich leicht. Den Mund
hat er halb geöffnet, manchmal bewegen sich seine Lippen, wie
bei Fischen, und irgendwann haucht er: Ja.
Hast du mir geantwortet?, frage ich ihn.
Da hebt er die Hand und sagt leise: Jaja.
Bist du denn jetzt wieder da?
Er zögert einen Moment und haucht dann: Na ja.
Die ganze Zeit sehe ich ihn im Profil. Sein Blick geht durch
den Rembrandt hindurch. Offensichtlich ist ihm bewusst, dass
sein Leben hinter ihm liegt.
Er wirkt leer, erschöpft, ausgelaufen. Wie ein alter Prophet,
dessen Autorität überstrapaziert worden ist.
War es das wert?, scheint sein Gesicht zu fragen: Diese
Mühe, dieser Kraftaufwand. Will ich dieses Leben wirklich
gelebt haben?
Schau mich an, sagt sein Bild zu mir. Aber nicht zu genau.
Sonst bin ich verschwunden. Wie mein Anzug. Wenn du zu
intensiv auf meine Jacke schaust, knistert sie unter deinen
Augen weg wie brennendes Papier. Sieh mir bitte auch nicht
unter die Haare und hinter die Ohren. Sonst löse ich mich ganz
auf, und dir bleibt nur ein leerer Sessel. Aber noch bin ich da.
Seine Erscheinung ist ein kostbares Angebot, das ist mir
bewusst, deshalb schaue ich jetzt ganz weich und mit
hängenden Wimpern, als hätte ich schlechte Augen. Ich freue
mich so sehr, dass er überhaupt da ist, dass ich ihn atmen sehe,
und obwohl ich keinen Körper habe, wird mir ganz warm
zumute.
Dann ist mein Erwachen nicht mehr aufzuhalten. Meine
Kraft lässt nach, und ich kann sein Bild nicht mehr halten.
Wenig später nehme ich im Badezimmer meine
Herzmedikamente ein und mache mir klar, dass der zerzauste
Herr, der mich im Spiegel anschaut, genauso alt ist wie mein
Vater, als er starb.
Warum bist du mir erschienen, frage ich.
Der Herr aus dem Spiegel sagt: Übernimm dich nicht.
Königlicher Musikdirektor
Wenn du ergriffen bist, Papa, wenn du von früher erzählst,
wenn deine Stimme zu zittern beginnt, wenn es dir den Hals
zuschnürt, du dir die Brille abnehmen musst, um dir mit dem
Taschentuch das Gesicht zu trocknen, dann traue auch ich mich
raus aus meiner Burg.
Leider kann ich das nicht zeigen. Ich finde nicht den
richtigen Satz. Du könntest es an meinem Gesicht sehen. Aber
du schaust, wenn du weinst, vor dich hin, in die Ferne. Dein
Mund ist leicht geöffnet, und über deine schlaffen Lippen geht
die Welt ein und aus.
Ich wollte dich schon immer mal fragen, ob dein Vater dich
je geschlagen hat.
Aber das ist nicht so einfach. Ich möchte nicht, dass du gleich
die Kritik heraushörst. Nicht sofort jedenfalls. Erst einen Tag
später, wenn du noch mal über meine Frage nachdenkst.
So ist mein Plan. Ich muss die richtige Gelegenheit finden. Zu
lange warten darf ich aber auch nicht. Ich muss dich unbedingt
fragen, bevor du wieder mit mir Lateinisch machen willst.
Denn das bedeutet Ohrfeigen.
Manchmal probe ich die Frage für mich allein in meinem
Zimmer, halblaut, mit der Hand in der Hosentasche: Papa, hat
dein Vater dich eigentlich jemals geschlagen?
Kaum habe ich das ausgesprochen, fühle ich mich
verwandelt, in dich. Ich bin du, und meine Gefühle sind deine.
Wie beschämend!, schießt es mir dann durch den Kopf. Wie
kann er mich das fragen und mich an die Momente erinnern,
wo mir die Hand ausrutscht!
Manchmal beobachte ich dich, wenn du an mir vorbei mit
meinen älteren Brüdern sprichst, und frage dich in Gedanken:
Hat dein Vater dich jemals geschlagen?
Ich stelle mir vor, wie die Frage in dir arbeitet, studiere dein
Gesicht, deine Haut, deine Augen. Blitzartig können sie starr
werden und deine Stimme unerwartet schneidend.
Nein, du bist mir zu unberechenbar. Ich warte lieber noch.
Eigentlich weiß ich die Antwort: Dein Vater hat dich nicht
geschlagen. Wahrscheinlich nie. Aber die Frage würde ich
trotzdem gerne stellen. Ich möchte dich einmal auf den
Unterschied zwischen dir und deinem Vater aufmerksam
machen, dich einmal mit der Nase in den Scheißhaufen deiner
Ohrfeigen und Prügel stupsen. Offen kann ich das nicht
ansprechen. Ich muss den Umweg über deinen Vater nehmen.
Daran ist etwas Heimtückisches, ich weiß.
Dein Vater ist nicht irgendjemand. Er ist ein Fixstern, der
wirkungsmächtigste Tote in unserer Familie.
Würde ich mal sagen. Vor dreizehn Jahren ist er
verunglückt, noch vor meiner Geburt. Zwei seiner
Dirigentenstäbe liegen griffbereit in deiner
Schreibtischschublade. Einer ist eher ein Schmuckstück und
nicht für den Gebrauch – dafür ist er zu dick: aus Ebenholz mit
Elfenbein und Perlmutt verziert. Wahrscheinlich ein
Ehrengeschenk. Der andere ist dünn, dunkelbraun, leicht
gebogen, an einer Stelle angebrochen. Der hat sicher viele
Oratorien und Chorkonzerte hinter sich. Ich vermute, dass du
ihn gelegentlich in die Hand nimmst und von deinem
Schreibtischstuhl aus imaginäre Musik dirigierst. Der Stab liegt
unmittelbar neben deinem Pass. Auch eine kleine Emaille-
Spange für die Mitglieder des Selge-Volkschors aus Berlin
Steglitz liegt da. Und sein kurzes Testament, in dem er seiner
Geliebten einen neuerworbenen Dampfkochtopf vererbt.
In unserem Mottenschrank in der Diele hängt sein alter
Frack. Den hättest du fast vergessen, wenn ich ihn nicht mal
angezogen und dann zur Wohnzimmertür reingeschaut hätte.
Ihr hörtet gerade bei einem Glas Wein Musik, Schuberts
«Erlkönig», von deinem Lieblingssänger Fischer-Dieskau
gesungen.
Was hast du denn da für einen Frack an? Hast du gefragt.
Ja! Rate mal, wem der wohl mal gehört hat. Habe ich
geantwortet. Und bin schön vorsichtig im Türrahmen stehen
geblieben. Dann habe ich den Dirigentenstab gezückt, die
Augenbrauen hochgezogen und den Erlkönig mitdirigiert. Na?
Weißt du’s jetzt?
Da ist dir ein Licht aufgegangen: Tu den mal schnell wieder
hin, wo du ihn herhast. Du sollst doch nicht an meine Sachen
gehen! Hast du mir zugerufen und dein Gesicht wieder in
deiner Hand versteckt. Und mit geschlossenen Augen weiter
dem Erlkönig gelauscht.
Ich weiß schon, wo unsere Musikalität herkommt. Wer uns
da alle infiziert, wer uns dieses Lebenselixier vererbt hat. Das
ist dein Vater, Papa. Der hat sich vom bescheidenen
Volksschullehrer in Posen mit dem Geld seiner Frau, einer
Gutstochter aus dem benachbarten Kalisch, zum Musiklehrer
ausgebildet und es schließlich zum Königlichen Musikdirektor
in Berlin gebracht.
Es ist sein Rhythmus, sein Feuer, sein Fleiß und vor allem
seine Sehnsucht nach diesem unsichtbaren Medium der Töne,
das uns allen tief in den Knochen steckt. Ob wir nun Musiker
sind oder nicht.
Und ich würde nichts lieber wissen als das: ob dich dieser
Mann, der sehr ungeduldig, vielleicht auch cholerisch war, wie
du, je geschlagen hat.

Plötzlich und unerwartet, am Mittagstisch, spüre ich: Jetzt ist


die Gelegenheit gut.
Wir sitzen alle zusammen, und du erzählst wieder von
früher, und zwar von eurer Hochzeit. Du erzählst, wie dein
Vater bei eurer kirchlichen Trauung die Orgel spielte, danach
aber allein nach Hause gehen musste, weil er zum
Hochzeitsessen nicht mit eingeladen war. Schließlich lebten
deine Eltern getrennt, und deine Mutter hätte es nicht ertragen,
mit diesem Mann an der Hochzeitstafel ihres Sohnes zu sitzen.
Ohne schon einen genauen Plan zu haben, schalte ich mich
in deine Erzählung ein und frage: Was? Dein Vater durfte nicht
mitkommen? Auf deine Hochzeit?
Nein, sagst du, auch vorher und in der Kirche wollte ihn
meine Mutter nicht sehen.
Aber Orgel spielen durfte er?
Ja, dagegen hatte sie nichts. Wahrscheinlich, weil sie ihn da
nicht sehen musste.
Das muss aber traurig für ihn gewesen sein.
Ja, sagst du etwas kleinlaut, das war sicher nicht leicht für
ihn. Nach dem Schlusschoral «Du, meine Seele, singe, wohlauf
und singe schön» hat er noch ein langes Nachspiel an der Orgel
improvisiert, oben auf der Empore, während wir alle, eure
Mutter und ich, die Eltern eurer Mutter, ihre drei Schwestern,
zwei davon mit ihren Ehemännern, meine Mutter und mein
Bruder Aribert und unsere Verwandten und Freunde und
vorneweg Pastor Frederking vom Altar durchs Mittelschiff aus
der Kirche gingen, in die Droschken stiegen und zum Essen
fuhren.
Und dann? Was hat dein Vater dann gemacht?
Dann – was wird er gemacht haben? Du schaust in die Ferne,
Papa. Offensichtlich hast du dir diese Frage noch nie gestellt.
Der wird alleine in sein Zuhause gegangen sein.
Er war ja nicht allein, wirft Mutti jetzt ein. Er lebte ja mit
einer anderen Frau zusammen.
Das eröffnet eine andere Perspektive. Aber das scheint dich
nicht zu berühren, Papa. Jedenfalls zeigst du keine Reaktion.
Die Trennung deiner Eltern gehört zu den Wunden, an denen
man nur vorsichtig kratzt, ohne den Schorf zu beschädigen.
Und über diese andere Frau, die dabei im Spiel ist, wird nicht
gesprochen. 1936, bei eurer Hochzeit, leben deine Eltern schon
achtzehn Jahre getrennt.
Ich kann mir das gut vorstellen, sage ich.
Was kannst du dir gut vorstellen?, fragst du.
Wie dein Vater weiterspielt, bis alle die Kirche verlassen
haben, dann die Noten zusammenklappt, die Orgel ausstellt,
seinen Mantel anzieht und allein über das Kopfsteinpflaster am
Händelplatz zurück in seine Wohnung trottet. Und dabei an
dich und eure Hochzeit denkt. Traurig.
Ja, sagst du. Das war es sicher.
Vor allem war es traurig für Papas Mutter. Sagt Mutti.
Sie muss schon wieder was zurechtrücken. Offensichtlich
will sie klarstellen, wer da Schuld auf sich geladen hat. Aber ich
sehe da gar keine Schuld, sondern nur Unglück. Und du auch,
Papa, wenn ich das richtig heraushöre. Oder siehst du da
Schuld bei deinem Vater?
Was war das für eine Frau, mit der dein Vater
zusammenlebte? Wie hat er die kennengelernt?, frage ich.
Das war Frau Splettstößer. Die war Altistin in seinem Chor.
Plötzlich sind Falten auf deiner Stirn, du wirkst viel älter als
Sekunden zuvor. Dein Blick ist weich, etwas verschwommen.
Und?, frage ich. Wie ist das passiert?
Ich spüre, dass die Aufmerksamkeit am Tisch steigt.
Eigentlich ist das Essen beendet, es fehlt nur noch das
Dankgebet, aber die Hände entfalten sich noch mal, und auch
Werner und Martin schauen jetzt fragend in dein Gesicht.
Mutti fängt an, die dreckigen Teller einzusammeln. Das
Geklapper stört doch! Dabei kommst du gerade in
Erzählschwung.
Das war bei einer Chorprobe, sagst du mit deiner
Erzählerstimme. Es ist auch deine Vorlesestimme. Sie ist ruhig
und episch und immer von den Menschen gefärbt, von denen
du gerade erzählst. Sie hat einen unendlichen Atem. Mit dieser
Stimme mag ich dich am liebsten. Du bist in einer anderen
Welt, und da bist du bestens aufgehoben. Von mir aus könntest
du da immer bleiben.
Ich sang, erzählst du, im Tenor. Ich war eigentlich noch im
Stimmbruch, ich hätte nicht singen dürfen, aber mein Vater
ließ mich in seinem Chor die ganze Zeit durchsingen. Mal im
Alt, mal im Bass, mal im Tenor. Ich hatte einen sicheren
Rhythmus und konnte gut den Ton halten. Er ließ mich einfach
da singen, wo Verstärkung nötig war. Der Entwicklung meiner
Gesangsstimme hat das natürlich geschadet. Ich hätte lieber
ein, zwei Jahre Pause machen sollen. Ich hatte eine
wunderschöne Knabenstimme vorm Stimmbruch. Wer weiß,
was daraus hätte werden können.
War deine Stimme so schön wie meine? Die Frage kann ich
mir nicht verkneifen.
Meine beiden älteren Brüdern knurren mich von der Seite
an: Bilde dir bloß nichts ein, du! Eine schöne Kinderstimme ist
nichts Besonderes.
Meine Stimme ist nicht von Pappe!, rufe ich. Das hat sogar
Herr Willers in der Schule über mich gesagt, nachdem ich
vorgesungen habe: Die Stimme ist nicht von Pappe!, hat er
gesagt. Und der lobt nicht leicht!
Du legst sanft deine Hand auf meinen Arm und sagst: so
schön wie deine. Und nach einer Pause: mindestens.
Und die Altistin?, frage ich.
Warte doch, sagst du. Irgendeinen Choral von Mendelssohn
sangen wir. Es war eine besonders schöne Stelle, und wir
schauten beim Singen gebannt auf meinen Vater, der mit
weichen Bewegungen dirigierte, die Worte immer deutlich,
aber stumm mitartikulierte, mit feurigem Blick zu den
Altistinnen sah und bei einem verminderten Septakkord mit
Fermate dramatisch in die Luft griff. Ich spürte, dass er eine
ganz bestimmte Sängerin anschaut. Ich wollte sehen, wer das
ist, und ich entdeckte sie auch und merkte, wie sie
zurückschaut, zu meinem dirigierenden Vater, wie die Blicke
der beiden verschmelzen. Und ich begriff in diesem Moment –
du machst eine kleine Pause, Papa, als hättest du einen Kloß im
Hals –, ich begriff, dass die Ehe meiner Eltern zu Ende ist.
Furchtbar, sagt Mutti.
Und? War sie zu Ende?, hake ich nach.
Du nickst. Drei Wochen später ist mein Vater ausgezogen.
Dir laufen die Tränen runter. Das sehen alle, aber natürlich
sagt keiner was. Wir wissen ja, dass du ein Taschentuch hast.
Mutti legt dir die Hand auf den Arm und sagt nach einer
kleinen Pause: Und das, nachdem zwei deiner älteren Brüder
gerade gefallen waren!
Ich möchte lieber bei deinen Tränen und deinem Vater und
der Altistin bleiben. Aber das Thema mit den Brüdern, die nicht
aus dem Krieg zurückkommen, ist auch interessant. Ich muss
beides am Laufen halten, bevor ihr alle vom Tisch aufsteht und
die Geschichten verlorengehen.
Da wart ihr nur noch drei, rechne ich nach. Du, deine Mutter
und dein ältester Bruder, Onkel Aribert.
Ja, sagst du, der Krieg war gerade zu Ende. Mein Bruder
Werner ist noch in den letzten Kriegstagen 1918 durch eine
Granate beim Essenholen verunglückt. Er hat seinen
Schützengraben verlassen und ist quer zurück übers Feld
gelaufen, mit zwei Henkelmännern, um aus der Gulaschkanone
Suppe für sich und seine Kameraden zu holen.
Werner und Werner. Ich blicke links zu meinem Bruder, um
zu sehen, wie es auf ihn wirkt, wenn von seinem gefallenen
Onkel einfach als Werner die Rede ist.
Werner sagt nichts, lässt sich überhaupt nichts anmerken,
schaut vor sich hin mit fast geschlossenen Lidern. Wenn er
nicht will, kriegst du nichts raus aus ihm. Das ärgert dich, Papa,
aber du hast es aufgegeben. Bei Werner hat auch der Rohrstock
irgendwann nicht mehr gefruchtet.
Inzwischen hat die Rührung dich fest im Griff, aber du
erwischst eine Zäsur im Weinen und bringst noch schnell einen
weiteren Satz unter: Ich weiß noch, wie mein Vater durchs
Wohnzimmer ging, in der einen Hand das Telegramm mit
Werners Todesnachricht, mit der andern bedeckte er seine
Augen, damit niemand seine Tränen sah.
Das muss ich mir merken. Diesen Gang deines Vaters durchs
Wohnzimmer möchte ich nie vergessen. Dein stolzer Vater mit
dem zentimeterdicken, pechschwarzen Haar, der Hakennase,
den feurigen Augen und dem entschlossenen Mund – dieser
ungeduldige, durch sein Leben stürzende Musiker aus Posen,
der in Berlin Steglitz 1947 noch eine Straßenbahn rechtzeitig
erreichen will, aufs Trittbrett springt, ausrutscht und mit einem
Fuß auf die Schienen gerät, wo er von den schweren
Straßenbahnrädern überrollt wird, was zu einer Amputation
mit Blutvergiftung führt, an der er stirbt: wie dieser von
Rhythmus und Musik besessene Mann 1918 das Wohnzimmer
durchquert, das Todestelegramm in der einen Hand, und sich
die andere wie einen Schirm über die Augen hält, damit man
seine Tränen nicht sieht – das ist ein Bild, das auch auf mich
eine dramatische Wirkung hat. Wahrscheinlich geht dein Vater
gerade am offenen Flügel vorbei, an dem dein Bruder Werner
nun nie wieder seine langsamen Sätze spielen wird.
Hat dein Vater oft geweint?, will ich wissen. Ich habe ja
meine wichtigste Frage noch im Hinterkopf und denke, es muss
doch noch mehr Schmerz drin sein in diesem Großvater, den
wir alle um sein Temperament und sein Aussehen beneiden,
dessen Foto heute noch vergrößert und gut platziert in unserer
Wohnung hängt. Aber nur Werner sieht ihm wirklich ähnlich.
Doch, sagst du, als mein Bruder Egon gefallen ist, gleich 1914,
da hat er noch heftiger geweint. Egon mochte er am liebsten.
Aber wie hat er geweint, denke ich, wie? In welcher Haltung,
wo stand oder saß er? In welchem Raum? War es morgens oder
abends? Herrgott! Es sind die Details, die ich wissen möchte. Sie
erlösen mich von mir selbst. Nur die Details.
Aber ich frage nicht danach. Leider. Stattdessen sage ich:
Wie ist Egon gefallen?
Das will ich ja auch wissen. Das Wort «gefallen» für
«sterben», dieses besondere Wort für den Tod auf dem
Schlachtfeld, hat es mir angetan.
Im Nahkampf, sagst du. Mit aufgepflanzten Bajonetten. In
Frankreich.
Das elektrisiert mich. Ich wusste es eigentlich. Hatte es aber
vergessen.
Also wie?, frage ich. Hat er sich mit einem Franzosen
gleichzeitig die Brust durchstochen?
Dieses Bild regt mich richtig auf. Noch heute. Ich möchte es
gemalt sehen, am liebsten von Delacroix: Egon mit seinem
französischen Todeskameraden auf den Feldern von Verdun,
wie sie sich gegenseitig mit dem Bajonett die Brust
durchstechen.
Das haben wir uns nicht so genau vorgestellt, sagst du.
Das glaube ich dir nicht, dass ihr euch das nicht vorgestellt
habt. Aber laut sage ich das nicht.
Und die beiden Brüder hatten sich so gefreut, dass sie
eingezogen wurden und in den Krieg ziehen durften! Sagt Mutti
und schlägt die Hände zusammen, um das Unglück noch größer
zu machen.
Ja, erzählst du, Egon und Werner sind 1914 bei Ausbruch des
Krieges vom Esstisch aufgesprungen, das war so, wie wir jetzt
hier sitzen, und sind auf die Straße gelaufen, damit sie bloß
noch eine Uniform und eine Waffe ergattern. Die hatten Angst,
dass kein Gewehr mehr für sie übrig sein könnte.
Und du zeigst durch das Fenster auf unsere Eimterstraße
Richtung Gefängnis, als würdest du sie dort laufen sehen.
Das kannst nur du, Papa: einen Augenblick, der fast ein
halbes Jahrhundert zurückliegt, so heraufbeschwören, als hätte
er vor wenigen Sekunden stattgefunden.
Ich blicke zu meinen Brüdern und stelle mir vor, wie sie vom
Tisch aufspringen und in den Krieg ziehen. Aber die kleben
unbeweglich auf ihren Stühlen. Da ist nicht ein Funken
Begeisterung.
Warum wollten deine Brüder unbedingt an die Front, wenn
die beide so gut Klavier spielten?, möchte ich wissen.
Jetzt kommt Mutti in Fahrt: Die waren eben stolz auf ihr
Land! Und sie klatscht wieder in die Hände. Es geht nicht
immer nur um Musik. Und mit fast irrem Blick wiederholt sie
das Wort: Musik Musik Musik! Und dann: Kunst! Literatur! Ihr
denkt immer, das wär alles! Es gibt noch was Größeres, etwas,
für das man bereit sein kann, sein Leben einzusetzen.
Gott, sage ich prompt.
Nein, ruft sie.
Ich staune. Gott steht doch im Mittelpunkt ihres Lebens.
Was dann?, frage ich.
Das Vaterland! Davon macht ihr euch gar keine Vorstellung,
was das für uns bedeutet hat!
Erstaunlich, diese Wut, die da bei ihr herausbricht, denke
ich. Wo kommt die her?
Und dein Vater?, frage ich dich, Papa, warum ist der nicht
mit in den Krieg gezogen?
Mein Vater wurde uk gestellt, aber er musste immer mit dem
Vorwurf leben, ein Drückeberger zu sein.
Ein Feigling, ergänzt Mutti und korrigiert sich gleich. Sie legt
ihre Hand auf deine, Papa, und sagt: Ich meine nicht, dass dein
Vater ein Feigling war, aber in meinem Elternhaus haben wir
die, die zu Hause blieben, Feiglinge genannt.
Es entsteht eine Pause. Ich bin der Einzige, der in diesem
Moment meine Mutter anschaut. Ich sitze ihr ja genau
gegenüber. Ich bekomme eine Ahnung, aus was für einer
linientreuen Familie sie kommt. Ihr eigener Vater ist dabei
gewesen in diesem ersten großen Krieg. Der ist als
Marinerichter über die Weltmeere geschippert, hat
Todesurteile bei schweren Disziplinarvergehen unterzeichnet,
war bei den Chinesen und bei den Hereros zu Besuch. Aber das
lenkt mich jetzt nur ab.
Was heißt uk?, frage ich.
Unabkömmlich, sagt Martin.
Ach, du bist ja auch da, denke ich. Martin ist mutig. Der geht
zum Militär. Ich geh da bestimmt nicht hin. Ich bin lieber ein
Drückeberger. Schon weil mir der Ton nicht gefällt, mit dem
meine Mutter die Kunst kleinredet.
Du lehnst dich zurück, Papa, und sagst: Mein Vater war vom
Schuldienst unabkömmlich. Außerdem hatte er seinen Chor
gerade gegründet. Den Selge-Volkschor in Steglitz-Lichterfelde.
Ja, das könnt ihr euch heute nicht mehr vorstellen. Meinen
Brüdern ging es plötzlich um was anderes. Die Musik trat in
den Hintergrund. Das Schicksal wurde wichtiger, das Schicksal
unseres Volkes. Sie waren voller Stolz und wollten für
Deutschland ihr Leben einsetzen. Das hat sie gepackt. Das hat
damals alle gepackt.
Ihr braucht nur dies Buch «Briefe gefallener Studenten» zu
lesen, sagt Mutti. Die haben sich in ihren Schützengräben
Gedichte vorgelesen. «Füllest wieder Busch und Tal». Und
Menschen, die niemals Goethe gelesen hatten, waren plötzlich
ergriffen von solchen Zeilen.
Und sind dann wenige Stunden später gefallen, sagst du,
Papa, als sei noch was offen in ihrer Erklärung.

Füllest wieder Busch und Tal


Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.

Das rezitiert ihr beiden plötzlich ganz versonnen. Wechselt


euch mit den Zeilen ab. Ihr könnt das auswendig. Ihr könnt das
Gedicht abrufen, wie man eine Lampe anknipst.
Ich will aber nicht, dass die Stimmung wechselt und wir vom
Thema abkommen. Deshalb frage ich, bevor ihr zur zweiten
Strophe kommt:
Egon wollte doch Theologie studieren, wenn er aus dem
Krieg zurückgekommen wäre, oder?
Ja, sagst du überrascht. Das hast du gut behalten.
Wie kann man Theologie studieren, wenn man so gut Klavier
spielt? Ich denke, der hat fehlerlos das Schumannkonzert zum
Abitur gespielt?
Egon, antwortest du, wurde im letzten Schuljahr sehr ernst.
Sehr ernst – ja und? Ich denke, es kommt noch was. Aber
nein. Mehr sagst du nicht. Nur «Egon wurde im letzten
Schuljahr sehr ernst».
Das soll wohl beschreiben, dass er eine wichtige
Lebensentscheidung getroffen hat. Die Formulierung erinnert
mich daran, wie ihr über junge Musiker redet, deren
Interpretationen ihr noch etwas nichtssagend findet. Ihr sagt,
der oder die müsse eben noch «etwas erleben». Damit die
Interpretation an Tiefe gewinne. Und es ist klar, dass ihr Liebe
und Sexualität meint. Und dann schaut ihr euch tief in die
Augen und gebt damit zu verstehen: Euer eigenes Leben hat
durch eure Liebe und Sexualität an Tiefe gewonnen.
Das kann ja zutreffen. Aber mich stößt die Vorstellung ab.
Ich finde das klebrig. Das würde heißen: Ich kann da gar nicht
mitreden, wenn es um das sogenannte tiefere Verständnis von
etwas geht. Von Musik. Von Dichtung. Vom Leben überhaupt.
Da bin ich aber ganz anderer Meinung! Wer so intensive Prügel
bekommt wie ich von dir, Papa, der kann auch als Kind ein
tieferes Verständnis vom Leben haben.
Warum zieht Egon denn so gerne in den Krieg, wenn er an
Gott glaubt?, frage ich dich.
Ihr schüttelt beide den Kopf. Du sagst: Das versteht von euch
keiner mehr.
Und Mutti fügt knochentrocken hinzu: Wieso? Es gibt ja auch
Militärpfarrer.
Aber Gott, sage ich, Gott ist doch kein Deutscher?
So kann man das natürlich nicht ausdrücken, sagst du
tadelnd, überlegst einen Augenblick: Wir dachten, Gott ist auf
unserer Seite. Auch im letzten Krieg haben wir das geglaubt.
Am Anfang wenigstens.
Sag mal, Papa, hat dich dein Vater je geschlagen?
Für alle kommt die Frage unerwartet. Aber du wirst rot,
lieber Papa. Jawohl, du wirst feuerrot. Und nicht, weil du an
Ohrfeigen denkst, die du verteilst. Oder an den Hinterhalt
meiner Frage. Sondern weil dich Zärtlichkeit für deinen Vater
entflammt. Dein Gesicht leuchtet. Und mit einer ungewohnten
Wärme sagst du:
Nie, niemals hätte mein Vater mich geschlagen. Dazu war er
viel zu weich. Er war ein ausgesprochen liebevoller Vater.
Schau mal an, denke ich und halte den Blick mutig auf dich
gerichtet. Da muss dir doch jetzt mal ein Licht aufgehen!
Wenn meine Brüder morgens die Haustür zuschlugen und
zur Schule rannten, setzt du nun wieder ganz frisch an, dann ist
meine Mutter zu mir ins Zimmer gekommen, um mich aus dem
Bett zu heben. Nu hab ich Zeit für dich, hat sie gesagt. Nu
komm. Aber plötzlich ging die Tür auf, und mein Vater, der
eigentlich auch zur Schule musste, zum Musikunterricht,
stürzte herein, zog meine Mutter von mir weg, drückte sie an
die Wand und bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen Küssen.
Meine Mutter versuchte, ihn abzuwehren, sah zu mir hin, so
gut es ging, und flüsterte unter seinem Schnauzer hervor: Nicht
doch, der Junge! Der Junge sieht doch zu! Darauf fasste mein
Vater sie am Arm und zog sie ins Schlafzimmer.
Jetzt machst du eine Pause, Papa, und für einen Moment
kann ich dich in deinem Kinderbett sitzen sehen, wie du auf
deine Mutter wartest.
Mein Vater kam dann irgendwann wieder raus aus dem
Schlafzimmer, fährst du fort, zog sich den Mantel an, nahm die
Notentasche vom Flügel und verschwand. Nach einer Weile
kam meine Mutter zu mir, drückte mich an ihre Brust und sagte
immer wieder: Nu komm, nu komm, mein Kleiner.
Jetzt erwischt es dich voll. Du heulst richtig. Wir fragen uns
alle, wann du wohl weiterreden kannst. Einfach vom Tisch
aufstehen kann jetzt jedenfalls niemand. Das geht nicht. Ich
finde es gut, dass wir durch dein Weinen an unseren Stühlen
festgeklebt sind. Ich könnte hier noch lange sitzen. Mir fällt
gerade ein, dass du im Grunde seit der Zeit, als dein Vater
auszog und zwei deiner Brüder im Krieg fielen, mit deiner
Mutter allein gelebt hast. Anfangs war dein ältester Bruder
Aribert noch da, dem sie in Frankreich den Daumen
weggeschossen hatten. Aber der lag den ganzen Tag im Bett
und schlief. Nachts stand er auf, hat Chinesisch gelernt und
Gedichte übersetzt. Weil deine Mutter das nicht ausgehalten
hat, hast du als Kleinster ihn aus dem Haus komplimentiert. Du
hast ihm klargemacht, dass er die Nerven eurer Mutter ruiniert,
wenn er den ganzen Tag im Bett liegt. Dieser Kraftakt von dir
hat mich immer erstaunt. Achtzehn Jahre hast du mit deiner
Mutter zusammengelebt. Und als du zum Staatsanwalt
befördert wurdest, hast du sie mit nach Ostpreußen
genommen. Nach Königsberg. Erst dann hast du dich nach
einer eigenen Frau umgeschaut.
Wen hast du mehr geliebt, frage ich, nachdem du dich
wieder etwas beruhigt hast: deine Mutter oder deinen Vater?
Da unterscheidet man nicht!, ruft Mutti dazwischen. Man
fragt auch nicht, welches Kind am meisten geliebt wird. Man
liebt alle gleich.
Ja. Das ist unsere Mutter. Mutti. Christliche Prinzipien. Die
kehrt sie raus. Aber ihr Gefühl verbirgt sie. Du aber nicht, Papa.
Du sagst ganz frei:
Natürlich habe ich meine Mutter mehr geliebt. Schon als
Kind.
Das ist erstaunlich. Denn gerade bist du noch aus Liebe zu
deinem Vater rot geworden.
Ich muss noch mal nachfragen: Und deinen Vater hast du
nicht so geliebt?
Doch, auch. Er war eben sehr stürmisch.
Er hat sich vor allem um seinen Chor gekümmert. Sagt Mutti.
Plötzlich sagt Werner links neben mir in tiefstem Bass: Er
war einfach ein Künstler.
Donnerwetter. Der hat so lange geschwiegen. Um dann
diesen Satz zu sagen. Künstler. Das scheint die Lösung zu sein.
Damit sind wir alle zufrieden.
Ja, er war ein Künstler, sagst du abschließend. Seine
Chorkonzerte waren ihm das Wichtigste.
Und Mutti ergänzt: Darauf war deine Mutter auch sehr stolz.
Sie hat alle guten Kritiken gesammelt. Und auch die schlechten
über die Konkurrenz, wie zum Beispiel über die Singakademie
in Berlin Mitte, die hat sie immer ausgeschnitten und
vorgelesen.
Ja, bestätigst du, meine Mutter war sehr stolz auf ihn.
Mit diesem Satz von dir könnte das Gespräch jetzt enden.
Aber deine Frau schaut dich von der Seite an und macht so
winzige, unschlüssige Kopfbewegungen. Die hat noch was auf
der Zunge. Das siehst du nicht. Aber ich sehe es. Weil ich ihr
gegenübersitze. Und gerade bevor alle aufstehen, bringt sie den
Satz, der in ihr arbeitet, noch raus:
Ich glaube, deine Mutter war manchmal etwas verbittert,
weil dein Vater das Geld, das sie mit in die Familie gebracht hat,
für seine Ausbildung zum Musiker ausgegeben hat. Bis auf den
letzten Pfennig. Ich meine, sie hat ihm das sicher gegönnt. Aber
vielleicht hat sie etwas Dankbarkeit vermisst.
Jetzt entsteht eine Pause.
Und unsere Mutter legt noch mal nach: Die kam doch von
einem großen Gut in Pommern. Und sie wurde ausbezahlt, wie
ihre Schwestern auch, weil nur einer das Gut übernehmen
konnte. Und das war, wie immer, der Mann, also ihr Bruder.
Wieder eine kleine Pause.
Dann macht sie weiter: Das soll doch sehr viel Geld gewesen
sein. Jedenfalls genug, um mit deinem Vater eine Familie zu
gründen und ihm eine Ausbildung zum Kirchenmusiker zu
bezahlen.
Na, Papa? Was sagst du dazu?
Gar nichts. Du sagst einfach gar nichts. Das ist auch sehr klug
von dir. Du nickst nur ruhig und großzügig vor dich hin.
Ich denke natürlich sofort daran, dass unsere Mutter ja auch
Geld mit in die Ehe gebracht hat. Wir nennen es das Landgeld.
Das sind Schrebergärten in Braunschweig. Die stammen von
unserer Großmutter mütterlicherseits, einer Augenarzttochter.
Und ein Viertel davon gehört jetzt unserer Familie. Der
regelmäßige Verkauf der Braunschweiger Parzellen spielt im
Augenblick eine große Rolle bei uns. Und du machst dabei den
Händler, den Verkäufer, Papa. Du bist der Fachmann, weil du
eine Banklehre gemacht und dir als Bankbeamter dein
Jurastudium selber verdient hast. Du kannst das. Wir alle
vertrauen auf dich. Wir hoffen, dass du nur Land verkaufst,
wenn der Wert hoch steht. Du hast dir gerade deinen neuen
Steinway davon gekauft. Werner soll ein richtig gutes
italienisches Cello kriegen, ein Ventapane. Mutti hat endlich
eine böhmische Geige bekommen, die oben am Griffbrett statt
der Schnecke einen grinsenden Teufelskopf zeigt, quasi als
Dauerkommentar zu all ihren zaghaften Tönen. Martin hat sich
schon lange eine silberne Querflöte gewünscht. Er lernt
blitzschnell jedes Instrument und bläst die Flötentöne
durchdringend durch alle dicken Wände. Es sind immer noch
ein paar Hektar übrig vom Braunschweiger Land. Und die
sollen liegen bleiben, im Wert steigen, am besten zu Bauland
werden. Denn eines Tages soll davon ein Fertighäuschen in
Herford gekauft werden, wenn ihr beiden, Mutti und du, mal
aus der großen Dienstwohnung des Gefängnisdirektors
ausziehen müsst. Das steht alles schon auf eurem Zettel.
So geht das. Das scheint so ein Schema zu sein, das sich
wiederholt: Die Gutstochter finanziert den Chordirigenten. Die
Augenarzttochter unterstützt den Reichsmilitärgerichtsrat. Und
unsere Mutter hilft dem Gefängnisdirektor. Die Frauen bringen
ein bisschen was mit in die Familie. Denn bei den Beamten
kommt nichts rein außer dem überschaubaren Gehalt. Und bei
den Künstlern ist sowieso meistens Ebbe.
Diese Männer, die ihr Leben auf dem Erbe der Frauen
aufbauen! Aber ihren Frauen das Haushaltsgeld zuteilen! Nein,
das stimmt nicht, da bin ich jetzt doch zu bösartig. Über die
Zinsen der Braunschweiger Schrebergartenparzellen durftest
du immer alleine verfügen, Mutti. Davon durftest du endlich
mal die Kleider, Pullover und Schuhe kaufen, die du schön
fandest. Keine Seide, kein Lurex, nichts Hochhackiges. Nichts
Glänzendes, wie es dein Mann immer an dir sehen möchte.
Sondern etwas Mattes. Warmes. Wolle. Mohair oder Merino.
Und flache Schuhe. So, wie es dir gefällt. Und schöne Kleidung
für die Kinder! Sachen, die eigentlich zu teuer für unsere
Familie sind. Denn bei uns wird gespart. Die Kröten müssen
zusammengehalten werden.
Ja, so nennst du das, Papa. Und auf der Speisekarte darf nur
von der oberen Hälfte bestellt werden, wo’s billig ist.
Mein Wunsch ist es, euch eines Tages zum Essen einzuladen.
Zu Spargel und Kalbsteak. Und nicht zu Spargel o d e r
Kalbsteak.
Jetzt seid ihr müde. Du gähnst schon. Der Mittagsschlaf ruft.
Ihr habt Sehnsucht nach der Wärmflasche und nach eurem
Bett. Ich kann dann die Küche sauber machen.
Mach ich aber heute gerne. Danke für das Gespräch.
Abwasch
Ich bin beim Abwasch, die Hände im Seifenwasser, und
spüle die Essensreste der Familie von den Tellern.
Nichts habe ich erreicht. Das Gespräch hätte ich mir sparen
können. Was hilft es mir zu wissen, dass du von deinem Vater
nie geschlagen wurdest? Ich hätte dich fragen müssen: Warum
schlägst du m i c h dann? Habe ich aber nicht gemacht. Den
Augenblick habe ich verpasst. Obwohl die Ge- legenheit günstig
war. Und es hat einen Grund, dass ich nicht gefragt habe. Ich
habe es längst akzeptiert, dass du mich schlägst. Mich dagegen
aufzulehnen, ist etwas, wovon ich offensichtlich nur träumen
kann.
Du hast schon angekündigt: Ich muss mir mal wieder Zeit
nehmen und mit dir Lateinisch machen. An solchen Tagen
kommst du etwas früher aus dem Gefängnis zurück. Schon
wenn du den Schlüssel ins Schloss steckst, rutscht mir das Herz
in die Hose. Komische Art, eine Tür aufzuschließen. Du schaust
gar nicht richtig hin, wo du den Schlüssel reinschiebst. Du
stichst einfach drauflos, dorthin, wo du das Schloss vermutest.
Wie ein Betrunkener.
Dieses stochernde Geräusch ist das Erste, was ich in meinem
Zimmer am anderen Ende der Wohnung von dir wahrnehme.
Wenn du dann die Tür zuschlägst, vibriert es in meinem
Körper, und ich denke: Das ist mein Untergang.
Unsere Haustür ist aus dickem Holz, in Kopfhöhe sind
Glasscheiben, schmiedeeisern vergittert. Holz, Glas und Eisen
erzeugen beim Zuschlagen einen scheppernden Akkord. Es ist
ein Signal: Papa ist da! Niemand außer dir schlägt so die
Haustür zu.
Was kommt jetzt?, frage ich mich.
Signe!, rufst du als Nächstes, schick mir doch mal Edgar in
mein Arbeitszimmer. Ich will mit ihm Lateinisch machen.
Das fährt mir in die Magengrube.
Wahrscheinlich stehst du noch in der gefliesten Halle neben
dem Mottenschrank, wo der Frack deines Vaters hängt. Hätte
ich doch die Chuzpe, mir den anzuziehen, das Lateinbuch unter
den Arm zu klemmen, so im Arbeitszimmer zu erscheinen und
dich zurechtzuweisen: Sag mal, was machst du da an meinem
Schreibtisch? Ab in dein Kinderzimmer!
Ich erscheine ohne Frack mit dem Ludus Latinus unterm
Arm. Du hast deinen Stuhl in den Raum gedreht, ich nehme
einen Polsterhocker und setze mich vor dich hin.
Komm ruhig etwas näher, sagst du, weil ich den Hocker zu
weit von dir wegstelle.
Ich weiß genau, warum ich nicht so dicht an dich ranwill.
Ich glaube, du weißt es auch.
Ich gebe dir mein Buch, blättere zu einer Lektion, die wir
letzte Woche behandelt haben, weise mit dem Zeigefinger
darauf und sage: Hier sind wir gerade. Meine Stimme zittert
leicht. Ob du das bemerkst?
Ich finde mich schon zurecht, sagst du.
Woher willst du wissen, wo wir gerade sind?, frage ich mich.
Du lehnst dich zurück und fragst mich mit deiner
Zigarrenraucherstimme: Du würdest zerstört werden?
Das ist die e-Konjugation, das weiß ich natürlich. Delere ist
das Beispiel dafür im Buch.
Das ist das Paradigma hier in eurem Buch, sagst du und
wunderst dich, dass ich nicht umgehend antworte.
Paradigma, denke ich, das sagt doch heute kein Mensch
mehr. So hat man das vielleicht vorm Ersten Weltkrieg
genannt.
Delereris, sage ich endlich.
Du nickst, im Sinne von: Das hätte schneller kommen
können.
Und dann geht’s los. Du fragst mich Verbformen ab. Wie im
Kreuzverhör. Mal Deutsch, mal Lateinisch. Sehr gerne
Konjunktive. Auch den raschen Wechsel von Aktiv und Passiv
liebst du. Weil du so schnell bist, komme ich mit der deutschen
Grammatik durcheinander. Könnte es sein, dass ich Deutsch
noch viel weniger beherrsche als Latein?
Er wird zerstört, fragst du, und ich antworte: delebit. Das
heißt aber: Er wird zerstören. Ich hätte sagen müssen: deletur.
Das ist doch ein Unterschied!, rufst du ungeduldig.
Natürlich ist das ein Unterschied. Das weiß ich doch! Aber
ich bin so aufgeregt, dass ich bei dem Wort «wird» eben sofort
denke: Futur!
«Würden» und «werden» kann ich in der Geschwindigkeit
deines Abfragens auch nicht immer auseinanderhalten. Was
bedeutet da Konjunktiv, was Passiv? Zum Beispiel: «Er würde
zerstört» ist nicht «er werde zerstört». Das eine ist Konjunktiv
Imperfekt, das andere Konjunktiv Präsens. Beides im Passiv.
Auch die Zeiten schieben sich für mich zusammen:
Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt finde ich plötzlich
zum Verwechseln ähnlich. Perfekt Konjunktiv kriege ich im
Deutschen gar nicht hin. Nur bei dem spitzfindigen Futur zwei
bin ich relativ sicher. Weil ich mir oft sage, dass das Leben
einmal vorbei gewesen sein wird.
Natürlich wechselst du ständig zwischen den Konjugationen:
Amare – lieben ist das Paradigma für die a-Konjugation. Im
Konjunktiv Präsenz sieht sie aus wie der Indikativ der e-
Konjugation.
Du stellst mir eine kleine Falle und fragst: Amet?
Vorsicht! Das heißt: Er möge lieben, und nicht: Er liebt!
Audire – hören ist das Beispiel für die i-Konjugation. Das darf
ich auf keinen Fall verwechseln mit audere – wagen! Audirem
ist nicht audiverim! In diesem verdammten Perfekt Konjunktiv
kann ich «wagen» oder «hören» nicht mehr unterscheiden.
Legere – lesen ist das Paradigma für die konsonantische
Konjugation. Da habe ich Probleme mit der Silbenanzahl: Bei
legereris – du würdest gelesen werden – sage ich immer wieder:
Legeris. Du verbesserst mich, aber beim nächsten Mal hänge
ich aus Unsicherheit eine Silbe zu viel dran: legerereris.
Ich muss, wenn ich den Mund aufmache, aufpassen wie ein
Schießhund! Du magst keine falschen Antworten. Vor allem
nicht, wenn du mir etwas schon erklärt hast.
Das habe ich dir doch bereits gesagt! Wieso kannst du das
nicht behalten, Menschenskind?
Du musst doch spüren, wie mir die Nerven fliegen!, denke
ich.
Wenn du eine Frage gestellt hast, blickst du zur Decke und
wartest angespannt auf meine Antwort. Ich denke: Wartest du
auf einen Schuss? Du warst ja im Krieg bei der Flak. Hast du
mit diesem Blick täglich den Himmel abgesucht, die Augen
stechend, die Mundwinkel angezogen, bevor die Schüsse
gefallen und die Flugzeuge runtergepurzelt sind?
Aber darüber darf ich nicht nachdenken. Bloß nicht! Wenn
ich zu lange mit der Antwort warte, wiederholst du die Frage,
aber in einem völlig anderen Ton. Und ich bin sicher, den hört
man bis draußen auf die Veranda. Da sitzt meine Mutter und
stopft. Sie könnte ja mal vorbeikommen, wenn’s laut wird, und
an die Tür klopfen. Fragen, ob bei uns alles in Ordnung ist.
Macht sie aber nicht. Sie mischt sich nicht ein. Die
Erziehungsbereiche habt ihr säuberlich aufgeteilt.
Zwischendurch habe ich immer wieder deine rechte Hand
im Blick. Sie liegt auf der Armlehne. Lange schwarze Haare
bedecken die Haut. Deine Fingernägel sind kurz geschnitten
und sauber gebürstet. Du achtest ja auf Hygiene.
Es gibt einen Grad von Nervosität bei mir, da gebe ich nur
noch falsche Antworten.
Dann triffst du meine Wange, voll und klatschend.
Ich greife mir vor Schmerz ins Gesicht.
Ich weiß nicht, ob sich irgendjemand vorstellen kann, wie es
ist, Knie an Knie mit einem Menschen zu sitzen, der einen
verhört. Der stärker ist als man selbst. Und bei jeder falschen
Antwort muss man mit einer brennenden Ohrfeige rechnen.
Jetzt pass aber auf!, schreist du, um zu verdeutlichen, dass es
sich hier erst um den Anfang handelt.
Du musst zuschlagen. Das ist ein Zwang. Du musst die Welt
in Ordnung bringen. Du musst mit Ohrfeigen die Welt besser
machen.
Aber sie wird nicht besser. Meine Antworten werden immer
katastrophaler. Wenn der erste Schlag gesessen hat, ist mir der
zweite so sicher wie das Amen in der Kirche.
Die Erfolglosigkeit deines Zuschlagens steigert deinen Zorn.
Irgendetwas stirbt in mir.
Warum stehe ich nicht auf und gehe?
Warum nicht?
Ich habe nicht die Kraft. Das Ganze ist ein Ritual, und ich bin
unfähig, es zu durchbrechen. Geradeso gut könnte ich von mir
verlangen, von einem Hausdach zu springen.
Irgendwann kann ich nicht mehr. Meine Stimme klingt so
verschluchzt, so verängstigt, dass dir die Lust vergeht.
Geh mal für heute, sagst du plötzlich ganz sanft.
An der Tür drehe ich mich um und sage: Danke, Papa, dass
du mit mir Lateinisch gemacht hast.
Das irritiert dich eine Sekunde, bevor du dich wieder in
deinem Schreibtischstuhl umdrehst.
Meine Hände arbeiten immer lustloser im Spülwasser. Worauf
soll ich noch neugierig sein? In jedem Menschen begegnest du
mir zuerst, Papa. Mühsam muss ich mir klarmachen: Das ist
nicht mein Vater. Sonst kann ich mich für niemanden
interessieren.
Auch in dir muss ich erst meinen Vater vernichten, damit ich
mich für dich interessieren kann. Und das will ich. Selbst wenn
du eine einzige Bedrohung für mich bist.
Bin ich froh, dass Mutti sich schon vor dem Essen um die
Bratpfanne gekümmert hat. Sie hängt bereits geputzt auf den
weißen Kacheln. Etwas über meinem Kopf.
Auf dem Visionsfest, der Kirmes gleich bei uns um die Ecke,
gibt es einen Kasper, der auf einen weißhaarigen Geist
einschlägt. Dieser Geist erscheint, während der Kasper mit uns
Kindern Späße macht, hinter seinem Rücken und ruft
furchterregend: Ich bin der Geist der Unterwelt! Im Nu holt sich
der Kasper seine Bratpfanne, haut sie dem Geist über den
Holzkopf und antwortet trocken: Und jetzt ab mit dir nach
Bielefeld. Das Geräusch vom Schlag der Bratpfanne ist der
eigentlich komische Moment. Darüber lachen wir am lautesten.
Zur nächsten Nachhilfestunde sollte ich wirklich den Frack
deines Vaters anziehen, Papa, und dich mit erhobener
Bratpfanne und dem Lateinbuch unterm Arm begrüßen. Na, du
Geist der Unterwelt?

Mir fällt ein Mitschüler ein, letzte Klasse Volksschule: mein


Vordermann Klaus Kwiatkowski, ein freundlicher Junge mit
eisenharten Armmuskeln, die er uns gerne zeigt und die wir
anfassen dürfen.
Es ist kurz vor der ersten Stunde. Er setzt gerade seinen
Ranzen ab, dreht sich zu mir um und zieht eine Grimasse.
Jetzt kommt sicher was Lustiges, denke ich. Aber ich deute
sein Gesicht falsch.
Er beißt die Zähne zusammen, bewegt die Schultern
vorsichtig und presst hervor: Boah, hat mich mein Vater
gestern verdroschen! Das tut so weh! Jeder Zentimeter auf
meinem Rücken. Ich krieg den Ranzen kaum runter.
Reflexartig sage ich so was wie: Das kann er doch nicht
machen! Er ist doch dein Vater.
Da sind die Augen von Klaus nur noch Schlitze und funkeln
vor Tränen.
Ha!, stößt er hervor, ha!
Ich glaube, er sagt noch, dass ich keine Ahnung habe.
Dann betritt Herr Engelke die Klasse. Klaus dreht sich um,
wir sagen alle brav guten Morgen und setzen uns.
Die ganze Stunde starre ich auf seinen Rücken. Er trägt ein
verwaschenes, türkisfarbenes Hemd. Ich versuche, mir die
Haut darunter vorzustellen. Der Lehrstoff rauscht an mir
vorüber. Ich hätte ihn ganz sanft antippen und ihm zuflüstern
können: Mein Vater schlägt mich auch. Aber das habe ich nicht
gemacht. Ich habe keine Verbindung zwischen uns hergestellt
und gesagt: Ich kenne das. Ich habe mich nicht getraut. Nur
eine Armlänge entfernt sehe ich seinen vor Schmerzen
zuckenden Rücken und bringe kein Wort heraus. Ich wünsche
es mir im Innersten, und ich tue es nicht.
Ich will meinen Vater schützen. Ich will ihn nicht auf eine
Stufe mit seinem Vater stellen. Keiner soll denken, er sei brutal.
Mein Vater ist kultiviert, musikalisch, belesen. Ich bin stolz auf
ihn. Ich will ihn nicht fallen lassen.
In der Pause bildet sich auf dem Schulhof ein Pulk um Klaus.
Kwiatkowski zeigt seinen Rücken!, ruft einer in meine
Richtung, aber ich bin nicht gemeint. Als ich ankomme, dreht
sich ein anderer zu mir um und sagt leise: Du hast hier nichts
verloren. Zisch ab, sonst sieht dein Rücken gleich genauso aus.

Inzwischen haben die Bewegungen am Spülbecken ganz


aufgehört. Meine Hände hängen wie leblos im Schmutzwasser.
Ich ziehe sie raus, lege die Abwaschbürste beiseite, setze mich
an den Küchentisch und stütze meinen Kopf in die Hände, weil
sich gerade alles Blut da oben versammelt.
Ich schäme mich. Wofür? Für meinen Vater? Für mich? Weil
ich mich nicht wehre? Weil ich ihn sogar noch verteidige?
Oder einfach, weil ich i c h bin?
Einen Moment lang rühre ich keinen Finger. Am liebsten
möchte ich nicht einmal atmen. Ich höre einen summenden
Ton. Wahrscheinlich das Blut in meinen Ohren.

Dividieren ist mir fremd. Noch fremder als deutsche


Grammatik. Beim Dreisatz gibt es einen logischen Schritt, den
mein Hirn nicht mitmacht. 1 Maurer braucht für eine Mauer
3 Tage. Wie lange brauchen 3 Maurer für dieselbe Mauer?
Schon die Formulierung «für dieselbe Mauer» bereitet mir
Kopfzerbrechen. Welche Mauer ist da genau gemeint? Brechen
die drei Maurer die Mauer ab, die der erste gebaut hat, und
bauen an derselben Stelle eine neue?
Auf meine Frage, ob die Aufgabe nicht falsch gestellt sei und
eher von einer «ähnlichen» Mauer gesprochen werden müsse,
bekomme ich einen wütenden Blick von Herrn Engelke
zugeworfen.
Dreimal drei Tage. Also neun Tage. Antworte ich.
Die Klassenkameraden kreischen vor Lachen, und ich sage
ganz offen, dass mir das auch sehr lange vorkommt, aber bei
Rechenaufgaben geht es ja um was anderes als um
Glaubwürdigkeit.
Um was denn? Um was geht’s denn?, fährt mich Herr
Engelke an. Nicht dreimal so lange! Sondern dreimal so schnell!
Drei! Mal! So! Schnell! Kapiert?
Aber ich kapiere es nicht, weil der Lehrer diese blöde
Formulierung mit «dreimal» verwendet. Weil er mich
anschreit: «Drei Maurer machen es dreimal so schnell!» Dieses
«dreimal so schnell» führt mich an die Grenzen meiner
logischen Fähigkeiten. Aha, denke ich: Da muss man
malnehmen.
Also dreimal drei, sage ich.
Dreimal so schnell! Nicht dreimal so lange! Herr Engelke ist
jetzt so laut, dass man es in allen Klassenräumen des Gebäudes
hören muss.
Er weiß nicht mehr weiter und lässt sich rückwärts gegen
den Klassenschrank fallen, der gefährlich wankt. Im Schrank
rumpelt es sogar. Da drinnen muss einiges
durcheinanderkommen.
Herrn Engelke läuft der Schweiß über die Riesenstirn, seine
Arme hängen schlaff herab. Er lehnt immer noch am Schrank.
Wieso geht das nicht in deinen Kopf? Was soll ich dir denn
noch sagen? Ich bin am Ende mit meinem Latein.
Wie kann ich ihm bloß mein Problem erklären? Ich glaube,
es hat damit zu tun, dass Worte in meinem Hirn manchmal ihre
Bedeutung verlieren. Sie sind dann nur noch sinnloser Klang.
Ich versuche, mich zu konzentrieren, um Herrn Engelke zu
helfen, und frage ihn, was denn der Unterschied zwischen «zu
schnell» und «zu lange» sei.
Jetzt reicht es ihm. Ich fand meine Frage interessant, aber
Herr Engelke findet sie saublöd, kommt an meinen Platz, stellt
sich hinter mich und trommelt mit seinen Fäusten auf meinen
Rücken ein: Ich bläu dir den Unterschied schon ein, du Idiot! Du
Vollidiot!
Und ich denke, als er nach den ersten Trommelschlägen
nicht aufhört, dass er nicht mehr ganz bei sich ist. Sogar einige
Klassenkameraden sagen leise: Aua, das muss aber weh tun. Ist
das nicht zu stark?
Ich höre das alles nur wie von fern, bin total fasziniert vom
Klang meines Brustkorbs. Mein Oberkörper klingt wie eine
Trommel. Was für ein Resonanzraum!, denke ich, merke aber
auch, wie mir die Luft knapp wird, und wundere mich, dass mir
die Tränen runterlaufen.
Schließlich ruft ein Mädchen, das viel weiter vorne sitzt:
Aufhören! Sie müssen aufhören!
Er hört sofort auf. Alle sehen mich besorgt an, auch Herr
Engelke. Er lässt die Arme fallen, rettet sich hinter sein Pult und
flüstert nur noch: Bis morgen hast du das begriffen! Lass dir
das gefälligst von deinen Eltern erklären und schone meine
Nerven!
Das kann ich nun wirklich nicht machen. Im Arbeitszimmer
meines Vaters mit dem Mathematikbuch erscheinen!

Ich schaue wieder auf meinen Restabwasch, auf die Kacheln im


Sonnenlicht über der Spüle. Ich kann mich nicht entschließen
weiterzumachen.
An dem Tag, als Herr Engelke mir den Dreisatz nicht mehr
erklären konnte, hat eine neue Zeitrechnung für mich
begonnen. Von da an bin ich in einen Morast geraten. Wie habe
ich überhaupt die Aufnahmeprüfung aufs Gymnasium
geschafft?
In Mathematik kriege ich kein Bein auf die Erde. Dazu
kommen die Schwierigkeiten in Latein und deutscher
Grammatik. Lange wird das nicht gut gehen, denke ich.
Der Schulweg hat jetzt eine neue Bedeutung für mich. Er
verläuft wie eine Zündschnur zwischen zwei Enden, an denen
jeweils eine Katastrophe wartet. Aber die Zeit dazwischen wird
plötzlich wunderschön, geradezu magisch. Ich stürze aus dem
Elternhaus Richtung Schule und vergesse, was mich am
anderen Ende erwartet. Und genauso stürze ich mittags aus der
Schule und freue mich auf den Heimweg. Dass dort am Ende
mein Vater steht, blende ich aus. Bis ich ihn sehe.

Jeden Sonntag liest unser Vater uns am Esstisch aus den


«Brüdern Karamasow» vor, zwischen Nachmittagskaffee und
Abendbrot, während es draußen dunkel wird. Die ganze Woche
freue ich mich schon darauf. Die Karamasows sind meine
Ersatzfamilie. Stolz sitze ich neben meinen Brüdern, fühle mich
sicher und kann endlich in Ruhe über sie nachdenken, indem
ich ihnen die fremden Figuren von Dimitri und Iwan
überstülpe.
Manchmal schaue ich meine Mutter an und vergleiche sie
mit Katerina Iwanowna. Auch mein Vater muss dafür
herhalten, dass ich mir das alte Scheusal Fjodor Pawlowitsch
Karamasow besser vorstellen kann, diesen Lustmolch.
Aber das Schönste an diesen Nachmittagen ist, wie lebendig
mein Vater liest. Ich verstehe dann nicht nur die Figuren in
diesem Buch, sondern die Menschen überhaupt. Ich ahne etwas
von dem Sog der Selbstzerstörung, in den offensichtlich jeder
im Lauf seines Lebens hineingerät. Ich kann nicht
auseinanderhalten, ob mir Dostojewski das erzählt oder mein
Vater. Ohne ihn und seine lesende Stimme könnte ich diesem
komplizierten Autor ohnehin nicht folgen.
Beim Zuhören spüre ich, dass seine größte Sympathie
Aljoscha gehört. Das tut mir gut. Denn das bin ich ja selbst.
Dieser jüngste Karamasow-Bruder ist ein Mönch mit einer
unendlichen Menschenliebe, möglicherweise ein bisschen
beschränkt.
Wir sind hier bei den Karamasows unter unseresgleichen.
Das schwingt in seiner Stimme mit. Keiner wird verurteilt.
Nicht einmal der Mörder Smerdjakow.
Warum versteht unser Vater Dostojewski so gut? Vielleicht,
weil er da drüben in seinem Jugendgefängnis vierhundert
gescheiterte junge Menschen hinter Schloss und Riegel hat?
Weil ihm täglich irgendein Strafgefangener seine Geschichte
erzählen muss? An seinem Gefängnisschreibtisch, wo er jedem
geduldig zuhört? Vielleicht auch aus einem Grund, den ich
nicht kenne.
Aber ich werde nie begreifen! Ich begreife es einfach nicht!
Ich kann es nicht begreifen: Warum! Er! Mich! Schlägt!
Ich schaue aus dem Fenster, ich weiß, eigentlich ist nicht
mehr viel abzuwaschen. Die paar Schälchen vom Nachtisch
und ein bisschen Besteck. Dann noch einmal mit dem nassen
Lappen über die Flächen und fertig. Aber ich habe überhaupt
keine Lust, vom Stuhl aufzustehen.

Auf dem Schreibtisch liegen meine Arme, kraftlos, meine Finger


stellen sich tot, der ganze Körper ist taub, wenn ich an die
Schläge meines Vaters denke. Nicht anders als damals am
Küchentisch.
Es ist April. Die Tage sind erschreckend klar. Die Luft
durchsichtig. Es wird weniger Auto gefahren. Weniger CO 2
produziert. Keine Flugzeuge in der Luft. Kontaktverbot. Leute
über siebzig sollen nicht aus dem Haus. Ich bin Mitglied der
Risikogruppe. Das Gesundheitssystem darf nicht kollabieren.
Das ist das Wichtigste.
Die Klarheit dieses Tageslichts fragt mich durch die
Fensterscheiben: Warum schämst du dich? Die Pandemie hält
die Zeit an, damit ich ausspreche, was mir so schwer auf die
Zunge will. Hier drinnen bin ich im Reagenzglas. Die Welt ist
draußen, blendend, fast unbetreten, und guckt mir zu:
Mensch, Edgar, sag, was los ist!
Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist es, was los ist.
Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu
werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass
seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben.
Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.
Kasperpuppen
Uli Heckeroth fällt mich von hinten auf dem Schulhof an,
reißt mich zu Boden, rollt sich über mich, sitzt rittlings auf
meiner Brust, zwängt mich zwischen seine nackten
Oberschenkel, greift meine Schultern, krallt sich in ihnen fest
und schüttelt mich im Rhythmus seiner keuchenden Sätze:
Du-bringst-morgen-deine-Kasperpuppen-mit! Hörst du? Du
Blödmann! Du-spielst-für-uns-morgen-Kaspertheater! Eine
ganze Stunde lang. Wir wollen morgen keinen Unterricht. Wir
wollen morgen Kaspertheater sehen. Zier dich bloß nicht, du!
Ich verdresche dich, dass dir Hören und Sehen vergeht.
Er keucht stoßweise seine Sätze heraus. Ihm tropft die
Spucke vom Kinn auf meine Brust.
Das Wort «sexy» kenne ich noch nicht. Leider. Hätte ich dies
Wort zur Verfügung, ich würde Uli Heckeroth in dies Wort
hineinpressen, dass er nie wieder herausfindet. Ist der sexy!
Diese Haut! Diese Glätte! So blank! Glatte, spiegelblanke, gelb
gebräunte Haut. Die Oberschenkelmuskeln. So was von
stramm. Und sie kommen aus einer dunkelgrünen, vor Fett
blitzenden Lederhose.
Sein dunkelblondes Haar, kurzgeschoren bis zum Deckhaar,
wippt mit jeder Bewegung mit, seine Augen haben Feuer, und
seine Stimme, seine Kinderstimme, ist ein Zaubertrank. Es ist
eine weibliche Altstimme mit einem warmen, vibrierenden
Ton. Aus ihm redet eine Sängerin, eine hysterische Altistin.
Eine Stimme, die sich immer wieder in der Höhe überschlägt.
Eine Stimme mit einem Sprung. Manchmal kratzt sie. Der
Stimmbruch kündigt sich an. Eine Stimme zum Austrinken.
Er schreibt nur Einser. Ein Superschüler. Stammt aus einer
Straße mit lauter alten Villen. Jugendstil. Walmdächer.
Veilchenstraße. Da sehen die Häuser aus wie Kaffeetanten. Mit
blühenden Glyzinien auf den Fassaden. Da wohnt er. Mit einer
Mutter, die seine Stimme und seine Haut hat, groß wie Pallas
Athene vorn auf unserem Geschichtsbuch, eine Frau, der man
die Wünsche von der Stirn ablesen will.
Tut das weh, wie der auf mir draufhockt und mich
durchschüttelt. Ist das schön. Ein unfassbarer, völlig
unerwarteter Rausch.
Vier Jahre habe ich ihn beobachtet. Nie angesprochen.
Wertlos kam ich mir vor. Und plötzlich springt der mich an! Am
Ende der Pause. Auf dem Schulhof. Auf den letzten Metern der
Grundschulzeit. Kurz bevor wir alle auseinandergehen. Auf die
Gymnasien, die Realschulen, die Hauptschulen.
Und der geht nicht runter von meiner Brust. Obwohl fast alle
Schüler schon im Gebäude sind. Der bleibt auf mir sitzen und
zieht mich in ein anderes Zeitfenster. Ein einsamer Schulhof –
und wir zwei liegen auf dem Asphalt.
Glaub bloß nicht, dass ich dich loslasse! Hast du mich
verstanden?
Manchmal vergisst er, mich zu schütteln, und starrt mich
nur an. Dann reißt er wieder an meinen Schultern: Bringst du
die Kasperpuppen mit? Sein Kopf kommt immer dichter an
mein Gesicht. Du sollst sagen, dass du morgen spielst,
verdammt noch mal!
Ich werde den Teufel tun und ihm antworten! Sitzen bleiben
soll er auf mir. Ich antworte einfach nicht. Das ist das Beste.
Dann m u s s er auf mir sitzen bleiben.
Hast du mich verstanden? Spielst du? Wirst du spielen?
Klar, ich werde spielen. Aber warum soll ich ihm das sagen?
Natürlich werde ich spielen. Kaspertheater kann ich immer
spielen. Mit links. Aber warum soll ich ihm das sagen?
Er soll mich zusammenpressen. Tag für Tag. Am besten Tag
und Nacht.
Er wird irre vor Wut, weil ich nichts sage. Weil ich ihn nur
fühle und wortlos anglotze. Er presst meine Rippen zusammen,
sodass ich kaum noch Luft kriege. Enger geht es nicht. Ich reiße
den Mund auf. Wenn doch nur sein Speichel da reintropfen
würde! Was für ein Rausch. Warum muss der enden?
Der wird enden. Ich weiß es. Der wird enden. Der wird so
nie wiederkommen. In meinem ganzen Leben nicht. Das weiß
ich.
Plötzlich lässt er los. Steigt ab.
Wir müssen rein!, schreit er mich mit seiner Gesangsstimme
an. Wir kommen zu spät. Komm schnell!
Ich wusste gar nicht, wie schnell ich laufen, wie viele Stufen
ich auf einmal nehmen kann, wie viel Kraft ich habe. Weil ich
mit ihm auf gleicher Höhe bleiben will. Dass ich das kann! Dass
ich so stark und schnell bin!
Einen Meter vor Herrn Engelke flitzen wir in die Klasse.
Noch über die Bänke hinweg funkelt er mich an, ballt die Faust
und ruft mir zu: Denk an die Kasperpuppen!
Dvořák
Seit Wochen übt Werner Dvořáks Cellokonzert.
Ich sitze vor seinem Zimmer, auf dem Boden neben seiner
Tür, und höre zu.
Wie oft übt ein Musiker ein und dieselbe Stelle? Hundertmal,
sagt man. Ich denke, das kommt hin.
Jetzt hat er sich den Anfang vorgenommen, den allerersten
Einsatz des Solocellos nach der Orchestereinleitung. Es ist ein
kurzes, prägnantes Motiv: Eine Viertel mit einem Punkt, zwei
Sechzehntel und eine Halbe. Mehr nicht. Das wird einmal
wiederholt, mit einer leichten Abweichung, und das war’s
schon. Zwei Weckrufe. Das ist das Material.
Ich staune, wie viel Spannung darin steckt. Binnen weniger
Takte entwickelt sich daraus ein unaufhaltsamer Strom an
Lebenskraft. Im Handumdrehen ist ein musikalischer Einfall in
einen Strudel von Formen explodiert. Die Energie hat sich
vervielfacht. Da ist etwas erwacht, das seine Möglichkeiten
entdeckt hat und das jetzt, einmal aufgestört, nicht mehr zu
bändigen ist. Eine Spur frisst sich ins Leben.
Werner spielt das von Anfang an unerbittlich. Er setzt beim
ersten Ton seinen Bogen auf den Saiten auf, als ob eine Axt ins
Eis fährt. Und alles, was folgt, eine Passage von vielleicht
sechzig Takten, wird unter seinen Händen zu einem einzigen
leidenschaftlichen Bekenntnis. Dabei ringt er in jedem Moment
so genau um den Rhythmus, um die Kürze oder Länge der
einzelnen Note, als ginge es um Sein oder Nichtsein.
Ist das aufregend! Keine zwei Meter von mir entfernt, gleich
hinter der Tür, bohrt sich der Stachel seines Cellos in den
Boden. Das ist, als säße ich zwischen den Füßen meines
Bruders. Aber er sieht mich nicht. Er weiß gar nicht, dass ich da
bin. Er spielt nicht für mich, er übt für sich, und ich belausche
ihn.
Man kann diesen Anfang vom Dvořák-Konzert auch anders
spielen. Gesanglicher. Wir haben verschiedene
Schallplattenaufnahmen. Zum Beispiel von einem Franzosen,
Pierre Fournier. Den habe ich mal in Bielefeld in der Oetker-
Halle gehört, mit einem Sonatenabend. Eine Karte war übrig.
Mein Vater und Werner haben mich mitgenommen.
Beim Auftritt humpelte ein gutaussehender weißhaariger
Mann mit seinem Cello auf die Bühne. Im Alter von neun
Jahren hat er Kinderlähmung gehabt, wollte eigentlich Pianist
werden, konnte aber mit dem rechten Fuß die Pedalbewegung
nicht mehr ausführen. Also hat er auf Cello umgesattelt. Er ist
ein weltberühmter Musiker geworden und hat in der Nazizeit
in Frankreich unendlich viele Konzerte gegeben. 1949 bekam er
ein halbes Jahr Aufführungsverbot wegen Kollaboration mit
dem nazifreundlichen Vichy-Regime.
Der Herr, der mit ihm auf die Bühne kam, war der Pianist
Wilhelm Kempff. Auch ein weltberühmter Musiker. Auch ein
Propagandapianist in der Nazizeit.
Von dem Augenblick an, als die beiden an ihren
Instrumenten saßen und spielten, habe ich das alles vergessen
und nur noch hingerissen zugehört. Immer wenn sie das
Podium verlassen haben oder wieder aufgetreten sind, habe ich
mich gewundert, wie vornehm sie unter tosendem Applaus
über ihre Vergangenheit hinwegschreiten und mit ihren
weißhaarigen Köpfen in Beethovens Aura schweben.
Ich bin natürlich total mit Zweitwissen gefüttert. Es sind
Werners Informationen, die mich auf dem Laufenden halten.
Damit ich nicht alles glauben muss, was meine Eltern mir
erzählen.
Werner hat am Ende des Konzerts in der Oetker-Halle
spöttisch bemerkt, dass es schon etwas Besonderes ist, diese
beiden alten Nazis zusammen musizieren zu hören.
Normalerweise suchen die sich jetzt jüdische Künstler als
Partner. Kempff zum Beispiel tritt gerne mit Yehudi Menuhin
und Henryk Szeryng auf.
Mein Vater hat die Lippen zusammengekniffen. Irgendwann
hat er gesagt: Aber dass sie großartig gespielt haben, wirst du
doch nicht bestreiten.
Jaja, sagt Werner lässig. Etwas ölig spielt Fournier schon. Ein
bisschen charakterlos eben.
Das nächste Mal kannst du dir deine Karte selber kaufen,
sagt unser Vater ziemlich scharf.
Kein Problem, meint Werner, mit meinem Studentenausweis
wäre ich sowieso umsonst reingekommen.
Der Rest der Rückfahrt verlief in eisigem Schweigen.
Da ich bei so einem Streit nichts beizutragen habe, spüre ich
nur die Spannung zwischen den beiden, und das ist nicht
gerade angenehm. Außerdem möchte ich es mir mit keinem
verderben. Mit meinem Vater habe ich seltsamerweise Mitleid.
Ich spüre, dass er an der Wand steht und ihm die Argumente
schlapp aus den Händen fallen. Er will nicht als Nazi
rüberkommen, aber sein ganzes Denk- und Sprachgebäude ist
in dieser Zeit errichtet worden, und so schnell findet er kein
anderes.
Von der völkischen Bewegung, die ihn mal getragen hat, ist
nichts mehr übrig. An ihm klebt nur noch Hurrageschrei,
Rausch, Taumel, leeres Pathos vom deutschen Wesen,
Größenwahn, Hass auf die Juden und alle Andersdenkenden,
und vor allem die Lager! Wie soll er damit umgehen, dass er
mehr gewusst hat, als er zugibt? Er weiß nicht, wie er da wieder
rauskommen soll, ohne einen Teil seines Lebens
durchzustreichen.
Bei unserer Mutter ist das ähnlich. Und bei Kempff und
Fournier wird es nicht anders sein.
Meine Brüder sind mein Tor zur Welt. Jede Information von
ihnen ist für mich Gold wert. Aber wie Werner mit seinen
Sätzen zubeißt, erschreckt mich. Verblüffend, dass er mit
unserem Vater so oft gemeinsam musiziert! Manchmal
mehrmals in der Woche. Dabei scheinen sich beide sehr
wohlzufühlen. Sobald sie an ihren Instrumenten sitzen,
respektieren sie einander. Dann zählt nur die Musik.
Vielleicht ist es aber auch so, dass sie aufeinander
angewiesen sind. Denn beide wollen unbedingt Kammermusik
machen. Sie wollen diese riesige Sonatenliteratur
kennenlernen. Und dazu müssen sie zusammen spielen. Ganz
egal, was jeder vom anderen hält.
Jedenfalls komme ich zwischen den beiden gar nicht vor. Ich
bin nur Zuhörer. Publikum. Mein einziger Vorteil ist, dass ich
jung bin. Sie müssen damit rechnen, dass auch ich mal größer
werde. Und das tun sie. Ich spüre, dass sie mich als ein
Potenzial von morgen behandeln, auch wenn ich nichts
darstelle und nichts kann. Ich spiele mäßig Klavier, bin ein
miserabler Schüler, ich stottere, weil ich zu viel zu schnell
erzählen will, ich neige zur Unverschämtheit, weil mir niemand
die Zeit gibt, meine Gedanken zu entwickeln, ich bin unehrlich,
damit ich nicht geschlagen werde. Oft mache ich andere nach,
um sie auf Distanz zu halten. Komischerweise akzeptieren das
alle. Bis auf meine Mutter. Die lacht erst ein bisschen, aber
dann sagt sie: Ich soll nicht so überheblich sein.
Werners Vorbild ist ein kleiner, kräftiger Spanier: Pablo
Casals. Den kenne ich auch von der Schallplatte, wie Fournier.
Auf der Hülle seiner Dvořák-Aufnahme gibt es ein Foto von ihm
am Cello, die linke Hand liegt locker auf dem Griffbrett, in der
andern hält er den Bogen, aus dem Mund hängt eine Pfeife. Es
heißt, er weigere sich, seine Heimat zu betreten, solange
General Franco dort regiert. Deshalb veranstaltet er jedes Jahr
in einem winzigen Grenzdorf in den französischen Pyrenäen
internationale Festspiele. Eine Demonstration gegen die
spanischen Faschisten. So spielt er auch Cello. Als ein
Bekenntnis zur Freiheit. Und als eine Ansage gegen
unentschiedenes Schön-Spielen.
Das kann man hören. Die Auf- und Abstriche seines Bogens
können aggressiv, ja brutal sein, aber auch so weich und leise,
dass man den Anfang des Tons gar nicht ausmachen kann. Mit
seiner Kunst des Phrasierens erschafft er immer neue,
unerwartete musikalische Zusammenhänge, und seine
Verzögerungen und Beschleunigungen im Tempo sind
unendlich vielfältig. Am meisten ergreift mich sein Ton in der
Tiefe. In Dunkelheit gefangen zu sein und von einem
Sonnenstrahl zu träumen, könnte keinen besseren Ausdruck
finden.
Keine Frage, dass ich das Cellospiel von Casals dem von
Fournier vorziehe. Aber wenn ich meinen Bruder aus der Nähe
hören kann wie jetzt, fehlt mir auch Casals nicht.

Unser Vater unterscheidet zwischen schöpferischen und


nachschöpferischen Fähigkeiten. Da muss man erst mal drauf
kommen! Aber er sieht da ausdrücklich einen Rangunterschied.
Dramatiker und Komponisten etwa rangieren über ihren
Interpreten, den Musikern und Schauspielern. Zuhörer, Leser,
Theaterbesucher und so weiter sind sowieso nur Fußvolk.
Das macht mich zornig. Ich finde es eine Zumutung, vom
schöpferischen Vorgang ausgeschlossen zu werden. Zuhören
kann doch eine ebenso schöpferische Tätigkeit sein wie
Komponieren!
Mein Vater zeigt mir einen Vogel, wenn ich das sage, er
glaubt an Oben und Unten. Ganz egal, ob er von Gott spricht,
von Beethoven, Dostojewski, Rembrandt, Hitler, Adenauer, von
Generälen oder Eltern: Überall wimmelt es von Vorgesetzten.
Das ist seine Welt.
Wenn er das Wort «schöpferisch» ausspricht, mit feuchter
Aussprache und kurzem, akzentuiertem ö, muss ich an eine
Suppenkelle denken. Seine Hand zuckt kurz in der Luft, als
würde ein großer Geist aus dem Nichts schöpfen.
Das kann nicht sein! Jeder Schöpfer findet etwas vor, womit
er umgeht und was er verwandelt. Und das tue ich beim Hören
vor Werners Tür auch. Ich empfinde etwas, lasse mich
berühren, stelle mich zur Verfügung. Der Komponist, der
Interpret, der Zuhörer, alle legen doch gemeinsam ihre
Erfahrungen von Chaos und Ordnung nebeneinander. Gerade
weil es Dvořák und meinem Bruder gelingt, den Eindruck
unbändiger Lebenskraft so plastisch entstehen zu lassen, öffnen
sich meine eigenen Abgründe und Sehnsüchte. Da muss ich
durch. Das muss ich zulassen und überstehen. Ganz alleine.
Und das gelingt mir nur, wenn ich mich in der Gemeinschaft
von Dvořák und meinem Bruder als Gleicher unter Gleichen
erlebe.
Unser Vater hat aber noch eine Variante seiner Theorie vom
Schöpferischen. Beim Mittagessen sagt er: Die Juden seien
nachschöpferisch, aber nicht schöpferisch. Zugleich versucht
er, mit dieser Unterscheidung seine Bewunderung für die
gesamte russisch-jüdische Geigentradition auszudrücken, aber
im Sinne von: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Ihr Juden
könnt zwar toll Geige spielen, aber bildet euch nicht ein,
komponieren, dichten oder malen zu können.
Am Tisch herrscht Stille. Niemand sagt was.
Meine Mutter stimmt zu. Sie, die selbst nur ein eierndes
Vibrato auf der Geige hinkriegt, redet angeekelt über
rutschende Tonübergänge, sogenannte «jüdelnde Rutscher»,
und meint damit Jahrhundertgeiger wie Kreisler, Hubermann,
Heifetz oder Menuhin.
Werner und Martin sagen nichts. Als ob sie abwarten. Die
Stimmung ist gespannt.
Ich spüre unsichtbare Funken in der Luft, jongliere in
Gedanken mit einem Einwurf und hoffe, ein Feuerchen zu
entfachen. Ich sage nur: Mendelssohn ist doch ein großer
Komponist, oder?
Unsere Eltern brauchen einen Moment, um nachzudenken.
Natürlich schätzen sie diesen Komponisten. Dann ziehen sie
fast gleichzeitig die Stirn kraus und gleiten gemeinsam in
diesen missmutigen Ausdruck, der auf ihrem Gesicht erscheint,
wenn das Gespräch auf die Juden kommt: Mendelssohns Musik
sei eben eigentlich z u schön. Ein bisschen wie Konfekt. Wenn
man zu viel davon hat, wird einem schlecht. Mendelssohn sei
zwar sehr eingängig, aber ohne Tiefe. Letztlich ohne Seele. Das
reiche an Brahms oder Schumann nicht ran.
Trotzdem, das geben sie zu, hören sie gern das Violinkonzert,
das Klaviertrio, einige Lieder ohne Worte, und auch das
Oratorium Elias hat unvergesslich schöne Stellen. Und nicht zu
vergessen: Als Wiederentdecker von Bach haben ihm die
Deutschen viel zu verdanken.
Dann meldet sich Werner zu Wort.
Das habe ich gehofft.
In Mendelssohns Schönheit, sagt er, sei immer eine Hetze
spürbar, ein Gejagt-Sein. Die Rastlosigkeit, mit der dieses Volk
in seiner ganzen Geschichte geschlagen sei, könne man in
jedem Takt hören. Allerdings müsse man die Musik dazu richtig
spielen, ein hohes Tempo riskieren, das falsche Rubato
weglassen und sich nicht auf den sogenannten schönen Stellen
ausruhen, bis sie einem zum Hals raushängen.
Da sind unsere Eltern still.
Erst mal, weil unser Vater rein technisch die Tempi im
Mendelssohn-Trio nicht so schnell nehmen kann wie Werner
auf dem Cello. Von meiner Mutter, die eigentlich nur die
langsamen Sätze spielen will, ganz zu schweigen.
Aber die beiden Alten sind sich auch nicht mehr so
bombensicher, ob ihr Urteil über die Juden und das Jüdische
stimmt. Es ist ihnen selbst nicht recht, was sie denken, ihre
Vorurteile machen sie nicht froh, zurück können sie aber auch
nicht, und so stecken sie in einer Gedankenfalle. Deshalb
kommen sie jetzt auf jüdische Bekannte zu sprechen, die sie
schätzen und achten.
Es könnte alles gut sein. Das Gespräch könnte einen
friedlichen Verlauf nehmen. Der große Streit scheint
abgewendet.
Aber Edgar, der kleine Zündler, ist noch nicht zufrieden.
Ganz harmlos werfe ich ein: Ist die Bibel keine schöpferische
Erfindung?
Prompt antwortet unser Vater: Die Bibel ist überhaupt keine
Erfindung, sondern Gottes Wort, das sich an alle Menschen
richtet!
Das würde ich aber auch sagen, ereifert sich unsere Mutter.
Gerade die Juden haben Gottes Botschaft des Neuen Testaments
mit Füßen getreten und Christus, der sie retten wollte,
respektlos ans Kreuz genagelt.
Trocken, vollkommen humorlos, sagt Werner: Dann seid ihr
ja quitt. Von Respekt zeugt euer Umgang mit den Juden auch
nicht. Eher von Mordlust.
Das ist ein Satz für eine große Stichflamme. Eine kurze
Zäsur, und dann schlägt unser Vater mit der flachen Hand auf
den Tisch, dass Geschirr und Besteck klirren: Es hat niemand
gewusst, was in den K Zs geschieht, und wer es gewusst hat, ist
abgeholt und selbst nach Auschwitz geschickt worden!
Und unsere Mutter schüttelt den Kopf, weil wir Kinder keine
Ahnung haben, wie die Juden sie damals von allen Plätzen
gedrängt hätten. Im Theater, in der Oper, in Konzertsälen, in
den Universitäten, in den feinen Restaurants, in den Zeitungen,
in der Politik, ach, überall, wo man hinsah: Die Juden waren
immer schon da. Überall haben sie einem vor der Nase
gesessen.
Ich muss gar nichts sagen. Die Sache läuft von alleine. Auf
Werner ist Verlass. Im richtigen Augenblick ist er zur Stelle.
Zu unserer Mutter sagt er: Regt euch doch nicht auf. Ihr habt
ja gründlich aufgeräumt. Jetzt könnt ihr zufrieden in eurem
arischen Mief sitzen und euch an der eigenen Tiefe berauschen.
Seele im Überfluss.
Keiner bleibt mehr auf dem Stuhl sitzen, die Tafel ist
schlagartig aufgehoben.
Aber das Essen ist noch warm, der falsche Hase und der
Rotkohl und die Salzkartoffeln auf dem Teller sind gerade erst
probiert und haben Appetit gemacht. Niemand will jetzt
beleidigt in seinem Zimmer verschwinden. Selbst unser Vater
will mit unserer Mutter nicht ins Bett, bevor er gegessen hat.
Also setzen sich alle wieder hin und essen schweigend
weiter. In den Hirnen arbeitet es. Auch bei mir.
Paul Celan ist doch auch kein schlechter Dichter, sage ich
und schiebe mir zur Sicherheit eine Gabel mit einem großen
Stück falschen Hasen in den Mund.
Martin hat mir zu Weihnachten ein Büchlein von ihm
geschenkt: «Mohn und Gedächtnis». Eigentlich zu früh für
mich. Aber Martin verfolgt eben auch seine pädagogischen
Pläne, und mir hat dies Geschenk enorm geschmeichelt.
Jeder in der Familie hat in den Weihnachtstagen einen Blick
auf Celans Gedichte geworfen, vor allem auf die «Todesfuge».

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends


wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Die Worte sind schön, sagt unsere Mutter. Auch wenn ich sagen
muss, dass ich nicht alles verstehe.
Und unser Vater sagt zu Martin über seinen Brillenrand
hinweg: Du kannst ja dann Edgar erklären, was das heißt:

Dein goldenes Haar Margarete


Dein aschenes Haar Sulamith

Erklär du’s ihm doch, sagt Werner. Du weißt doch am besten


Bescheid.
Mein Vater wirft sein Besteck auf den Teller, dass am Rand
eine Ecke abspringt, und schreit: Red doch nicht von Dingen,
von denen du nichts verstehst! Du hast doch damals noch gar
nicht gelebt!
Ich bin 1940 geboren, falls du es vergessen hast, und da
haben sie in den Todesfabriken gerade so richtig losgelegt.
Ach, und als Baby hast du das mitgekriegt, ja? Mach dich
doch nicht lächerlich!, höhnt unser Vater. Warum haben wir
dich bloß gezeugt!
Unsere Mutter legt ihre Hand auf seinen Arm und murmelt:
Das solltest du trotzdem nicht sagen.
Ja, natürlich, verbessert er sich. Aber wenn er einen solchen
Stuss zusammenredet …
Es ist schon zu spät. Werner lässt sich seine Antwort nicht
nehmen: Ich dachte eigentlich, ihr hättet schon genug Kinder
umgebracht, aber sicher hättet ihr mich im Euthanasie-
Programm auch noch unterbringen können.
Jetzt geht’s los.
Wenn du bei mir am Tisch sitzen willst, pass auf, was du
sagst!
Ich muss hier nicht am Tisch sitzen. Ich kann auch in
Detmold wohnen.
Werner bleibt immer ganz ruhig. Je länger der Streit dauert,
desto besser gefällt er ihm. Er bleibt keine Antwort schuldig. Er
hat immer das letzte Wort.
Ich schick dich in eine Schlosserlehre!, brüllt unser Vater.
Das ist jetzt zu spät, sagt Werner.
Das wollen wir doch mal sehen!
Versuch’s doch mal.
Noch hängst du von mir ab. Du bist nicht volljährig. Ich zahl
dein Studium.
Da finden wir schon eine Lösung, entgegnet Werner. Wir
können das Gespräch ja in der Akademie fortsetzen. Mit den
Professoren. Wir können ja mal wegen eines Stipendiums
nachfragen. Wenn du nicht mehr zahlen willst, weil ich deine
Nazi-Ansichten nicht teile, haben sie vielleicht Mitleid mit dir.
Aber ich fürchte, da wirst du kleinere Brötchen backen.
Das Fleisch im Gesicht unseres Vaters wird leicht zittrig,
unsere Mutter wird dünner und dünner, ihr Blick immer
härter. Hinter ihrer Stirn hält sie verzweifelt fest: Es kann nicht
alles falsch gewesen sein, womit ich aufgewachsen bin! Und
das, was daraus entstanden ist: Auschwitz, Stutthof, Dachau,
Buchenwald – das hat doch nichts mit mir zu tun!
Mein Vater springt auf, rennt aus dem Zimmer, knallt die
Tür zu und schreit im Schlafzimmer weiter.
Ja, ich geh dann üben, sagt Werner, steht auf und verlässt
das Zimmer.

Ich habe nicht mitbekommen, dass mein Bruder aufgehört hat


zu spielen. Plötzlich geht die Tür auf, und Werner stürzt mit
seinem Cellokasten an mir vorbei in den Flur. Er sieht mich
kaum, so eilig hat er es. Die Haustür schlägt hinter ihm zu.
Irgendwas hat er zu mir gesagt. Wahrscheinlich, dass er schnell
auf den Zug muss.
Er fährt jetzt nach Detmold, in die Musikakademie. Ich habe
ihn da mal besucht. Wir standen in diesem alten Palais auf dem
Flur, im ersten Stock, und ich habe nur gestaunt. Von überall
her ein Gewirr von Klängen, wie vor einem Symphoniekonzert,
wenn alle durcheinanderspielen und ihre Instrumente
stimmen. Hinter jeder Tür eine andere Musik. Alles gleichzeitig.
Auf breiten Treppen liefen Menschen auf und ab, sangen oder
summten vor sich hin. In der Kantine schnatterten sie in
fremden Sprachen und warfen sich quer über die Tische
Melodien zu. Geräusche wie in einer Vogelvoliere.
Und jetzt? Was mache ich jetzt? Schularbeiten? Klavier
üben? Nicht einmal den Deckel über der Tastatur möchte ich
aufklappen. Üben ist wie Steine klopfen. Ich träume von einem
Leben, wo ich nicht so viel üben muss.
Seit Werner die Haustür hinter sich zugeschlagen hat, ist es
deutlich stiller im Haus. Eigentlich ist es ganz still. Es ist
niemand da.
Das darf doch nicht wahr sein!, denke ich. Sobald ich allein
bin, ändern die Dinge ihren Charakter. Außergewöhnlich, wie
dieser Tisch da steht. Was Sessel und Stühle für einen
angespannten Ausdruck haben. Die Bilder der Komponisten an
den Wänden schauen wie echte Gesichter ins Zimmer. Das
Fenster mit allem, was es von außen hereinlässt, ist eine Fratze.
Der schwarze Flügel scheint eine einzige Drohung.
Was soll das? Die Dinge leben doch nicht!
Doch, sagen die Dinge: Bis hierhin sind wir gekommen. Nicht
weiter.
Das überfordert mich und macht mir Angst. Bloß raus hier.
Ich stürme aus dem Haus und schnappe mir meinen Roller.
Nichts wie weg.
An der Mauer
Dvořáks Viervierteltakt sitzt mir in den Knochen. Mit dem
Fuß stoße ich mich auf der Eins und auf der Drei vom Boden
ab. Dazu singe ich mit. Nicht melodisch. Eher wie ein Hund, der
an der Leine zerrt.
So fahre ich mit meinem Roller um das Gefängnis herum.
Auf der einen Seite die Mauer, auf der andern die kleinen
Doppelhaushälften der Aufseher. Alles aus demselben rostroten
Klinker.
Jeden Meter dieser Strecke kenne ich. Jede Familie, jedes
Gesicht, jeden Tonfall, jeden Blick. Die Beamtenfrauen sitzen
jetzt am Küchentisch und lösen Kreuzworträtsel. An jeder Tür
könnte ich klingeln. Überall würde man mir freundlich öffnen.
Aber seit ich auf dem Gymnasium bin, habe ich meine Besuche
eingestellt. Was ist los mit mir? Bin ich plötzlich was Besseres?
Auf der Rückseite vom Gefängnis ist freies Gelände. Keine
Häuschen mehr, nur noch die Mauer, und rechts davon eine
breite Wiesenböschung hinunter zu einer Weißdornhecke, die
die Straße abschirmt. Immer liegt hier ein schwerer, süßer
Geruch in der Luft, von Karina, der Schokoladenfabrik auf der
anderen Seite der Werrestraße. Nie habe ich hinter den großen
Fenstern ein Gesicht gesehen, nur Umrisse von Rohren und
Kesseln. Hier kommt niemand her. Hier bin ich unbeobachtet
.
Ich lasse den Roller auf den Boden fallen, lege mich ins Gras,
stütze den Kopf in die Hände und habe das Gefängnis im Blick.
Die Mauer ist schon besonders. Das sind nicht nur simpel
aufeinandergeschichtete Ziegel. Nein, die haben sich richtig
was einfallen lassen. Alle zehn Meter vertikale Pfeiler, im
oberen Bereich verbunden durch einen gemauerten Bogen, im
unteren durch eine vorspringende Rampe. Wie ein
verschlossenes Bühnenportal sieht so ein Mauerstück aus.
Zigfach aneinandergereiht. Wo es um die Kurve geht, gibt’s
Ecktürmchen. Wir haben ein richtiges preußisches
Vorzeigegefängnis.
Immer wieder springen Sträflinge von dieser Mauer runter,
fünfeinhalb Meter tief, reiben sich vermutlich die Knöchel, die
Panik im Nacken, und laufen dann weiter. Die Böschung
hinunter, vorbei an der Schokoladenfabrik bis zur Gasanstalt,
dann die Bahngleise entlang bis in die Schweichelner Berge und
durch die Felder Richtung Löhne bis zur Porta Westfalica. Und
am Ufer der Weser die Frage: Hamburg oder Rotterdam.
So würde ich das machen, wenn ich der Flüchtling wär. Aber
ich kann so weit laufen, wie ich will, mein Gefängnis trage ich
immer mit mir herum. Es sitzt in mir drin. Das weiß ich seit
langem. Ich hab keinen Mut, andere zu enttäuschen. Wenn ich
das könnte, wäre ich frei.
Ich setze mich auf, lehne mich mit dem Rücken an die
Mauer, die Sonne hat die Ziegel vorgewärmt, das Gras wächst
bis an die Steinkante, es gibt sogar Schäfchenwolken am
Himmel.
Seit ich aufs Gymnasium gehe, bin ich noch häufiger allein
als vorher. Eigentlich halte ich das gut aus. Ist ja immer was los
in meinem Kopf. Zu zweit ist es neuerdings schwieriger. Ich
weiß nicht, was mir dabei mehr zu schaffen macht, das
Alleinsein der anderen oder mein eigenes.
Das ist eben das, was sich geändert hat. Deswegen besuche
ich die Frauen der Aufseher nicht mehr. Früher habe ich mich
gern an ihren Küchentisch gesetzt, mit dem warmen
Kakaobecher zwischen den Händen. Mir hat es gefallen, dass
dann nicht pausenlos gesprochen wurde wie bei uns zu Hause.
Die Frauen konnten lange schweigen, während sie mich über
den Tisch hinweg anlächelten und mir zunickten. Hin und
wieder haben sie mir Fragen gestellt, was ich so mache, was ich
mal werden will, bei welchem Lehrer ich bin, wann ich aufs
Gymnasium komme und so weiter. Aber es blieben immer
diese langen Unterbrechungen, in denen wir uns bloß
angeschaut haben. Und wir waren sehr zufrieden damit.
Bei meinen Besuchen habe ich gewisse Unterschiede in den
Familien bemerkt, aber vor allem hat mich erstaunt, wie
ähnlich sich alle sind. Manchmal dachte ich, die unterscheiden
sich nur durch das Geschirr, durch die Tasse, aus der ich trinke,
durch das Muster auf den Gardinen, den Geruch im Zimmer.
Einsam waren diese Frauen. Das hab ich an ihren Blicken
gesehen. Manchmal zuckten sie wie aus dem Nichts mit den
Schultern und lächelten. Mir ist dann aufgefallen, dass ich auch
allein bin. Und wie Puzzleteile haben wir stumm unsere
Einsamkeiten verglichen und ohne Worte viel Zeit damit
verbracht. Das war alles andere als sinnlos.
Jetzt besuche ich sie nicht mehr, weil ich mich schäme und
schuldig fühle, wenn sich jemand in meiner Gegenwart allein
fühlt. Hat das was mit dem Gymnasium zu tun? Vielleicht liegt
es an dem Mädchen, das vor mir in der Bank sitzt und mir den
Kopf verdreht hat.

Es muss gegen fünf Uhr sein. Meine Lieblingszeit. Der Tag


bekommt Gewicht, hängt sich aus, bevor er in die Dämmerung
und dann in die Dunkelheit fällt.
Ich imitiere ein Waldhorn und blase das Seitenthema aus
Dvořáks Cellokonzert, erster Satz, ganz leicht, ohne Druck in
den Lippen, schön weich, mit lockeren Backen. Sogar ein
kleines Vibrato kriege ich hin.
Das ist eine einzigartig schöne Melodie. Unvergesslich, wie
die Moldau von Smetana. Laut Werner mischen sich da
böhmische Einsamkeit und die Weite amerikanischer
Landschaft. Der ausgewanderte Dvořák hatte Heimweh. Das
passt in seiner Stimmung gut hierher, zwischen Knast und
Schokoladenfabrik. So viel Heimweh, so viel Sehnsucht nach
Freiheit staut sich in diesem Gefängnis in meinem Rücken und
muss sich wegträumen.
Dvořáks lyrisches Seitenthema ist keine Erfindung aus dem
Nichts. Er hat dafür einen afroamerikanischen Gospelsong
verwendet: «Go, tell it on the mountain». In seinem
Musiklexikon hat Werner mir den Text gezeigt. Ich habe den
sofort lernen wollen, wegen der Zeichnung daneben: eine
Gemeinde schwarzer Christen, die zwischen den
Kirchenbänken stehen und die Arme zum Himmel strecken. Sie
scheinen außer sich zu sein, während sie singen.

Go, tell it on the mountain


That Jesus Christ is born
He made me a watchman
Upon the city wall
And if I am a Christian
I am the least of all.

Ich ziehe mir versuchsweise diese Strophe auf Dvořáks Musik.


Vom Rhythmus her funktioniert das, aber es bringt nichts. Die
reine Horn-Version ist viel schöner. Sie braucht keine Worte.
Absolute Musik nennt man das: Wenn eine musikalische
Struktur so genau ist, dass Sprache nur noch stört.
Das Singen hat bei uns zu Hause nicht so einen großen
Stellenwert. Hin und wieder Kanons. Da muss man aber die
Stimme halten können, sonst wird unser Vater ungeduldig, und
ihm rutscht schon mal die Hand aus, wenn man mehrmals
falsch einsetzt. Zu Weihnachten singen wir die bekannten
Lieder. Da geht’s dann um Mehrstimmigkeit und um die
Leistung, die zweite und dritte Stimme gegen die andern zu
halten. Danach geht jeder wieder an sein Instrument, macht
Musik ohne Worte, und alles ist Form. Alles ist Kunst. Das hat
schon was. Aber irgendwas fehlt auch.
Sonntagvormittag machen sie Kammermusik. Meine Eltern
arbeiten sich mit Werners Unterstützung durch alle
Klaviertrios. Manche schnellen Sätze müssen sie wegen meiner
Mutter überspringen. Am Nachmittag schiebt Martin, in
Bundeswehr-Uniform, mit meinem Vater die beiden Flügel so
eng zusammen, dass sie wie e i n Instrument aussehen. Dann
spielen sie ein Bachkonzert oder die Haydn-Variationen von
Brahms. Auf einem Hocker rücke ich dicht an Martins linke
Seite. Ich mag es, wie er beim Thema von Haydn die linke Hand
zum tiefen «Es» ausfährt und dabei mit seinem Ellenbogen an
meinen Brustkorb stößt. Er spielt sauberer als unser Vater,
gestochen, klar, und er scheint dabei kühler zu sein, nickt mir
immer wieder zu und kommentiert die Musik mit seinen Augen
und Stirnfalten, als ob er sie mir erklärt. Und manchmal
nehmen sie sich Mozarts D-Dur-Sonate für zwei Klaviere vor.
Das Andante spielen sie, als ob sie einen Abendspaziergang
machen, Hand in Hand, so harmonisch, als wollten sie nie
wieder voneinander lassen. Takt für Takt trägt sie dasselbe
Gefühl. Einer legt einen Melodieteil vor, und der andere
antwortet. Das ist so schön wie ein Leben, das es gar nicht gibt.
Wieder fällt mir das Mädchen ein, das in der Schule vor mir
in der Bank sitzt. Tag für Tag schaue ich auf ihre blonden
Haarsträhnen. Wie es das Licht schafft, jedes einzelne Haar an
ihr anders aussehen zu lassen, interessiert mich mehr als jeder
Lehrstoff. Ihre Augenbrauen sind ein breiter, dunkler Bogen.
Die vereinzelten, langen Haare auf ihren Unterarmen sind
schwarz. Bei den Körpern scheint es wie in der Musik zu sein:
Die Gegensätze bauen die Spannung auf.
Ihre Oberlippe macht von den Seiten her einen Aufschwung
zu einer kleinen überheblichen Kanzel. Ihr Blick ist
abschätzend, aber ihre Freundlichkeit scheint großzügig.
Sie geht, als hätte sie Kurven. Es sind eher noch
Andeutungen, aber sie ist der Typ dafür. Überhaupt: Dass ihr
Körper auf etwas zuwächst, was sie noch nicht erfüllt, ist das
Schönste an ihr.
Nach der Schule folge ich ihr in einem Abstand von gut
hundert Metern bis zu ihrer Villa, dann erst gehe ich nach
Hause. Irgendwann werde ich diesen Weg mit ihr Hand in
Hand gehen. Darauf vertraue ich. Deshalb habe ich keine Eile.
Das Abenteuer der Liebe ist Sehnsucht, nicht Erfüllung. Das
wollen die Menschen nicht glauben. Weil sie Verbraucher sind.
Diesem Mädchen würde ich gerne sagen, dass ich nur
ihretwegen in die Schule gehe. Dass ich ihretwegen so ein
miserabler Schüler bin. Dass ich ihretwegen so vollkommen
untätig mein Leben verbringe. Dass ich sogar meine
Lieblingsbücher aus der Hand lege, weil ich lieber an sie
denken möchte. Dass ich ihretwegen meine Tage verträume.
Irgendwann werde ich ihr sagen, dass ich sie liebe.
Ja, so blöd werde ich sein. Ich werde diesen dummen Satz
sagen, als ließe sich damit etwas Wesentliches vorantreiben.
Als würde man damit ein Weltgeschehen anstoßen.
Aber erst mal habe ich etwas anderes gemacht. Das ist noch
nicht so lange her. In der zweiten Schulpause, der Zehn-
Minuten-Pause, bleiben wir im Klassenzimmer auf den Bänken
und essen unsere Brote. Dazu kann man Milch oder Kakao
bestellen. Seit dem frühen Morgen liegen die Flaschen zwischen
den Rippen der Heizkörper und wärmen sich an. Sie werden
jetzt verteilt, und alle stechen mit einem Strohhalm durch die
silberne Stanniolabdeckung und schlürfen ihre Milchmahlzeit.
Mit den Fingernägeln reiße ich die Seiten des Papiers ein, bis
ich den Deckel abheben kann, nehme die Flasche, es ist Kakao,
und leere sie über die blonden Haare vor mir aus. Den ganzen
Viertelliter.
Sie schreit entsetzt auf. Alle, die das mitkriegen, sind wie aus
dem Schlaf gerissen, sie können sich kaum beruhigen. Der
Lehrer kommt dazu, starrt mich fassungslos an, will eine
Erklärung von mir.
Ich sage nichts. Ich versinke vor Scham und denke trotzdem:
Jeder muss doch begreifen, dass man nicht ungestraft so schön
herumlaufen darf.
Aber niemand begreift es. Niemand versteht mich. Ich bin
verabscheuungswürdig.
Sie weint sehr heftig und schaut sich mit ihrem verheulten
Gesicht zu mir um.
Willst du dich nicht entschuldigen, du Scheusal?, fragt mich
der Lehrer.
Ich schüttele den Kopf, strecke ihr aber meine Hand
entgegen.
Sie nimmt sie nicht. Sie schiebt sie zurück. Ganz zart. Und
langsam. Sie versteht nichts. Sie rätselt. Ihr Hirn beschäftigt
sich mit mir.
Jetzt wird mir klar: Das war mein Ziel.
Ihre Nachbarinnen sammeln Taschentücher zum
Abwischen. Nee du, nee, sagen sie immer wieder in meine
Richtung, wie kann einer so blöd sein! Und zeigen mir ihre
heruntergezogenen Unterlippen und schütteln den Kopf dazu.
Sie darf natürlich nach Hause gehen. Haare waschen. Ich
muss bleiben und kann ihr diesmal nicht folgen.
An der Klassentür hat sie sich noch einmal umgedreht und
zu mir hergeschaut. Ausschließlich zu mir. Vielleicht war das
der erste Kredit, den sie mir gegeben hat.

Ich befreie meine Füße aus den Schuhen. Neuerdings wird mir
alles zu klein. Oberhemden kneifen unterm Arm, Hosenbeine
werden kürzer. Obwohl ich wachse, verliere ich an Gewicht.
Wo soll das hinführen?
Gelächter
Vierhundert Eingesperrte habe ich in meinem Rücken und
denke an ihre von Stein und Eisen niedergehaltene Kraft. An
ihre Wut, ihre Sehnsucht nach Freiheit.
Wenn sich die Gartenkolonne zum Kamp aufmacht, um in
den Beeten und Gewächshäusern zu arbeiten, winken mir
immer wieder Einzelne von ihnen zu. Ich spüre dann ihre
Versuche, kurz aus der Gruppe auszuscheren und sich mir zu
nähern, ein paar Worte mit mir zu wechseln. Wie magnetisch
ziehen wir uns an, plötzlich steht einer vor mir: Hey, komm
doch mal her! Wer bist du? Was machst du hier? Wohnst du in
der Nähe? Da drüben? In dem großen Haus? Arbeitet dein
Vater hier? Was, der ist der Chef?
Manchmal sprudeln sie gleich mit ihrer eigenen Geschichte
heraus. Vor allem die Neuzugänge: Weißt du, warum ich hier
bin? Ich hab geklaut, aber nicht schlimm. Ich komm bald
wieder raus. Bei guter Führung ganz bald.
Bald – ein Wort, in das sie eine besondere Wärme legen, eine
große Hoffnung, die sie mir für einen Moment anvertrauen. Ein
ungewohnter Ton, den ich von zu Hause nicht kenne.
Ich sitze hier frei in der Sonne an der Mauer, ziehe die süßen
Schwaden von Karina ein. Genau genommen ist es so, dass die
Eingesperrten uns ernähren. Nicht nur, weil sie unser Gemüse
und unser Obst anbauen. Grundsätzlich, einfach weil sie da
sind. Wir leben von den Gesetzesbrechern. Alle, die hier
angestellt sind, die hier arbeiten, auch unser Vater, finden hier
ihr Auskommen. Unsere Häuser lagern sich um die
Gefängnismauer wie Bäuche um einen großen Suppentopf.
Meine Eltern sehen das natürlich anders. Aber ich muss ihre
Ansichten umdrehen, damit ich zu meinen eigenen komme.
Erst mal müssen Menschen Straftaten begehen und
Strafgefangene werden. Dann kann man mit ihrer Erziehung
Geld verdienen und sich in dem schönen Gefühl wärmen, etwas
Sinnvolles zu tun. Wir alle, die wir frei herumlaufen, haben
festgelegt, wo das Böse ist: innerhalb dieser Mauern. Da
befinden sich die Gestrauchelten, ihnen gilt unser ganzes
Erziehungsprogramm.
Was für eine wacklige Lage, in der ich mich befinde. Gerade
ich kann froh sein, nicht eingesperrt zu sein. Oft juckt es mir in
den Fingern, wenn ich an etwas vorbeikomme, das ich gut
gebrauchen könnte. Ständig benötige ich mehr Geld, als ich
besitze. Ich habe Lust, Dinge zu behaupten, die nicht stimmen.
Gebe wahllos Versprechungen ab, die ich nicht halten kann. Es
ist mein Blick auf die Welt, vor dem ich mich fürchte.
In Grimms Märchen gibt es die Geschichte von den sechs
Dienern. Ein Königssohn trifft auf seiner Wanderung durch den
Wald sechs Menschen mit besonderen Fähigkeiten und stellt sie
als Diener ein. Darunter ist einer, der trägt eine Binde um die
Augen, weil sonst alles zerspringen würde, was er ansieht. Der
guckt praktisch die Welt kaputt.
Mit dem bin ich doch verwandt!, habe ich sofort gedacht.
Überall sehe ich einen Riss hinein, und dann bleiben Teile
zurück, die nicht mehr zusammenpassen.
Alle naselang treffe ich auf Leute, die vom «Abschaum»
reden, von «Unerziehbaren», vom «Verbrechergesindel», das
sich hier im Gefängnis auf Staatskosten ernähren lässt. Es sei
gar nicht so lange her, sagt Herr Niewöhner und zieht
bedrohlich die Stirn nach oben, da habe man die
Sittlichkeitsverbrecher nach Düsseldorf-Derendorf geschickt
und sie dort fachgerecht mit chirurgischem Eingriff entmannt.
Zigeuner und Juden habe man nach Hamburg-Langenhorn
geschickt. Zu den Geisteskranken. Da seien sie gut aufgehoben
gewesen, denn sie seien prinzipiell unerziehbar. Die Juden und
die Zigeuner und die Kommunisten. Und die Polen. Von
Hamburg aus seien sie in die Lager weiterbefördert worden.
Jetzt lägen uns diese Verbrecher wieder auf der Tasche.
Herr Niewöhner ist Aufsichtsbeamter. Ich halte den Atem an
und fühle seinen Blick. Er erwartet Bestätigung. Ich sage nichts.
Ich erkenne den Riss zwischen uns, aber ich tue so, als hätte ich
noch die Binde um meine Augen. Dabei ist sie längst weg.
Herr Niewöhner fixiert mich und wartet auf meine Reaktion.
Die kriegt er aber nicht.
Dann lächelt er. Brauchst keine Angst zu haben, junger
Mann. Die Gestapo kommt nicht mehr.
Wieder macht er eine kleine Pause.
Weißt du, wer das ist, die Gestapo?
Ich nicke.
Er lacht und winkt ab: Die Gestapo gibt’s doch gar nicht
mehr. Er schaut mich die ganze Zeit an, als ob er eine Antwort
erwartet. Gut für uns, oder? Haben wir Glück gehabt, was? Er
lacht, wird geschüttelt vom Lachen, dass er sich fast
verschluckt: Die gibt’s nicht mehr! Keine Gestapo mehr!
Prustend stößt er heraus: Das wollen wir nie wieder erleben!
Was, junger Mann?
Er boxt mich leicht gegen die Brust, damit ich auch lache.
Es kommt aber nicht viel von mir. Ich sehe seine blitzenden
Zähne unter dem grauen Schnurrbart und errate, wo die
Gestapo untergekrochen ist. Ein super Versteck ist das, wo sie
niemand findet: Sie hat sich selbst verschluckt und fertig. Die
Gestapo strahlt wie ein Kind nach der Mahlzeit. Alles
aufgegessen! Keine Gestapo mehr da!
Auch Herr Niewöhner strahlt.
Solange ich den Blick mit ihm halten kann, sehe ich, dass ich
nicht der Einzige bin, der Angst hat. Es flackert in seinem Auge.
Zwei Ängstliche, die sich belauern.

Zweihundert Meter links von mir, hinter dem nächsten


Mauertürmchen, kommt ein Doppelhaus, das es in sich hat. Auf
der einen Seite wohnen Niewöhners, auf der andern
Linnenbrüggers.
Herr Niewöhner: Hauptverwalter bis 1949, noch von den
Nazis eingesetzt. Herr Linnenbrügger: sein Nachfolger, von den
Besatzern, den Tommys, eingesetzt. Herr Niewöhner wurde von
ihnen degradiert und musste zurück ins Glied treten. Jetzt
wohnen beide im selben Doppelhaus.
Wohnten. Denn Herr Linnenbrügger ist seit zwei Wochen
tot. Hier hinter diesem Mauerstück, vor dem ich sitze, ist er
zusammengebrochen. Kurz vor seiner Pensionierung. Auf dem
Sportplatz.
Keinen Aufsichtsbeamten habe ich besser gekannt als ihn.
Seit ich sechs war, vielleicht noch früher, habe ich ihn und
seine Frau besucht. Fast täglich. Auf jeden Fall samstags um
zwölf. Aber als ich den ersten Tag aufs Gymnasium ging, habe
ich meine Besuche eingestellt. Von heute auf morgen. Einfach
so.
Vergiss uns nicht, haben Gustav und Anna Linnenbrügger
mir nachgerufen, als ich wider Erwarten die Aufnahmeprüfung
bestanden hatte.
Nie!, habe ich getönt, warum soll ich das vergessen?
Kommst einfach am Samstag, wenn die Schule aus ist.
Ja. Mach ich.
Und prompt den ersten Samstag danach hatte ich keine Lust
mehr.
Das ist nicht zu erklären. Ich wollte immer, ich wollte … aber
ich bin nicht hingegangen.
Jetzt sitzt Anna allein in ihrer Wohnung, löst
Kreuzworträtsel oder liest Kalenderblättchen. Und hin und
wieder denkt sie sicher: Warum kommt Etja nicht?
Ich könnte gleich hingehen. Jetzt könnte ich sie besuchen.
Anmeldung braucht es nicht. Das war nie nötig. Na, komm rein,
haben sie immer gesagt, wenn ich vor der Tür stand. Schön,
dass du da bist. Der Kakao ist auch gleich fertig.
Aber ich weiß, ich werde da nicht hingehen. Gerade jetzt
nach Gustavs Tod nicht. Ich will Annas Alleinsein nicht erleben.
Ich habe Angst, es wird mich erdrücken. Ich traue mir nicht zu,
das Gefühl der Einsamkeit bei ihr zu lindern. Ich glaube nicht,
dass ich so etwas kann.

Bei Linnenbrüggers habe ich von Julius Siekmann gehört,


einem Herforder Gestapobeamten, der 1949 zu sieben Jahren
Zuchthaus verurteilt wurde. Wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.
Bei dem Ausdruck brauche ich immer ein paar Sekunden, bis
ich begreife, dass mit Menschlichkeit etwas ganz Gutes gemeint
ist.
Siekmann hat laut Gerichtsurteil fünfzehn politische
Gefangene auf dem Gewissen. Die hat er in unserer JVA
verhört. Menschen, die in der falschen Partei waren, in der
SPD oder der K PD oder in der Gewerkschaft. Oder die
heimlich den Feindsender gehört haben. Das war verboten,
wegen Wehrkraftzersetzung.
Noch so ein Wort, das ich erst auseinandernehmen muss, um
es zu verstehen. Da geht es also um einen Zerstörungsvorgang.
Da geht etwas kaputt. Nämlich die Wehrkraft. Die muss eine
Qualität unseres Volkes gewesen sein. Gegen Kriegsende hat die
Zersetzung dieser Wehrkraft unser Volk geschwächt und den
Feind gestärkt. Das kann aber nicht nur schlecht gewesen sein,
sonst wäre Herr Linnenbrügger nicht Hauptverwalter
geworden.
Es ist wie mit diesem Wort «Zusammenbruch», das immer
wieder fällt. Ich kriege nie raus, ob das eine Katastrophe war
oder eine Erlösung. Keiner scheint es genau zu wissen. Keiner
will sich entscheiden. Unsere Eltern sagen: Letztlich muss man
froh sein, dass es so gekommen ist. Aber ihre Gesichter sehen
nicht froh aus, wenn sie das sagen. Und das gibt mir zu denken.
Julius Siekmann hat seine fünfzehn Opfer aus dem
Bielefelder Gefängnis zu uns nach Herford verlegt, weil er
hoffte, da kann er sie ungestört verhören. Der Vorvorgänger
unseres Vaters, Herr Wüllner, hat sich bei der übergeordneten
Stelle in Hamm darüber beschwert, dass diese Verhöre Unruhe
unter seinen Gefangenen stiften. Er hat darum gebeten, sie
diskreter zu gestalten. Weiter wollte er sich nicht einmischen.
Einige von Siekmanns Opfern mussten auf dem Sportplatz,
hier direkt hinter mir, auf der Hundert-Meter-Bahn hin- und
herlaufen. So lange, bis sie zusammengebrochen sind. Die
Strafgefangenen im angrenzenden Zellenflügel haben
zugesehen und gejohlt. Einige haben auch protestiert.
«Schokolade riechen» hat Siekman diesen Lauf genannt. Sagt
Herr Niewöhner.
Die Luft hier riecht demnach heute nicht anders als damals.
Ist das nicht ungerecht, dass Siekmann als Einziger für die
ganze Gestapo bezahlen musste?, hat mich Herr Niewöhner
gefragt und dabei scharf beobachtet.
Einer ist besser als keiner, habe ich geantwortet.
Aber das habe ich mich nur getraut, weil ich vorher gerade
bei Herrn Linnenbrügger gewesen war. Sieben Jahre für
fünfzehnfachen Mord!, hat der gerufen und mit seiner
gewaltigen Faust auf den Tisch geschlagen. Lächerlich! Und alle
anderen haben sie laufen lassen! Da weißt du Bescheid.
Wenn Siekmann 49 verurteilt wurde, läuft er seit vier Jahren
wieder frei rum. Lebt der jetzt in Herford? Hab ich ihn
vielleicht schon mal gesehen?

Ich weiß nicht, ob das alles wirklich etwas mit unserem Keller
zu tun hat. Ich habe Angst, da runterzugehen.
Meine Angst sei pathologisch, sagt mein Vater.
Was auch immer das heißt.
Jedenfalls ist es ein Desaster, wenn er mich losschickt, um
Most oder Kompott raufzuholen. Ich kann mich nicht weigern.
Ich kann nicht sagen: Da gehe ich nicht runter. Das würde
extrem lächerlich wirken. Also erhebe ich mich vom Tisch,
verlasse das Esszimmer, wo meine ganze Schutztruppe ihre
Suppe löffelt, und mache mich auf in den Keller.
Auf Wiedersehen, denke ich, denn ich bin mir nicht sicher,
ob ich je zurückkomme.
Die ersten Stufen versuche ich noch mit Schwung zu
nehmen, aber mitten auf der Treppe werde ich ausgebremst,
weil mir die unüberschaubaren Räume da unten im
Halbdunkel signalisieren: Hier lauert Gewalt hinter jeder Ecke!
Wir sind angestrichen worden, murmeln die Wände, unter uns
schreit Blut. An uns kannst du nicht so einfach vorbeigehen.
Ich steh auf der Treppe, starre die Wände an und komme
nicht weiter. Nicht freiwillig. Überall spüre ich Augen.
Es ist keiner da, sage ich laut, und ich glaube das auch. Aber
meine Stimme zittert und widerlegt mich. Der Raum fühlt sich
zäh an. Das wird das «Pathologische» sein, von dem mein Vater
spricht.
Seine ungeduldige Stimme tönt vom Esstisch: Wo bleibt denn
unser Most?
Gleich!, rufe ich.
Wie lange sollen wir denn noch auf unseren Rhabarbersaft
warten?
Der gibt keine Ruhe. Die haben alle Durst da oben. Ich muss
mir einen Ruck geben und losrennen.
Ich lasse einen Angriffsschrei los, fliege beinahe über die
Stufen und durch den Kellerflur bis in den hintersten Raum, wo
die Saftflaschen liegen. Vor der Tür muss ich anhalten,
versuche, so schnell wie möglich den Schlüssel ins Loch zu
bringen, dann schlage ich mit der Hand auf den Lichtschalter
und muss diese vielen handgeschriebenen Flaschenetiketten
entziffern: Stachelbeere/Johannisbeere rot/Johannisbeere
schwarz/Holunder/Apfel/Birne, wo ist der verdammte Rha-
barber? Rhabarber! Da ist er. Und bin schon wieder weg und
rauf, in einem solchen Affentempo, dass ich außer Atem am
Esstisch ankomme, die Flasche auf die Tischplatte knalle und
keuche: Hier ist euer Most!
Was ist denn los? Erschreck uns doch nicht! Wir haben doch
keinen Geist im Haus.
Kopfschüttelnd zieht mein Vater den roten Gummipfropfen
von der Flasche und gießt sich und meiner Mutter ein.
Die sagt: Mensch, Edgar, dass du immer noch solche Angst
hast! Das ist aber nicht mehr normal.
Werners Augen leuchten. Ich bin sicher, er kann sich
vorstellen, was mit mir los ist.
Martin scheint unbeteiligt. Er kennt keine Angst. Er
verkörpert in unserer Familie den Mut. Wo ich romantisch in
die Strömung der Werre schaue, macht Martin Handstand auf
einem Brückenpfeiler. Oben von der Stiftberger Kirche aus, wo
meine Volksschule ist, brettert er mit dem Fahrrad in vollem
Tempo die steile Marienstraße runter und biegt 90 Grad links in
die Bismarckstraße ein, die genauso steil vom Stuckenberg
runterkommt. Verwettet sein Leben darauf, dass ihn kein Auto
erwischt. Herforder Roulette nennen wir das.
Er ist ein guter Pädagoge. Das weiß ich. Es gibt nichts, was
man bei ihm nicht lernen könnte. Er hat Geduld.
Ich schiebe mir die Kartoffeln rein, obwohl mir das Herz
noch bis zum Hals schlägt, und stelle mir vor, wie Martin mit
mir gemeinsam in den Keller geht. Immer wieder. Ganz
langsam. Durch alle Räume. In jede Ecke schauen wir. Und
dann wiederholen wir diesen Gang im Dunkeln. Er macht das
Licht aus, geht hinter mir her, schiebt mich in die Schwärze
und redet beruhigend auf mich ein.
Hier ist niemand, würde er sagen. Der Keller ist
menschenleer. Gewöhn dich daran.
Aber wenn ich ihm sagen würde, dass ich eigentlich vor
unsichtbaren Wesen Angst habe, müsste er kapitulieren. An
Geister von Verstorbenen glaubt er nicht.
Ich nehme ein paar tiefe Züge von Karinas Schokoladengeruch.
Komisch: Hier habe ich keine Angst. Hier kann ich sogar im
Dunkeln sitzen. Ich schleiche mich auch nachts in den Garten
des Mädchens, das ich liebe. Ich geh sogar in die
Spätvorstellung. Aber in unsern Keller will ich ums Verrecken
nicht.

Als meine Eltern mir gesagt haben, Herr Linnenbrügger sei tot
umgefallen, habe ich mich so geschämt, dass ich nicht auf die
Beerdigung wollte. Wegen der langen Zeit, die ich nicht mehr
bei ihnen war. Aber mein Vater hat darauf bestanden, dass ich
mitkomme: Das ist dein Freund gewesen! Da gehst du jetzt hin.
So lässt man Menschen nicht fallen, die einem mal was
bedeutet haben.
Und dann hat er sich mit mir auch noch in die erste Reihe
gestellt, direkt an den Rand der Grube. Anna stand auf der
andern Seite. Genau mir gegenüber.
Zum ersten Mal sehe ich ihr wieder in die Augen. Sie hat den
Trauerschleier von ihrem Hut für einen Moment nach oben
über die Krempe geschlagen. Ihr runzliges, verweintes Gesicht
lächelt mir zu. Dann lässt sie den Schleier wieder herunter und
faltet die Hände.
Auch mein Vater und ich haben Tränen in den Augen.
Gerade ist der Sarg runtergelassen worden. Pfarrer Podewils,
der eigentlich nur noch Aushilfe macht oder eben auf
besonderen Wunsch der Witwe noch mal antritt, hat zwei
Gebete verwechselt: das Vaterunser mit einem Tischgebet.
«Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns
aus Gnaden bescheret hast». Obwohl er das Gebet
durchdringend, mit Grabesstimme, intoniert, stört sich
niemand daran. Die Leute beten stumpfsinnig ihr Vaterunser
weiter. Nur ich denke an den Koloss, der im Sarg liegt, und
murmele blöderweise zu meinem Vater: Na dann guten
Appetit!
Daraufhin packt uns beide die Hysterie. In seinem schwarz
verkleideten Körper spüre ich kleine Explosionen. Unsere
Ellenbogen berühren sich, und das Tremolo seiner Muskeln
geht auf mich über. Ich sehe vorsichtig an ihm hoch. Krebsrot
beißt er sich auf die Unterlippe. Er verliert gerade den Kampf
gegen sein Zwerchfell. Fasziniert schaue ich ihn von der Seite
an. So habe ich ihn noch nie gesehen.
Wir müssen jetzt beide um unser Leben «Weinen» spielen.
Mit einem solchen Lachanfall darf er auf keinen Fall erwischt
werden.
Während ich mir Sorgen um ihn mache, wird mir klar, dass
ich selbst keineswegs ernst bin: Ich zittere wie er und grinse
hemmungslos. In diesem Augenblick fällt mein Blick auf Anna,
die gerade wieder den Schleier hebt, und binnen einer Sekunde
erkläre ich das Beben meines Körpers zum Ausdruck
verzweifelten Schluchzens. Ich hoffe, dass mein Vater das auch
so gut kann. Überzeugend klingt er nicht. Ich jedenfalls wirke
glaubhaft. Eine Dame hinter mir legt ihre Hand auf meine
Schulter und sagt zu ihrer Nachbarin: Der arme Junge.
Darauf entfährt meinem Vater ein Heuler. Einige drehen sich
um, weil sie einen Hund in unserer Nähe vermuten.
Mein Vater entfaltet seine Hände, presst sie auf die Gegend
seiner Galle und macht sich vom Acker. Ich glaube, das ist das
Klügste, was er machen kann.
Der Schützenverein hat gespielt. Viele haben ihre
Taschentücher gezückt. Die Schützen tragen Tracht. Die
Aufsichtsbeamten ihre Uniform. Die Frauen ihr feinstes
Schwarz. Eine sichtbare Ordnung und Feierlichkeit rund ums
Grab.
Nur mein Vater und ich tanzen aus der Reihe. Ich finde, das
passt. Wir haben eben eine Sonderstellung in Herford. Wer an
unserm Haus vorbeigeht, hört Musik, zu jeder Tageszeit. Wann
kümmert der sich eigentlich um seine Gefangenen?, fragen sich
die Angestellten. Ein Gefängnisdirektor, der mit seiner Familie
Tag und Nacht musiziert, kann nicht ganz richtig im Kopf sein.
Hier bin ich, sage ich etwas später und tippe an seine
Schulter. Er dreht sich ruckartig um und faucht mich an, ob ich
noch alle Kerzen auf dem Leuchter hätte! Wenn wir nicht auf
einer Beerdigung wären, müsste ich dich übers Knie legen! Wie
kann man so lachen, wenn andere Menschen trauern?
Du hast doch auch gelacht, sage ich vorsichtig.
Aber doch nur deinetwegen! Das hält ja kein Mensch aus
neben dir. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen. So was
Irres habe ich überhaupt noch nie erlebt!
Du hast aber zuerst gelacht, versuche ich, mich zu
verteidigen.
So ein Quatsch, schreit er unterdrückt.
Wir sind noch auf dem Friedhof, und vom Personal der
Strafanstalt um uns herum soll keiner was mitkriegen.
Er beugt sein Gesicht herunter, kommt dicht an mich heran
und stellt klar: Ich war die ganze Zeit todernst! Dich kann man
nicht mal auf Beerdigungen mitnehmen!
Ich wehre mich, so gut ich kann: Dein Ellbogen hat so
gezuckt. Das ist auf mich übergesprungen.
Jetzt regt er sich auf. Mit so viel Widerspruch hat er nicht
gerechnet. Das glaubst du doch selber nicht! Ich bin der
Vorstand dieser ganzen Leute! Die schauen auf mich. Die haben
Respekt vor mir. Was sollen die jetzt von mir denken? Dass ihr
Chef ein Hanswurst ist?
Wenn Podewils so einen Unsinn betet?, wende ich ein.
Haben die andern gelacht?, ruft er. Na? Haben die etwa
gelacht? Da denk mal drüber nach! Er hat jetzt wieder seinen
Staatsanwaltston drauf. Ich sage es dir in aller Klarheit: Bring
mich nie wieder zum Lachen!
Ich zucke mit den Schultern.
Hast du das verstanden? Er sieht mich scharf an. Offenbar ist
es ihm jetzt sehr ernst.
Ob du das verstanden hast, habe ich dich gefragt!
Ich suche in seinem Gesicht nach einer letzten Spur unserer
Lachorgie, finde aber nichts.
Ja, sage ich.
Nie wieder!
Ja.

Auf dem Dach gegenüber leuchtet der rote Schriftzug von


Karina. Der Duft dieser Schokolade ist viel besser als ihr
Endprodukt. Karina ist eine Billigmarke mit wenig Kakaoanteil,
sehr mehlig, sie schmilzt nicht am Gaumen, man muss lange
kauen, um sie runterzukriegen. Aber ihr Herstellungsgeruch ist
Weltklasse.
Auch bei den Gefangenen sind die Zellen, die zu Karina
hinaus liegen, besonders begehrt. Man guckt von da auf den
Sportplatz, hat praktisch einen Logenplatz bei den
Faustballspielen und kann dabei Schokolade inhalieren.
Was ist das für ein Gelächter, das mich wegträgt? Es hat so
viel Auftrieb, dass auch Annas Schmerz am Grab es nicht unten
halten kann. Es ist wie Fliegen. Wegfliegen.
Blaskapelle
Als ich halb so alt war wie jetzt und noch nicht zur Schule
ging, habe ich bereits meine täglichen Spaziergänge entlang der
Mauer gemacht. Noch nicht bis hierhin, wo ich jetzt sitze. Nur
so weit, wie die Doppelhaushälften der Aufseher reichen.
Neugierig habe ich in die Vorgärten geschaut, bei manchen
Aufsehern habe ich geklingelt, weil sie mir irgendwann mal
gesagt haben, ich soll sie doch besuchen. So eine Aufforderung
habe ich immer ernst genommen. Ich stellte mir dann vor, dass
es bei diesen Leuten eine Lücke gibt, die ich ausfüllen soll.
Herr Linnenbrügger macht immer richtig Programm für
mich. Er bestellt Samstagvormittag zwölf Uhr eine Kapelle, die
in seinem Garten vorm Küchenfenster Märsche spielt. Eine
Stunde lang.
Unser Vater ist hochmusikalisch, keine Frage, aber Herr
Linnenbrügger ist genial. Er spielt kein Instrument, er kennt
sich bei Brahms, Beethoven und Co nicht aus. Aber alle
Märsche der Welt, die er einmal gehört hat, kann er auch
spielen, weil er sämtliche Blasinstrumente wie Holzflöten,
Trompeten, Posaunen, Tuba perfekt imitieren kann, Horn nicht
zu vergessen. Für die Becken, Pauken, Trommeln und Triangeln
nimmt er das Kücheninventar von Anna zu Hilfe. Töpfe, Löffel,
Deckel und so weiter.
Wenn ich komme, sitzt er bereits wie ein eingeklemmter
Buddha hinterm Küchentisch, seine Requisiten vor ihm
ausgebreitet. Er trägt nur ein langärmeliges Unterhemd, über
die enorme Wölbung seiner Brust laufen die breiten
Hosenträger, die Jacke hat er ausgezogen. Anna hat sie auf dem
Schoß und näht die Knöpfe wieder fest, die ihm regelmäßig
abspringen. Die gewaltigen Oberschenkel, die er nur mit Mühe
in die schwarzen Uniformhosen zwängen kann, hat er unter die
Tischkante gepresst. Alles an ihm ist großflächig, seine Stirn,
seine Backen, sogar die Nasenflügel.
Auffällig sind seine herunterhängenden, langen Wimpern.
Sie sind rötlich wie bei Elefanten. Überhaupt scheinen seine
Augen immer geschlossen zu sein, aber er linst natürlich unter
den Wimpern durch. Ich nenne ihn deshalb Herrn
Linsenbrügger. Das stört ihn nicht im Geringsten.
Er fragt mich noch schnell, ob ich meinen Eltern auch
Bescheid gesagt habe, wo ich bin, dann öffnet Anna die Fenster,
und er ruft in den Garten: Ist die Kapelle angetreten, Herr
Hauptmann?
Jawoll, tönt es zurück, denn Gustav Linnenbrügger kann
auch bauchreden.
Sind da welche? Oft stelle ich diese dumme Frage, obwohl
ich ja sehe, dass da niemand ist. Aber ich will die Antwort von
ihm hören.
Na warte mal ab!
Dann geht’s los. Badenweiler Marsch, sagt er, den lassen wir
uns vom Führer nicht kaputt machen, auch wenn’s sein
Lieblingsmarsch gewesen ist.
Nach jedem Marsch macht er eine Pause. Vorsichtig frage
ich: Wo sind die jetzt hingegangen?
Die müssen sich kurz ausruhen, erklärt er. So wie wir jetzt.
Außerdem müssen sie die Spucke aus den Mundstücken und
Ventilklappen ihrer Instrumente schütteln. Da sammelt sich
beim Blasen der Speichel, und dann sind die Töne nicht mehr
sauber.
Und er macht mir vor, wie ein Horn klingt, in dem sich zu
viel Spucke angesammelt hat. Das klingt wirklich komisch,
blubbernd. Versoffene Töne, nennt er das.
Ich sehe die aber gar nicht, sage ich.
Gustav ist die Geduld in Person. Er sagt einfach, dass die
Kapelle in der Pause ist.
Die sind gerade mal um die Ecke. Schau mich an, dann
spielen sie auch!
Also schau ich ihn an.
Auch er beobachtet mich unter seinen Wimpern. Er spürt,
wie mir die Posaunen, Trompeten und Pauken reinfahren und
mein Zwerchfell kitzeln.
Manchmal frage ich mich, ob er weiß, was seine
Marschmusik in meinen Eingeweiden eigentlich anrichtet. Bei
den Piccoloflöten kann ich die Beine nicht stillhalten, bei den
Posaunen dehnt sich mein Brustkorb, die Oboen haben ihren
Resonanzraum unter meiner Schädeldecke, und das Fagott
zwickt mich. Die schneidigen Trompeten machen mich
fassungslos, weil ihr Strahlen so unerwartet mächtig ist. Die
Tuba klingt saukomisch, das Horn todtraurig. Ich glaube, wenn
er die Wirkungen bei mir ahnt, legt er noch mal nach.
Überhaupt: Man muss sich mal vorstellen, dass er mit
seinem Mund ja gar keine Harmonien spielen kann! Nur
Melodie. Nur e i n e Stimme. Aber die Schwingungszahl kann er
unendlich erhöhen. Und so wird sein Ton immer enger, immer
intensiver.
Ich bin froh, dass Anna auch in der Küche ist. Wer weiß, was
er sonst noch machen würde. Sein Speichel sprüht bei den
Trompetenstößen einen feinen Nebel über mein Gesicht. Meine
Nerven tanzen auf seinen Tönen.
Nach circa einer Stunde, gegen eins, schließt Anna in einer
Marschpause das Fenster.
Sonst denken die Nachbarn, du bist plemplem, sagt sie sanft.
Mach noch mal auf, sagt Gustav. Petersburger Marsch fehlt
noch.
Und dann spielt er «Denkste denn, denkste denn, du Berliner
Pflanze, denkste denn, ick liebe dir, nur weil ick mit dir
tanze …».
Er spielt, und Anna singt. Ich glaube, er spielt es für sie.
Das Lied kenne ich auch von meinen Eltern. Aber Gustav
und Anna behandeln den Rhythmus, die Punktierung am
Anfang viel genauer. Die Sechzehntel sind bei ihnen kürzer,
und nach dem «denn» machen sie eine winzige Pause.
Es hält mich kaum auf dem Stuhl.
So ist das sicher gedacht. Schließlich sollen die Leute in den
Berliner Ballhäusern ja auch aufspringen und sich einen
Tanzpartner suchen.
Wieder will Anna die Fenster schließen, aber Gustav sagt:
Anna, nur dies noch. Einmal musst du noch singen.
Was folgt, ist ein trauriges Lied. Kein Marsch. Aber die
beiden haben einen so elektrisierenden Rhythmus, dass es nicht
traurig klingt.

Mein Vater wird gesucht,


er kommt nicht mehr nach Haus.

Wieder gibt es eine Punktierung, diesmal am Ende des


Viervierteltaktes, auf der Vier, also: «wird-ge-sucht».
Und genauso: «mehr-nach-Haus».
Der Schlag davor, die Drei, ist eine Pause, die sie strikt
einhalten.
Und den Auftakt, diese Sechste auf «Mein Va-», nehmen sie
wie einen Walzer-Auftakt, leicht verzögert vor der Eins, sodass
es wie ein Tanzlied klingt.
Anna bemüht sich nicht, ihre Stimme schön klingen zu
lassen. Sie tippt die Töne nur an, weil sie den Inhalt singt.
Es ist ein Lied aus dem Widerstand. Da kennen sich
Linnenbrüggers aus. Die Nazis fingen damals an, Leute
«abzuholen». Dass das nichts Gutes bedeutete, kann ich jedem
ansehen, der dieses Wort gebraucht. Und das sind viele. Aber
nur bei Linnenbrüggers klingt eine Trauer an. Als würde die
Zeit stehenbleiben: «Den haben sie auch abgeholt.»
Manchmal fallen dann auch Namen. Gustav Milse etwa, den
hat Julius Siekmann abgeholt. Oder Fritz Bockhorst. Die beiden
sind nicht mehr nach Haus gekommen. Die Gestapo hat den
Familien geschrieben, sie hätten sich im Gefängnis umgebracht.
Das glauben die Familien aber nicht.
Darum geht es auch in dem Lied. Anna wird ganz streng im
Rhythmus und schaut mich dabei an, als wollte sie mich mit
ihren Augen anstoßen:

das glaub-ich aber nicht,


er hat uns doch ge-sagt,
so etwas tät er-nicht.

Die letzte Strophe lassen sie weg. Denn sie sind ja keine
Kommunisten. Dann schließt Anna das Fenster endgültig.
Gustav, der sie nur auf dem Fagott begleitet hat, mit zarter
Unterstützung des Beckens, wird leiser, er spielt die letzte
Strophe, die sie nicht singen, piano, pianissimo. Und dann ist
nichts mehr. Er hebt noch einmal zwei Topfdeckel, sie bewegen
sich in Zeitlupe aufeinander zu und schweben, ohne sich zu
berühren, nach oben.
Jetzt ist die Kapelle abgezogen, sagt er erschöpft. Die gehen
jetzt zwei Häuser weiter, zu Ploegers.
Anna gibt ihm einen Kaffee, Gustav wischt sich den Schweiß
von der Stirn und sagt: Ploegers sind feine Leute. Die haben viel
mitgemacht.
Und dann fängt er an zu erzählen. Er weiß, was er sagen will
und was nicht. Er verfolgt eine Absicht. Ich soll etwas lernen.
Und ich hänge an seinen Lippen. Er erzählt vom Tod von Fritz
Bockhorst.
Anna ist das nicht recht. Sie steht hinter ihm am Kohlenherd,
eine Hand an der immer gefüllten Kaffeekanne, in der andern
den Becher, beides in demselben weiß-blauen Zwiebelmuster.
Sie pustet und nippt abwechselnd und sagt immer wieder:
Gustav, der Junge ist gerade sechs.
Aber er antwortet ihr: Was ich dem sagen will, kann keiner
früh genug lernen.
Die Linnenbrüggers haben keine Kinder, deshalb verschätzt
er sich vielleicht, was er einem Kind sagen darf, was nicht. Ich
liebe aber Menschen, die mich mit Informationen überfordern,
und so sind wir beide wie gesucht und gefunden.
Warum haben sie Bockhorst umgebracht?, frage ich ihn.
Weil er Flugblätter verteilt hat, gegen die Nazis. Und an die
Häuserwände hat er Parolen gemalt. Der war SPD und
Gewerkschaftler. Das hat schon gereicht. Ein Werkzeugmacher,
ein gewitzter Kopf, der viel reden konnte, ohne andere zu
verraten.
Wo haben sie den umgebracht?
Im Knast. Seine Frau hat verlangt, ihren Mann noch einmal
zu sehen. Das haben sie ihr erlaubt. Sie hatten ihn aufgebahrt,
in der Leichenhalle. Die Gestapo war dabei, als sie neben dem
Leichnam stand. Sie hat sofort den Hals ihres Mannes
abgesucht, ob sie die Striche sieht.
Welche Striche?
Vom Strick! Von der Strangulation! Im Knast heißt
Selbstmord zu neunzig Prozent: sich aufhängen.
Und? Hat Frau Bockhorst was gesehen?
Nichts. Da war gar nichts. Alles glatt. Aber die Zähne waren
blutverkrustet. Und ein Pflaster ist ihr aufgefallen, auf der
Stirn, über der Augenbraue. Das hat sie blitzschnell
weggerissen, bevor die Beamten sie daran hindern konnten.
War da was?
Da war ein Loch.
Anna sagt wieder: Lass es jetzt, Gustav.
Aber er redet weiter. Er spürt meine Neugier: Am 30. Juni 44
haben sie Fritz Bockhorst umgebracht. Und ein Jahr später hat
seine Frau die Gestapobeamten angezeigt. Was glaubst du, wie
das ausgegangen ist?
Ich zucke mit den Schultern.
Die Gestapo bestand darauf, dass es Selbstmord war. Und die
Richter haben das geglaubt.
Wer ihn auf dem Gewissen hat, erzählt Gustav nicht. Aber er
weiß es. Das merke ich an der Pause, die er macht, wenn ich
ihn frage.
Es ist nicht gut für dich, Etja, alles zu wissen, die Leute sind
ja noch da und halten zusammen. Niewöhners von nebenan
haben damals den Ton angegeben. Aber jetzt sind sie still.
Warum kann Frau Bockhorst die Gestapo jetzt nicht noch
mal anzeigen?, frage ich.
Gustav schüttelt den Kopf. Etja, wir denken immer, die
Zeiten ändern sich. Aber das stimmt nur halb. Die Menschen
bleiben dieselben.
Wir schweigen eine Weile.
Plötzlich sagt Anna an ihrem Kohlenherd, ganz leise, mit der
Tasse vor den Zähnen: Sag mal deinem Papa, er soll meinen
Gustav nicht so über die Höfe hetzen.
Ihr Mann lässt einen richtigen Trompetenschrei los: Anna!
Anna winkt ab, lächelt verschmitzt: Ich sach nix mehr.
Wir schweigen wieder. Ich verstehe nicht, was sie meint.
Gustav hat sich wieder beruhigt und erklärt mir etwas. Er
beugt sich über den Tisch zu mir, die Kante drückt sich in
seinen Bauch: Schau dir die Frau Ploeger an, wenn sie bei
Niewöhners vorbeigeht. Da kannst du viel lernen. Vor
Niewöhners Haus wird sie ein Stück langsamer. Mit einer
kleinen Bewegung schaut sie, ob sie beobachtet wird, dann geht
sie weiter. Etja, die ist einfach nur froh, dass sie da wieder ohne
Angst vorbeigehen darf.
Angina Pectoris
Meine letzte Begegnung mit Gustav vor seinem Tod liegt fast
vier Wochen zurück, und der Gedanke daran treibt mir das Blut
in den Kopf.
Ich stand vor dem Haus und sagte mir: Komm, besuch die
beiden wie früher! Ist doch egal, wie lange du nicht mehr da
warst.
Und schon bin ich die Treppen hoch, steh vor der Tür und
drehe mit meinem Zeigefinger Pirouetten auf dem
Klingelknopf.
Das kannst du nicht machen, ermahne ich mich, du kannst
bei denen nicht Alarmklingeln, die drehen doch durch in ihrer
Küche! Aber das Schellen in die Länge zu ziehen, ist purer
Genuss, und es ist so einfach. Ich höre diesen hellen Ton aus
lauter winzigen Tropfen, die aus meinem Zeigefinger fließen.
Als ob mein Finger Töne pissen könnte!
Dann höre ich Gustavs Ächzen hinten auf dem Flur und laufe
so schnell davon, dass ich fast über die Stufen stolpere. Hinter
der nächsten Ecke werfe ich mich gegen die Mauer und pruste
los, weil ich mir vorstelle, mit welcher Wucht sich Gustav vom
Küchentisch hochgestemmt hat und jetzt mit den Armen
ausholt, um seine massigen Oberschenkel anzutreiben, und so
ritsch, ratsch im Scherenschnitt zur Haustür tanzt, sie aufreißt
und mit fliegendem Atem ins Leere schaut.
Was ist bloß in mich gefahren? Das hat sich alles so schnell
in meinem Kopf entschieden. Anna und Gustav sind doch
meine Freunde! Wie konnte ich das bloß tun?
Es kommt noch schlimmer. Kaum sind die letzten Wellen
meines Gelächters verebbt, laufe ich zurück, wieder die
Treppen hoch, zur Haustür, und liebkose ein zweites Mal mit
dem Finger diesen Klingelknopf. Ich will den scheppernden Ton
auskosten, bis ich Gustavs Schritte höre. Aber da wird schon die
Tür aufgerissen, und sein halb entblößter, haarloser Arm
schnellt heraus, stößt vor zu meiner Joppe, packt mich am Hals
und zieht mich über die Fußmatte hinein in die Wohnung. Mit
dem Fuß schiebt er die Haustür zu. Dann drückt er seinen
Rücken an die Wand und lässt mich am ausgestreckten Arm
verhungern.
Das ist eine Wendung, mit der ich nicht gerechnet habe. Ich
muss das rückgängig machen, sofort, denke ich, aber natürlich
ist es zu spät. Er hat mir aufgelauert, weil er mich besser kennt
als ich mich selbst. Er hat gewusst, dass ich ein zweites Mal
klingele.
Gustav sagt nichts. Seine Augen scheinen geschlossen,
Atemstöße jagen über seine Lippen.
Die Sekunden wollen nicht vergehen, der Flur ist dunkel,
und von Anna keine Spur.
Lassen Sie mich bitte los. Es tut mir leid. Ich mach das nicht
wieder.
Jetzt hab ich dich!, zischt er.
Spielt er, oder ist es ernst?
Hast gedacht, du kannst mich an der Nase herumführen.
Kannst du aber nicht.
Es ist ihm ernst. Sehr sogar.
Wieder so eine lange Pause, und sein Griff lockert sich nicht.
Wir sind viele da draußen, lüge ich drauflos. Ich hab Angst,
er könnte was Unüberlegtes tun.
Linnenbrügger sagt nichts. Sein Gesicht ist mir zugewandt,
aber wegen seiner Elefantenwimpern sieht es aus, als ob er
schliefe.
Alles verloren, denke ich. Alle Samstage der letzten Jahre.
Dieser Moment löscht alle Freundschaft aus.
Es tut mir weh, sage ich.
Das soll es auch.
Vorsichtig taste ich mich an seine Faust und versuche, den
Griff zu lockern, aber er dreht meinen Kragen unerbittlich
weiter.
Es wird eng. Ich kann gerade noch in Richtung Küche
blicken. Keine Anna.
Mach das nie wieder. Hörst du?
Nein. Nie.
Hetz mich nie wieder über den Flur.
Nein, bestimmt nicht.
Dann beugt er sich vor, öffnet die Haustür einen kleinen
Spalt und lässt mich los. Wie ein Vogel entwische ich, ohne
mich umzudrehen.
Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe.
Könnte ich durch die Mauer schauen, sähe ich hinter mir auf
der anderen Seite den Sportplatz. Das ist der schönste von den
vier Gefängnishöfen, die alle aussehen wie riesige
Tortenstücke. Zwei gerade Seiten entlang der Zellengebäude
und ein Kreisbogen entlang der Mauer.
Das Gefängnis ist gebaut wie ein Kreuz. Panoptische
Kreuzform heißt das. In der Mitte ist eine zentrale Kanzel, von
der aus man in die vier Flügel und Zellenflure schauen kann.
Bei den Nazis war das der Platz von Herrn Niewöhner, danach
der von Gustav Linnenbrügger.
Jeden Vormittag zwischen elf und zwölf musste Gustav mit
meinem Vater einen Gang über die vier Höfe machen.
Unterwegs inspizierten sie die Werkstätten, und er meldete ihm
dabei die neuesten Vorkommnisse. Eigentlich sollte er meinem
Vater immer ein paar Schritte voraus sein, um vor ihm die Tore
auf- und hinter ihm wieder zuzuschließen. Aber mein Vater hat
diesen vorausstürzenden Gang, der legt einen solchen Zahn zu,
da ist Gustav einfach nicht mehr mitgekommen. Mit
Seitenstechen und schwer atmend ist er zurückgeblieben.
Mein Vater ist freundlich zu ihm. Er weiß, dass sein
Hauptverwalter Angina Pectoris hat. Also schließt er sich die
Türen selber auf und wartet mit seinem Katzenlächeln, bis Herr
Linnenbrügger angekommen ist: Lassen Sie sich bitte nicht von
mir hetzen, Herr Linnenbrügger. Ich kann einfach nicht
langsamer gehen. Ich hab so eine Unruhe in mir, verstehen Sie?
Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.
Herr Linnenbrügger ist alte Schule. Auch er hat eine Unruhe
in sich. Aber eher, wenn er zu schnell ist. Schlimm genug, dass
er bei dem Tempo nicht mithalten kann. Auf keinen Fall will er
seinen Chef noch länger warten lassen.
Der letzte Hof, den die beiden durchlaufen, ist der
Sportplatz. Und die letzte Strecke ist dann immer die Armin-
Hary-Bahn. Sie ist nur 95 Meter lang, weil dem Zellenflügel
5 Meter fehlen, um eine echte 100-Meter-Bahn daraus zu
machen. Dafür läuft der schnellste Gefangene beim Sportfest
auf dieser Strecke auch 11,2, nur eine Sekunde langsamer als
Armin Hary, der gerade in Rom zwei Goldmedaillen für
Deutschland geholt hat, 100-Meter-Sprint in 10,2 Sekunden plus
die 400-Meter-Staffel. Eigentlich ist er sogar mal 10,0 gelaufen,
in Zürich, aber die Sportfunktionäre, diese missgünstigen
Kommissköppe, haben dem aufmüpfigen Hary, wo sie konnten,
ein paar Zehntelsekunden draufgedrückt.
Wir sind hier wie die meisten Deutschen stolz auf unseren
eigenwilligen 100-Meter-Läufer und haben die Strecke nach
ihm benannt. Sie endet unmittelbar vor der Tür der
Gefängnisküche.
Und da zieht es meinen Vater nach seinem Inspektionsgang
magisch hin. Auf einem kleinen Extra-Tisch wird ihm um zwölf
das beste Stück Fleisch mit wenig Gemüse serviert. Das ist auch
in Ordnung, es gehört zu den Aufgaben eines Chefs, das Essen
für seine Gefangenen zu überprüfen.
Für meinen Vater bedeutet Fleisch auf dem Teller die
Wiederherstellung seiner Grundrechte. Zwischen Weihnachten
42 und der Währungsreform 48 war es Mangelware. Aber jetzt
kann er immer noch nicht fassen, dass es längst wieder genug
Fleisch gibt. Er glaubt es nur, wenn sich das erste Stückchen auf
der Gabel seiner Zunge nähert. Dann beruhigt sich sein
hungriger Blick, und er ist für alle Probleme der Welt wieder
ansprechbar. Das Erlebnis vom gebratenen, duftenden Schwein
oder Rind vor seiner Nase muss er ständig wiederholen. Jeden
Mittag erzählt er zu Hause, was es heute in der Gefängnisküche
gegeben hat. Das ist für unsere Mutter auch nicht gerade
einfach.
Gustav Linnenbrügger wartet, solange mein Vater isst, an
der Gefängnisküchentür, hält sich an den weiß gestrichenen
Eisenstäben fest und hofft, dass sich sein Atem beruhigt.
Bei ihrem letzten Gang über die Höfe ist er an dieser Tür
nicht mehr erschienen. Er ist auf der Armin-Hary-Bahn
zusammengebrochen. Als mein Vater fertig gegessen hat,
vermisst er seinen Hauptverwalter an der Tür und hört
stattdessen aufgeregte Stimmen vom Sportplatz. Da packt ihn
das kalte Grauen. Er ahnt, was passiert ist.
Zu Hause sitzt er schluchzend am Schreibtisch: Ich kann
doch nicht langsamer laufen, ich kann es einfach nicht! Ich hab
so eine Unruhe in mir. Es macht mich verrückt, wenn ich so
dahinschlendern muss. Ich hätte den Gang mit Herrn Meißner
machen müssen. Aber das wollte ich Linnenbrügger nicht
antun. Ich habe gehofft, bis zu seiner Pension hält er noch
durch!
Mein Vater hat auch Angina Pectoris. Aber er wusste es noch
nicht, als er mit seinem Hauptverwalter über die Höfe hetzte.
Auch ich habe unerwünschten Kalk in meiner
Vorderwandarterie. Genetischen Kalk. Uns treibt dieselbe
Unruhe. Und wehe, wir treffen auf Menschen, die nicht schnell
genug sind. Die hetzen wir über Gefängnishöfe und
Wohnungsflure.

Unser Vater bricht wenige Jahre nach seiner Pensionierung


zusammen, nachts, auf seinem gelben Ohrensessel, der
inzwischen, ausrangiert, in Werners Wohnung in Krefeld steht.
Um die Schmerzen seiner Hüftarthrose zu lindern, hat er
sich in den heißen Sand von Ischia eingraben lassen und sich
gewundert, dass er danach vor explodierender Unruhe am
liebsten vom Balkon springen wollte. Der herbeigerufene
italienische Arzt tippte unverständlicherweise auf eine
Nierenentzündung. Es war aber der erste Herzinfarkt. Unsere
Eltern packten die Koffer und fuhren überstürzt zurück nach
Herford. Mit dem Zug, 2. Klasse.
In Krefeld, bei Werner, machen sie Station. Unser Vater
schleppt die schweren Koffer die Bahnhofstreppen rauf und
runter. Als er nachts noch mal auf die Toilette geht, kommt
Werner gerade zurück von der Oper.
Was hast du heute gespielt?, fragt ihn unser Vater.
Aida.
Und?
War eine richtig gute Vorstellung.
Ach, das freut mich. Wie geht noch dieses wunderschöne
Duett zwischen Radamès und Aida?
Welches meinst du?
Na am Schluss, wenn die beiden lebendig eingemauert
werden?
Ach so, Anfang vierter Akt: «Leb wohl, o Erde, Tal der
Tränen».
Ja, richtig.
Werner deutet kurz die Melodie an.
Sag mal, unterbricht ihn sein Vater: Was sind denn das für
verrückte Bilder hier an den Wänden?
Wo?
Diese zerlaufenden Uhren!
Das sind Drucke von Dalí.
Dass du damit leben kannst! Ich kann da gar nicht
hinschauen. Da kriege ich gleich Beklemmungen.
Soll ich sie abnehmen und umdrehen?
Nein, lass mal.
Und dann setzt er sich in seinen gelben Sessel und sagt ganz
ruhig: Ich glaube, ich sterbe.
Und als Werner sich zu ihm umdreht, lebt er schon nicht
mehr.
Kino
In meinem Blickfeld hier an der Mauer gibt es einen
Bretterverschlag, mit einem geteerten Dach aus Pappe und zwei
wackligen Flügeltüren, die mit einem Schloss verkettet sind.
Dass etwas neu Errichtetes von vorneherein so klapprig
aussehen kann, erstaunt mich sehr. In diesem Schuppen steht
ein schickes Auto, ein Zweisitzer von Renault, weiß, mit roten
Ledersitzen und offenem Verdeck. Auf dem Heck steht «Floride
Caravelle», der lange Kühler hat die Form eines Haifischmauls.
Ein wunderschönes Cabrio.
Es gehört unserm Gefängnispfarrer Kubis. Seine Frau meint,
das Auto verletze die Gefühle der Anwohner, wenn es zwischen
Mauer und Aufseherhäuschen für alle sichtbar herumsteht.
Deshalb haben sie diese hässliche Bude errichtet. Damit es
keinen Neid erregt, keine falschen Träume, und auch vor
klebrigen Kinderhänden und unerlaubten Übergriffen
geschützt ist.
Pastor Kubis fehlt ein Bein. Er hat es bei der Verteidigung
des Westwalls verloren. Es war nur noch Matsch, hat seine
Frau mir erzählt, da haben sie es lieber gleich abgeschnitten.
Sein Ersatzbein hat mich schon immer interessiert. Kubis stellt
es manchmal im Schlafzimmer ab, mit Strumpf und Schuh, und
wenn ich es dort sehe, tut es mir leid, weil es in der Ecke stehen
muss wie ein ungezogenes Kind, das nicht mitspielen darf.
Meistens läuft es aber mit Herrn Kubis herum, und da ich oft
rechts und links verwechsle, bin ich früher gelegentlich mit
einer Gabel unter ihren Frühstückstisch gekrochen, um durch
den Hosenstoff herauszufinden, wo das Holzbein ist.
Es sind höllische Schmerzen, hat mir seine Frau erzählt, die
er an seinem Stumpf hat. Nur hinterm Steuer, bei möglichst
hoher Geschwindigkeit, am liebsten auf der Autobahn,
beruhigen sich die Nerven seiner Amputationswunde. Deshalb
fahren sie beide jedes Jahr um den halben Globus, erst auf
einem Motorrad mit Beiwagen, dann in einer Isetta, dann mit
einem Gutbrod und jetzt mit der Floride. Meistens geht die
Reise ins Heilige Land, und zwar so ziemlich nonstop.
Ich kenne seine Frau gut. Über Jahre war ich in ihrer
Kindergottesdienstgruppe. Sie erzählt sehr anschaulich alle
biblischen Geschichten, lächelt etwas süßlich dazu, winkelt die
Ellenbogen an, faltet die Hände beim Sprechen und nickt den
Rhythmus ihrer Sätze mit. Das stört mich nicht. Sie liebt, was
sie erzählt, und mehr brauche ich nicht, um zuzuhören. Ihr
habe ich zu verdanken, dass ich mich im Alten und Neuen
Testament gut auskenne. Wie bei Grimms Märchen finde ich in
den Gleichnissen, die Christus erzählt, das vertrackte Schema
meines eigenen Lebens wieder.
Vor wenigen Tagen hat Pastor Kubis mich bei meinen Eltern
verpfiffen, und das bedeutet einen tiefen Einschnitt in sein und
mein Verhältnis. Seitdem erinnert mich dieser Verschlag daran,
dass ich in seinen Augen zu einem problematischen Fall
geworden bin.
Kubis hat beobachtet, wie ich nach einem heimlichen
Kinobesuch nachts in mein Zimmer eingestiegen bin. Es war
die Spätvorstellung von «Denn sie wissen nicht, was sie tun». Er
schaute gerade aus dem Fenster, weil er mit seinem Predigttext
nicht vorankam. Predigen fällt ihm viel schwerer als
Autofahren.
Ich nehme zu seinen Gunsten an, dass er in Gedanken immer
noch auf der Flucht ist vor den Kugeln, die sein Bein zerfetzt
haben. Der Mann hat seine fünf Sinne einfach nicht
beisammen. Trotzdem hätte er erst mit mir sprechen können,
statt gleich zu meinen Eltern zu rennen.
Eigentlich hat er mir immer gefallen. Er ist ein sportlicher
Typ, hasst das Gehüpfe mit den zwei Krücken und trägt, wenn
es die Schmerzen zulassen, Prothese, enge Hosen, schicke
Oberhemden, Autohandschuhe. Oft sogar eine
Rennfahrerkappe mit herunterhängenden Bändern und eine
prangende Sonnenbrille von Ray Ban. Samstags wäscht er seine
Floride, wringt den Lederlappen aus und legt sich der Länge
nach auf den Kühler, um hingebungsvoll die Frontscheibe zu
polieren. Wenn er nach getaner Arbeit glücklich neben seinem
Auto steht und zwischen lauter rostrotem Gefängnisklinker
nach einem Stück blauer Ferne Ausschau hält, denke ich an
James Dean.
Der ist mit vierundzwanzig Jahren auf dem Weg zu einem
Autorennen in seinem Porsche verunglückt. Vielleicht hätte er
eines Tages ausgesehen wie Pfarrer Kubis. Beide tragen in
ihrem Gesicht Schmerz, Härte und Einsamkeit.
Ich habe Kubis bewundert, aber das ist vorbei. Ich komme
nur noch nicht drüber hinweg und starre deshalb immer
wieder auf diese Bruchbude. Es ist mir ein Rätsel, warum mir
Kubis so viele künftige Filmerlebnisse kaputt machen musste.
Für mich ist das so schwerwiegend wie für ihn, wenn er nicht
mehr Auto fahren dürfte.
Von meiner Mutter habe ich gehört, dass er in der Nacht, als
er mich am Fenster entdeckte, über einem Text aus der
Offenbarung des Johannes brütete:

Siehe, ich komme wie ein Dieb. Glückselig, der wacht und seine
Kleider bewahrt, damit er nicht nackt einhergehe und man
seine Schande sehe.

Sicher war Kubis verzweifelt, weil er mit diesem Text nicht zu


Rande gekommen ist. Seine Schmerzen haben ihn ans offene
Fenster hüpfen lassen, um in der Nachtluft Weite und
Unendlichkeit zu spüren.
Ich vermute, er hat nichts von der Schönheit dieses
Vergleichs begriffen. Dass Christus am Jüngsten Tag in die Rolle
eines Diebs schlüpft, der die Sünder auf frischer Tat ertappt,
und eben nicht wie ein Aufseher oder Denunziant, sondern wie
ein Verbündeter, ist ein großer Trost. Andererseits nennt
Christus diejenigen, die anständige Kleider tragen, glückselig.
Aber das ist der schwarze Humor, den Jesus oft an den Tag legt,
wenn er Pharisäer bloßstellen will, die glauben, durch
Biederkeit und Gesetzestreue dem göttlichen Strafgericht
entgehen zu können. Vielleicht befürchtet Kubis, dass dieser
Offenbarungstext als Predigt vor Gefängnisinsassen untauglich
ist. Denn er könnte ja die Strafgefangenen ermutigen, auf ihre
Vergehen stolz zu sein, anstatt zu bereuen.
Alle, die im Strafvollzug arbeiten, sind total auf die Reue
ihrer Schützlinge fixiert. Sie warten auf die ersten Anzeichen
der Umkehr sehnsüchtig wie Gesangslehrer bei ihren Schülern
auf die Entwicklung der Stimme. Reue kann aber nicht
kontrolliert werden. Grundsätzlich nicht. Wer das versucht,
züchtet Schauspieler.
Gepeinigt von Schmerzen und verzweifelt, keinen sinnvollen
Predigttext bis Sonntag früh zehn Uhr zustande zu bringen,
wird sich Kubis am Fenster gefragt haben, warum er statt
Theologie nicht Jura studiert hat wie sein Freund Dr. Selge im
Haus gegenüber, der nie auf eine Kanzel muss, ein Gefängnis
leitet und den ganzen Tag Klavier üben darf. Und dabei wird
ihm aufgefallen sein, dass sich da drüben eine kleine Gestalt
von einer Mülltonne aus in ein Fenster hochstemmt. «Wie ein
Dieb!», kann er nur gedacht haben.
Vielleicht hat er sogar gerufen, um den Dieb zurückzuhalten.
Ich habe allerdings nichts gehört. Wenig später wird er gesehen
haben, wie statt eines Diebs der Sohn vom Chef aus der Haustür
tritt, die schwere Mülltonne nach hinten in den Garten rollt, im
Laufschritt zurückkommt, dabei Arme und Beine wie
blödsinnig in die Luft wirft und leise singt: Ich bin ein
Maharadscha.
Pfiffig wird er zu seinem Schreibtisch und den mageren
Notizen seiner Predigt zurückgekehrt sein. Die Vision am
Fenster hat ihm aber nicht die Augen für den Text der
Offenbarung geöffnet. Stattdessen hat er am nächsten Tag ein
langes Gespräch mit meinen Eltern geführt.

Filme haben für mich eine überwältigende Anziehungskraft.


Meine Eltern und meine Brüder unterhalten sich darüber, ob
ein Film gut ist und warum. Mir ist das leider ziemlich egal. Ich
will einfach nur raus aus meiner Welt und in eine andere
hinein. Schon wenn ich ein Filmplakat sehe, packt mich die
Sehnsucht. Dunkel soll es werden, der Alltag um mich herum
verschwinden, und auf der knisternden Leinwand soll eine
Geschichte entstehen, die mich unterhält und wärmt.
Wie jeder Süchtige sondiere ich alle Möglichkeiten, um an
meine Droge heranzukommen. Prinzipiell scheinen
Schwierigkeiten, die sich mir dabei in den Weg stellen,
überwindbar. Ich bin auch bereit, menschlich zu enttäuschen
und zu unschönen Mitteln zu greifen.
Ich habe kein Geld. Das ist mehr als ein Satz. Das ist eine
Lebenslage.
Also habe ich die Klassenkasse veruntreut, das heißt, ich
hatte mich angeboten, sie zu verwalten, damit ich ohne
Probleme ins Kino gehen kann. Dass das niemand bemerkt hat,
ist ein echtes Geschenk Fortunas.
An dem Tag, als ich vor der Klasse ultimativ aufgefordert
wurde, das Geld mit in die Schule zu bringen, ist meine
Patentante Pia aus Mainz zu Besuch gekommen. Ich habe Blut
und Wasser geschwitzt, bin hier an die Mauer geeilt, habe auf
den Bretterverschlag gestarrt und an die Floride gedacht. Kubis
schließt sein Auto nicht ab, und im Handschuhfach bewahrt er
das Geld zum Tanken auf. Mit Werkzeug aus dem kleinen
Handwerkskasten meiner Mutter habe ich versucht, das Schloss
der Flügeltüren aufzubrechen. Aber über fürchterliche Kratzer
und Verbiegungen bin ich nicht hinausgekommen.
Ich habe auch überlegt, welchen Strafgefangenen ich
überreden könnte, das Schloss zu knacken, den Wagen
kurzzuschließen und gemeinsam mit mir nach Hamburg
abzuhauen. Aber zu niemandem hatte ich genügend Zutrauen.
Nachher kriegen die kalte Füße und schwärzen mich bei
meinem Vater an, um gut dazustehen.
Das alles habe ich meiner Patentante gebeichtet, sie hat mir
mit dem aufmerksamen Blick eines Eichhörnchens zugehört.
Sie ist unverheiratet, arbeitet bei der Blutbank der Uni-Klinik
Mainz und hat mir mal gestanden, dass sie heimlich trinkt. So
viel, bis ihr leichter wird und sie einschlafen kann.
Meine Notlage hat sie sofort erfasst und das fehlende Geld
für die Klassenkasse ersetzt. Dann hat sie eine Erklärung
abgegeben, die ich nie vergessen möchte. Sie hat mir dringend
abgeraten, so eine Veruntreuung je zu wiederholen. Man
verliere seinen Ruf fürs ganze Leben. Ausführlich hat sie
dargelegt, dass andere Menschen, die sie die «normalen» nennt,
darin einen unverzeihlichen Vertrauensbruch sehen. Sie
denken, wer so etwas macht, der wird es immer wieder tun. Sie
sind froh, wenn sie bei anderen Menschen einen Makel
dauerhaft festmachen können. Das brauchen sie wie
Wegweiser in ihrer moralischen Wüste.
Bevor Tante Pia nach Mainz zurückkehrte, hat sie mir zu
einer anderen Technik der Geldbeschaffung geraten. Sie muss
meine Verzweiflung gespürt haben. Ihren Rat habe ich eine
Weile mit Erfolg praktiziert: Vor unserem Küchenradio liegt das
Restgeld vom Einkaufen. Das schiebe ich zu einem Zeitpunkt,
den ich instinktiv erwischen muss, hinter das Radio. Wenn
einer fragt, wo das Geld abgeblieben ist, sage ich: Liegt hinterm
Küchenradio. Habe ich da hingeschoben, damit es keiner
wegnimmt. Zwei Tage später ist das Geld vergessen und gehört
mir.

Mit Büchern, die mir ebenfalls das Leben ersetzen wie Filme,
mache ich es anders. Häufig bemerke ich beim Durchblättern
in der Buchhandlung, dass in einem Text von mir die Rede ist.
Dann besorge ich mir eine Zeitung, kehre ins Geschäft zurück
und trage das entsprechende Buch verdeckt aus dem Laden
heraus. So bin ich in den Besitz von Marcel Prousts «Auf der
Suche nach der verlorenen Zeit» gekommen.
Natürlich haben die Leute recht, wenn sie sagen, dass ich zu
jung bin, um Proust zu verstehen. Aber gleich auf der ersten
Seite war mir klar, wovon der Erzähler spricht. Er spricht von
seiner Kindheit. Man weiß nie genau, mit wem man es gerade
zu tun hat, mit dem Kind selbst oder mit dem Erwachsenen, der
sich an seine Kindheit erinnert. Jedenfalls geht’s ums
Einschlafen. Ein Junge, ungefähr in meinem Alter, vielleicht
etwas jünger, erwacht eines Abends eine halbe Stunde
nachdem er eingeschlafen ist, und hat alles Zeitgefühl verloren.
Was er vorm Einschlafen gelesen hat, was er während der
halben Stunde geträumt hat, alles stürzt mit anderen
Erinnerungen durcheinander, und plötzlich gibt es keine Zeit
mehr. Oder alles ist gleichzeitig, was aufs selbe hinausläuft.
Und weil mir das bekannt vorkam, habe ich dieses Buch
gestohlen.
Es gibt niemanden in meiner Umgebung, mit dem ich
darüber reden kann, dass es Zeit eigentlich nicht gibt. Gerade
hier an der Mauer frage ich mich oft, ob nicht alles gleichzeitig
passiert und nur durch unsere Art zu leben in ein
Nacheinander zerfällt. Ich neige dazu, das zu glauben. Leider
fehlt mir das Handwerkszeug, um das zu Ende zu denken.
Rembrandt war der Erste, der mich auf diese Idee gebracht
hat. Als ich mit meinem Vater in Dahlem war, weil er den
«Mann mit dem Goldhelm» bewundern wollte, stand ich im
Saal nebenan vor einem andern Rembrandt: «Simson bedroht
seinen Schwiegervater». Und da gehen mir anscheinend die
Augen auf, denn ich entdecke, dass dieser Maler eine
einzigartige Fähigkeit besitzt. Seine Farbe erzählt Zerfall. Er
malt nichts anderes als den Übergang der Welt in Moder, ganz
gleich, ob es sich um Steine, Stoffe oder Menschenfleisch
handelt. Was für eine berauschende Entdeckung. Mir jagt das
Blut durch die Adern und verrät mir, dass ich Teil dieses
Kreislaufs bin. In einem Augenblick habe ich begriffen, dass es
der Zerfall ist, der uns zusammenhält. Der alles zusammenhält.
Wie in einem feinen Regen vibriert die ganze Welt im Zerfall.
Das kann doch, denke ich mir, hier zwischen Gefängnismauer
und Bretterverschlag nicht anders sein als in der Kunst.

Der Weg aus meinem Alltag ins Dunkel des Kinosaals bis zu
dem Moment, wo das Licht auf der Leinwand zu flackern
beginnt, ist gespickt mit Schwierigkeiten. Ich bin noch vorm
Stimmbruch. An der Kinokasse vom Scala sitzt meistens nicht
die Kassiererin, sondern ihr verhaltensauffälliger Sohn. Er ist
etwas älter als ich und lacht ständig. Er besucht deshalb die
Hilfsschule, ist aber meiner Meinung nach sehr intelligent.
Wenn er mich sieht, hält er sich gleich die Hand vor den
Mund, um sein Grinsen zu verbergen. Bei Filmen ab sechzehn
versucht er mich ernsthaft zu fragen, wie alt ich bin. Ich drücke
auf meine Stimmbänder, als hätte ich mich verschluckt, und
sage: sechzehn.
Dann entfährt ihm ein Juchzer, er reißt die ersehnte
Kinokarte von der Rolle, drückt sie mir in die Hand und ruft
mir nach: Sag bloß meiner Mutter nix!
Wenn die an der Kasse sitzt, brauche ich die Eingangshalle
gar nicht zu betreten. Sie entdeckt mich schon von weitem und
schreit hinter der Glasabdeckung: Du blöder Knirps, hau bloß
ab und lass dich hier nie wieder blicken!
Manchmal schwingt sie auch ihre lange Taschenlampe und
ruft: Bist du schon wieder da, du Kretin? Willst du ’ne Tracht?
Eine weitere Schwierigkeit ist die Verabschiedung von
meinen Eltern. Viertel vor zehn muss ich aus dem Fenster.
Meine Eltern sind dann natürlich noch nicht im Bett. Irgendwie
muss ich verhindern, dass sie in mein Zimmer schauen, um mir
gute Nacht zu sagen. Also verabschiede ich mich gegen Viertel
nach neun mit einem vorgefertigten Satz: Entschuldigt mich
bitte, morgen wird ein anstrengender Schultag, ich muss früh
ins Bett. Gute Nacht! Dann küsse ich punktgenau die Stellen
ihrer Gesichter, die sie mir hinhalten, schaue noch, ob da
irgendwo Argwohn zu erkennen ist, und gehe in mein Zimmer.
Jetzt lasse ich ihnen eine Viertelstunde Zeit, falls sie noch
irgendeine Frage an mich haben. Dann gehe ich davon aus,
dass sie nicht mehr kommen.
Gegen elf liegen sie selbst im Bett. Da habe ich mich schon
längst aus dem Fenster gehangelt und begleite Charlton Heston
als Ben Hur durchs Altertum, Kirk Douglas als Spartacus oder
eben James Dean beim Autorennen.
Viele Filme haben Überlänge. Wenn ich zurückkomme, ist es
Nacht. Einen Hausschlüssel haben bei uns nur die Eltern. Ich
muss also hinten in den Hof und die schwere Mülltonne bis vor
mein Fenster rollen. Während ich in die Schwärze des Gartens
eintauche, erwacht meine Angst. Als würden sie in Sirup waten,
stemmen sich meine Beine gegen die Dunkelheit. Aber
gleichzeitig lache ich und verhöhne mich selbst.
Was soll denn James Dean von dir denken, wenn du zu feige
bist, in einen dunklen Garten zu gehen?
Meine Muskeln zucken vor Lust, weil sie etwas tun, wovor
sie Todesangst haben. Hinten am Schuppen, bei der
Jauchegrube mit dem verrosteten Eisenblech und der
rauschenden Tanne, halte ich es kaum noch aus. Zitternd
umschließe ich die Griffe der Mülltonne und freue mich
unbändig, dass ich es bis hierhin geschafft habe. Dann rolle ich
die Tonne, die je nach Wochentag unterschiedlich schwer ist,
den ganzen Weg bis vor mein Fenster und steige in mein
Zimmer ein. Keiner sieht mich.
Nur im Haus gegenüber ist ein erleuchtetes Fenster. Da sitzt
Pastor Kubis und wird mit seiner Predigt für den Sonntag nicht
fertig.
Während ich ins Zimmer gleite, spiele ich aus Übermut
Einbrecher. Ich falle über mein Kopfkissen her: Hab ich dich
endlich erwischt, Edgar! Diesmal entkommst du mir nicht!
Und dann erwürge ich das Kissen.
Aber leider muss ich noch mal raus. Auf Zehenspitzen
schleiche ich zur Haustür hinaus und rolle die Mülltonne
wieder zurück in den Garten. Da steigt die Angst von ganz
alleine.
Wenn ich die Tonne abgestellt habe, fühle ich mich
federleicht. Wieder hat mich mein Gelächter voll im Griff. Der
Triumph, alle Regeln verletzt und meine Angst besiegt zu
haben, lässt mich Arme und Beine von mir werfen und jubeln:
Ich bin ein Maharadscha!
Meine Eltern schlafen auf der andern Seite. Die hören nix.
Bequem schreite ich durch die Haustür.
Am Tag nachdem Kubis mich verraten hat, klopft meine Mutter
an meine Zimmertür. Ganz zart und zerbrechlich wirkt sie.
Wollen wir Tischtennis spielen?, fragt sie.
Etwas irritiert antworte ich: Ja, gerne. Ich hole nur meinen
Schläger.
Schleppend geht sie vor mir die Treppe rauf.
Die überlegt sich das noch mal, denke ich.
Oben auf unserm geräumigen Dachboden stellt sie sich vor
der Platte auf. Jetzt macht sie sicher gleich eine Angabe. Aber es
kommt nichts. Sie steht einfach nur da. Die Arme hängen
schlaff an ihr herunter.
Nun mach doch schon, bitte ich sie.
Da wirft sie den Ball in die Luft, führt auch eine müde
Schlagbewegung aus, aber viel zu tief, um den Ball überhaupt
treffen zu können. Der klackert sich auf dem Fußboden aus,
und sie denkt gar nicht daran, ihm nachzuschauen, um ihn
wieder aufzuheben.
Geht es dir nicht gut?, frage ich sie.
Edgar, hast du mir nichts zu sagen?, antwortet sie und schaut
mich an wie einen Fremden.
Pause.
Was soll ich dir zu sagen haben?
Na, das wirst du doch wissen.
Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass man auf so eine Frage
nicht eingehen darf. Hat der Buchhändler bemerkt, dass ich
den Proust geklaut habe? Könnte sein. Wahrscheinlich geht’s
ums Kino. Und um das Geld dafür.
Mein nächster Satz gerät mir etwas unwirsch: Sag doch, was
du meinst.
Sei bloß vorsichtig, warnt sie mich, schon etwas lauter als
zuvor.
Ich zucke die Schultern.
Du kannst auch gleich zu Papa runtergehen. Der wartet
schon auf dich.
Was soll man da machen? Eltern sind keine Einzelwesen,
sondern eine Institution.
Sehr ernsthaft sage ich: Ich finde das nicht fair, wie du mich
hier verhörst.
Jetzt wacht sie auf: Nicht fair? Nicht fair? Aber wir, deine
Eltern, sollen uns von dir anlügen lassen, ja? Das findest du
wohl fair!
Pause.
Ich will das jetzt von dir wissen, sagt sie und klopft mit der
Schlägerkante auf die Platte.
Ihre Augen bekommen Feuer. Friedrich der Große, mit
dessen Zügen sie in bestimmten Momenten Ähnlichkeit hat,
leuchtet durch sie hindurch.
Du belügst uns doch, legt sie nach.
Wieso?
Das darf doch nicht wahr sein!, ruft sie. Du belügst uns fast
täglich! Du stellst doch hier unser ganzes Zusammenleben in
Frage!
Pause.
Nun komm schon, gib dir einen Ruck!
Ich denke aber gar nicht daran, mir einen Ruck zu geben.
Dann redet sie einfach durch: Du erweckst hier doch einen
vollkommen falschen Eindruck. Du tust so, als wolltest du dich
gut auf die Schule vorbereiten. Und wir glauben dir das auch
noch! Dein Vater und ich schauen uns an, wenn du uns gute
Nacht gesagt hast. Sieh mal, ermutigen wir uns, wie vorbildlich
unser kleiner Edgar jetzt arbeitet. Und was machst du in
Wahrheit?
Pause.
Was soll denn das für eine Art Zusammenleben in diesem
Haus sein, wenn jeder dem andern so frech ins Gesicht lügt?
Wer sind wir denn für dich? Servietten, an denen du dir dein
Lügenmaul abwischst?
Das trifft mich. Aber ich denke auch: kein schlechtes Bild,
das mit den Servietten.
Mit so einem Menschen wollen wir nicht unter einem Dach
wohnen.
Ich musste das so machen, sage ich, damit ihr nicht plötzlich
in meinem Zimmer steht, um mir gute Nacht zu wünschen.
Sie scheint sich kurz zu wundern, dass ich doch sprechen
kann. Dann höhnt sie: Wir müssen uns in diesem Haus weder
guten Morgen noch gute Nacht sagen. Wir müssen uns
überhaupt nichts mehr sagen. Diese Missachtung anderen
Menschen gegenüber ist widerlich. Gar nicht, weil wir deine
Eltern sind. Vor denen hast du sowieso keine Achtung. Aber du
könntest Achtung haben vor Menschen, die dir glauben, was du
sagst.
Ich könnte sie drauf hinweisen, dass das Wesen der Lüge
darin besteht, bei anderen Menschen eine unrichtige Annahme
zu erzeugen. Aber ich lasse es.
Wie viele Filme hast du heimlich gesehen?
Zwei.
Jetzt hör aber auf! Sonst hol ich Papa rauf. Der wird die
Wahrheit schon rausprügeln. Allein Frau Jabs hat dich
mindestens zehnmal gesehen. Sie hat sich nur nie getraut, was
zu sagen. Weil sie das gar nicht glauben konnte: ein Kind
nachts vorm Hollywoodschinken!
Frau Jabs ist unsere Putzfrau. Erstaunlich, dass sie so oft ins
Kino geht. Ich hab sie da nie gesehen.
Wenn Pastor Kubis dich gestern Nacht nicht beobachtet
hätte, wie du auf der Mülltonne standst und dich abgestrampelt
hast, um in dein Zimmer zu kommen, würden wir dir immer
noch glauben. Ich frage dich jetzt noch mal: Wie oft warst du
heimlich im Kino?
Ich habe nicht mitgezählt.
Zehn Mal? Zwanzig Mal?
Eher zehn.
Mit welchem Geld?
Ich gestehe knapp meine Technik mit dem Küchenradio.
Technik nennst du das! Das ist gestohlenes Geld! Du weißt ja,
das Gefängnis ist nicht weit. Du brauchst nur aus dem Fenster
gucken. Dieses Geld wirst du abarbeiten. Mit Abwaschen.
Welche Filme hast du gesehen?
Ich zähle auf, was mir gerade einfällt: «Ben Hur», «Die Zehn
Gebote», «Spartacus», «König der Freibeuter», «Gekreuzte
Klingen». Dann den Film mit James Dean: «Denn sie wissen
nicht, was sie tun». Die Horrorfilme: «Die Fliege» und von Fritz
Lang «Dr. Mabuse» und «M – eine Stadt sucht einen Mörder«.
Natürlich «Der Glöckner von Notre Dame». Ein paar Franzosen
mit Jean Gabin und Belmondo. Dann die Western. Von denen
nenne ich ihr nur die besten wie «Die glorreichen Sieben» und
«Stagecoach» von John Ford. Am Schluss erwähne ich «Die
Katze auf dem heißen Blechdach» mit Liz Taylor und Paul
Newman. Die beiden sind für mich der Inbegriff eines
erotischen Paares. Ich erwarte mir vom bloßen Aussprechen
ihrer Namen eine Stärkung meiner Situation.
So. Jetzt habe ich den ganzen Ballast der Wahrheit
abgeladen. Soll sie sehen, wie sie damit zurechtkommt.
Meine Mutter schweigt. Mit jedem Filmtitel, den ich genannt
habe, muss sie meinen Wissensvorsprung erkennen. Sie ist
klein geworden auf der anderen Seite der Platte. Die Macht
ihrer moralischen Rigorosität scheint geschmolzen. Auf einmal
steht sie da wie ein Kind, das lange Zeit Mutter gespielt und nun
die Lust an dieser Rolle verloren hat.
Dann sagt sie verächtlich: «Die Katze auf dem heißen
Blechdach»! Das ist doch die Geschichte von diesem
Schwächling, der sich auf Krücken durch den ganzen Film
bewegt und seiner Frau kein Kind machen kann. Der um seinen
toten Freund trauert und seine Liebe zu ihm im Alkohol
ertränkt.
Paul Newman ist das, antworte ich trotzig und wundere
mich, dass sie diesen Film kennt.
Sie steht da wie ein todtrauriger Ausdruck deutschen Stolzes.

Jetzt, hier an der Mauer, mit diesem hässlichen Schuppen im


Blick, erfasst mich eine heftige Bewegung von Liebe zu ihr. Ich
tue so überlegen. Das ist total fehl am Platz. Was weiß ich schon
von ihr?

Geh mal runter zu deinem Vater und entschuldige dich, sagt sie.
Der wartet auf dich in seinem Arbeitszimmer.
Es tut mir leid, sage ich quer über die Platte.
Was tut dir leid?, fragt sie.
Die Lügen, der Diebstahl.
Sie zuckt hilflos die Schultern, und ich mache mich auf den
Weg.
Diese Treppe. Mit jeder Stufe abwärts bewege ich mich in
den Trichter der Bestrafung hinein. Warum tue ich das? Immer
wieder einen Fuß vor den anderen setzen, um mich zu
entschuldigen, um etwas wiedergutzumachen?
Weil ich die anderen an den Punkt bringen möchte, die
Sinnlosigkeit ihrer erzieherischen Bemühungen selbst zu
erkennen.
Mein Vater steht vor seinem Schreibtisch und schaut auf ein
Zeitungsblatt.
Es tut mir leid, sage ich von der Tür aus, dass ich euch so oft
belogen habe, wenn ich abends ins Kino gegangen bin.
Es klingt unbeholfen und nach Routine. Ein Gefühl der Reue
ist nicht vorhanden. Nur Müdigkeit.
Mein Vater dreht sich zu mir um, nimmt mich achselzuckend
zur Kenntnis, seine Augen sind mit etwas anderem beschäftigt.
Er verlässt das Zimmer durch die seitliche Tür, die Schiebetür
zum Flügelzimmer, schließt sie, ohne mich noch mal
anzuschauen, und spielt das Thema des ersten Satzes von
Mozarts A-Dur-Klavierkonzert, KV 488.
Kinderzimmer
Ich wache auf und höre meinen Vater unter der Dusche
stöhnen. Hohl klingt seine Stimme, trostlos, und schlägt mir
sofort auf den Magen. Das geht schon seit Minuten so. Vom
Durchlauferhitzer kommt kein Geräusch. Er duscht kalt.
Sicher denkt er, es hört ihn niemand. Vielleicht erinnert er
sich an früher. An die Winter in Russland. Vielleicht will er sich
überwinden und sucht die Härte. Vielleicht denkt er: Alles ist
viel zu schnell wieder viel zu bequem geworden. Das sagt er
manchmal.
Gestern beim Mittagessen hat er vom Krieg erzählt, von
Weißrussland, von den Partisanen, die den deutschen Soldaten
die Ohren abgeschnitten haben: Morgens, wenn wir aus
unseren Zelten kamen, fanden wir die Ohren unserer
Kameraden im Schnee. Wir haben sie eingesammelt und uns
auf die Suche gemacht. Immer der Blutspur nach, aber nicht zu
weit, um nicht in eine Falle zu laufen. Keinen haben wir je
wiedergefunden. Die Angst, selbst derjenige zu sein, der nicht
wiedergefunden wird, mit oder ohne Ohren, hat uns
zusammengeschweißt.
Jetzt springt drüben im Bad der Gasofen an, heult und faucht
im Dauerzustand. Mein Vater schreit auf. Kurze, abgerissene
Schreie. Er peinigt sich. Wahrscheinlich dreht er den Kalt-Hahn
gnadenlos immer weiter zu.
Ich schaue die Wand zum Bad an und hoffe inständig, dass
er den Gasofen wieder abstellt. Seine Schreie sind noch
unerträglicher als sein Stöhnen.
Ich lege mich auf den Rücken. Schaue zur Decke. Er schreit
weiter.
Unsere Räume sind über vier Meter hoch. In diesem
schmalen Durchgangszimmer liege ich wie in einem Schacht.
Drei Türen gibt es. Zum Elternschlafzimmer, zum Bad und zum
Esszimmer. Und ein schmales, hohes Fenster. Mit einer grünen
Gardine. Das ist wirklich nur ein Ort zum Durchqueren.
Hier liege ich, hier lebe ich. Gemeinsam mit meinem kleinen
Bruder.

Fast fünfzig Jahre ist er tot. Immer wieder muss ich mir ins
Gedächtnis rufen, dass ich in diesem Zimmer nicht eine einzige
Nacht ohne ihn geschlafen habe. So weit scheint er sich schon
aus meinem Leben entfernt zu haben. Das erschreckt mich.

Manchmal schiebe ich meinen Oberkörper hinüber zu Andreas’


schlafendem Kopf, um an seinen Haaren zu riechen, in der
Nähe seiner Fontanelle. Ich bilde mir ein, das sei der Geruch
seines Gehirns.
Er ist kompakter als wir alle. Hat eine weichere Haut. Sein
Gesicht ist ungewöhnlich rosig. Unser Langsamer, sagt unsere
Mutter glücklich und streichelt seinen Kopf. Unser
Phlegmatischer, sagt unser Vater. Aber er sagt es nicht lieblos.
Andreas blüht auf, sobald er Werner sieht. Im Sommer trägt
Andreas eine schmale blaue Badehose. Wenn Werner aus
Detmold nach Hause kommt, erzählt er ihm immer dieselbe
Geschichte: Als ich heute in unsere Straße eingebogen bin, was
glaubst du, habe ich da schon von weitem gesehen?
Andreas weiß bereits, was kommt, und lacht breit.
Sooo eine kleine Badehose und soooo einen großen
Schenkel!
Und Werner illustriert den Schenkel mit einer riesigen
Armbewegung und die Badehose mit einem winzigen Spalt
zwischen Daumen und Zeigefinger.
Andreas kriegt sich vor Lachen nicht mehr ein, und Werner
muss das Ganze noch mal erzählen. Dann setzt Andreas sich
neben seinen großen Bruder, nimmt dessen weiche Cellohand
in seine Kinderfinger, spielt mit ihr und lässt sie nicht mehr los.
Patschhand, sagt er glücklich vor sich hin.
Unser kleiner ruhiger Bruder hat eine sehr geschickte
Methode gefunden, um die rigorosen Anweisungen unseres
Vaters abzufedern. Wenn er aufgefordert wird aufzuessen, was
auf seinem Teller ist, sagt er: Da muss ich erst Hans Bubi
fragen. Steht auf, geht ins Kinderzimmer, schließt die Tür
hinter sich, kommt nach einer halben Minute zurück und
antwortet: Hans Bubi hat gesagt, ich soll das jetzt aufessen.
Unser Vater kann nur den Kopf schütteln und sagt:
Hauptsache, du isst deinen Teller leer.
Ja, sagt Andreas, wenn Hans Bubi das sagt, mach ich das
auch.
Dann ist unser Vater still.
Als Andreas sich wieder mal Rat aus seinem Zimmer geholt
hat, versucht unser Vater mitzuspielen und fragt: Na, was hat
Hans Bubi gesagt?
Andreas mag es nicht, wenn ein anderer seine unsichtbaren
Freunde beim Namen nennt, und antwortet: Hans Bubi war
nicht da. Nur sein Bruder. Der hat gesagt, ich soll aufessen.
Und?, fragt unser Vater, wie heißt der Bruder?
Der möchte seinen Namen nicht sagen.
Allein die Zeit, die vergeht, bis Andreas tut, was von ihm
verlangt wird, zermürbt unser Familienoberhaupt.
Wenn er von der Schule nach Hause kommt, lässt er seine
Sachen einfach der Reihe nach fallen: den Ranzen mitten in der
Diele, den Anorak im Flur, Handschuhe und Schal ein paar
Meter weiter, den Pullover zieht er sich noch am Esstisch aus
und schmeißt ihn neben seinen Stuhl auf den Boden. Eine lange
Spur, von der Haustür bis zu seinem Essplatz.
Unser Vater reagiert umgehend.
Andreas steht auf. Hebt was von den Sachen auf. Allerdings
sehr langsam und immer nur ein Stück. Dann setzt er sich
wieder an den Tisch und wartet auf die nächste Aufforderung.
Ich kann nur staunen. So was ist mir nie eingefallen.
Natürlich wacht Andreas auch nicht auf, wenn unsere Eltern
nachts durch unser Zimmer stapfen, um in ihr Schlafzimmer zu
gehen, und sich dabei unterhalten, als spazierten sie über die
Landstraße.
Schlaft ihr schon?, fragen sie ungeniert. Von Andreas kommt
kein Ton, nur ich wimmere, wie ich denn schlafen soll, wenn
sie durchs Zimmer laufen und reden? Dann schalten sie sofort
einen Gang runter und flüstern: Du musst doch mal endlich
müde sein! Jetzt schlaf aber schnell. Und ziehen die Zimmertür
hinter sich zu. Und reden weiter.
Den ganzen Tag hecheln sie noch mal durch. Wer was zu
wem gesagt hat. Und warum. Alles in diesem angestrengten
Flüsterton. Aus Rücksicht auf meinen Schlaf. Dieses Flüstern
schleift mein Gehör immer feiner. Mir tun die Ohren weh. Von
so viel mitgehörtem Elternleben.
Endlich werden ihre Sätze kürzer, die Pausen länger, dann
höre ich nur noch ihren Schlafatem. Eine Last fällt von mir ab,
ich genieße die Dunkelheit, die Stille und den Streifen Licht
hinter der Gardine.
Wenn Zirkus Busch zu Gast ist, auf dem Lübberbruch, gleich
bei uns um die Ecke, öffne ich nachts das Fenster, und mit ein
bisschen Glück höre ich dann die Löwen brüllen. Manchmal
antwortet ein Strafgefangener aus der Einzelzelle. Dann ahne
ich was von der Wildnis in uns allen.

Heute Morgen ist Andreas schon weg. Im Bad drüben ist es jetzt
ruhig.
Keine Ahnung, warum mich niemand geweckt hat. Ich stehe
auf, ziehe die grüne Kinderzimmergardine zurück und befreie
mich aus dem Unterwasserlicht. Draußen ist milchige Sonne.
Herbst. Ganz schön. Könnte man rausgehen.
An der Wand zum Bad ist eine große Schiefertafel, von
einem Strafgefangenen hergestellt und mit Dübeln für die
Ewigkeit befestigt. Vollgeschrieben mit Worten, die ich nicht
entziffern kann. Andreas ist Linkshänder. Die Erwachsenen
sind der Ansicht, dass es Dinge gibt, die man mit der rechten
Hand tun muss. Schreiben gehört dazu. Andreas schreibt viel
und flüssig auf seine Tafel. Aber nur Spiegelschrift.
Ich greife mir den kleinen Handspiegel, der hier liegt, und
lese, was auf der Tafel steht: «Andreas badet. Eintritt bei Strafe
verboten.» Irre, wie klar und genau die Buchstaben gemalt
sind. Nur zeigen sie alle in die falsche Richtung. Wahrscheinlich
hat er eine Schreibübung gemacht für einen Zettel, den er an
die Badezimmertür kleben möchte.
Ich blicke raus. Hinter der Fensterscheibe liegt der Garten.
Meine Arena, in der ich die letzten Jahre gespielt habe. Jeder
einzelne Fleck da draußen ist von mir abgespielt. Alles habe ich
verwandelt. Nichts ist mehr es selbst: der Birnbaum auf der
Wiese dahinten ist Generalfeldmarschall Kesselrings
Kampfflugzeug, die Astgabel der Pilotensitz, die Wiese darunter
mal Rotterdam, mal London, mal Warschau. Alles x-mal von
mir bombardiert, wiederaufgebaut und zerstört. Der
Gartenweg ist die Schelde, die Themse, die Weichsel. Wie ich es
brauche. Auf der Wiese liegen die Toten europäischer
Großstädte und die Trümmer ihrer Häuser. Da liegen auch die
unreifen Birnen vom Lieblingsbaum unseres Vaters, seiner
Guten Luise, die haben als Bomben herhalten müssen. Das hat
zu einer Auseinandersetzung geführt.
An allen Leichen, die auf der Wiese rumliegen, hat
Generalfeldmarschall Kesselring Gebete gesprochen, nachdem
ich die Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht habe. Auch
Errol Flynn hat als Herr der sieben Meere diese Wiese mit
seinem Piratenschiff durchpflügt, unzählige Feinde mit seinem
Fliederzweig abgestochen. Einige von ihnen sind so laut
verreckt, dass Nachbarn die Fenster aufgerissen und um Ruhe
gebeten haben. Errol hat zur Belohnung Gina Lollobrigida an
den Birnbaum gepresst und gierig die Rinde geküsst. Und am
Sitzplatz mit den weißen Gartenmöbeln habe ich das
Potsdamer Abkommen unterzeichnet, dreimal: als Stalin, als
Truman, als Churchill. Frankreich war noch nicht dabei.
Das kann man alles machen. Aber jetzt hängen mir
Rotterdam und Gina und Churchill und der ganze Rest zum
Hals raus, und es fällt mir schwer, alles wieder
zurückzuverwandeln in das, was es eigentlich ist. In Birnbaum,
Wiese, Gartenweg und so weiter.
Hinten am Steingarten hat alles angefangen, vor vielen
Jahren, ich glaube, als Andreas plötzlich auch auf der Welt war.
Ganz zahm und vorsichtig habe ich mich da einfach hingestellt,
auf die oberste Stufe des Steingartens, ich habe nichts gemacht,
mich nicht bewegt und nicht gesprochen, einfach nur hinter
meiner Stirn beschlossen: Ich bin Hannibal.
Und wie von selbst haben sich vor mir die Alpen über unsern
Garten gelegt, und ich konnte nach Norditalien schauen,
obwohl es bloß der Sandkasten war, und hinter mir habe ich
den Luftzug der dreißig afrikanischen Elefanten gespürt. Mit
ihren großen Ohren haben sie mir zugefächelt. Und so wenig,
wie man Elefanten auf ihren Riesenstampfern kommen hört, so
wenig konnten meine Eltern und Brüder wissen, mit was für
einer Granate der Weltgeschichte sie es zu tun hatten. Sie
haben mir zugerufen, gefälligst nicht so blöd rumzustehen,
sondern mal mit anzupacken und Stühle rauszutragen, damit
wir alle am Sitzplatz vor dem Rasen was essen können. Das
habe ich gemacht. Und weder Hannibal noch mir hat das einen
Zacken aus der Krone gebrochen. Tragen wir eben Stühle raus,
haben wir uns gesagt.
So habe ich mich verabschiedet aus der Wirklichkeit.
Aber da will ich jetzt wieder rein. Und das fängt mit dem
Zimmer an: Ich muss dieses Kinderzimmer verlassen! Ich muss
von Andreas weg! Den habe ich angesteckt mit meiner Manie,
alles zu verwandeln. Deshalb kann ich mich in seiner
Gegenwart nicht weiterentwickeln.
Außerdem ist das ja gar kein richtiges Zimmer. Hier stehen
nur unsere Betten, wie zwischen zwei riesigen Transistorradios
ohne Abschaltknopf: von links und rechts endlose Hörspiele,
aus dem Elternschlafzimmer und aus dem Bad.
Warum kann ich nicht Werners Zimmer haben? Der ist doch
nur am Wochenende da. Es liegt gleich neben der Haustür. Hat
zwei Fenster: eins zur Außentreppe hin und eins zur Straße. Da
kriegt man tagsüber mit, wer kommt, wer geht. Das ist nervig,
ist aber auch interessant. Fremdheit, Außenwelt. Nachts hätte
ich meine Ruhe, könnte mich vom Fenster aus auf die Treppe
runterhangeln und ins Kino gehen. In die Spätvorstellung. Das
wäre Freiheit.
Oder Martins Zimmer oben im ersten Stock. Der kommt nur
noch zu Besuch. Allerdings hat er seine Freundin hier in
Herford. Die müssen ja irgendwo hin.
Ein Bombenzimmer ist das da oben. Groß, ab vom Schuss. Da
guckt man weit raus. Über die Straße und die Gemüsegärten,
die Gefängnisgärtnerei, die Vorortstraßen und die Neubauten
am Ortsieker Weg, bis in die Schweichelner Berge, auf die
höchste Kuppe, die Egge, wo der Sendemast steht. Das ist auch
Freiheit.
Da könnte ich ungestört Romane lesen. Könnte mich von der
Vorlesestimme unseres Vaters unabhängig machen. Einfach
lesen, was ich will. So schnell, so langsam, wie ich es möchte.
Das Buch zuschlagen und weglegen, zurückblättern oder immer
wieder dieselbe Stelle lesen. Ich könnte einzelne Sätze
mitsprechen, Seiten überschlagen oder gleich aufs Ende
springen. Prüfen, ob ein Satz, den ich von meinem Vater im Ohr
habe, sich verändert, wenn ich ihn selbst lese.
Ich habe schon so viele Buchtitel gehört, die mich neugierig
machen. Thomas Manns «Joseph und seine Brüder», diese
Geschichte von Jakob und seinen Söhnen aus dem Alten
Testament. Die kenne ich ja bereits aus dem Kindergottesdienst.
Könnte ich mir einfach von Herrn Mann neu erzählen lassen.
Dostojewskis «Ein grüner Junge» müsste genau mein Buch sein.
«Hunger» von Hamsun haben sie mir weggenommen, wegen
der Marmeladenflecken, die ich auf den Seiten verteilt habe.
Diesen wahnsinnigen Anfang von «Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit» könnte ich wieder und wieder lesen und mir
jedes Mal einen Satz mehr hinzuerobern. Und «Die
Schattenlinie» von Joseph Conrad, der gar nicht so hieß,
eigentlich ein Pole war und immer zur See fuhr, wartet schon
lange auf mich.
Und zwischendurch könnte ich zum Horizont schauen.
Könnte in der Ferne, auf der Egge beim Sendemast, meinen
Blick ausruhen.
Ob meine Eltern mich so weit wegziehen lassen? In den
ersten Stock? Die haben doch Angst, dass ich sie da oben
vergesse! Und meine Schularbeiten gleich dazu.
Wie kriege ich das hin mit dem eigenen Zimmer? Wie kriege
ich das hin, dass ich eine Tür hinter mir zumachen kann?

Jetzt reinigt mein Vater nebenan die Badewanne. Er schafft sich


da richtig rein. Die Ata-Dose und die Holzbürste wummern
dauernd gegen die Emaille-Wände. Dumpfe, energische
Schläge. Wie aus einer Tschaikowsky-Sinfonie. Dabei flucht er
ununterbrochen vor sich hin. Schimpft über die Dreckränder,
die wir anderen stehen gelassen haben. Möglicherweise scheißt
er aber auch gerade die Sozialdemokraten zusammen. Genau
kann ich das nicht verstehen. Das liegt auch daran, wie er
spricht. Wenn er schimpft, dringen immer nur Spitzen seiner
Wut nach außen, vor allem Konsonanten, Zischlaute, keine
Vokale. Ja doch, von der Dynamik her müsste er gerade die
SPD am Wickel haben.
Beim Mittagessen neulich ist er durchgedreht, weil die im
Bundestag einen Antrag gestellt haben gegen die
Verjährungsfrist der Nazimorde. Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Darüber ist er total ausgerastet. Krebsrot
angelaufen. Ich hatte richtig Angst. Um ihn und um mich. Weil
ich so dicht neben ihm sitze. Der Rhythmus in seinem
Wutanfall hat mich noch mehr gefesselt als der Inhalt. Die
Pausen zwischen den Sätzen waren bis zum Zerreißen
gespannt: Hört das denn nie auf! – Sühne wollen die! – Sühne
bis ans Ende aller Tage! – Denen geht’s doch gar nicht um die
K Zs! – Um die SS! – Die Richter und Staatsanwälte! D i e wollen
sie haben! – Anständige Leute! – Die ihre Pflicht getan haben! –
Die sich an Befehl und Gesetze gehalten haben! – Wir werden
doch unseres Lebens nie wieder froh! – Diese Sozis! – Von
Rache zerfressen! – Diese Besserwisser! – Diese Heuchler! –
Eine Hexenjagd wollen die veranstalten! – Rache wollen die! –
Und am Ende unsere Stellen mit Sozialdemokraten besetzen!
Dann ist er aufgestanden, obwohl er noch Essen auf dem
Teller hatte, ist zwei Zimmer weiter gegangen, ins
Schlafzimmer, also hier durch mein Kinderzimmer, hat die
Türen hinter sich zugeknallt, und durch die Wände haben wir
ihn weiterschreien hören. Getobt hat er.
Hoffentlich hält sein Herz das aus, hat unsere Mutter gesagt.
Die Haut auf ihrem Gesicht zog sich glatt, und eine einzelne
Träne lief an ihrer Nase entlang.
Die tat mir leid. Er auch. Alle beide.
Mit wem spricht er jetzt?, habe ich gefragt und mich
gewundert, warum meine Stimme immer so schrill rauskommt
und nicht dunkel, wie ich sie mir vorstelle.
Mein Gott, hat unsere Mutter erstaunlich temperamentvoll
gerufen, der muss sich eben mal Luft machen!
Martin und Werner haben geknurrt, aber es war nicht klar,
gegen wen.
Das war beeindruckend. Und das ist noch nicht vorbei. Da
läuft was mit der Nazizeit! Mit der Aufarbeitung. Da wird Licht
ins Dunkel gebracht. Da kommt was in Gang und beunruhigt
ihn.
Immer wieder schütteln meine Eltern angeekelt den Kopf.
Müssen die alles ans Licht zerren? Können die nicht mal Ruhe
geben?
Offensichtlich wird es eng für ihn in der Welt. Wenn Brandt
an die Macht kommt, will sich unser Vater umbringen. Lieber
tot als rot. Dann kommt der Russe. Das ist so sicher wie das
Amen in der Kirche. In Düsseldorf sitzen sie schon, die Roten.
Jeder Sozialdemokrat versalzt ihm die Suppe. Auch in
Herford, auch im Gefängnis. Es braut sich was zusammen
gegen ihn. Und Werner? Und Martin? Sind die auch eine
Bedrohung? Die neue Generation? Wird die ihm sein
Parteibuch vorhalten? Und ich? Gehöre ich überhaupt dazu?
Hoffentlich überträgt er seine Wut nicht auf die Dreckränder
in der Badewanne. Hoffentlich fragt er nicht nach dem
Urheber. Das bin nämlich ich. Gestern Abend war ich zu faul,
die Wanne zu putzen.
Plötzlich höre ich seine Stimme aus dem Bad. Er hat die Tür
geöffnet und ruft mich. In einem Augenblick wird alles, was ich
gerade noch gedacht habe, klein und unbedeutend.
Warum stehe ich hier auch so lange rum und träume vor
mich hin, anstatt mich anzuziehen und abzuhauen? Jetzt soll
ich rüber ins Bad. Ich fühle mich zu dünn in meinem
Schlafanzug.
Schon wieder ruft er mich. Kommst du mal her! Putz dir mal
die Zähne!
Das hat mir gerade noch gefehlt. Mit ihm allein im Bad! Das
ist das Letzte, was ich möchte. Mit seinem nackten Körper will
ich nichts zu tun haben. Er ist über und über mit schwarzen
Haaren zugewachsen. Die weiße Haut schimmert blass durch.
Wie bei Schimpansen. Wenn die mich im Tierpark
unbestechlich mustern, während sie an einer Erdnuss
knabbern, denke ich: Das sind doch Menschen, das sind doch
eingesperrte Menschen! Und im nächsten Augenblick springen
sie an die Käfigstäbe und greifen nach meinem Kragen.
Ich will auf keinen Fall ins Bad zu ihm. Aber an der Tür muss
ich mich zeigen. Sonst kommt er und holt mich.
Zum Glück hat er seine Schlafanzughose an.
Komm mal vors Waschbecken und putz dir die Zähne, sagt
er und dirigiert mich in diesen Zwischenraum zwischen seinem
Bauch und dem Waschbeckenrand.
Ich finde, dass da nicht genug Platz ist. Aber ich sage es
nicht.
Er merkt meinen Widerstand: Mach nicht so ein Gesicht, da
ist genug Platz für zwei!
Da irrt er sich. Das stimmt nicht. Da ist kein Platz. Ich sehe es
doch. Aber ich bin wie vernagelt. Kein Wort kommt aus mir
heraus.
Er hält mir schon die Zahnbürste hin: Steh nicht so rum!
Hier ist deine Bürste.
Keine Wahl. Denke ich. Kein Ausweg.
Ich mache, was er sagt. Oder mein Körper macht es. Ich weiß
gerade nicht, wer bei mir den Ton angibt.
Mein Vater hat eine kleine Fußbank hingeschoben, auf die
ich mich stellen soll, damit ich besser an alles rankomme.
Widerwillig steige ich auf dieses Bänkchen. Ich quetsche mich
in den schmalen Spalt, den er für mich freilässt. Das ist nicht
viel. Eine halbe Armlänge zwischen Waschbeckenrand und
seinem Bauch.
Als ich mich vorbeuge, um nach der Zahncreme zu greifen,
spüre ich ein fremdes, festes Ding an meinem Hintern. Das ist
sein Geschlecht. Das gehört da nicht hin! Jetzt weiß ich, was ich
befürchtet habe.
Schmier dir ordentlich Zahncreme auf die Bürste und putz
dir gründlich die Zähne, sagt er und rückt noch dichter an mich
heran.
Was soll das? Was erwartet er von mir? Er ist doch ein
kluger Mann. Wo ist die Respektsperson, die sonst in seinem
Anzug steckt? Soll ich sagen: Mich stört dieses steife Ding an
meinem Po? Das bringe ich nicht fertig. Ich kann ihn nicht auf
seinen steifen Schwanz ansprechen. Das geht einfach nicht.
Dazu möchte ich nicht mal seine Antwort hören.
Im Spiegel sehe ich mein ratloses Gesicht. Ihn sehe ich auch.
Über meinem Gesicht. Sein Blick blendet mich. Ich schaue weg.
Presse mich an den Waschbeckenrand. Das hilft mir aber nicht.
Da ist nur mein eigener Schwanz. Den spüre ich überdeutlich
am kalten Porzellan.
Heftig schrubbe ich meine Zähne, damit er an meiner
Reinigung nichts auszusetzen hat. Dabei rutscht sein Schwanz
quer über meinen Po.
Sowie ich fertig bin, schlüpfe ich zur Tür hinaus. Blitzartig.
In meinem Zimmer gehe ich sofort zum Fenster.
Ruft er mir noch was nach? Habe ich was überhört?
Nein, da kommt nichts mehr. Nur der Abdruck seines
Geschlechts auf meinem Po. Der klebt an mir.
Mein Herz klopft, mein Atem fliegt. Ein einziges
Durcheinander. Zum Glück ist da der Garten hinter der
Fensterscheibe. Rausgucken. Nur rausgucken. Was sehe ich?
Die Gartenmauer, die Wäschestangen und die
durchhängenden Leinen. Den Federballplatz. Das schlappe
Netz. Die armseligen Pfosten. Die Teppichstange. Den
Sandkasten unterm Apfelbaum. Den Gartenweg. Den Schuppen.
Den Sitzplatz. Die weißen Gartenmöbel. Davor das
geschwungene Rosenbeet. Und die Wiese. Den Birnbaum und
ganz am Ende den Mini-Steingarten, drei Stufen hoch, der an
der Hecke zum Nachbarn endet.
Mit meiner Stirn stütze ich mich an die Fensterscheibe.
Wälze sie hin und her. Das gibt Fettflecken. Nicht zu ändern.
Aufzählen. Nur aufzählen, was ich sehe: Mauer.
Wäschestangen. Sandkasten. Federballplatz. Wiese. Birnbaum.
Schuppen. Sitzbank. Sandkasten. Weg. Hecke.
Das tut gut. Das einzelne Wort. Das beruhigt. Leise spreche
ich mit: Mauer. Wiese. Stange. Pfahl. Netz. Schuppen. Wiese.
Birnbaum. Hecke.
Mein Zwerchfell ist zufrieden mit mir. Das Herzklopfen hat
sich zurückgezogen.

Wahrscheinlich bin ich auf die Bühne gegangen, um Worte


aneinanderzureihen. Nicht mehr. Wenn ich an diesem Punkt
ankomme, dass ich nur noch ein Wort an das andere reihe, fast
unbeteiligt, aber nicht lieblos, breitet sich Wärme in mir aus.
Und plötzlich bin ich auch in der Lage, meine Mitspieler
wahrzunehmen.
Es ist s e i n e Stimme, die aus mir spricht. Die Stimme
meines Vaters. Das weiß ich erst seit kurzem. Ich habe ein altes
Tonband abgehört. Er hat mal eine Mozartsonate
aufgenommen, auf einem der alten Magnetbänder, und er
kündigt das Köchelverzeichnis und die Satzbezeichnungen an.
Einen richtigen Schreck habe ich bekommen. Einen Moment
lang dachte ich: Das bin doch ich.
Aber er ist es. Er!
Es gibt ein Tagebuch von ihm, aus dem Krieg. Nur ein paar
Seiten. Zwanzig vielleicht. Den Rest hat meine Mutter
herausgerissen.
Ihr versteht das nicht, hat sie gesagt. Und du besonders
nicht, Edgar. Du bringst es noch fertig und veröffentlichst das!
Lieber werfe ich das vorher in die Mülltonne.
Übrig geblieben ist eine Beschreibung von seinem Besuch
Weihnachten 42 in Königsberg. Eine berührende
Liebeserklärung an seine Frau und meine großen Brüder. An
seine Mutter. An seinen Bruder.
Er hat zwölf Tage Urlaub und kommt aus Weißrussland. Das
ist eine Reise von Orscha über Witebsk und Białystok, durch die
Entlausung, nach Ostpreußen. Eine Reise mit zwei schweren
Koffern und einem Rucksack, in dem lauter Esssachen sind.
Gerupftes Geflügel, Gänse und Enten. Rehrücken. Abgezogene
Hasen. Dicht gepackt. Aufeinandergeschichtet und gepresst.
Nackt, blutig, in Zeitungspapier gewickelt. Diese Koffer schleppt
er über Bahnhöfe und Bahnhofstreppen. Alles für die Familie.
Auch für den ältesten Bruder aus Hamburg, der gerade in
Königsberg zu Besuch ist. Der soll auf dem Rückweg in Berlin
Zwischenstation machen und dort eine Gans für den Vater und
eine Ente für den Schwiegervater abgeben und noch einen
Hasen für sich und die Seinen mitnehmen. Für die eigene
Mutter in Königsberg, die bei ihm um die Ecke wohnt, am
Trommelplatz, hat mein Vater einen Rehrücken im Rucksack.
Und für meine Mutter und meine Brüder am Ziethenplatz noch
mal Gans und Ente. Und für die Freunde, die während der
nächsten zwölf Tage zu Besuch kommen, ist auch was dabei.
Und für ihn selbst natürlich. Denn er isst so gerne Fleisch. Die
Hungerjahre liegen noch vor ihm. Vielleicht ahnt er das.
«Noch einmal friedensmäßig gegessen!», schreibt er immer
wieder glücklich in sein Tagebuch.
Und wo kommt das alles her, was da gegessen wird?
Die Deutschen führen ihren Ernährungskrieg gegen die
Sowjetunion. Ganze Gebiete werden zu «Kahlfraß-Zonen»
erklärt. Die russischen Esser werden erschossen oder ins Reich
geschickt, wo sie ihre Körperkraft in deutschen
Munitionsfabriken aufbrauchen sollen. Wer alt und schwach
und unbrauchbar zurückbleibt, soll verhungern. Langsam.
Denn die russische Verwaltung muss noch aufrechterhalten
werden. Bis der Krieg gewonnen ist.
«Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen
verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande
herausgeholt wird», heißt es in den Richtlinien der Obersten
Heeresleitung. «Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der
russische Mensch schon seit Jahrhunderten. Sein Magen ist
dehnbar, daher kein falsches Mitleid! Versucht nicht, den
deutschen Lebensstandard als Maßstab anzulegen und die
russische Lebensweise zu ändern. Die besetzten Gebiete sind
radikal auszuplündern und ihre Güter in die Versorgung der
deutschen Wehrmacht und in die deutsche Volksgemeinschaft
zu überführen.»
«Richtig handelt», schreibt der Oberbefehlshaber des Heeres,
Walther von Brauchitsch, «wer unter vollkommener
Hintansetzung etwaiger persönlicher Gefühlsanwandlungen
rücksichtslos und unbarmherzig zupackt.»
Als unser Vater nach zwölf Tagen Weihnachtsurlaub wieder
nach Orscha zurückkommt, zu seiner Truppe, am 12. Januar 43,
bricht das Tagebuch ab. Der letzte Satz heißt: «Denn ohne Sieg
gibt’s für uns kein Leben mehr.»

Mittags muss ich abwaschen. Eine Verpflichtung, die an mir


hängenbleibt. Martin und Werner dürfen sich nach dem Essen
gleich in Luft auflösen. Das Hausmädchen geht jetzt zurück in
ihre Pflegevorschule. Oder sie kommt erst am Nachmittag.
Unsere Mutter ist zu zart. Sie hat ihr Leben für mich riskiert. In
einer Lungenklinik im Sauerland. Sie hat darauf bestanden,
mich zur Welt zu bringen, gegen den Willen der Ärzte und
meines Vaters. Dafür muss ich dankbar sein. Die Brust konnte
sie mir nicht geben. Schwangere Bäuerinnen rund um Brilon
haben mich mit ihrer Milch versorgt. Abgesaugte,
überschüssige Milch, die sie verkauft und geliefert haben in die
Sanatorien und Lungenkliniken rundum.
Jeden Tag bekommt unsere Mutter Butter aufs Brot, während
der Rest der Familie Margarine isst. Sie muss Sahne trinken,
obwohl sie die nicht mag. Alles für die Lunge. Sie wird genau
beobachtet und gewogen, ob sie auch nicht zu dünn ist. Nicht
ohne Ekel schiebt sie täglich von ihrem Teller die halbe Portion
ihrem Mann oder uns Kindern zu. Ich kann nicht so viel essen,
sagt sie erschöpft.
Doch, du musst aber essen, sagt mein Vater und nimmt das
Fleisch, das sie ihm auf den Teller geschoben hat, trotzdem an.
Er hat immer Hunger. Aber das, was meine Mutter mir gegeben
hat, tut er wieder auf ihren Teller zurück.
Nach dem Mittagessen begleitet er seine Frau ins Bett. Sie
braucht Schlaf. Mindestens Bettruhe. Für die Lunge. Er
eskortiert sie, sonst geht sie nicht. Sonst drückt sie sich wieder
in die Küche hinein und räumt rum.
Mein Vater bereitet eine Wärmflasche vor, denn meine
Mutter hat immer kalte Füße. Die Wärmflasche soll sie ins Bett
locken. Aber vorher muss er, während das Wasser auf dem
Gasherd schön heiß werden soll, noch das Küchenhandtuch
aufhängen. Und dieses Handtuch hat einen ganz verflixten
Platz.
Der Haken dafür ist an der Wand, wo die Spüle ist. An dieser
Spüle stehe ich. Meine Hände wühlen bereits im schmutzigen,
seifigen Wasser zwischen Besteck und Tellerabfällen. Hinter
mir steht der Schrank für Töpfe und Pfannen. Ich bin also
einklemmt zwischen der Spüle vor mir, der Wand links neben
mir und dem Topfschrank hinter mir. Nur rechts ist ein
schmaler Zugang.
Mein Vater sieht mich in dieser Falle. Er sagt nicht: Mach
mal gerade Platz, ich will das Handtuch aufhängen. Im
Gegenteil. Er drückt mich wortlos an die Wand, um über mich
hinweg oder an mir vorbei das Handtuch aufzuhängen. Und
dabei fühle ich schon wieder seinen steifen Schwanz. Seitlich.
Auf meiner rechten Hüfte.
Ich versuche, unter seinem Arm wegzutauchen,
rauszukommen, aber er sagt: Bleib doch da! Ich hab das
Handtuch doch gleich auf dem Haken.
Gib’s doch mir, bettle ich. Ich häng’s auf.
Aber du hast ganz nasse Hände, sagt er. Da wird ja das
Handtuch nass.
Er lässt mich einfach nicht weg. Er hängt es mit Absicht
neben den Haken und lacht noch dazu und ruft: So ein dummes
Handtuch! Es will einfach nicht rauf auf den Haken!
Ich werde rot, und mir bricht der Schweiß aus. Ich schaue
nach meiner Mutter. Die steht an der Tür, schüttelt den Kopf
und wundert sich, was der Papa für lustige Sachen macht.
Endlich hängt das Tuch, und die beiden ziehen mit der
Wärmflasche ab ins Schlafzimmer.

Hinter mir türmt sich der Abwasch. Schmutzige Pfannen, Töpfe


mit angebrannten Böden. Meine Mutter passt beim Kochen
nicht richtig auf, sie ist mit ihren Gedanken bei Gedichten,
Bibelsprüchen, Losungsworten für den jeweiligen Tag. Bei den
Kalenderblättchen, die sie täglich abreißt und sich zur
Erinnerung vor ihr Küchenradio legt.
Das kann man ja alles verstehen. Aber einer muss sich jetzt
mit dem Drahtschwamm die Finger wund schrubben, um die
verbrannten Topfböden wieder sauber zu kriegen. Und das bin
ich. Andreas hilft mir und trocknet ab.
Er ist so unsäglich langsam, dass ich fast durchdrehe. Statt
abzutrocknen, spielt er mit den Kochlöffeln, den
Pfannenhebern, dem Salatbesteck Wettlauf. Fleischklopfer
gegen Suppenkelle. 1000-Meter-Lauf. Suppenkelle liegt vorne.
Aber Fleischklopfer holt auf.
Andreas stürmt durch die Küche, schiebt mal die Kelle, mal
den Fleischklopfer vor. Dazu kommentiert er wie ein
Sportreporter: Fleischklopfer kommt in die Zielgrade!
Suppenkelle bleibt zurück!
Du sollst abtrocknen!, schreie ich ihn an. Ich will hier
endlich fertig werden.
Aber Andreas schiebt seinen Unterkiefer vor, wie mein
Vater, wenn er seine schweren Stellen am Klavier übt. Und wie
ich leider auch.
Du siehst echt debil aus!, schreie ich und mache ihn nach.
Andreas ist kurz irritiert, seine Zunge hängt ihm raus, aber
der Wettlauf scheint spannender zu sein.
Endspurt!, ruft er und stürmt wieder durch die Küche:
Fleischklopfer hat noch Reserven! Suppenkelle ist außer Atem.
Jaaa, Suppenkelle ist zusammengebrochen!
Andreas schmeißt die Kelle auf den Boden und hackt jubelnd
mit dem Fleischklopfer in die Luft. Er skandiert rhythmisch:
Fleisch-klopfer! Fleisch-klopfer! Fleisch-klopfer!
Hör auf!, brülle ich und schnappe mir den Pfannenheber.
Guck mal hier: Willste mal sehen, wie der Weitsprung macht?
Und der Pfannenheber landet auf Andreas’ Backe. Ich rufe:
Das war die Sechsmetermarke!
Andreas läuft heulend aus der Küche und schlägt die Tür zu.
Ich wende mich meinem Abwaschhaufen zu.
Da stürmt Andreas wieder rein. Mit einem Skistock in der
Hand. Er ist auf hundertachtzig: Jetzt stech ich dir ein Auge aus!
Sein Gesicht ist tränenverzerrt.
Eigentlich müsste ich ihn in den Arm nehmen. Warum
können wir nicht zusammenhalten?
Es gelingt mir nicht mehr, ihn zu beruhigen, er ist bereits im
roten Bereich, macht Ausfallschritte und wackelt mit dem Stock
vor meinen Augen.
Ich flüchte aufs Klo. Vorne in der Diele.
Andreas steht vor der verschlossenen Klotür und brüllt:
Wenn du rauskommst, stech ich dich ab.
Ganz leise schließe ich das Schloss wieder auf, lasse die Tür
aber zu, öffne das Fenster und springe nach draußen ins
Blumenbeet.
Keine Ahnung mehr, was aus dem Abwasch geworden ist.

Irgendwann, ich weiß weder Zeit noch Ort, bestätigen meine


älteren Brüder: Ja, das kennen wir auch. Ganz ruhig erzählen
sie von sich und unserem Vater. Sie kennen, was ich erlebt
habe.
Es ist also wirklich passiert. Es ist keine Einbildung. Es ist
vorgekommen. Ein paarmal sogar. Nicht jeden Tag. Aber hin
und wieder. Und irgendwann nicht mehr.
Was für ein Trost, dass meine Brüder mir das sagen. Mehr
kann ich nicht verlangen.
Magenstiche
Hast du dir die Hände gewaschen? Fragen meine Eltern,
wenn sie mich mit einem ihrer Bücher entdecken.
Meine automatische Antwort: Ja, natürlich.
Zeig mal her!
Wenn sie schwarz sind, wie sie es nennen, muss ich
umgehend ins Badezimmer. Schrubben mit Seife und Bürste.
Und dann wieder vorzeigen.
Jetzt kannst du dir gerne ein Buch rausnehmen, sagt mein
Vater mit der vollendeten Handbewegung eines
Kammerdieners. Und weist auf das Bücherregal. Fehlt gerade
noch, dass er sagt: Seine Durchlaucht – das Buch!, lassen bitten.
Aber dann mag ich nicht mehr.
Meine Eltern haben gerade das Haus Richtung Stadt
verlassen, und so ziehe ich mit Dreckshänden im Flügelzimmer
ein Buch heraus, das mir schon lange aufgefallen ist.
Wie Kinderbücher ist es etwas höher, nicht sehr dick, in
gehärtete Pappe gebunden, die Seiten aus gelbstichigem, festem
Papier. Kriegspapier nennt man das.
Es handelt von den Soldaten «im Felde», und es ist
geschrieben für die, die zu Hause sind und wissen wollen, wo
ihre Männer und Söhne kämpfen, und wenn sie gefallen sind,
wo sie begraben liegen. So lese ich das auf dem Klappentext.
Ein dramatisches Umschlagbild, wie ein Filmplakat. Der Titel
«Umkämpftes römisches Land» ist wild gestaltet.
«Umkämpftes» ist quer über das Buch und in Schreibschrift
geschrieben, mit Kohle schraffiert, sodass die Buchstaben
qualmen wie Trümmer. «Römisches Land» steht in
Druckschrift. Darunter eine Zeichnung wie aus dem
Kunstunterricht: eine abgebrochene, antike Säule, um die sich
ein deutscher Eichenkranz schlingt, eine schwarze Pinie,
Andeutungen von Meer und Gebirge, in Grün und Dunkelblau.
Weiter unten steht: «Das Erlebnisbuch aus den Kämpfen um
Monte Cassino – Mit 32 Farbtafeln des Verfassers». Wilhelm
Wessel heißt der.
Als ich das Buch öffne, rutscht mir ein eingelegtes, gefaltetes
Blatt entgegen: neun Unterschriften auf einer leeren Seite.
Original in Tinte.
Das ist es! Das habe ich gesucht. Meine ungewaschenen
Finger haben die richtige Stelle im Bücherschrank gefunden.
Wie immer, wenn ich auf eine Spur aus der Vergangenheit
meiner Familie stoße, fühle ich mich sicherer.
Vom Esszimmer aus habe ich vor Jahren meine Eltern
beobachtet, wie sie hier standen, mit diesem Buch und diesem
Zettel, und aufgeregt Namen genannt haben. Von diesen
Unterschriften müssen sie gesprochen haben. Wichtige Leute
wahrscheinlich, und ich glaube, meine Eltern sind der Ansicht,
dass denen Unrecht geschehen ist.
Über die ganze erste Seite des Buches hat jemand eine
Widmung geschrieben. Die Schrift ist anspruchsvoll, nicht
leicht lesbar:
Herrn Oberstaatsanwalt Dr. Selge.
Als ein kleines Zeichen meiner tiefen Dankbarkeit übereignet.
Sie haben meine Schicksalsgenossen und mich in der kurzen
Zeit Ihres Hierseins durch Ihr edles Menschentum frühere
Erniedrigungen vergessen lassen und unsere Haft zu
erleichtern verstanden.
Ein glücklicher Stern leuchte über Ihren und Ihrer Familie
weiteren Lebensweg!
Werl, 28.09.1950
Kesselring, Generalfeldmarschall der früheren deutschen
Wehrmacht

Auf dem eingelegten Blatt mit den neun Unterschriften steht:

Gottes Segen und unsere Wünsche ins Neue Heim


Oktober 50

Das «neue Heim» muss das Haus sein, in dem ich gerade stehe.
Herford. Und die Haft, von der Kesselring spricht, das
Zuchthaus in Werl, wo wir vorher gewohnt haben. Da sind wir
von Bückeburg hingezogen, Hals über Kopf, weil unsere Mutter
die Sandsteintreppe am Hauseingang nicht mehr sehen wollte,
wegen Rainer und der Handgranate.
Ich habe gehört, dass unser Vater in Werl eine Art Chef war,
für kurze Zeit. Richtig konnte er das nicht sein, weil der
wirkliche Chef die Besatzer waren, in diesem Fall ein britischer
Oberst. Vickers hieß er. Der hat unsern Vater bald
rausgeschmissen. Der Selge ist zu lasch, hat er entschieden.
Diesen Satz kenne ich von unserer Mutter, die das
offensichtlich nicht als ehrenrührig empfand und beim
Mittagessen erzählt hat. Unser Vater hat es trotzdem nicht so
gern gehört und ein überlegenes Gesicht aufgesetzt, um seine
Empfindung zu verbergen.
Er war für die Betreuung der eingesperrten hohen Offiziere
zuständig, die meisten von ihnen Generäle, und soll mit ihnen
fraternisiert haben. Inzwischen weiß ich, dass das Wort von
«frater» kommt, was «Bruder» heißt.
Der Umzug nach Herford ist knapp zehn Jahre her. An Werl
habe ich ein paar genaue Erinnerungen. Aber die glaubt mir
niemand. Die Erwachsenen sind der Ansicht: Erst ab dem
dritten Geburtstag kann man sich genau erinnern. Frühestens!
Sie sprechen in meinem Fall von Einbildungen. Was soll ich da
machen? Wahrscheinlich sind Erinnerungen nicht dazu da,
dass andere sie für wahr halten.
Wenn ich mir die Schrift von Generalfeldmarschall
Kesselring anschaue, muss ich sagen: Der Mann ist auch nicht
ohne Einbildung. Er unterschreibt ganz ähnlich wie Herbert
von Karajan. Hohe, parallele Buchstaben wie eine donnernde
Fliegerstaffel.
Karajans Unterschrift kenne ich aus einem Büchlein mit
Karikaturen von Musikern. Es muss hier ganz in der Nähe
stehen. Mein Vater hat es zum Geburtstag geschenkt
bekommen, so ein kleines Insel-Büchlein. Werner hat mir
erklärt, der Zeichner sei ein Antisemit. Die jüdischen Musiker
haben nicht unterschrieben. Vielleicht, weil der Karikaturist
sich auf ihre Nasen kapriziert hat. Die andern Musiker dagegen
haben brav ihr Autogramm unter ihr Konterfei gesetzt. Im
Nachwort hat der Zeichner behauptet, die Juden hätten eben
keinen Humor.
Karajan ist als Propellermaschine gezeichnet. Das hat ihm
sicher geschmeichelt, weil er ja nicht nur die Berliner
Philharmoniker dirigiert, sondern auch Pilot ist. Unser Vater
hat sehr gelacht über das Flugzeug mit der Karajan-Frisur.
Werner hat gleich eingewendet, dass Karajan zweimal in die
NSDAP eingetreten sei, um ja nichts zu verpassen.
Da war die Freude unseres Vaters vorbei.
Du kannst froh sein, hat er gemeint, wenn du je in deinem
Leben von Karajans Taktstock einen Einsatz bekommst.
Da spiele ich lieber im Kurorchester, hat Werner prompt
geantwortet, als mir von dieser Knattercharge einen Einsatz
geben zu lassen.
Diese Knattercharge, hat unser Vater schon leicht zitternd
entgegnet, reist gerade mit einem Heer von Musikern um den
Globus, um Deutschland an vorderster Front wieder
Weltgeltung zu verschaffen!
Na ja, hat Werner gesagt, dafür sei deutsche Musik ja auch
komponiert: für ihren Einsatz an vorderster Front, um
Deutschland Weltgeltung zu verschaffen. Praktisch in
Konkurrenz zum Volkswagen.
Darauf war Ruhe.
Während ich mit Karajans und Kesselrings Unterschriften
beschäftigt bin, habe ich nicht mitbekommen, dass meine
Eltern wieder im Zimmer stehen. Zwei Meter vor mir. Direkt
unter der Deckenleuchte. Weder habe ich die Haustür gehört,
noch, wie sie ihre Mäntel ausgezogen haben. Und was sie im
Flur geredet haben, muss mir auch entgangen sein.
Tatsächlich sind sie verändert und stehen mit ernsten
Gesichtern da. Meine dreckigen Hände und das Buch mit dem
Zettel nehmen sie gar nicht wahr.
Auf ihrem Weg in die Stadt seien sie wieder umgedreht, sagt
mein Vater, weil Mutti solche Magenstiche habe, dass sie
augenblicklich ins Bett müsse.
Ich nicke, klappe das Buch zu und stelle es in den Schrank
zurück. Dabei gleitet der Zettel mit den Unterschriften zu
Boden, direkt vor die Füße meines Vaters. Aber er bemerkt es
nicht. Ich schaue meine Mutter an. Warum geht sie nicht sofort
ins Bett? Sie steht reglos neben meinem Vater, hält beide Hände
auf der Magengegend, zwischen den Augenbrauen hat sie eine
senkrechte Falte, die Lippen sind schmal. Wenn man nichts von
ihren Magenstichen wüsste, würde man glauben, sie denke
scharf nach. Ihr Blick geht nach innen.
Einmal im Jahr hat unsere Mutter Magenstiche. Meistens im
November. Jedes Mal steht sie dann genau so da wie jetzt.
Manchmal fragt sie leise, ob ihr jemand eine heiße Milch
machen kann. Immer liegen die Hände übereinander, auf der
Magengegend, als würde sie ein Loch zuhalten. Und immer
vermittelt sie dabei den Eindruck äußerster Konzentration.
Da ist aller Spaß vorbei. Schlagartig verändern wir uns. Ich
lese in ihrem Ausdruck eine geheime Nachricht, dass morgen
der Jüngste Tag ist und ich in den nächsten vierundzwanzig
Stunden die Chance habe, noch einmal von vorne anzufangen
und alles gutzumachen. Aber auch meine Brüder und mein
Vater werden freundlicher, warmherziger. Alle bieten ihre
Hilfe im Haushalt an, jeder sieht die Sorge im Gesicht des
andern, allen wird bewusst, dass s i e eigentlich die Familie ist
und wir anderen ohne sie nur eine sinnlose Ansammlung
männlicher Wesen.
Das ganze Leben ist eine zerbrechliche Konstruktion, das
wissen wir jetzt und dürfen uns darüber wundern, dass wir das
immer wieder vergessen.
Kann ich dir eine Milch heiß machen?, frage ich meine
Mutter. Sie schüttelt kaum merklich den Kopf. Leise sagt sie: Ich
will nur noch ins Bett.
Aber sie bewegt sich nicht, auch mein Vater unterbricht
seinen Versuch, sie ins Schlafzimmer zu führen, umgehend.
Eine winzige Geste von ihr zeigt, dass sie nicht berührt werden
möchte. Oder gedrängt. Von jetzt an entscheidet sie selbst. Und
wir werden das respektieren und sie nur beobachten.
Ich glaube, ihre Magenstiche sind eine endgültige
Abrechnung mit uns. Wir können ihr den Buckel
runterrutschen.
Sie hat natürlich keinen Buckel. Nur einen ausgeprägten
Atlasknochen und einen sehr langen Hals. Mein Vater hat eine
Kunstpostkarte rahmen lassen, von einem
Renaissancegemälde. Es zeigt das Porträt einer Dame mit einem
markanten Atlasknochen. Das sei das Idealbild unserer Mutter.
Piero del Pollaiuolo – junge Frau im Profil. Das Bild hängt links
neben seinem Schreibtisch. Wenn mich seine Ohrfeigen beim
Lateinunterricht treffen, starre ich es an und halte mich an der
Geschichte von Atlas fest, der die Weltkugel nicht fallen lassen
darf, obwohl sie drückt wie Sau.
So, wie sie jetzt unter unserer Wohnzimmerlampe steht,
kann ich auf ihrer Stirn mit der Senkrechtfalte nur lesen: Es
reicht! In diese Richtung geht’s einfach nicht mehr weiter.
Immer wieder hat sie mit ihren Rollkuren die Magenstiche
zurückgedrängt. Und wir haben dann geglaubt: Jetzt sind sie
weg und kommen nicht zurück. Aber pünktlich, zu
Allerheiligen, sind sie wieder da. Und irgendwann werden sie
durchbrechen. Die stechen sich systematisch ihren Weg frei,
diese Stiche, von innen nach außen, und ihr Schlachtruf ist:
Alles falsch! Alles falsch gemacht im Leben!
Der Mann: Falsch!
Jedes Kind: Falsch!
Edgar: Eine Katastrophe!
Sie selbst: Gar nicht für Familie geschaffen!
Vielleicht gar nicht für Männer!
Pfarrfrau hätte sie werden sollen, an der Seite einer
Pfarrerin.
Kindergärtnerin an der Seite einer Kindergärtnerin.
Lyrikerin an der Seite einer Lyrikerin.
Abends mit einer Genossin über Gedichten sitzen.
Aber nicht für einen Mann die Beine breit machen.
Nicht diese Familie. Nicht dieser Haushalt.
Nicht die grausame Vernichtung der eigenen Begabung: ihr
Sprachgefühl. Das hat sie nämlich. Daraus hätte sie doch was
machen können.
Stattdessen: Spießrutenlaufen durch den täglichen Parcours
der Haushaltspflichten.
Diese Sisyphusarbeit, dieser entsetzliche Kreislauf der
Mahlzeiten. Haus sauber machen, aufstehen, Essen planen,
einkaufen, Töpfe rausholen, Messer raus, Bretter raus, Gemüse
schneiden, Bohnen schnippeln, Fleisch vorbereiten, Wasser
aufsetzen, Zwiebeln anbraten, aufpassen, dass nichts anbrennt,
nach dem Essen den ganzen Dreck wieder in die Küche tragen
und abwaschen, den Boden sauber halten, den Mülleimer
rausbringen, die Fußmatten ausschlagen, Wäsche waschen,
aufhängen, abnehmen, bügeln, zusammenfalten, haben die
Kinder genug zum Anziehen, was muss gestopft, genäht
werden, was muss in die Reinigung, das nimmt ja kein Ende,
Betten abziehen, Betten überziehen, Fenster putzen, Zettel
schreiben, was alles fehlt, die Vögel füttern, das Obst versorgen,
das einfach massenweise in Kisten von der Gartenkolonne vor
der Küchentür abgestellt wird, einkochen, einwecken,
entsaften, Gläser auskochen, Marmelade und immer wieder
Kompott. Und diese Mühe, die andern dazu zu bewegen,
mitzuhelfen, was sie ja nie von alleine machen. Sodass alles
letztlich an ihr hängen bleibt.
Alles bleibt an mir hängen! Das ist das gestöhnte Motto ihres
Lebens. Wie im Märchen von der goldenen Gans. Sie wird die
Töpfe, die Betten, die Besen, die Einkaufszettel, die ganze
Wäsche nicht mehr los, alles klebt an ihr dran.
Wenn sie abends erschöpft im Bett liegt, legt sich der Mann
neben sie und mahnt: Morgen kommt der Herr Sowieso zu
Besuch. Vielleicht können wir einen kleinen Streuselkuchen
backen. Dieser Streuselkuchen! Den die Schwiegermutter
immer besser gebacken hat als sie. Immer war der Boden vom
Streuselkuchen bei der Schwiegermutter dünner, die Streusel
dicker, süßer, buttriger, sind leichter auf der Zunge zergangen.
Immer wieder hat die Schwiegermutter versucht, der
Schwiegertochter beizubringen, wie man solche Streusel backt,
die auf der Zunge zergehen. Wie man den Boden beim
Streuselkuchen so zart hinkriegt, dass der schon die
Speiseröhre runter ist, bevor man denkt: Jetzt muss ich aber
mal den Boden wegkauen. Nein, bei einem Boden, wie ihn die
Schwiegermutter backt, kann man sich ganz darauf
konzentrieren, wie wundersam flüchtig die Streusel unter dem
Gaumen schmelzen. Der Boden darf eben nicht zu hart werden,
aber auch nicht zu feucht. Irgendwas ist immer falsch.
Und dann diese Sätze, die man mit dem Besuch wechseln
muss. Unverbindlich bis auf die Knochen. Aber ein leuchtendes
Gesicht dazu machen müssen, als hätte man die Glühbirne
erfunden. Ob’s gut geht, ob’s schlecht geht, die politische Lage
hin und her wälzen, wo sich sowieso alle einig sind, nichts, was
in die Tiefe geht, kein Gedanke kommt auf, wird entwickelt,
niemand hört richtig zu, alle spielen zuhören, alle setzen
interessierte Gesichter auf, aber nichts kommt an in den
Herzen. In ihrem jedenfalls nicht.
Der eigene Mann merkt nix, der hat seine Musik, sein
Klavier. Der kann zur Erholung locker mal Konversation
machen mit dem Besuch. Wenn’s ihm reicht, gähnt er wie der
Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer, und dann ergreift jeder
Besuch die Flucht und kommt so schnell nicht wieder. Er
könnte sich ja auch mal die Hand vors Maul halten!
Neulich hat ihr Mann sechs Psychologen eingeladen und
ihnen seinen Knast gezeigt, dann hat er Wein raufgeholt, seinen
Kröver Nacktarsch. Sie hat ihm gesagt: Ich will Apfelsaft, ich
vertrag keinen Wein. Die Säure frisst sich mir in den Magen.
Frisst sich rein. Verstehst du? Er hat ihr brav Apfelsaft
eingegossen, alle haben sich zugeprostet, ein guter Tropfen,
sagt er, und die blöden Psychologen nicken, einer sagt Spätlese,
was Quatsch ist, und sie trinkt und muss den ersten Schluck fast
ausspucken:
Was hast du mir denn hier eingegossen?
Apfelsaft, sagt er.
Der ist doch total vergoren, beschwert sie sich. Und beim
nächsten Schluck sagt sie, du hast mir Wein eingegossen,
keinen Apfelsaft, und er wird wirklich sauer und weist auf die
Gläser: Schau dir das an, sagt er, überall dieselbe Farbe, außer
bei dir.
Aber ich weiß doch, was ich trinke, fährt sie ihn an. Das ist
Wein!
Ich weiß auch, was ich trinke, antwortet er patzig, wir
wissen alle, was wir trinken, prost!
Und sie prosten sich wieder zu, diese Psychologen und ihr
Mann mit seinen schwachen Geschmacksnerven, und sie
nimmt die Flaschen vom Teewagen in die Hand, will sie mal
untersuchen, links Apfelsaft, rechts Wein, und hält sie gegen
das Licht und sagt freudestrahlend: Die Weinflasche ist doch
fast voll, und der Apfelsaft ist leer, du hast euch Apfelsaft
eingegossen, und ihr merkt es nicht mal!
Er schaut sie an mit einem Blick, der Scheidung bedeutet. Ihn
so zu blamieren! Ist sie noch ganz bei Trost?
Und dann sagt auch noch der jüngste Psychologieanwärter:
Entschuldigung, ich glaube, ich habe ebenfalls Apfelsaft, und
mein Vater trinkt und schaut in die Runde und sagt, du machst
mich ganz unsicher, und das klingt nicht gut, wie er das sagt,
das darf eine Frau nicht: Ihren Ehemann vor anderen
verunsichern, das ist gegen die Regel, und jetzt sagen alle
Psychologen nacheinander, ganz vorsichtig: Ich habe auch
Apfelsaft im Glas, aber das macht doch nichts, Herr Doktor, er
schmeckt sehr gut, so frisch, Herr Doktor. Und sie greift nach
seinem Glas, es reicht ihr nämlich inzwischen, trinkt einen
großen Schluck und ruft: Hier ist mein Apfelsaft!, und gibt ihm
ihr Glas, und er trinkt. Und? Was macht er? Anstatt sich zu
entschuldigen? Er strahlt einfach und ruft: Ja, das ist der Kröver
Nacktarsch! Das ist der Wein, den ich liebe, der ist doch
wunderbar! Ja, haben Sie wirklich alle Apfelsaft? Warum sagen
Sie denn nichts? Und er holt eine Karaffe und schüttet den
Apfelsaft aus allen Weingläsern in die Karaffe und holt neue
Gläser, Weingläser haben wir ja genug, und gießt Wein ein, und
alle prosten sich wieder zu, und er lacht und freut sich, dass
man sich so irren kann.
Diese Sicherheit bei ihm! Das hat sie schon immer gestört.
Diese Sicherheit, wenn er in Wahrheit voll danebenliegt.
Als er das erste Mal um ihre Hand angehalten hat, hat sie
nein gesagt. Und ist bei ihrem Nein geblieben. Obwohl alle
enttäuscht waren. Vor allem ihr Vater hatte sich so auf diesen
Schwiegersohn gefreut: Jurist wie er selbst, begabter Pianist,
Spaß an Wortspielen, gesunde Gesinnung, national,
gutaussehend. Vor den Cousinen wirft er in der Küche Meißner
Porzellanteller in die Luft und fängt sie zirkusreif auf. Was will
man mehr? Mit dem kann er alle Violinsonaten rauf und runter
spielen. Der schafft sogar die César-Franck-Sonate im Tempo.
Es wär so schön gewesen!
Aber die Tochter hat nein gesagt. Und war auch noch stolz
darauf. Nein, nein, nein.
Doch ihre Rechnung hat sie ohne die Männer gemacht. Nach
einem Jahr, als sie eine Krise hat, nicht weiß, ob sie Literatur
studieren soll oder Theologie, oder doch besser Kindergärtnerin
werden, und als der Führer die Rolle der Frau neu bestimmt,
die Nation ihre große Erhebung erlebt und jeder fragt, was die
Frauen denn für Deutschland leisten können, da schreibt ihr
eigener Vater hinter ihrem Rücken diesem juristischen
Pianisten oder diesem pianistischen Juristen: Es lohne sich,
noch mal nachzufragen. Ein zweiter Antrag könne vielleicht
Erfolg haben. Diese Tochter, die Signe, wisse gerade nicht
weiter in ihrem Leben. Wenn man sie jetzt nicht zu sehr
drängt, wenn man viel Verständnis zeigt, könnte die Antwort
diesmal anders ausfallen.
Und der Edgar – ja, mein Vater heißt Edgar! – lädt sie zum
«Rosenkavalier» ein, und im dritten Akt, im Duett von Oktavian
und Sophie, ist es passiert. Dieses Duett ist schuld, dass sie hier
mit ihren Magenstichen unter der Wohnzimmerlampe steht.
Als Oktavian im dritten Akt singt:
Spür nur dich, spür nur dich allein
und dass wir beieinander sein!

Und Sophie auch noch mitsingt:


Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein,
dass wir beieinander sein!

hat er seine Hand auf ihre einfach draufgelegt, ohne Druck, und
sie hat sie nicht zurückgezogen, weil er sie in diesem
Augenblick anschaut. Und er hat ja wirklich schöne, tiefblaue
Augen, und sein Blick ist weich und ernst, da gab’s kein Zurück
mehr.
Und sie verloben sich, und er schreibt rührend ausführliche
Briefe, und ganz vorsichtig malt er aus, wie es werden wird, das
gemeinsame Lesen, das gemeinsame Musizieren, und wie sie
aufgehen werden im Volks-Ganzen und dabei doch besonders
bleiben, stellt in den Briefen seine Freunde vor, schildert sie in
den zartesten Farben und bittet sie, diese Menschen doch bald
auch etwas lieb zu haben.
Warum hat sie diese öde Sackgasse nicht bemerkt? Warum
hat sie das nicht herausgelesen, dass da einer alles im Voraus
festlegt? Die ganze Zukunft vorbetoniert? Weil er immer schon
vorher weiß, was er erleben will.
Ihr Körper hat es gewusst. Auf dem Hochzeitsfoto sieht sie
aus wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Und
schlafen will sie auch erst mal nicht mit ihm.
Er drängt sie nicht. Das ist seine gute Seite. Mit ihr hat er
wirklich eine Engelsgeduld. Erst im «Wilden Mann», in
Meersburg, auf der Hochzeitsreise zum Bodensee. Da macht sie
das mit: Dieses Ein-Fleisch-Sein von Mann und Frau, von dem
er immer spricht und sagt, das stehe so in der Bibel. Und wovon
er neuerdings behauptet, die Ehefrau sei dazu gesetzlich
verpflichtet. Er meint das allgemein. Aber in Wahrheit meint er
sie. Das spürt sie schon. Irgendwann hat sie eben mitgemacht.
Hat’s auch ganz schön gefunden. Aber nie so schön wie er.

Noch immer stehen sie nebeneinander unter der


Wohnzimmerlampe, und sie kann sich nicht entschließen,
einen Schritt in Richtung Schlafzimmer zu machen. Ein
Schmerzblitz fährt ihr übers Gesicht. Jetzt wird sie gerade
abgestochen. Von innen.
Es ist ihr verdammtes Pflichtbewusstsein! Das hat ihr die
freie Entscheidung vermasselt. Deshalb hat sie ihre Hand in der
Oper nicht zurückgezogen.
Er steht neben ihr, dieser Staatsanwalt aus Königsberg, und
macht ein langes Gesicht, hat Angst, dass ihre Magenstiche sie
aus seinem Leben rausschneiden.
Das ist alles passiert im Rahmen der großen nationalen
Erhebung, als die Mütter prämiert wurden wie Kühe. 33. Das
hat ihr gefallen: Weg mit den dekadenten Eliten! Das Soziale
und das Nationale endlich vereint! Ja, die harte Hand
gegenüber den Juden, das hat ihr auch gefallen. Die sollen
endlich mal richtig arbeiten, hat sie gedacht.
Natürlich weiß sie, dass das katastrophal ausgegangen ist.
Sie ist nicht blöd. Und kein Unmensch. Nur hat sie keine Lust
auf Trauer. Die Dimension des Abgrunds, die spürt sie deutlich.
Aber Trauer? – nein, dafür ist sie zu stolz.
Sie hat die Familie gerettet. Im Krieg. Und nachher. Sie und
alle anderen Frauen haben von Deutschland gerettet, was zu
retten war. Nicht die Männer, die mit stolz geschwellter Brust
Polen überfallen und danach alles verbockt haben mit ihrem
dämlichen Zweifrontenkrieg. Diese Wahnsinnigen, die nie
genug kriegen können. Wie sind diese Männer aus Russland
zurückgekommen! Was für Elendsgestalten waren das?
Zerlumpt und abgemagert – das geht ja noch. Aber wo ist ihr
Feuer geblieben? Schlaffe, seelenlose Gespenster. Und die
wollen einen auch noch im Bett haben.
Theologie hat er studiert. Ihr Mann. Nach dem
Zusammenbruch. Das war was! Das fand sie toll. Als
Krankenpfleger hat er gearbeitet. Die Schwestern haben ihm
Pakete mitgegeben, damit die Familie zu Hause was zu essen
hat. Hebraicum hat er gemacht. Frau Pfarrer hätte sie werden
können. Einen Pfarrhaushalt hätte sie gestalten können. Soziale
Arbeit. Vorgelebtes Christentum.
Aber kaum hat der eigene Mann seinen Persilschein, kaum
ist er entnazifiziert, ist er wieder Jurist. Fährt täglich nach
Hamm, zum Oberlandesgericht. Lässt sie allein mit den
Kindern. Prompt findet Rainer eine Granate. Weg ist er, sein
Lieblingssohn. Und Werner verletzt. Bloß fort aus Bückeburg.
Die Sandsteintreppe will sie nicht mehr sehen.
Nächste Station. Werl, Zuchthaus. Er gehört zur Leitung.
Unter der Besatzung. Unter Oberst Vickers. Ihr Mann darf die
Generäle betreuen, die Kriegsverbrecher. Klar ist das
Siegerjustiz. Zum Tode sind alle verurteilt, und begnadigt, dann
bald entlassen. Trotzdem ein Mahnmal der Schande: dass die
eingesperrt sind! Da hocken sie im Gefängnisgarten mit ihrem
Mann zusammen und tauschen Erinnerungen aus. Während sie
hinterm Herd steht.
Dabei ist s i e es, die weiß, wie kaltgestellten hohen
Offizieren zumute ist. Nicht er. Sie weiß es. Ihr eigener Vater
hat über zwanzig Jahre zu Hause rumgesessen, Gedichte
geschrieben, Geigen gebaut und gemalt, weil das
Reichsmilitärgericht aufgelöst werden musste. Nach dem ersten
großen verlorenen Krieg. Sie ist aufgewachsen im Dunst dieser
Erniedrigung. In diesem Geist, der sich wie ein heimlicher Groll
durch die Köpfe wälzt und gegen alles anstinkt, was nicht bis
ins Mark deutsch ist.
So steht sie vor mir, meine Mutter, und hält die Hände
schützend über den Magen. Alles scheint rauszulaufen. Da
kommt immer mehr.
So stehen sie beide unter der Wohnzimmerlampe. Mit ihren
schönen ernsten Gesichtern. In denen falsche Entscheidungen
noch etwas bedeuten. Meine Mutter mit ihrem enttäuschten
Leben. Und mein Vater mit der Angst, dass sein Leben mit
ihrem zerbricht.
Seine Angst geht mir nahe. Und ihre Pflichterfüllung, ihre
nicht ausgelebte Wut über diese Pflichterfüllung, erschreckt
mich so sehr, dass ich ihre Liebe ganz vergesse.

Als in München die Ausstellung über die Verbrechen der


deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion eröffnet wurde, ist
meine Mutter da hingegangen und hat mir den Katalog
mitgebracht.
Du kannst ihn behalten, sagte sie zu mir. Du gehst ja sowieso
nicht hin, da kannst du dich wenigstens im Katalog
informieren. Ich habe mein Soll erfüllt, ich war da, aber jetzt
mag ich da nicht mehr reinschauen. Ich will dies schwere Ding
nicht mit in meine Wohnung schleppen. Mir ist schon in der
Ausstellung schlecht geworden.
Dann kreuzt sie ihre Hände über dem Magen und fragt mich,
ob ich ihr eine heiße Milch machen kann: Ich lege mich solange
auf euer Sofa. Wenn ich darf.
Ich erschrecke, mache mir Vorwürfe, dass ich sie nicht
begleitet habe. Zwei Stunden hat sie im Schneematsch auf dem
Münchener Marienplatz in der Schlange gestanden, um in diese
Ausstellung zu kommen. Hat sich an den endlosen Fotos und
Texttafeln vorbeischleusen lassen, ist dann nach Hause
gewankt und hat bei uns geklingelt. An der Tür ist sie mir in die
Arme gefallen, und ich konnte sie gerade noch auf einen Stuhl
setzen.
Ich kann mein ganzes Leben wegwerfen, waren ihre ersten
Worte. Nur Verbrecher um mich herum. Euer Vater. Mein
Vater. Unsere Wehrmacht. Die Generäle, zu denen wir
aufgeschaut haben. Von Manstein. Kesselring. Männer, denen
ihre Ehre über alles gegangen ist. Die ihr Leben für
Deutschland eingesetzt haben. Alle sollen Verbrecher gewesen
sein!
Ich will sie in ein rationaleres Fahrwasser bringen und sage,
dass es in der Ausstellung um den Vernichtungskrieg gegen die
Sowjetunion geht.
Aber das will sie gar nicht wissen. Sie will nicht mehr
differenzieren.
Der Begriff «Verbrechen der Wehrmacht» hat sich so tief in
sie eingegraben, dass sie zwei Wochen später mit einem
Magendurchbruch ins Krankenhaus eingeliefert wird. Da ist sie
dreiundachtzig. Da haben die Stiche ihr Ziel erreicht.
Die Operation hat sie überlebt.

Immer wenn sie Magenstiche hat, denke ich: Ich bin schuld. Ich
habe wieder zu viel über die Juden geredet.
Einmal habe ich ihr ein Foto von den Kratzspuren an den
Wänden in den Gaskammern gezeigt. Das war 2000, drei Jahre
nach ihrer Magenoperation, neun Monate vor ihrem Tod. Wie
ein Zwölfjähriger bin ich in ihre Wohnung gelaufen, habe sie
aufgefordert, sich dieses Foto anzusehen, das ich gerade in der
Zeitung entdeckt hatte.
Während sie noch Zeit braucht, um zu realisieren, was sie da
sieht, erzähle ich von den Kapos, die außerhalb der
Gaskammern warteten, während sich innen das Zyklon B
verteilte. Einer der Kapos, die zum Teil auch Juden waren, hat
davon berichtet, dass sie das Kratzen der Erstickenden an den
Wänden mitgehört hätten. Und dass es für viele in den
Kammern eine halbe Stunde gedauert habe, bis sich das Gas,
das von der Decke her durch Schüttrohre in die Raummitte
geleitet worden sei, auch zu denen hin ausbreitete, die an den
Wänden standen. Und er hat erzählt, wie sie die Leichen
auseinanderreißen mussten, weil sich die nackten Menschen in
ihrem Todeskampf so ineinander verkrallt hätten. Und wie sie
alles Zahngold aus den Kiefern herausbrachen, bevor sie die
Körper in die Öfen schoben.
Ich habe immer weiter geredet. In der Küche meiner Mutter.
Vorm Herd. Wie ein Fachmann. Wie ein Historiker, der auf den
Holocaust spezialisiert ist. Weil ich gerade dieses Foto entdeckt
hatte.
Währenddessen sucht meine Mutter mit dem Bild in der
Hand nach dem Küchenstuhl, um sich zu setzen.
Ich erzähle weiter: dass der Weg der Juden von der Rampe,
wo die Züge angekommen seien und sie aus den Waggons
springen mussten, bis zu ihrer Einäscherung in den
Verbrennungsöfen nicht länger als zwei Stunden gedauert
habe. Dass die Familien und Freunde, wenn sie von den Zügen
heruntergesprungen seien, sich an den Händen festhielten.
Dass die Ankommenden noch nicht gewusst hätten, was auf sie
zukam. Dass sie gesehen hätten, wie die SS-Männer
Spazierstöcke in der Hand hielten und Schäferhunde an der
Leine. Dass das nichts Gutes bedeutet habe. Dass sie von Minute
zu Minute begriffen hätten: Dieser Ort hat nichts mit einem
Arbeitslager zu tun, wie sie es erwartet hatten. Dass sie vor
allem nicht getrennt werden, sondern um jeden Preis
zusammenbleiben wollten. Dass sie sich deshalb immer an den
Händen hielten. Die Kinder und ihre Mütter. Die Kinder und
ihre Väter. Die Geschwister. Die Männer und ihre Frauen. Die
Freunde. Die Freundinnen. Die Fremden, die innerhalb der
Sekunden, in denen sie begriffen, was ihnen bevorstand, zu
Zusammengehörenden wurden.
Dass die SS-Männer diese Spazierstöcke, die zuvor so
unpassend an ihnen ausgesehen hätten, plötzlich in die Höhe
hoben. Dass sie mit diesen Spazierstöcken auf alle Hände
einschlugen, die sich festhielten. Dass die Stöcke niedersausten
auf die Hände, sodass sie sich loslassen mussten. Dass diese SS-
Leute blitzschnell entschieden, wer ins Gas kommt. Wer noch
zur Arbeit taugt. Wer zu den medizinischen Versuchen soll.
Dass diejenigen, die noch eine sehr begrenzte Zeit leben
durften, kolonnenweise in Baracken getrieben wurden, im
Laufschritt, wo sie sich nackt ausziehen mussten, mit kaltem
Wasser abgespritzt und binnen Minuten rasiert wurden.
Gläubige, schamhafte Juden, kahlgeschoren am Schädel und am
Geschlecht. Von Fremden. Zu Hunderten in einem Raum.
Und dass sie dann zur Tätowierung an die Tische mussten
und ihre Nummer eingeritzt bekamen. Dass ihnen eine Art Sack
zugeworfen wurde, den sie sich überziehen sollten, ein Sack
mit Löchern für Kopf und Arme. Aus hartem Stoff. Und dass
innerhalb von einer halben Stunde aus Menschen anonyme
Wesen geworden waren.
Eine Überlebende, im Alter meiner Mutter, aus einer
vergleichbaren sozialen Schicht, ähnlich gekleidet wie sie, mit
ähnlicher Wortwahl, vielleicht auch aus Berlin Charlottenburg,
hat einmal den Satz gesagt: «Es dauerte keine halbe Stunde, und
dann war alles, was an uns menschlich war, weg.»
Auf diesen Satz wollte ich hinaus. Den wollte ich meiner
Mutter gerne erzählen. Aber ich kam nicht dazu. Weil sie schon
zuvor solche Stiche im Magen verspürt hatte, dass sie mich bat,
ihre Wohnung zu verlassen. Sie könne nicht mehr.
Kaum war ich draußen, hätte ich mir am liebsten die Zunge
abgebissen.
Was bin ich für ein Kindskopf! Selbstverständlich habe ich
ihr das Foto gezeigt, weil ich eine Wirkung bei ihr erzielen
wollte. Aber als ich die dann sah, habe ich mich nur noch
geschämt.
Ich habe mich entschuldigt. Aber sie hat nur gelacht. Das
müsse sie schon aushalten, hat sie gesagt. Aber ihr Magen sei
eben nicht mehr so robust.

Jetzt löst sie sich von ihrem Platz unter der Wohnzimmerlampe
und geht Richtung Schlafzimmer. Eine Welle der Entspannung
muss durch sie hindurchgegangen sein.
Mein Vater bückt sich und hebt den Zettel mit den neun
Unterschriften auf. Er sagt, ohne den Hauch einer
Zurechtweisung: Tu den doch wieder ins Buch, wo er hingehört,
sonst vermisst man ihn später.
Bei Martin
Martin ist da. Schon seit einigen Tagen. Er hat einen
schweren Unfall hinter sich. Jetzt ruht er sich hier aus.
Ich finde, es ist eine Ehre für uns, dass er für kurze Zeit da
oben in seinem Zimmer schläft. Überhaupt: Tage, wo die ganze
Familie unter einem Dach ist, fühlen sich prall an. Auch wenn
ich dann erst recht übersehen werde.
Eigentlich studiert Martin bereits Literatur, in Freiburg. Aber
er wollte noch einmal an einer Wehrübung teilnehmen, um
Leutnant der Reserve zu werden, wegen der höheren
Abfindung. Dabei ist diesmal eben der Unfall passiert.
Mir ist ausdrücklich gesagt worden, ich soll ihn bitte in Ruhe
lassen, ihn nicht in Gespräche verwickeln. Aber ich passe nur
den richtigen Augenblick ab, um ihn zu besuchen. Ich möchte
dringend etwas mit ihm besprechen. Etwas, das mir am Herzen
liegt.
Martin kennt mich gut, aber er kann mir trotzdem zuhören,
als ob ich ein Fremder wäre. Das ist mir viel wert. Hier zu
Hause tun ja alle so, als sei ich ein aufgeschlagenes Kochbuch
mit sattsam bekannten Rezepten. Jeder vervollständigt meine
Sätze. Das nervt.
Was ich ihm erzählen will, habe ich noch niemandem
erzählt. Ich habe es noch nie ausgesprochen. Es ist ein Problem,
von dem ich weiß, es ist da, aber ich will es partout nicht in
Worte fassen. Ich werde warten, bis ich mit Martin in einem
Gespräch bin, und dann werde ich loslegen. Mal sehen, wohin
mich das führt.
Martin sieht sehr verändert aus. Er bewegt sich ganz normal,
ist auch geistig voll da, spricht wie immer. Eine Spur lauter
vielleicht. Sein Kopf ist mit einem Verband eingewickelt, auch
die Ohren. Nur Augen, Mund und Nase sind frei.
Seine Wunde ist oben am Schädel. Die Ärzte haben dort
mehrere Lagen von Mullbinden geschichtet, unter dem
Verband, sodass seine schöne Kopfform länglicher ist als sonst.

Als wir ihn im Bundeswehrkrankenhaus in Detmold besucht


haben, hatte er seine Uniform angezogen, wahrscheinlich nur
für uns, und saß auf seinem Bett.
In welchen Orden bist du denn eingetreten?, habe ich ihn
gefragt, als wir das Krankenzimmer betraten.
Meinen Eltern war nicht nach Späßen zumute.
Martin hat gelacht und salutiert: Invasion vom Mars. Ich bin
die Vorhut.
Er hat sich gefreut, uns zu sehen, und gleich von seinem
Unfall erzählt.
Seine Brigade heißt «21 Lipperland» und ist in Augustdorf
stationiert. Das ist zwanzig Minuten von Detmold entfernt. Am
Morgen seines Unfalls kam sein Panzer, Typ M47 Patton, frisch
aus der Kfz-Werkstatt. Der Mechaniker hatte die
Drehstabfederung bei einer der Luken falsch herum eingesetzt.
Martin hat uns das genau erklärt: Es geht darum, dass diese
Panzerdeckel schnell aufspringen sollen, wenn man
rausgucken will. Zum Schließen hingegen muss man Kraft
aufwenden. Bei dieser Luke ist es umgekehrt gewesen. Das hat
aber keiner gewusst.
Wir sind mit geöffnetem Deckel losgefahren, erzählt er. Zum
Panzerfahren geht man in die Senne, also in den östlichen Teil
der Münsterschen Bucht. Man kann auch sagen: in die
Abdachung des südlichen Rands vom Teutoburger Wald.
Ich habe eingeworfen, da seien die Römer mit Varus
durchmarschiert, bevor sie Hermann, dem Cherusker, in die
Falle gelaufen sind.
Meine Eltern haben mich gebeten, Martin nicht zu
unterbrechen.
Martin beschreibt alles sehr genau, und mit Fachausdrücken
spart er auch nicht: Nacheiszeitliche Sandablagerungen der
Gletscher sollen in der Senne Bodenwellen hinterlassen haben,
die zum Panzerfahren ideal sind. Zum Üben, Manövrieren,
Schießen und so weiter. In seinem Panzer hätten sie zwei
Maschinengewehre und eine Kanone. Für fünf Soldaten.
Das habe ich auch nicht gewusst, dass so ein Panzer
praktisch ein Kleinbus ist.
Martin ist Maschinengewehrschütze und sitzt vorne rechts.
Bei dem Unfall guckte er aus der Luke mit dem falsch
eingebauten Deckel in die Sandlandschaft der Senne. Er trug
nur eine Mütze, keinen Helm. Das war auch absolut nach
Vorschrift.
Unser Vater nimmt seine Brille ab und massiert sich intensiv
mit Daumen und Zeigefinger die Augäpfel. Eine kürzere
Version wäre ihm lieber. Unsere Mutter schaut unverwandt auf
ihren ältesten Sohn, ihr Blick vibriert. Das ist alles eine
Zumutung für sie.
Das Unangenehme für die Panzerfahrer, erklärt uns Martin,
seien die kurzen Bodenwellen, nicht die langen. Da könne man
schon mal seekrank werden. Bei der ersten kleinen Welle an
diesem Morgen sei die Lukenklappe wie eine Rattenfalle
zugeschnappt. Die messerscharfen Sichtprismen seien ganz
dicht an seinem Gesicht vorbeigesaust.
Es waren Zentimeter!, ruft er. Ein unglaubliches Glück! Viel
hätte nicht gefehlt, und ich wäre ein zweiter Rainer geworden.
Unsere Eltern müssen sich sofort setzen.
Ich bin natürlich, was den Hergang betrifft, auf die
Erzählungen meiner Kameraden angewiesen, sagt Martin. Ich
hab das gar nicht mitgekriegt und bin erst hier im Bett wieder
aufgewacht.
Weil in so einem Krankenzimmer nur zwei Stühle sind,
durfte ich mich zu Martin aufs Bett setzen. Das war eine
interessante Anordnung: wir beide auf dem Krankenbett,
unsere Eltern an der Wand gegenüber auf zwei Stühlen.
In diesem Augenblick haben sie kapiert, dass auch die
überlebenden Kinder ihre Eltern auf jede Schussfahrt des
Schicksals mitnehmen.

Jetzt rumpelt es da oben in Martins Zimmer. Also arbeitet er an


der Fertigstellung seines Schreibtisch-Bücherregals. Das ist der
richtige Moment.
Für einen unverfänglichen Einstieg in das Gespräch
schnappe ich mir das Buch, das Generalfeldmarschall
Kesselring und seine Schicksalsgenossen unserem Vater
geschenkt haben. Ich springe die blanke Holztreppe rauf und
klopfe an. Ja, so geht das bei uns. Selbst mein Vater klopft an
die Tür seiner Kinder. Allerdings drückt er auch im selben
Augenblick die Klinke, steht schon im Zimmer, wenn man
«Herein» ruft, und sagt beiläufig: Ich habe angeklopft.
Ich warte brav, bis Martin mich hereinbittet.
Es riecht nach Leim und Spänen, nach Zigaretten und Kaffee.
Den brüht er sich hier oben auf einer eigenen Kochplatte auf.
Wie ich vermutet habe, arbeitet er an seinem Möbel.
Es sieht beeindruckend aus und erinnert mich an einen
Hochaltar im Dom. Vielleicht, weil auf dem obersten Regalbrett,
in der Mitte, ein gerahmtes Foto seiner lachenden Freundin
steht, die auf uns alle herunterstrahlt. Ein schwindelhohes
Regal erhebt sich über einer elegant geschwungenen
Schreibplatte. Alle Ebenen werden von vier langen
Bambusstangen zusammengehalten, die ohne Metallschrauben,
nur durch Schnüre aus rotem Bast, über Löcher in den
Fachbrettern zusammengehalten werden.
Komm, hilf mir mal, den Knoten zuzumachen, ruft Martin
mir gleich zu. Hier kannst du mal ganz fest den Zeigefinger
draufhalten, während ich zuziehe.
Komisches Gefühl, mit ihm die Hände beim Knotenbinden zu
vermengen und meine Nase so dicht an seinem Verband und
dem kleinen Gesichtsausschnitt zu haben. Er riecht fremd, nach
Mull und Spiritus.
Und? Was willst du wissen? Er deutet mit seinem länglichen
Kopf auf das Buch, während er weitere Knoten macht.
Mich interessiert der Zusammenhang dieser Leute mit
unserer Familie, sage ich.
Martin greift sich den Band, wirft einen kurzen Blick auf die
Unterschrift unter der Widmung und sagt: Das hat Kesselring
da reingeschrieben. Weißt du, wer das ist?
Ja, sage ich, der ist Fliegergeneral. Der hat Rotterdam dem
Erdboden gleichgemacht, hat den London-«Blitz» geflogen und
das Warschauer Ghetto bombardiert.
Martin staunt. Prima, sagt er, woher weißt du das?
Hat Papa mal erwähnt.
Verstehe.
Dann arbeitet Martin weiter und hämmert winzige
Stahlnägel in eine Bambusstange, damit die Bastschnüre nicht
verrutschen.
Du wolltest doch kein Metall verwenden, sage ich.
Ganz ohne geht’s nicht. Und ich will jetzt, dass das Ding fertig
wird. Es hält mich schon lange genug auf. Er legt den Hammer
weg und nimmt das Buch in die Hand. Ich fange mit der
Widmung an, oder?
Ich nicke, obwohl ich sie bereits auswendig kann.
Martin liest erst die Widmung laut vor. Dann reiche ich ihm
das gefaltete Blatt mit den Namen von Kesselrings
Schicksalsgenossen:
Von Manstein
Von Mackensen
Gallenkamp
Mälzer
Simon
Kesselring
Von Falkenhorst
Schmidt
Wolff

Martins Nase ist plötzlich so weiß wie sein Verband. Die kenne
ich alle, sagt er. Die sehe ich vor mir. Die habe ich mal
getroffen.
Ich hoffe auf eine spannende Geschichte und schaue mich
nach einer Sitzgelegenheit um. Leider ist da nur eine Fußbank.
Aber bitte.
Martin setzt sich in seinen Schreibtischstuhl. Der hat
Kugelräder und ist auf höchste Position eingestellt. Seine Beine,
die in Knobelbechern stecken, legt er auf der hellen
Ahornplatte ab.
1950 war ich so alt wie du jetzt, beginnt er. Da machte Papa
seinen Abschiedsbesuch im Zuchthaus Werl und hat mich
mitgenommen. Er wollte den Generälen noch mal die Hand
schütteln. Es war ja sein Aufgabenbereich gewesen, sich um die
zu kümmern. Unser Vater hat das gern gemacht. Jeder General
hat eine zweite Zelle gekriegt, als Wohnzimmer, dazu einen
Knappen, morgens, zum Stiefel-Anziehen. Außerdem bekamen
sie Bücher, Schokolade, Cognac, Wein und vor allem Zigaretten.
Und wie waren die Generäle so?, frage ich.
Pass mal auf, sagt mein Bruder und sieht mich eindringlich
an: Wenn ich dir jetzt von meinen Erinnerungen erzähle, dann
möchte ich, dass das meine Erinnerungen bleiben. Ich bin es,
der mit Papa im Zuchthaus diese Generäle besucht hat. Bitte
verändere das nicht. Ich will nicht, dass mir irgendjemand
demnächst erzählt: Ihr jüngerer Bruder hat ja mit Ihrem Vater
im Zuchthaus Werl die eingesperrten Generäle besucht!
Keine Sorge, sage ich.
Martin zieht die Augenbrauen hoch: Jaja!
Dann fährt er fort: Also, nach einem Jahr ist unser Vater in
Werl krachend rausgeflogen. Das Zuchthaus war total
überbelegt. Hauptsächlich mit ehemaligen Zwangsarbeitern,
Polen. Die wussten im Mai 45 nicht, wohin. Niemand wollte die
haben. Ostpolen gehörte zu Russland, Westpolen war russische
Besatzungszone. Unser Land war ein einziges Durcheinander.
Eine Völkerwanderung. Über vier Millionen russische
Kriegsgefangene, die nach Osten geschickt werden mussten.
Millionen deutsche Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die in den
Westen drängten. Hunderttausende aus den K Zs, die auch
nicht beliebt waren und nicht wussten, wohin. Mundraub war
das Verbrechen der Stunde. Niemand hatte was zu essen. Nur:
Wenn Polen klauten, wurden sie definitiv eingesperrt. Wenn
sie eine Bäuerin vergewaltigten und den Ehemann erschlugen,
wurden sie erschossen. Morgens um vier. In der
Neheimerstraße. Hinterm Zuchthaus. Bis Ende 46.
Martin macht eine kurze Pause.
Aber die Generäle bekamen eine zweite Zelle, fährt er fort.
Sogar einen kleinen Gefängnisgarten hat Papa für sie anlegen
lassen. Zum Rauchen. Und für General von Manstein hat Papa
an seinem letzten Arbeitstag noch einen Plattenspieler
mitgebracht und Schallplatten. Wie ein Kind hat er sich auf
Mansteins Gesicht gefreut. Der stand im Ruf, abends auf dem
Schlachtfeld, wenn alles vorbei war, oder auch in einer
nächtlichen Kampfpause, Mozart zu hören. Im Zelt.
Auch wenn er verloren hat?, frage ich.
Auch wenn er verloren hat. Das war denen gegen Ende des
Krieges wurscht, ob sie gewinnen oder verlieren. Generäle
machen ihren Beruf, sie verschieben Massen von Menschen.
Das ist ihr Geschäft. Am Ende, wenn die Soldaten tot sind, geht’s
für die Generäle mit der nächsten Generation wieder von vorn
los … Aufs Ganze gesehen, sind Menschen durchaus bereit, ihre
Kinder zu schlachten. Daran hat sich seit Zeus und Uranus
nichts geändert.
Martin macht eine kurze Geste, als müsse er kotzen, um
mich daran zu erinnern, dass Zeus als letztes der
aufgefressenen Kinder seinem Vater Uranus gerade noch aus
dem Hals springen konnte und überlebte.
Jaja, lacht er, das ist die Urangst aller Väter vor ihren
Nachkommen! Dann erzählt er weiter: Als wir auf das große
Eisentor zugingen, hat mich Papa rechts an der Hand gehalten,
in der linken trug er den Tonträger von Philips, diese
Hutschachtel zum Aufklappen. Die wollen dich sehen, hat er
mir zugeflüstert. Die haben extra nach dir gefragt. Sie hätten so
lange kein Kind mehr gesehen. Ihr ältester Sohn ist doch
zwölf?, haben sie gefragt. Oder? Ja, bringen Sie doch den
Zwölfjährigen mit!
So habe ich die kennengelernt. Und gestaunt, wie harmlos
die aussahen. Die Helden unserer Eltern. Zu deren Wohnung
unser Vater jetzt die Schlüssel hatte. Die lümmelten auf einem
staubigen Platz mit Zimmerpflanzen in Blumentöpfen rum wie
Schüler und qualmten um die Wette. Amerikanische Zigaretten.
Wir sind kaltgestellt, haben sie ständig wiederholt und sich
die Hände gerieben.
Papa hat sie getröstet: Bald kommt ja Besuch vom
Bundeskanzler. Und Generäle braucht das Land immer.
Da haben sie gegrinst. Und dann hat er ihnen erklärt, warum
Oberst Vickers ihn rausgeschmissen hat und dass er deshalb
leider nicht dabei sein kann, wenn der Adenauer kommt.
Machen Sie sich nichts draus, Herr Doktor, hat Kesselring
gesagt und unserm Vater auf die Schulter geklopft. Sie haben
Ihre Sache gut gemacht.
Ja, haben die andern gemurmelt. Wie ein Echo. Gut gemacht.
Gut gemacht.
Und was haben sie zu dir gesagt?, frage ich Martin.
Nicht viel. Mit mir konnten die gar nichts anfangen.
Freundlich genickt haben sie. Du wirst mal einer von uns, was?
Papa hat mir über die Haare gestrichen. Das weiß ich noch.
Er war stolz auf mich.
Als wir gegangen sind, hat Kesselring ihm dieses Buch hier in
die Hand gedrückt. Da seien schöne Bilder drin. Von seinem
Kriegsmaler. Könnten wir auch als Reiseführer benutzen, wenn
wir mal wieder nach Italien fahren. Wo hast du das übrigens
gefunden?, fragt Martin mich.
Ganz normal, sage ich, im Bücherschrank.
Mein Bruder atmet tief und lang durch. Aber das stimmt
nicht, fährt er fort. Ich werde nie wie die! Das sind Schlächter.
Ich weiß nicht, wie viele Millionen Menschen die auf dem
Gewissen haben, allein diese neun traurigen Gestalten
zwischen den Blumentöpfen! Ich werde Oberleutnant der
Reserve, nehme meinen Sold und gehe wieder nach Freiburg.
Außerdem: Im Kopf bin ich sowieso längst in der Literatur.
Warum hast du nicht verweigert?, frage ich vorsichtig.
Ich drück mich doch nicht!, fährt Martin auf. Außerdem
brauche ich die Abfindung. Von Papa gibt’s nicht viel.
Zweihundertfünfzig Mark im Monat. Davon kannst du nicht
leben und nicht sterben. Wirst du auch noch erfahren.
Martin zieht jetzt seine Uniformjacke aus und schaut noch
mal auf die Namen.
Weißt du, die sind immer so misstrauisch umeinander
rumgestrichen. Haben kaum gesprochen und sich gegenseitig
beobachtet. Und geraucht.
Wieso waren die misstrauisch?
Jeder war eifersüchtig, ob der andere vielleicht früher
entlassen wird. Von Manstein und Kesselring hatten die besten
Chancen. Ursprünglich waren sie zum Tod verurteilt, dann
bekamen sie lebenslang, und Jahr für Jahr wurde die Strafe
verkürzt. 53 waren sie beide raus.
Und wieso ging das so schnell?
Die wurden eben gebraucht, Adenauer wollte sie auf seiner
Seite. Als Wahlkampfhelfer. Die Generäle hatten Millionen
Anhänger: enttäuschte ehemalige deutsche Soldaten, wie unser
Vater. Wer die aus dem Knast rausholen konnte, gewann ihre
Soldaten als Wähler. Offiziell ging’s um den Aufbau der
Bundeswehr. Wenn Kesselring und von Manstein dabei helfen,
eine Parlamentsarmee aufzubauen, werden vielleicht aus
Nazisoldaten noch glühende Demokraten. Das war Adenauers
Spekulation. Und dann die Amis: Die waren damals noch relativ
unerfahren in moderner Kriegsführung und wollten von
deutscher Taktik profitieren, denn wir waren angesehene
Kriegshandwerker, in der ganzen Welt. Von Manstein war
Erfinder des Blitzkriegs in Polen. Seinen Soldaten hat er
massenweise Pervitin verabreicht.
Was ist das?, frage ich.
Drogen, Amphetamine. Deutsche Soldaten konnten drei Tage
und Nächte durchkämpfen, ohne zu schlafen. In Frankreich hat
von Manstein mit seinem Sichelschnitt die Deutschen innerhalb
einer Woche von Flandern nach Paris gebracht. Und
Kesselrings Heldentaten kennst du ja.
Warum war Kesselring zum Tod verurteilt?, will ich wissen.
Wegen Geiselerschießungen. Kesselring hat auf seinem
Italienfeldzug über dreihundert Italiener erschießen lassen. In
den Ardeatinischen Höhlen, südlich von Rom. Als Vergeltung
für einen Anschlag auf deutsche Soldaten. Über dreihundert!
Stell dir das mal vor! Für dreißig deutsche Soldaten. Immer das
Zehnfache, plus einem Zuschlag, wie beim Metzger. So haben
die das gerechnet. Und dann Alte und Kinder erschossen. Und
fünfundsiebzig jüdische Geiseln. Wetten, dass er davon nichts
schreibt in diesem Reiseführer für schützenswerte
Baudenkmäler?
Und von Manstein?, sage ich.
Martin winkt ab und gibt mir das Buch zurück: Manstein!
Der hat nach der Einnahme der Krim vierzehntausend
Zivilisten erschießen lassen. Juden, Sintis und Krimtataren. Das
Massaker von Simferopol. Schon mal gehört? Trotzdem stand
er in Nürnberg als Hauptzeuge. Nicht als Angeklagter! Erst 49
hat ihn ein britisches Militärgericht zu zwölf Jahren Haft
verurteilt. 53 wurde er entlassen, auf Initiative Churchills und
Adenauers. Jetzt lebt er auf seinem Gut.
Und die andern?
Einige sitzen noch. Simon zum Beispiel. Der war General der
SS. Kommandant des ersten K Zs überhaupt. In Sachsenburg.
Durchhaltepatriot bis zum Anschlag. Zwei Tage vor Kriegsende
hat er in Brettheim bei Ansbach den Bürgermeister erschießen
lassen, weil der ein paar Hitlerjungen entwaffnet hat, um ihr
Leben zu retten. Aber sich selbst hat er zwei Tage später
freiwillig den Amis übergeben. Die Grausamsten sind immer
die größten Feiglinge.
Martin deutet auf die Widmung: Oberst Wolff, der hier als
Letzter auf dem Zettel steht, war ein besonders schlimmer
Finger. Kommandant von Rom. Hat mit Papst Pius verhandelt
und Rom zur offenen Stadt erklärt. Um die Baudenkmäler zu
schützen. Aber vorher hat er waggonweise Juden nach
Treblinka transportieren lassen und ihnen höhnisch Glück auf
die Reise gewünscht.
Das sind alles reisende Henker, die hier unterschrieben
haben. Schlächter und Henker. Und die wünschen unserer
Familie, dass ein glücklicher Stern auf unserm Weg leuchten
soll! Bei dem Wort «leuchten» können die nur an
Leuchtraketen und explodierende Geschosse denken. Die
können nur töten. Die fühlen sich als Urenkel von Clausewitz.
Demokratie finden die zum Kotzen. Die meisten sind sowieso
adlig und haben bis heute nicht verkraftet, dass das
Gottesgnadentum passé ist. Sie waren rundum glücklich, weil
Hitler sie endlich machen ließ. Aber nach 45 wollten sie von
nichts was gewusst haben. Haben alles der SS in die Schuhe
geschoben. Die Wehrmacht soll immer sauber gewesen sein.
Diese Strategie hat funktioniert.
Ich bin total von den Socken: So kenne ich meinen Bruder
gar nicht. So habe ich den noch nie reden hören. Lernt man das
bei der Bundeswehr?, frage ich.
Aber Martin ist noch nicht fertig: Es gibt Menschen, die
werden geboren, um ihr Leben lang das Kriegshandwerk
auszuüben. Die warten nur auf die Gelegenheit, ihr Wissen
anwenden zu können. Und es gibt Politiker, die sind mit nichts
anderem beschäftigt, als diese Gelegenheit herbeizuführen.
Weil sie sich die Welt nicht anders vorstellen können als im
Kriegszustand. Sie denken: Das muss so sein. Die reden so lange
auf uns ein, bis wir ihnen glauben. Und dann verheizen sie uns
in der Schlacht.
Und heute, frage ich, wie ist das heute bei der Bundeswehr?
Martin drückt seine Zigarette aus.
Unsere Parlamentsarmee ist ausschließlich zur Verteidigung
da. Friedenssicherung. Laut Verfassung. Aber im Grunde hast
du recht. Das, was man verteidigen soll, wird immer größer.
Irgendwann verteidigt man die Freiheit in Ostasien. Wie die
Amis jetzt in Korea. Irgendwann werden wir da mitmachen
müssen. Ich bin gespannt, mit welchem guten Argument wir
mal in unseren ersten Auslandseinsatz hineinstolpern werden.
Und wer die Schlägertype sein wird, die das dann zu
verantworten hat!
Martin holt uns jetzt mal einen Eiercognac. Er hat gestern
frisch gemixt, ich könne auch einen Schluck haben.
Er entschuldigt sich, dass der Cognac noch nicht in die
Flasche umgefüllt ist. Aus einer Milchkanne gießt er uns beiden
in bunte Gläschen ein. Wir prosten uns zu, der
Höhenunterschied zwischen uns ist beträchtlich, und mir
kommt vor, dass dieser Eiercognac stärker ist als der, den
unsere Eltern trinken, aber ich bin natürlich kein Fachmann.
Martin zündet sich die zweite Zigarette an und bläst den
Rauch scharf rechts und links an meinem Gesicht vorbei. Ich
habe den Eindruck, dass er sich mit mir als jüngerem
Gesprächspartner gar nicht so unwohl fühlt. Jedenfalls hält er
mich nicht für zu doof, um seinen Ausführungen zu folgen.
Ich denke, das ist jetzt der Augenblick, wo ich von mir
erzählen muss. Plötzlich komme ich mir sehr kindlich vor, habe
Angst, ihn zu enttäuschen.
Ich sitze oft im Birnbaum auf unserer Wiese hinterm
Schuppen und spiele Kesselring, fange ich an.
Aha.
Martin wendet den Blick nicht ab. Und wie machst du das?
Na ja, ich stelle mir vor, dass der Birnbaum ein
Kampfflugzeug ist.
Soso.
Ja, ich sitze da in einer engen Astgabel. Auf dem Pilotensitz.
Es gibt ein paar kurze Äste in der Nähe, die benutze ich als
Steuerknüppel und Hebel für die Luke zum Bombenabwurf.
Bist du dafür nicht zu alt?
Die Frage habe ich befürchtet.
Ich spiele sogar die Flugmotoren mit, sage ich leise.
Martin sagt: Mach mal. Wie hört sich das an?
Ich gebe ihm eine kurze Probe und lasse meine Lippen
flattern, steigere mich aber nicht hinein. Es ist ohnehin
ziemlich peinlich.
Und das macht dir Spaß?, fragt er.
Na ja, du muss dir vorstellen, was ich sehe.
Was siehst du denn?
Unsere Wiese ist Rotterdam, und der Gartenweg ist die
Schelde. Der Apfelbaum vor der Küche ist das Begleitflugzeug.
Die Pappeln auf der Hansastraße, von denen ich nur die Spitzen
hinter den Häusern sehe, sind entfernte Geschwader.
Bei Martin mehren sich Zweifel, also in dem Ausschnitt, den
ich von seinem Gesicht sehe.
Es tut mir leid, entschuldige ich mich, ich kann es nicht
besser beschreiben. Ich habe Funkkontakt zu diesen Bäumen
und gebe den Einsatzbefehl, die Bodenluken zum Abwurf der
Bomben zu öffnen.
Und dann?
Ich suche ein geeignetes Ziel. Über den Dächern von
Rotterdam.
Du siehst doch nicht Rotterdam!, sagt er entschieden. Also,
du hast doch nicht das alte Stadtbild von Rotterdam vor Augen!
Ich muss kurz überlegen.
Du hast recht. Es spielt eigentlich gar keine Rolle, was ich
sehe. Ich spüre nur diesen enormen Druck zu bombardieren.
Und dann ist die Wiese eben nicht mehr so eindeutig Wiese,
sondern eine verschwommene Fläche. Und ich sage mir dann:
Das da unten ist Rotterdam.
Das heißt, du siehst einfach nicht richtig hin.
Ja, sage ich, kann sein. Trotzdem spiele ich «hinsehen».
Außerdem produziere ich ja laute Explosionsgeräusche.
Kannst du das mal machen?
Nicht so gerne, aber ich kann’s ja mal versuchen.
Und am Beispiel des Wortes «kattawumm» demonstriere ich
eine Explosion, damit Martin einen Eindruck vom
Bombeneinschlag bekommt.
Ist gut, ist gut!, ruft er. Und dann?
Mir wird heiß. Ich nähere mich dem Kern meines Problems.
Aber erst mal erzähle ich weiter: Kesselring beugt sich weit aus
dem Flugzeug und schaut sich die Zerstörung an.
Das geht nicht, unterbricht mein Bruder mich, aus so einem
Flugzeug kann man sich nicht hinausbeugen. Das stürzt ab.
Gut, sage ich, aber bei mir geht es eben. Ich kann auch
schnell mal landen, aussteigen und einen Spaziergang über die
Leichenfelder machen, zwischen den qualmenden Trümmern.
Ich mache es einfach, weil mir danach ist.
Martin stößt die Luft über die Stimmbänder aus.
Ich spreche auch ein paar Gebete für den ein oder anderen
Toten, sage ich.
Alles auf unserer Wiese?
Ja, natürlich.
Du siehst Leichen auf unserer Wiese?
Ich will sie sehen, und dann liegen sie da auch. Zwischen den
Birnen. Ich werfe ja mit echten Birnen.
Als Bomben?
Ja, sage ich, du verstehst genau, was ich meine. Ich reiße
wahllos unreife Birnen ab und werfe sie auf Rotterdam.
Auf die Wiese, verbessert er mich.
Ja.
Und was hat Papa dazu gesagt? Das ist sein Lieblingsbaum!
Tatsächlich stand er bei einem dieser Angriffe unerwartet
auf dem Gartenweg, sage ich.
Auf der Schelde, sagt Martin, der ganz in meiner
Vorstellungswelt angekommen ist.
Genau.
Du meinst also, Papa ging wie Jesus übers Wasser.
Ja, aber gar nicht friedlich, sondern er hat mich angeschrien,
ob ich von allen guten Geistern verlassen bin.
Das kann ich mir vorstellen, sagt Martin.
Komm da augenblicklich runter!, hat er gerufen. Ich bin aber
vorsichtshalber auf dem Baum geblieben und habe ihm
gestanden, dass ich gerade Rotterdam bombardiere.
Komischerweise hat er genickt und sich sofort beruhigt. Er hat
sich gebückt, ein paar Birnen aufgesammelt und gesagt, das ist
seine gute Luise, ich soll das bitte nicht noch mal machen.
Wenn du London bombardierst oder Warschau, was ist dann
anders?, fragt Martin.
Im Prinzip nichts, sage ich. Der Gartenweg ist dann die
Themse oder die Weichsel.
Und was bewirkt die Veränderung der Namen bei dir?
Masse. Einfach nur Masse. Mehr Städte, mehr Bomben, mehr
Flüsse, mehr Tote.
Mehr Gebete, ergänzt Martin.
Richtig, sage ich. Ich will bombardieren und Gebete
sprechen.
Martin holt jetzt die nächste Zigarette raus. Bietet mir auch
eine an.
Danke, sage ich, ich will nicht, ich muss husten.
Aber ich kann doch rauchen, oder?
Klar.
Wieso sind diese Spiele ein Problem für dich? Klingt doch, als
ob es dir gefällt.
Sein Streichholz zischt und zeigt mir eine energische
Flamme.
Weil ich sie nicht mehr spielen will.
Dann lass es doch.
Das ist eben das Problem. Die Spiele spielen mich.
Das musst du mir erklären.
Ich schaue Martin an, zögere und sage dann: Es ist
zwanghaft.
Ich bin wahnsinnig froh, dass mir diese Formulierung
einfällt. Das ist eben das Gute, wenn man sich vorher nicht
überlegt, was man sagen will. «Zwanghaft» heißt das Wort. Da
wäre ich vorher nie drauf gekommen.
Ich gehe durch den Garten, erkläre ich ihm, sehe den
Birnbaum und habe sofort den Wunsch, Kesselring zu sein.
Mein Gang verändert sich ohne mein Zutun. Ich spüre
Kesselrings Bauch, seine Knobelbecher, seine Uniform. Kaum
sehe ich den Birnbaum, schon sage ich zu einer nicht
vorhandenen Person: Adjutant, machen Sie die Maschine klar
zum Aufklärungsflug! Diese nicht vorhandene Person nickt
kurz und sagt: Jawoll, Herr Generalfeldmarschall. Dann hebe
ich die Hand, ziehe einen unsichtbaren Handschuh stramm und
grüße in der Ferne General Jodl.
Jodl?, fragt Martin. Der war doch immer im
Führerhauptquartier.
Ja, aber der ist jetzt eben mal draußen am Flugfeld.
Du meinst am Sandkasten.
Hinterm Sandkasten. Mir gefällt sein Name. Deswegen ist
der jetzt auch da.
Mann Mann Mann, sagt Martin, das klingt wirklich ganz
schön schräg.
Das ist nur eine kleine Auswahl, sage ich. Mein Hirn ist total
bevölkert. Da sind so viele Menschen, wie mir Sätze einfallen.
Ich kann gar keinen Satz sprechen, ohne dass ich mir ein
fremdes Gesicht dazu vorstelle … Das ist nicht lustig.
Ich mache eine Pause. So, jetzt ist er dran.
Da fallen mir Papas Zwerge ein, sagt Martin nachdenklich.
Was für Zwerge?
Als er nach dem Krieg in Bethel in der psychiatrischen Klinik
gearbeitet hat, als Pfleger, gab es in der geschlossenen
Abteilung einen ehemaligen Bankdirektor. Mit dem hat sich
unser Vater gern auf dem Flur getroffen und sich von ihm
erklären lassen, wie die Börse funktioniert. Mitten im Gespräch
hat sich der Bankdirektor selbst unterbrochen: Herr Dr. Selge,
schaun Sie mal, da, unten an der Tür von meinem Zimmer, ja
sehen Sie das denn nicht!, da kommen lauter kleine Zwerge
raus, immer wieder neue, die wollen mir meine Börseninfos
abluchsen und dann selber spekulieren. Aber vor Ihnen haben
sie Angst, Herr Dr. Selge, deshalb hauen sie ab und purzeln
dahinten die Treppe hinunter. Das ist doch unglaublich, dass
das niemand verhindert! Ich scheuche die sonst mit dem Besen
aus meinem Zimmer, aber irgendeiner versteckt sich immer
und hält den andern am nächsten Morgen die Tür auf.
Es entsteht eine Pause.
Ich sehe keine Zwerge, Martin. Die Wiese bleibt bei mir
Wiese. Es ist mein Wille, Trümmer zu sehen. Leichen. Ich will
das so, verstehst du?
Könntest du die Leichen denn auch malen? Oder die
Trümmer?
Gute Frage.
Du hast recht, sage ich, kann ich nicht. Genau genommen
spiele ich nur: Zerstören, Töten, und danach Gebet. Zerstören,
Töten, Beten. Immer in dieser Reihenfolge: Zerstören, Töten,
Beten.
Plötzlich fühle ich mich erschöpft.
Martin nickt, raucht und denkt nach.
Langsam wird es dunkel. Irgendjemand zielt von der Straße
her mit Fallobst in unser Fenster, trifft aber nicht. Es klatscht
stattdessen rechts und links an der Hauswand.
Das ist Sausi Beier, sagt Martin. Der will mich zum Handball
abholen.
Handball? Mit dem Kopf? Du kannst dich doch jetzt nicht in
ein Tor stellen!
Mach ich auch nicht. Aber zugucken will ich schon.
Außerdem ist da ein Epileptiker dabei, der kann mir seinen
Helm leihen.
Aber die Erschütterung, Martin. Du hast doch einen
Schädelbasisbruch.
Basis glaube ich nicht. Ich pass schon auf. Mach dir mal
keine Sorgen.
Das ist ja gefährlicher als Herforder Roulette.
Jaja, sagt er. Sieh du mal lieber zu, dass du nicht so viel töten
musst.
Natürlich, sage ich und bin still.
Wen spielst du noch?, fragt er mich nach einer Weile.
Dr. Baumann, antworte ich.
Martin lacht: Schöner Name. Dr. Baumann würde ich gern
kennenlernen.
Du kennst ihn bereits.
Wer ist es?
Er sitzt vor dir.
Wahrscheinlich habe ich das mit einer Totengräberstimme
gesagt, denn Martin lacht, dass sein Verband wackelt: Da wäre
ich jetzt nicht drauf gekommen!
Mir ist zumute wie im Abwärtsfahrstuhl. Wahrscheinlich ist
der Eiercognac schuld. Mit der Geschichte gebe ich mich jetzt
endgültig in seine Hand. Ich fange trotzdem an zu erzählen. Es
ist mir plötzlich wurscht, was für Folgen das hat.
Dr. Baumann ist Lehrer, sage ich. Auf dem Dachboden, hier
gleich neben uns, hinter der Tischtennisplatte, stehen alte
Stühle, ein Tisch und ein paar Kisten. Das ist seine Schule. «Das
Dachbodengymnasium». Eine höhere Schule für
Schwererziehbare und Leistungsunwillige.
Martins Blick ist hellwach.
In einer der Kisten liegen Baumanns Zensurenbücher
versteckt. Kalenderähnliche Büchlein, wie sie offiziell von
Lehrern verwendet werden, um die Leistungen der Schüler zu
notieren. Man kann sie regulär beim Buchhändler kaufen.
Baumann besitzt drei Stück davon, voll mit Namen von zwei bis
drei Schulklassen. Jede Klasse hat zwanzig Schüler. Bei drei
Klassen pro Heft sind das rund hundertachtzig Namen, die
Baumann auswendig kennen sollte. Viel Arbeit zu Beginn des
Schuljahres.
Ein kurzer Kontrollblick: Martin scheint nicht gelangweilt.
Herr Baumann, fahre ich fort, geht auf den Dachboden in
seine Schule für Schwererziehbare und macht da sozusagen
meine Schularbeiten, indem er die einzelnen Schüler abfragt.
Er gilt allgemein als guter Lehrer, aber hexen kann er auch
nicht. Bis er mein Pensum draufhat, werden nicht wenige
Fünfer und Sechser verteilt. Der Letzte kriegt ’ne Eins, und ich
hoffe, Herr Baumann beherrscht dann meinen Stoff. Am
nächsten Tag in der wirklichen Schule versage ich trotzdem.
Und zwar mit Pauken und Trompeten. Dann hadere ich mit
Baumann und schärfe ihm ein, dass er seine Schüler härter
rannehmen muss.
Martins Augen sind groß.
Wer ist das, der Herrn Baumann da was einschärft?
Der Direktor.
Hat der auch einen Namen?
Dr. Rothaus, sage ich leise.
Und dann erzähle ich Martin auch noch, dass ich neulich
eine sehr ungemütliche Lateinstunde in Papas Arbeitszimmer
erleben musste. Danach hätte ich die Treppe nicht mehr
raufgehen können. So fertig sei ich gewesen.
Ich glaube, das nennt man «spontane Verzweiflung», sage
ich, oder?
Ich blicke Martin an, aber der sagt nichts.
An der untersten Stufe hätte ich nicht gewusst, wohin:
rechts, links, geradeaus oder zurück. Plötzlich sei Dr. Rothaus
auf mich zugetreten. Er hat mich hinten an der Schulter
berührt. Ich wollte Sie nicht erschrecken, hat er gesagt. Aber
wie gut, dass ich Sie treffe! Wir haben im Kollegium über Sie
gesprochen. Ich wollte mich mal bei Ihnen bedanken. Im
Namen aller. Wir sind so froh, dass Sie bei uns sind. Sie haben
eine der schwierigsten Klassen da oben. Niemand mag da
unterrichten. Aber seit Sie Klassenlehrer sind, kommen uns die
Schüler wie ausgewechselt vor. Sie sind wirklich ein großer
Pädagoge! Das wollte ich Ihnen einmal gesagt haben. Und jetzt
wünsche ich Ihnen eine gute Schulstunde.
Komischerweise haben mir diese Worte sehr geholfen: Ich
konnte die Treppe raufgehen, in meine Klasse, alle sind
aufgestanden und haben mich begrüßt, und ich habe gesagt:
Heute machen wir kein Latein, sondern Religion. Und ich habe
meine Lieblingsschülerin, Uschi Brandenburg, gebeten, uns
allen etwas über die Schöpfungsgeschichte zu erzählen, wer
ihrer Meinung nach schuld ist an dieser Apfelgeschichte vom
Baum der Erkenntnis. Ob es da überhaupt eine Schuld gibt.
Eine schöne Schulstunde war das. Sehr harmonisch.
Tiefer kann ich nicht fallen, denke ich jetzt. Und werde so
müde, dass ich von der Fußbank rutsche, meine Beine
ausstrecke und mich gerade noch mit dem Oberarm auf dem
Bänkchen abstützen kann.
Ich werde sehr bald einschlafen. Ich will es auch.
Dr. Baumann ist ein Träumer, Edgar, höre ich Martin sagen,
ohne Verachtung. Aber ich fürchte, du musst dir schon einen
Plan zurechtlegen, wie du mit der Wirklichkeit klarkommen
willst. Dr. Baumann wird es jedenfalls nicht schaffen.
Martins Worte rauschen durch mich hindurch wie ein Text,
auf den ich lange gewartet habe. Jeder Satz berührt mich und
bleibt mir zugleich fremd.
Deine Wirklichkeit ist dein Vater, sagt Martin. Er ist stärker
als du. Und das wird auch noch eine Zeitlang so bleiben. Darauf
musst du dich einstellen.
Martin überlegt kurz, und ich fühle mich wie beim Arzt.
Voller Spannung will ich erfahren, was mit mir los ist.
Nimm dir einen Nachhilfeschüler, sagt er. Einen echten. Dem
erklärst du, was er wissen will. Einen wirklichen, lebendigen
Nachhilfeschüler. Einen, der eine Klasse unter dir ist. Und dem
versuchst du, den Ablativus absolutus oder den AcI so zu
erklären, dass er ihn versteht. Was meinst du, was das für ein
Erfolgserlebnis für dich wird! Außerdem verdienst du damit
Geld für deine Kinobesuche.
Schön, wie Martin das sagt. Hätte ich mir auch alles selbst
sagen können. Hab ich aber nicht. Und wenn? Wenn ich es mir
gesagt hätte? Hätte ich danach gehandelt? Dazu hätte ich erst
mal dran glauben müssen. An das glauben, was man einsieht,
ist noch mal eine Extraschwierigkeit.
Ich bedanke mich bei Martin und gehe schlafen.

Als ich nachts aufwache, höre ich eine erstickte Szene zwischen
meinen Eltern. Da sie alles hastig in ihre Kopfkissen sprechen,
kriege ich nicht mit, worüber sie reden. Das Sprechen scheint
sie zu ermüden, und bald höre ich nur noch ihren Schlafatem.
Es ist erregend hell. Niemand hat die Gardine vorgezogen.
Draußen ist Vollmond. Alles leuchtet.
Ich stehe auf, klemme mein Kissen unter den Arm, ziehe das
Bettzeug hinter mir her und gehe über den Flur zur Holztreppe
in den ersten Stock. Stufe für Stufe. Durch die Fenster im
Treppenhaus scheint der Mond. Ganz die Farbe vom
Eiercognac. Da wird mir sofort wieder schlecht. Weil das
Bettzeug so gemütlich hinter mir die Stufen herunterhängt, lege
ich mich auf die Decke und ruhe mich aus. Die Schatten an der
gegenüberliegenden Wand sind gigantisch.
Dann klopfe ich bei Martin an.
Ja bitte.
Er sitzt im Bett. Auch hier phänomenales Mondlicht. Martins
länglicher Kopf lehnt in der Ecke. Mit seinem hellen Verband
sieht er aus wie ein drittes Fenster.
Kann ich hier auf dem Teppich schlafen?, frage ich.
Natürlich.
Kommt deine Freundin heute nicht?
Nein, sagt er, die wird von ihrem Vater bewacht und kann
nicht raus. Manchmal lässt mich ihre Mutter rein, durchs
Fenster. Aber das ist im Augenblick blöd mit meinem
Kopfverband.
Ich habe noch eine Frage, sage ich. Kesselring hat in seiner
Widmung von Papas edlem Menschentum geredet. Was meint
er damit?
Martin überlegt einen Moment. Den Ausdruck kannst du
vergessen, erklärt er mir aus seiner Mondecke. Der ist für
immer vergiftet. Den haben die Nazis reserviert. Nur für sich.
Für ihresgleichen. Das musst du dir klarmachen und an die
Juden und die K Zs denken!
Kann man so einen Ausdruck nie mehr gebrauchen?, frage
ich meinen Bruder.
Nein, sagt er. Wir nicht. Wir können den nie wieder
gebrauchen. Wir müssen andere Wörter finden, wenn wir
etwas Gutes über den Menschen sagen wollen.
Mir fallen die Musikstudenten ein, die Werner immer wieder
zu uns nach Haus bringt. Der Geiger Jack Glatzer zum Beispiel.
An dem Tag, als er uns besuchte, hat Werner ausdrücklich zu
unseren Eltern gesagt, Jack sei Jude, Amerikaner, Deutsch sei
seine Muttersprache. Er habe Verwandte, die seien in
Auschwitz vergast worden. Unser Vater hat die Augenbrauen
hochgezogen, genickt und wie ein Wolf, der Kreide gefressen
hat, gesagt: Wir wollen ja nur ein paar Trios zusammen spielen.
Und dann erzähle ich Martin von Rechtsanwalt Brand und
seiner Schwester.
Die kenne ich gar nicht, sagt Martin.
Ich erkläre ihm, dass wir die auch nicht kannten. Sie
mussten von unseren Hauskonzerten gehört haben. Auf einmal
war eine Einladung da. Wir sollten sie besuchen. Einfach so.
Mutti und Papa wussten nicht, wie ihnen geschah. Es sind
Juden, sagten sie etwas verwirrt. Eine alteingesessene
Herforder Familie. Er spiele Geige, hat Herr Brand noch
erwähnt. Sie könnten doch gemeinsam musizieren. Komm, wir
versuchen das mal, hat Papa gesagt. Vielleicht klappt’s. Und
dann haben wir sie besucht. Da es eine Einladung für den
Nachmittag war, durfte ich mit.
Auf dem Weg haben sie mich erinnert: Das sind Juden. Pass
auf, was du sagst! Als könnte ich was Falsches sagen.
Ausgerechnet ich.
Ich wusste gar nicht, dass es so schöne alte Fachwerkhäuser
in Herford gibt. Mit einem Garten zur alten Werre hin und
gemauerter Loggia, eingewachsen mit Efeu und Glyzinien. Ein
Nachmittag wie aus einer anderen Zeit.
Fast geräuschlos und schon etwas gebückt bewegten sich der
weißhaarige Rechtsanwalt und seine ebenso weißhaarige
Schwester zwischen ihren alten Möbeln. Gründerzeit mit Samt.
Aus Meißner Porzellan haben wir unsern Kaffee getrunken. Es
gab einen Kuchen mit Gewürzen, die ich nicht kannte. Sie
sprachen viel leiser als wir, waren sehr freundlich, aber alles
wirkte auch ein bisschen eingeübt. Selten habe ich unsere
Eltern so steif gesehen, so unbeholfen. Die Unterhaltung stockte
ständig. Als würden die Brands kein Deutsch sprechen.
Bis sie Musik machten.
Irgendwann hat Rechtsanwalt Brand seine Geige rausgeholt
und Papa an den Stutzflügel geleitet. Er hat ihn am Oberarm
angefasst und hingeführt. Als sei das leichter, als miteinander
zu sprechen. Papa wusste nicht, wie er gucken sollte, und hat
dann gleich den Flügeldeckel aufgestellt. Wie im Konzert.
Rechtsanwalt Brand hat sehr fein Geige gespielt. Aber
natürlich ist er noch mehr Laie als Papa. Immer wieder hat er
abgebrochen, seine Geige nachgestimmt und zu sich selbst
gesagt: Das muss ich etwas langsamer spielen.
Es war Beethoven. Frühlingssonate.
Mein Gott, wie viele Jahre ist das her, dass ich das gespielt
habe!, hat Herr Brand seiner Schwester zugerufen.
Die stand auf und hat den Deckel des Flügels wieder
geschlossen: Sonst verstehe ich meinen Bruder ja gar nicht, hat
sie Papa übers Notenbrett zugerufen, aber mit Humor. Sie
spielen so kräftig! Und dabei hat mein Bruder so einen schönen
Ton!
Papa hat das wohl als Affront empfunden. Hört er ja nicht so
gerne, wenn man ihm sagt, dass er zu laut spielt. Konterte dann
gleich: Der Flügel klingt sehr matt.
Der stand während der NS-Zeit in einem feuchten Keller, hat
Herr Brand erklärt. Der muss erst wieder hergerichtet werden.
So lange sind wir noch nicht wieder zurück.
Wo waren Sie denn?, habe ich gefragt.
Papa hat mir einen strengen Blick zugeworfen.
Im Ausland, hat Herr Brand ganz ruhig gesagt.
Dann haben sie weitergespielt.
Sein Ton war wirklich schön, nur mit dem Rhythmus hatten
sie Schwierigkeiten, mein Vater und Herr Brand. Die Synkopen
am Anfang vom dritten Satz, dem Scherzo, diese in der
Violinstimme und in der Klavierbegleitung ständig
wechselnden, leicht versetzten Vogelrufe waren ein solches
Durcheinander, dass ich lachen musste.
Niemand lachte mit.
Da musste ich mir wieder auf die Backen beißen. Vor allem,
weil Papa an dieser Stelle durchgehend Au! Au! Au! schrie, als
ob er sich die Finger quetscht.
Die Schwester versuchte, mit Mutti auf dem Sofa ein
Gespräch anzufangen. Aber es entwickelte sich nicht richtig.
Und Mutti hat schließlich gesagt, sie kann nicht gleichzeitig
zuhören und sprechen. Und etwas später hat sie das noch mal
erklärt: Sie könne immer nur eine Sache gleichzeitig machen,
das sei ihre Schwäche.
Wir sind früh gegangen. Ich wäre gerne länger geblieben.
Es geht eben doch nicht, hat Mutti auf dem Rückweg vor sich
hin gemurmelt. Leider.

Martin hat dahinten in seiner Ecke die Augen geschlossen. Er


ist aber wach und lässt immer wieder ein «Hmhm» hören.
Schließlich sagt er: Eine ziemlich traurige Geschichte, die du
erzählst. Die Brands reichen ihnen die Hand, aber unsere
Eltern können sie nicht annehmen.Dann sackt er leicht
zusammen und sucht mit seinem Mordskopfverband die
bequemste Lage zwischen den Wänden.Für heute kommt da
nichts mehr, sage ich mir, nehme mein Bettzeug, murmele Gute
Nacht und verlasse auf Zehenspitzen das Zimmer.
Loslassen
In dem Chaos, das mich umgibt, unter den Papieren, die ich
gesammelt und auf Umzügen mitgenommen habe, ist eine
Ansichtskarte von meinem Vater aus Wien zum Vorschein
gekommen: An den Schüler Edgar Selge, Herford in Westfalen,
Eimterstraße 5. Vom Oktober 1958.
An den Rändern ein bisschen gelb, aber sonst wie gerade
eingetroffen. «Graben mit Pestsäule» steht unter dem Foto.
Als ich sie zum ersten Mal in der Hand hielt, habe ich meine
Mutter gefragt: Wo ist denn da ein Graben? Und sie hat mir
erklärt: Das sei der Name der Straße, und die Säule in der Mitte
soll an die Pestepidemie im 17. Jahrhundert erinnern.
Sie stand in der Küche, rührte in einem Eintopf, legte den
Kochlöffel aus der Hand und las mir die Karte vor, denn mein
Vater vermischte lateinische und deutsche Schreibweise. Ich
war immer zu faul, seine Schrift zu entziffern.
Seit meine Mutter tot ist, hilft mir niemand mehr, alte Briefe,
Dokumente und Fotos zuzuordnen. Ohne ihr Gedächtnis sind
die Verbindungen zur Vergangenheit gekappt, und ich bin auf
mich selbst angewiesen.

Mein lieber, kleiner Edgar,


Hier auf dem Graben würde es dir gefallen. Lauter Frauen
nach deinem Geschmack laufen hier herum: Grell geschminkt,
mit schwarzen Haaren, in hochhackigen Schuhen, engen
Röcken und kaufen viele gute Sachen ein. Ich hoffe, du machst
deine Schularbeiten ordentlich und übst fleißig Klavier. Ich bin
bald wieder zurück. Mal sehen, wer zuerst da ist: Die Karte
oder ich. Herzliche Grüße, Dein dich liebender Vater.

Um die Briefmarke herum hat er noch einen Gruß an meine


Mutter gequetscht:

Meine geliebte Signe! Wie schön, dass ich dich bald wieder in
meinen Armen halten kann! Dein dich liebender Edgar.

Warum habe ich bloß keinen eigenen Namen?, habe ich meine
Mutter damals gefragt.
Das ist eben mein Lieblingsname, war ihre Antwort.
Und warum heißt du Signe? So heißt doch kein Mensch.
Das muss mein Vater aufgeschnappt haben, als er mit seinem
Schiff an Norwegen vorbeigefahren ist.
Mal sagt Papa Signe zu dir, mal Singne. Was ist richtig?
Wie man will. Es hat mal einen Film aus Schweden gegeben:
Signe, das Mädchen von den Inseln.
Worum geht’s da?
Ich kann mich gar nicht erinnern, ob wir den überhaupt
gesehen haben.

Das Mädchen von den Inseln. Das passt. Meine Mutter war ein
Naturkind. Keinen See konnte sie auslassen, ohne zu baden,
kein Meer besuchen, ohne zu schwimmen. Niedrige
Temperaturen schreckten sie nicht ab. Sie nannte sie frisch.
Oder schön kalt. Wie mein Vater liebte sie Wechselduschen. In
verschneite Berge fuhr sie nicht ohne ihre Ski. Bis ins hohe
Alter. Sie liebte lange Bahnfahrten und Bahnbekanntschaften.
Mit ihrem Blick glitt sie in andere Gesichter wie in einen
Handschuh. Wer ihr gegenübersaß, konnte nur wegschauen
oder aufstehen und den Platz wechseln. Oder eben ein
Gespräch mit ihr beginnen.
An dem Nachmittag, als sie mir die Karte meines Vaters
vorgelesen hatte, sah sie sich gezwungen, eine ungewöhnliche
Erziehungsmaßnahme an mir vorzunehmen.
Es war ein erster Kälteeinbruch im Oktober, und sie wollte
den kleinen Eisenofen in meinem Kinderzimmer heizen. Als sie
die Klappe öffnete, fielen ihr Schulbrote entgegen. Der Ofen
war gestopft voll. Den ganzen Sommer hindurch hatte ich die
von ihr geschmierten Stullen darin gestapelt.
Ich spielte gerade im Garten, war in meine üblichen
Kampfszenen verwickelt, als ich sie rufen hörte.
Vor dem Ofen liegt bereits der ganze Inhalt auf dem Boden,
sauber eingewickelte Päckchen, der Schimmelpelz unter dem
durchscheinenden Papier verbreitet ätzenden Geruch. Ich bin
erstaunt über die Menge. Da liegt ein halbes Jahr, denke ich.
Hätte ich die bloß über die Gartenmauer geworfen!
Sie fragt mich, ob ich dazu etwas sagen möchte.
Das sind meine Schulbrote.
Und? Wie kommen die in den Ofen?
Die haben in meinem Ranzen schlecht gerochen.
Meine Mutter ist erschüttert. Aber ich kann ihr nicht helfen,
ich bleibe diesem Berg von Broten gegenüber stumpf. Die
dazugehörigen Sätze kenne ich bis zum Abwinken: dass sie
nach dem Krieg gehungert haben, dass meine Brüder abends
vorm Ins-Bett-Gehen eine Brotkante wie ein Stück Schokolade
kauten, dass Brot überhaupt ein Geschenk Gottes ist, dass
Millionen Kinder in Indien glücklich wären, wenn sie nur mal
eins meiner Schulbrote essen dürften.
Wenn ich in der Pause ihre kleinen Päckchen auswickelte,
machte meine Speiseröhre dicht. Es lag nicht nur am Aufstrich.
Es lag auch an ihr. Ich kann mir das nicht erklären.
Du wirst jetzt diesen fürchterlichen Haufen draußen in die
Aschentonne bringen und dann wieder hierherkommen. Ich
werde mir inzwischen etwas für dich überlegen.
Sie meint es ernst.
Als ich zurückkomme, hält sie einen Teppichklopfer in der
Hand. Ich frage sie, ob ich ihr nicht lieber den Rohrstock vom
Kleiderschrank holen soll. Sie antwortet, dass sie durchaus
wisse, wo der Stock liege, aber sie ziehe dieses Ding vor. Ich
solle mich bitte bücken. Dies sei anscheinend die einzige
Sprache, die ich verstehe.
So frei im Raum fehlt mir der Halt. Ich vermisse die
stützende Kante des väterlichen Betts und den Griff im Genick.
Mit ihr ist es anders. Schwebend und unwirklich. Es kann
doch nicht wahr sein, dass sie mich schlagen wird, geht mir
durch den Kopf. Trotzdem strecke ich ihr wie verlangt meinen
Hintern entgegen.
Nein, sagt sie entrüstet, so will ich das nicht. Dreh dich um,
schau mich an und dann bück dich.
Das wird aber kompliziert, denke ich. Da hat sie mit dem
Teppichklopfer einen weiten Weg bis zu meinem Po. Aber ich
mache es, wie sie will, korrigiere den Abstand noch etwas, um
beim Hinunterbeugen mit meiner Stirn ihre Brüste nicht zu
streifen. Als sie ihren Rock ein Stück hochschiebt, um meinen
Kopf zwischen ihre Knie zu klemmen, wird mir klar, dass sie
durchaus ein Bild vor Augen hat, dem sie folgt.
So war ich noch nie mit ihr verbunden. Ihre Knie drücken
gegen meine Wangen, und ihre Nylonstrümpfe rutschen auf
meiner Haut hin und her. Ein Gefühl, das man nie vergisst. Ich
bin gespannt auf den ersten Schlag. Er ist mittelfest.
Au!, sagt sie erschrocken, das war etwas zu stark.
Nein, das ist sehr gut, ermutige ich sie und muss vermeiden,
die Strumpfhose beim Sprechen zwischen die Lippen zu
kriegen.
Du, ich kann auch anders, droht sie von oben.
Darauf versucht sie einige feste Schläge, aber auch die sind
eher eine Behauptung. Ein Moment wie auf dem Theater: Sie
spielt Schlagen. Es ist gut zum Aushalten, tut überhaupt nicht
weh, und so spiele ich Weinen, obwohl sie mich nicht darum
gebeten hat. Ich schluchze, um ihr das Gefühl zu geben, dass
ihre Strafe eine Wirkung hat.
Sie hört sehr bald auf, lockert ihre Knie, ich ziehe meinen
Kopf unter ihrer Rockfalte hervor, richte mich auf.
Sie schaut mich an und sagt: So weh kann das jetzt nicht
getan haben.
Der Blick, mit dem wir uns danach ansahen, ist mir deutlich in
Erinnerung. Wir waren beide unsicher, was wir da gerade
erlebt hatten. Möglicherweise sind wir sogar rot geworden. Mit
der glitschigen Bewegung zwischen ihren Nylons heraus war
die Idee der Bestrafung endgültig futsch. Ich musste aufpassen,
nicht zu grinsen. Auch sie kam mir weich und unsicher vor. Sie
suchte nach einem passenden Abschlusssatz:
Ich hoffe, dass es bei dieser einmaligen Aktion bleibt und du
nie wieder Brot wegwirfst.
Ich habe freundlich genickt.

Warum muss ich jetzt an meinen letzten Besuch bei ihr im


Krankenhaus denken?
Erschöpft und glücklich kam ich von einer Nietzsche-Lesung
mit Texten aus Zarathustra und der Fröhlichen Wissenschaft.
Ich kann ja meiner Mutter mal erklären, dachte ich, dass der
Satz «Gott ist tot» der verzweifelte Ausdruck eines
Gottsuchenden ist und nicht der eines kalten Atheisten.
Aber sie will nichts davon hören. Unruhig wandert sie mit
der fahrbaren Stange, an der ihre Medikamentenbeutel hängen,
im Zimmer auf und ab und erzählt mir von ihrem Vater.
Er war viel weicher, als ihr euch vorstellen könnt, sagt sie
und will mir erklären, wie schwer es für ihre Mutter gewesen
sei, plötzlich einen Mann in ihren Haushalt zu integrieren, den
er nur von Sonn- und Feiertagen kannte; wie dieser Mann zu
basteln anfing, Kästchen herstellte, die er bunt bemalte,
satirische Gedichte schrieb und Geige übte.
Ich kenne das aber alles schon, was sie da sagt, drehe und
wende mich hin und her auf meinem Besucherstuhl. Ich will
von diesem empfindsamen Marinerichter, der auf See durchaus
einen störrischen Matrosen per Todesurteil ins Jenseits
befördern konnte, nichts wissen. Lass ihn doch mal los, denke
ich. Mach dich frei von diesem vierten Gebot, das dir wie ein
Mühlstein um den Hals hängt!
Und wieder versuche ich, ihr von Nietzsche zu erzählen.
Vom Narren, der bei Tageslicht mit einer Laterne durchs Dorf
rennt, an die Türen schlägt und in alle Häuser hineinschreit,
dass wir Gott umgebracht haben.
Irgendwann reißt meiner Mutter der Geduldsfaden: Hau
doch ab!, ruft sie. Du interessierst dich doch keine fünf Pfennig
für das, was ich erzähle. Das wäre immerhin deine
Vergangenheit, aber es ist dir vollkommen egal. Nimm deine
Sachen und hau ab, ich will dich hier nicht mehr sehen!
Mit einem Mal bin ich hellwach. So kenne ich sie nicht.
Entschuldige, sage ich, aber es interessiert mich sehr, ich bin
nur müde vom Theater.
Ach, hör doch auf zu heucheln! Das stimmt doch gar nicht.
Du interessierst dich für dich, für dich, für dich und niemanden
sonst in der Welt. Hau ab und lass mich in Ruhe! Brauchst nicht
mehr wiederzukommen.
Was ist bloß in sie gefahren? Seit gestern ist sie von der
Intensivstation wieder in ihr Zimmer verlegt. Vielleicht war das
zu früh. Ich frage sie, ob ich einen Arzt rufen soll.
Ihre Adern treten an den Schläfen hervor, zucken und
klopfen. Sie ist viel zu rot im Gesicht.
Nimm deine Sachen und geh, hab ich gesagt!
Mir dämmert, dass sie keine Versöhnung will.
Ja, dann gute Nacht, sage ich.
Sie gibt mir nicht die Hand, ihr Gesicht bleibt abweisend. Mit
Mantel und Tasche unterm Arm verschwinde ich.
Zu Hause lege ich mich sofort ins Bett, schäme mich, begreife
nicht, schlafe ein. Tief. Traumlos.
Am nächsten Morgen ruft das Krankenhaus an: Ihre Mutter
liegt wieder auf der Intensivstation.
Ich sitze neben ihr. Sie liegt unter einem Beatmungsgerät.
Ihre Hand in meiner. Manchmal geht ein Zucken durch sie und
hört in mir auf. Ich rufe sie, flüstere ihren Namen ins Ohr.
Ist sie weit weg? Ist sie ganz nah?
Das ist es, worum es geht, die Aufgabe, der niemand
entkommt: aus unserm Körper wieder herauszufinden. Damit
ist sie beschäftigt.
Plötzlich steht Martin vor mir: Lass mich hier sitzen, leg dich
hin, schlaf mal ein paar Stunden.
Wie ich zu Hause ankomme, ruft er mich an: Sie ist tot.
Zwanzig Jahre ist das her.

Draußen schreit ein Kind. Es beunruhigt mich schon die ganze


Zeit. Ja, es stört mich richtig. Ich verschließe Fenster und Türen,
aber es bleibt ein Restgeräusch. Entnervt schaue ich auf das
Chaos der Papiere um mich herum. Ich schnappe mir den
Hausschlüssel und laufe aus der Wohnung.
Gleich am Eingang vom Spielplatz sitzt ein kleines Mädchen
in einer Baumgabel, sein Blick mit mir auf Augenhöhe. Es ist
stumm, aber auf den Wangen sind noch Spuren getrockneter
Tränen. In kurzen Abständen zuckt es durch seinen Körper wie
bei einem Schluckauf. Die Stille, die von ihm ausgeht, verwirrt
mich. Es sieht mich an wie ein Uhu.
Alles in Ordnung?, frage ich.
Es öffnet den Mund und sagt langsam: Hau ab.
Sieh mal, denke ich mir, so stößt sich ein Mensch ab, wenn er
mit seinem Schmerz allein sein will.
Dann will ich nicht stören, sage ich und gehe langsam nach
Hause.
Epilog
Gespräch mit meinem verstorbenen
Bruder
Noch immer suche ich in mir nach Trauer um deinen Tod,
Andreas. Noch nach fünfzig Jahren. Ich suche nach
Ausdehnung meiner Trauer um dich. Ich wünsche mir, dass
meine Trauer wächst. Ich suche nach meiner Bereitschaft,
deinen Verlust zu fühlen.
Etwas sperrt sich in mir. Warum ist das so schwer?
Unser Vater, unter dem ich so sehr gelitten habe, hat da
einen ganz anderen, weiten Raum in mir, in dem er immer
wieder in Wellen aus Liebe oder in Strudeln von Wut
auftaucht.
Auch unsere Mutter ist in meinen Träumen anwesend,
vielleicht etwas seltener als unser Vater, aber beide sind sie
noch heute so präsent, dass ich manchmal, am helllichten Tag,
kurz denke: Mensch, ich habe ganz vergessen, Mutti und Papa
anzurufen!
Die überfallen mich mit ihrer Nähe so unerwartet, dass Tod
und Leben einen Moment lang eins sind, untrennbar
verbunden. Eine Welt, aus der keiner heraussterben kann.
Aber wo bist du? Wir haben neunzehn Jahre gemeinsam
verbracht, lange Zeit in einem Zimmer geschlafen, mittags
zusammen den Abwasch erledigt, uns den Garten geteilt für
unsere aufgeregten Phantasiespiele.
Na ja, hier stock ich schon.
Wir haben nebeneinander hergespielt, jeder in seiner Welt,
beinah krankhaft getrennt. Das fällt mir erst jetzt auf, wie
manisch wir für uns allein gespielt haben.
Du hast mein wildes Gestikulieren, meine intensiven
Gespräche mit nicht anwesenden Menschen imitiert. So wie ich
unseren Vater imitiert habe, der beim Rosenschneiden oder auf
dem Klo, am Geschirrschrank oder in seinem Arbeitszimmer,
eigentlich überall, wo er allein zu sein glaubte, so fürchterlich
schimpfte, dass man sich besorgt fragte, ob es ihm gut geht.
Darüber haben wir nie gesprochen. Wir haben uns bloß
angeschaut, wenn wir ihn gehört haben, und uns geschämt. Ich
habe mich jedenfalls geschämt. Weil ich es so krank fand, so
lächerlich, so abstoßend.
Auch dich fand ich lächerlich und abstoßend, wie du den
Unterkiefer vorstrecktest und den Kopf senktest wie ein
Schafbock und mit dem Kochlöffel in der Hand gegen einen
unsichtbaren Feind losgerannt bist, spastisch, mit
raushängender Zunge, unverständliche Laute
herausschleudernd oder halb verständliche wie:
kommherkommher, ichschlagdichtotdu!
Hör auf!, habe ich gerufen. Wenn du wüsstest, wie blöd das
aussieht!
Und du hast dich nicht unterbrechen lassen, hast nur kurz zu
mir geschaut und gerufen: Machst du doch selber! Und dann
hast du weitergemacht, als hättest du einen Presslufthammer
zwischen den Händen.
Mach ich ganz anders, habe ich gerufen. Du schaust mir gar
nicht richtig zu. Du spielst vollkommen falsch!
Aber das hat dich nicht beeindruckt.
Unsere Lieblingsbeschäftigung war sowieso, den anderen
nachzumachen. Nicht nur zwischen uns, Andreas. Auch unsere
älteren Brüder, auch unser Vater haben uns ständig nachgeäfft.
Weiß vor Wut hab ich geschrien: Macht mich doch nicht
dauernd nach! Aber dann ging es erst richtig los. Macht mich
doch nicht dauernd nach! Macht mich doch nicht dauernd
nach!, haben sie höhnisch auf mich eingeschrien.
Wir haben das alle getan. Wir haben unsere Leben imitiert.
Unsere Fragen. Unsere Ansichten. Später unsere Berufswahl.
Bis du krank wurdest. Bis du gestorben bist.
Dann wurde es ruhiger in unserer Familie. Jeder hat
begriffen, dass er für sich alleine lebt. Dass man sich sein
Publikum woanders suchen muss, außerhalb der Familie.
Du warst weg, und die Suche nach meinem eigenen Leben
ging los.

Signe!, ruft unser Vater, als er vom Flur ins Krankenzimmer


stürzt. Es ist eigentlich kein Ruf. Es ist ein Verzweiflungsschrei.
Unsere Mutter sitzt im Dunkeln auf dem mit frischer
Plastikfolie überzogenen Bett, in dem du am Morgen gestorben
bist.
Der Zweite!, ruft sie. Und auch das ist kein Ruf, sondern ein
Schrei. Dann fallen sie sich in die Arme, schluchzen laut auf
und halten ihre gebeutelten Körper fest.
Ich stehe in der Tür und denke: Ich habe hier gerade nichts
verloren. Ich bin fehl am Platz.
Schon zu viel, dass ich diese intime Begegnung der beiden
mitbekomme. Und doch kann ich mich nicht so leicht von der
Doppelgestalt unserer Eltern trennen. Zwei verknäulte
Menschen im Halbdunkel, die immer wieder aufstöhnen und
schließlich gemeinsam auf das Bett sinken, sich sitzend weiter
ineinanderkrallen und den Schmerz in den Körper des anderen
hineinheulen. Unerreichbarer als je, wie auf einem anderen
Stern scheinen sie zu sein, einem Stern, von dem auch ich
stamme, der aber gerade an mir vorbeizischt.
Ich verziehe mich in eine entfernte Ecke des
Krankenhausflures, aber die Tür habe ich noch im Blick.
Unbrauchbar und lächerlich komme ich mir vor, obwohl ich
doch ständig irgendeine Aufgabe erfülle, Botschaften
übermittle, das Gelenk zwischen deinen Ärzten und unserer
Familie bin. Aber das ist jetzt vorbei, Andreas.
Gerade habe ich unseren Vater vom Bahnhof in Frankfurt
abgeholt und ihn hier, in der hämatologischen Abteilung der
Uniklinik, in deinem Sterbezimmer bei unserer Mutter
abgeliefert. Es war meine Aufgabe, ihn vorzubereiten. Er
wusste noch nichts von deinem Tod. Es wäre sinnlos gewesen,
ihm durchs Telefon zu sagen, dass du heute Morgen gestorben
bist. Mit so einer Nachricht schickt man keinen Vater auf den
Zug. Wo soll er da hin mit seiner Erregung, in diesem durch die
Landschaft fliegenden Geschoss?
Er würde sowieso kommen.
Als er in Frankfurt aussteigt, fragt er sofort: Und? Wie geht’s
ihm?
Ich nicke ihm zwei-, dreimal zu, als könnte ich ihm deinen
Tod wortlos vermitteln, aber das funktioniert nicht. Ich muss es
aussprechen: Andreas lebt nicht mehr.
Er sackt nach hinten weg. Fällt gegen den Waggon. Ich fasse
schnell nach seinem Oberarm und ziehe ihn zurück auf den
Bahnsteig. Was für ein schwerer, alter Mann. Er stützt sich auf
meine Schulter und ruft: Ich habe so gehofft, dass er’s noch
schafft. Ich habe so gehofft! Ich habe es so gehofft!
Glaub ich dir ja, sage ich und nehme seinen Koffer.
Wir fahren mit der Tram zur Uniklinik. Noch nie bin ich mit
einem so laut weinenden Mann in einer Straßenbahn
gestanden. Ich kann nicht so tun, als gehörte der nicht zu mir.
Ja, das ist mein Vater. Ich spüre von allen Seiten die
verstohlenen Blicke. Bitte schön, schaut ruhig her! Der Mann
hier hat gerade seinen Sohn verloren. Meinen jüngeren Bruder
übrigens. Er hat schon mal einen Sohn verloren, vor 23 Jahren,
da kam er auch vom Bahnhof, in Bückeburg, aber anders als
heute ahnte er damals gar nichts. Woher auch? Es war ja ein
Unfall, aus heiterem Himmel. Und auf dem Weg vom Bahnhof
nach Hause kam ihm ein fremder kleiner Junge, im Alter seines
verunglückten Sohnes, entgegengelaufen und schrie ihm schon
von weitem zu: Rainer ist tot! Rainer ist tot!
Wo ist Signe?, fragt unser Vater, wenn er sein Weinen
unterbricht.
In der Klinik. Packt Andreas’ Sachen zusammen, antworte
ich.
Ist sie noch in seinem Krankenzimmer?
Denk ich schon.
Ich will zu Signe, sagt er.
Wir sind gleich da.
Ich rede ruhig auf ihn ein. Meinen Arm habe ich um seine
Schulter gelegt. Er hält sich oben an einer Halteschlaufe fest. So
können wir nicht fallen.

Unsere Mutter hat wochenlang den Platz an deinem Bett nicht


verlassen, höchstens mal, um ein paar Stunden zu schlafen,
einen Happen zu essen. Ihre Stirn ist immer knochiger und
größer geworden, zum Beten hat sie nicht mal mehr die Hände
gefaltet, sie befand sich ohnehin dauerhaft in Konfrontation mit
ihrem Schöpfer. Und wenn wir sie an ihre eigene Gesundheit
erinnerten, bekam sie einen Tunnelblick. Sie war unnahbar für
Papas Drängen, doch mal für ein paar Tage mit ihm nach Hause
zu fahren. Bei seinen Versuchen, sie zu küssen, sah sie nur
abwesend vor sich hin. Sie dachte nur an dich. Andreas! Nichts
anderes, Andreas! Andreas! Andreas! Was haben wir falsch
gemacht? Warum macht Gott das? Warum straft er nicht uns?
Sondern ihn?
Wenn das so weitergeht, hat unser Vater zu mir gesagt, als
sei ich der Anwalt unserer Mutter, muss ich mir eine andere
Frau nehmen.
Na hör mal, habe ich eingewandt. Das kannst du doch nicht
machen.
Aber er schien sich seiner Sache sicher und fuhr fort: Ich
habe auch ein Leben! Wer weiß, wie lange noch? Ich will auch
was von meiner Pensionszeit haben. Ohne Frau kann ich nicht
leben.
Nun wart doch erst mal ab, sagte ich. Und dabei muss ich
gedacht haben, vielleicht stirbst du ja bald, Andreas.
Das war vor einer Woche, auf dem Weg zum Bahnhof in
Frankfurt, als er nach Herford fuhr, um zu Hause die Post zu
erledigen, die notwendigen Dinge des Alltags.
Ich muss endlich mal wieder auf die Bank, sagte er. Ich weiß
nicht, wie wir das alles bezahlen sollen! Bis jetzt habe ich keine
Zusage von der Beihilfe für diese enormen Kosten gekriegt. Du
kannst dir nicht vorstellen, was diese Zeit im Krankenhaus
kostet! Was diese Dialyse kostet! Irgendwann geht uns das Geld
aus.

Guck mal, jetzt hast du sie wieder, deine Frau, denke ich neben
ihm in der Straßenbahn, mit meiner Hand auf seiner Schulter,
und komme mir vor wie ein Kindermädchen, das ganz in seiner
Arbeit aufgeht und kein eigenes Leben hat.

Heute Morgen, Andreas, habe ich mit unserer Mutter an


deinem Totenbett gestanden. Sie war so schwach, dass ich dicht
hinter ihr blieb, falls sie kippen würde. Sie wimmerte
ununterbrochen, die Tränen hörten nicht auf zu fließen, sodass
ich mich besorgt fragte, ob sie diesen Flüssigkeitsverbrauch
übersteht.
Martin stand auf der anderen Seite des Bettes. Ihm lief eine
Träne übers Gesicht, und er sagte mit dem Blick auf deinen
abgemagerten Körper, dein eingefallenes Gesicht mit den
verblichenen Haaren und den zugedrückten Augen: Da kann
man ja nur noch weinen, wenn man den da liegen sieht.
Ich weinte nicht. Ich war trocken, knochentrocken. Meine
Gesichtszüge waren nach drei Monaten Bruder- und
Elternbetreuung ausgeleiert. Mir war eher nach Grinsen
zumute, so schlapp fühlte ich mich.
Während der letzten Wochen war ich der einzige
Ansprechpartner aus der Familie für deine Ärzte. Vor allem
deine Verlegung von der Mainzer Klinik hierher nach Frankfurt
hatte ich zu verantworten. Gegen den Willen der Ärzte, die dich
aufgegeben hatten und sterben lassen wollten. Ich habe das
nicht akzeptiert. Wie besessen habe ich rumtelefoniert.
Tagelang. Alle haben nur noch die Schultern gezuckt und sich
abgefunden.
In einem Warteraum der Mainzer Klinik sehe ich eine
Ausgabe des «Stern» rumliegen. Plötzlich habe ich eine Idee.
Ich suche mir aus dem Impressum die Nummer der Redaktion
heraus, wechsele Geld und telefoniere von einem öffentlichen
Fernsprecher.
Kann ich bitte jemanden aus Ihrem medizinischen Ressort
sprechen? Ich bin in einer Notlage!
Die haben mich tatsächlich verbunden. Ich durfte deine
Situation schildern: dass man hier einen Neunzehnjährigen
sterben lässt, weil nicht genügend Dialysegeräte verfügbar sind.
Der Journalist am andern Ende der Leitung war total
hilfsbereit. Auf Anhieb. Lassen Sie mich mal einen Moment
überlegen: Also. Sie sind in Mainz. Das ist Rheinland-Pfalz.
Gehen Sie über die Grenze nach Hessen. Die sind da
aufgeschlossener. Es gibt da an der Uniklinik eine
Kinderabteilung. Fragen Sie nach Dr. Koch. Ein Oberarzt. Der
hat einen Forschungsauftrag für unheilbare
Kinderkrankheiten. Der hilft Ihnen bestimmt weiter.
Du kannst dir nicht vorstellen, Andreas, wie dankbar ich
war. Einen Abend lang habe ich geglaubt, ich hätte dich
gerettet.
Zwei Tage zuvor hatte ich unangemeldet deinen Nierenarzt
in seinem Mainzer Klinikbüro aufgesucht. Was denn so
dringend sei, hat er gefragt. Ich wollte von ihm wissen, ob du
noch Geige spielen könntest, wenn sie dir jeden Tag so die
Arme aufsäbeln, um dir den Shunt anzulegen, damit dein Blut
durch die Dialysemaschine laufen kann. Du hast dabei geblutet
wie ein Schwein, und mit entsetzten Augen, ohne Schrei, hast
du durch die dicke Glasscheibe des OP zu uns auf den Flur
gesehen. Das war das grausamste Kino meines Lebens. Unsere
Eltern hielten den Anblick nicht aus und haben sich gleich
verzogen. Hast du das gemerkt?
Als der Nierenspezialist was von «Geige spielen» hörte, hat
er gegrinst: Von Geige spielen kann keine Rede sein.
Aber was wird aus seinen Händen, aus seinen Armen, wenn
das so weitergeht?
Nichts, sagte der Spezialist.
Und dann schwieg er einfach.
Was heißt das?
Ich schließe den nicht mehr an meine Maschinen an.
Wieso?
Wieso? Meine Maschinen brauchen andere! Wir können den
andern Patienten nicht den Platz wegnehmen. Es gibt nur sechs
Dialyseplätze, aber zwanzig Patienten. Da rechne ich die auf
der Warteliste gar nicht mit.
Aber mein Bruder ist neunzehn!, habe ich gerufen.
Ja, aber das wird nichts mehr. Hier kriegt er keinen
Dialyseplatz. Das verspreche ich Ihnen, auch wenn der
Oberarzt auf der hämatologischen Abteilung ein Freund Ihres
Vaters ist. Bei mir nicht, ich bin hier für meine Maschinen
zuständig.
Sie sind doch kein Arzt, Sie sind doch ein Irrtum in Weiß!
Das hab ich nicht gesagt. Hätte ich aber gerne. Ich bin nur
aus dem Büro getaumelt, und auf dem Flur lief ich dem
Chefarzt der Hämatologie in die Arme.
Das Beste, was wir für Ihren Bruder tun können, sagte er, ist,
die Schmerzen zu lindern, ihm ein starkes Narkotikum zu
geben, sodass er seinen nächsten urämischen Anfall vielleicht
gar nicht mehr miterlebt.
Und: Sie sollten sich bald von ihm verabschieden.
Wie bitte? Wie geht das: Verabschieden? Tschüs, Andreas?
War schön mit dir?
Sie werden schon eine der Situation angemessene Form
finden, meinte er.
Da war der Chefarzt noch höflich.
Aber nachdem ich Martin zu Hilfe gerufen hatte und wir
gemeinsam planten, dich mit Blaulicht von Mainz nach
Frankfurt zu Dr. Koch zu entführen, schlug sein Ton um.
Wieder auf dem Flur. Plötzlich zeigte er Zähne und brüllte
mich an, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte, einen
Sterbenden auf die Autobahn zu schicken, um ihn in Frankfurt
weiter zu Tode zu quälen.
In einer halben Stunde, stieß ich aus, kommt ein
Arbeitersamariterwagen aus Frankfurt mit einem Stationsarzt.
Die holen ihn ab. Das können Sie nicht verhindern, ich habe
mich erkundigt.
Wenn Sie wüssten, was ich alles kann! Das hier ist meine
Abteilung!, schrie er und stierte mich an.
Ich sagte nichts. Ließ die Sekunden verstreichen und stierte
zurück.
Ach, machen Sie doch, was Sie wollen! Sie werden noch
sehen, was Sie davon haben!
Das war sein letzter Satz, bevor er verschwand und eine Tür
zuschlug.
Geht doch, dachte ich. Geht doch. Und triumphierte leise.
Eins zu null für uns beide, Andreas.
Aber es war vergeblich. In den nächsten Wochen sollte ich noch
lernen, was es heißt, einem Bruder nicht helfen zu können. Wie
es sich anfühlt, von zwei Übeln das schlimmere zu wählen.
Darin sollte ich richtig Übung kriegen. Und du solltest das
auszubaden haben.
Die Wahl war nie zwischen richtig und falsch, sondern
zwischen schlecht und noch viel schlechter. Er hatte recht,
dieser Scheißkerl von einem Chefarzt. Trotzdem würde ich es
immer wieder so machen.
Was sollen wir denn sonst tun, wir beiden? Was sollen wir
denn anderes tun, als uns so lange am Leben zu erhalten, wie es
eben geht?

Lasst mich doch endlich sterben. Das sollst du zwei Wochen


später zu Mutti gesagt haben. Kaum hörbar. Eher gehaucht.
Lasst mich doch endlich sterben. Sie hat uns das erst nach
deinem Tod erzählt. Nicht erzählt – sie hat es wiedergegeben,
mit unbeweglichem Gesicht und in deinem Tonfall.
Und dann sollst du noch zu ihr gesagt haben: Weil ich das
getan habe, muss ich sterben.
Was hast du denn getan?

Irgendwann im Dezember hatte mich Papa in München


angerufen. Hallo, Edgar! Wie geht’s dir?
Bevor ich etwas sagen konnte, redete er schon weiter. Du
weißt, er war kein Freund langer Telefonate. Sparsam, wie er
war, hörte er immer die Münzen fallen.
Ich muss dir was von Andreas erzählen. Der ist plötzlich
krank geworden. Der hat wohl was an den Nieren. Er kann
nicht mehr richtig aufs Klo. Irgendwas mit seinem Blut ist nicht
in Ordnung. Der liegt hier in Herford im Krankenhaus bei
Professor Gersmeyer, den kennst du ja. Der überweist ihn aber
jetzt lieber an die Uniklinik in Mainz. Das ist ihm sicherer. Ist
im Interesse von Andreas. Zu einem Facharzt für Hämatologie.
Also Blut. Blutkrankheit. Zu einem Professor Bäcker. Eine
Koryphäe auf seinem Gebiet. Ein absoluter Fachmann, übrigens
Rotarier wie ich. Wir werden also Weihnachten in Mainz
verbringen. Das wollte ich dir sagen. Wir werden diesmal
keinen Weihnachtsbaum haben. Aber sonst werden wir ganz
normal feiern und bei Andreas im Krankenzimmer sein. Wir
können ja bei Tante Eka und Onkel Fritz in Mainz wohnen. Die
haben uns das angeboten. Die rücken Weihnachten dann
einfach etwas zusammen. Die sind ja sehr hilfsbereit. Wir
rücken alle zusammen.
Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, rief unser Vater
noch durchs Telefon. Dein Bruder wird bald wieder gesund!
Aber Weihnachten können wir diesmal nicht zu Hause feiern.
Das kriegen wir auch so hin. Wir backen ein paar Kekse. Oder
kaufen welche und bringen sie im Koffer mit. Verstehst du? Wir
machen uns das trotzdem schön.
Also bis bald. Komm einfach nach Mainz, ich zahl dir die
Reise. Gib kurz Bescheid, bevor du ankommst. Tschüs!
Herzliche Grüße von Mutti! Die ist natürlich voller Sorge. Aber
das versteht man ja.
Wie ist denn das passiert? Die Frage konnte ich gerade noch
unterbringen, bevor er auflegte. Wie ist das denn losgegangen
mit seiner Krankheit?
Na ja, der fühlte sich nicht wohl da oben in Rotterdam in
seiner Studentenbude, hatte Bauchschmerzen, weil er nicht
mehr aufs Klo gehen konnte, und ist dann nach Hause
gekommen. Aber lass uns das nicht am Telefon besprechen. Das
ist zu kompliziert. Das bereden wir, wenn wir uns in Ruhe
sehen. Ja?
Ja, sagte ich.
Auf Wiederhören, mein Lieber, rief mein Vater und legte auf.

Andreas, wenn du diese Obertöne in seiner Stimme gehört


hättest! Einfach zu viele Höhen. Der wollte etwas nicht
wahrhaben. Unser Vater hatte keine Bodenhaftung mehr. Der
war ja gar kein Realist! Wurde mir auf einmal klar. Der war ein
hoffnungsloser Optimist. Das, was sie mir immer vorwarfen zu
sein: Das war er! Der ruderte nur noch, um nicht sehen zu
müssen, was Sache war.
Dir ging es richtig schlecht. Das war die eigentliche
Nachricht dieses Telefonats.

Da, wo ich gerade den Hörer aufgelegt hatte, konnte ich nicht
stehen bleiben. Ein winziger Flur vor meinem Münchner
Studentenzimmer in der Herrnstraße 17, 4. Stock. Du hast mich
da mal besucht. War noch nicht lange her.
Gut, von jetzt aus ist es natürlich wahnsinnig lange her.
Neben mir stand, fast während des ganzen Telefonats, mein
Mitbewohner Ulrich. Der kam raus aus seinem Zimmer, hörte
einen Augenblick zu, ging wieder rein, wieder raus, immer auf
Strümpfen. Der merkte, dass ich schlechte Nachrichten bekam.
Er hatte Löcher in den Socken, seine beiden großen Zehen
schauten heraus, als wollten sie mitreden, und als ich fertig
war, fragte er: Ist was Schlimmes passiert?
Auf keinen Fall wollte ich Ulrich erklären, was mit meiner
Familie los war. Auf keinen Fall wollte ich mit buddhistischen
Sprüchen getröstet werden und einen Joint mit ihm auf seiner
Matratze rauchen.
Damit möchte ich erst mal allein sein, sagte ich.
Ja, das verstehe ich. Aber nur, dass du das weißt: Wenn du
reden willst, bin ich für dich da.
Was für eine Sanftmut und Freundlichkeit der hatte. Und ich
konnte nichts damit anfangen!
Dabei kann ich gar nicht allein sein. Alle schlechten
Nachrichten treiben mich vom Stuhl hoch, raus auf die Straße,
aber auch da finde ich keine Ruhe, und nachdenken kann ich
schon gar nicht. Stattdessen gerate ich manisch in Tagträume,
laufe einfach los, und während meine Beine die Kilometer
fressen, mobilisiere ich alle Ohrwürmer klassischer
Klaviermusik und stelle mir vor, ich sei eine geniale
Einzelbegabung von einem Pianisten. Am liebsten bin ich ein
achtjähriger, verwachsener kleiner Junge mit dicken
Brillengläsern, der Franz Liszts Schneetreiben-Etüde im
Affenzahn über die Tasten wischt. Ich sehe mich am
Konzertflügel in der Carnegie Hall in New York spielen, und
unsere Eltern sitzen auf billigen Plätzen und halten sich vor
Aufregung die Hand vor den Mund. Und am Ende tritt Arturo
Benedetti Michelangeli auf sie zu und sagt in Trapattoni-
Deutsch: Haben Sie einen Sohn vielleicht! Können Sie sein stolz!
Können wir alle was noch lernen!
Und während ich mich solchen Illusionen hingebe, bin ich
längst in Schwabing angekommen, in der Fendstraße, bei der
Gaststätte Weinbauer, und habe Hunger. Hackbraten, denke
ich. Ich darf jetzt nicht auch noch vom Fleisch fallen!

Warum hatte ich mir so oft diese Frage gestellt: Was ist das
Schlimmste, was mir überhaupt passieren kann? Und warum
hatte ich mir immer dieselbe Antwort gegeben: dass dir etwas
passiert, Andreas! Das ist das Schlimmste.
Das wollte ich nie erleben. Dass dir ein Unglück zustößt, das
habe ich über Jahre zur schlimmsten Vorstellung überhaupt
erhoben. Warum bloß? Es gab keinen Anlass.
Du sahst gut aus. Richtig gesund. Rosig. Wohlgenährt. Es war
eine Freude, dich anzuschauen. Du warst der Ruhigste von uns
allen. Schienst phlegmatisch, warst sorgfältig und klug, und auf
deiner Geige hast du einen satten, fetten Ton produziert. Dein
Bogen klebte an den Saiten, war wie angewachsen. Kein Blatt
Papier passte dazwischen. Am Esstisch hast du oft den Arm
aufgestützt, deinen schönen, schweren Kopf auf den
Handrücken gelegt und in die Ferne geschaut. So hast du als
Kind vor dich hingeträumt. Schon in der Grundschule rief dein
Lehrer immer wieder: Andreas, dreh an den Motor! Das gefiel
dir. Das hast du uns selbst erzählt. Du lachst gern über dich
selbst, und das mag ich an dir.
Vielleicht gab es, denke ich jetzt, so etwas wie einen
unausgesprochenen Auftrag unserer Eltern an mich, gut auf
dich aufzupassen. Wegen des großen Unglücks in unserer
Familie. Rainer und die Handgranate.
Du warst im Unterschied zu mir ein Kind des
Wirtschaftswunders. Du bist lange gestillt worden und hast
danach die gute Milch von Humana bekommen. Nicht mit
Wasser verlängerte Mehlpampe wie ich.
Warum kaufte ich mir einen großen, schwarzen Hut, als ich
mich auf den Weg nach Mainz machte, um an deinem
Krankenbett Weihnachten zu feiern?
Ich steckte meinen Kopf mit Hut durch die Tür des
Krankenzimmers und sagte mit verstellter Stimme: Ich bin der
Gevatter Tod. Guten Tag. Und du lachtest, und ich sah
erschreckt in dein aufgedunsenes Gesicht. Der stirbt, schoss es
mir durch den Kopf.
Schnell versiegelte ich diesen Gedanken.
In der Hand hielt ich Grimms Märchenbuch, die Ausgabe mit
den Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls, aus der ich dir so oft
vorgelesen hatte und unsere älteren Brüder mir. Manchmal
auch unsere Mutter.
Sehr selten unser Vater. Der las mir immer nur das kürzeste
Märchen vor, das vom süßen Brei. Diese Geschichte von einem
armen, stets hungrigen Kind, das von einer alten Frau ein
Töpfchen geschenkt bekommt, dem es sagen soll: Töpfchen
koche! Und dann kocht das Töpfchen Brei, so viel man essen
will, und es hört erst auf zu kochen, wenn man sagt: Töpfchen
steh! Aber das Kind vergisst die Worte, die das Töpfchen mit
dem Kochen aufhören lassen. Es bekommt Angst, läuft aus dem
Haus, in die weite Welt, und das Töpfchen kocht und kocht, und
die ganze Welt versinkt im Brei.
Das war Papas Lieblingsmärchen. Weil es kurz war und weil
er abends immer ans Klavier zum Üben wollte. Außerdem
stillte es in seiner Erinnerung den Hunger, den er im Krieg und
in der Zeit danach erlebt hatte.
Mein Lieblingsmärchen war und ist bis heute: Der Gevatter
Tod. Ein armer Mann, der viele Kinder hat und schließlich nicht
mehr weiß, wen er um die Patenschaft seines jüngsten Sohnes
bitten soll, begegnet dem Tod, der einwilligt. Als der Junge
herangewachsen ist – die Grimms sagen immer
«heranwachsen» –, trifft er zum ersten Mal seinen Paten. Der
verspricht, einen berühmten Arzt aus ihm zu machen. Er gibt
ihm ein Kraut, das alle Krankheiten der Welt heilt, aber er
schränkt seine Gabe ein. Wenn ich, sagt der Tod, am Kopf des
Kranken stehe, kannst du ihm das Kraut des Lebens geben.
Aber wenn ich an seinen Füßen stehe, mein Lieber, gehört der
Kranke mir. Untersteh dich, ihm dann das Kraut zu geben.
Es kommt, wie es kommen muss. Der Junge wird ein
berühmter Arzt, aber der Tod steht nicht immer da, wo er soll.
Gerade bei den Kranken, die der Arzt besonders gerne retten
möchte, steht der Tod an der falschen Stelle. Der Arzt überlegt,
wie er seinem Gevatter ein Schnippchen schlagen kann. Er
dreht das Krankenbett einfach um, sodass der Tod richtig steht.
Der Tod wird zornig und warnt seinen Patensohn
eindringlich, ihn nicht noch einmal zu verscheißern. O weh!
Und dann erkrankt die Königstochter, die natürlich
wunderschön ist, und der junge Arzt kann nicht widerstehen
und gibt ihr das Heilkraut. Natürlich wird er belohnt mit allem,
was das Herz begehrt, vor allem mit der Königstochter selbst.
Aber der Patenonkel passt ihn eines Tages auf der Straße ab,
legt ihm seine kalte Hand ums Genick und führt ihn zu einer
unterirdischen Höhle, wo unendlich viele Kerzen brennen,
große, mittelgroße und kleine. Das sind die Lebenslichter,
erklärt der Pate seinem Schützling. Ach, sagt dieser, ganz
bezaubert: Zeig mir doch mein eigenes Lebenslicht! Und der
Tod weist auf ein klägliches Flämmchen, das bis zum Boden
runtergebrannt ist und kurz vorm Erlöschen noch einmal wild
um sich schlägt. Der junge Arzt erschrickt – und bittet seinen
Patenonkel, ihm doch ein neues Lebenslicht aufzustecken. Der
Tod nickt, greift nach einer schönen, langen Kerze und will sie
an dem verglimmenden Flämmchen entzünden. Aber er stellt
sich wohl mit Absicht ungeschickt an und löscht mit dem Ärmel
das Flämmchen seines Patensohnes. Im selben Moment sinkt
der Arzt leblos zu Boden.
Kannst du dich an das Bild erinnern, das Ruth Koser-
Michaëls dazu gemalt hat, Andreas? Zwischen den Kerzen steht
der schwarz gekleidete Tod, mit Schlapphut und einem Gesicht
wie aus dunklem Stroh. Er sieht ein bisschen aus wie eine
Vogelscheuche oder Fastnachtsfigur, und neben ihm, zwei
Köpfe kleiner, der junge Arzt, mit blauer Pelerine, Gehstock und
spitzem rotem Hut. Seine Gesichtshaut ist frisch, und er schaut
voller Vertrauen zu seinem Patenonkel auf.
Ob das alles wirklich so im Märchenbuch steht? Ich habe
nicht nachgeguckt. Mein Gedächtnis ist mir lieber.
Dieses Märchen habe ich dir sofort an deinem Krankenbett
vorgelesen. Du wolltest das. Ohne es auszusprechen, haben wir
es beide wie eine Art Voodoo gebraucht. Es sollte Zauberkraft
entwickeln. Wir wollten uns stark zeigen gegen deine
Krankheit.
Aber der Zauber wirkte nicht.

Und dann kommt Weihnachten. Dunkelheit, kein elektrisches


Licht, Kerzen werden angezündet, Transparente aufgestellt, es
riecht nach Tanne. Sogar eine Krippenfigur, der anbetende,
glatzköpfige Hirte mit der speckigen Fußsohle, der schon die
Flucht aus Ostpreußen mitgemacht hat, steht an deinem
Krankenbett, eingewickelte Geschenke liegen da.
Wir singen an deinem Bett, Andreas. Mutti, Papa und ich
singen «Kommt und lasst uns Christum ehren» und «Ich steh an
deiner Krippen hier». Unsere beiden älteren Brüder können
nicht da sein. Martin muss zu Hause bleiben wegen seiner
kleinen Kinder, Werner hat Dienst, so wie die meisten Musiker
an Weihnachten.
Mutti singt gefährlich zittrig die Melodiestimme, Papa sicher
und unbeirrt zweite Stimme, und ich singe brav im Bass die
Melodie mit Mutti. Es fehlt das Klavier. Alles klingt reichlich
dünn und irgendwie abstrakt. Eine Behauptung von Singen.
Du singst nicht. Du liegst auf dem Rücken und starrst an die
Decke. Du siehst nicht mehr aus wie früher. Dein Gesicht ist
gedunsen und teigig, weil dein Körper das Wasser nicht mehr
wegbringt. Alle zwei Tage machen sie Bauchspülungen mit dir,
die so schmerzhaft sind, dass du den halben Tag danach vor
Erschöpfung schläfst.
Je länger wir singen, desto deutlicher wird die
Aussichtslosigkeit deiner Situation. Aber niemand will sich das
vorstellen. Unsere Gehirne arbeiten fiebrig an Optionen, wie
und wann du wieder gesund werden könntest, während unsere
Singstimmen einsam durch dein Krankenzimmer irren.
Und dann drehst du dich zur Wand. Mit einem Ruck drehst
du dich heraus aus unserer Weihnachtsstimmung. Wir sehen
dein Gesicht nicht mehr. Wir spüren, dass deine Hände die
Decke greifen, dass dein Körper sich aufs Laken drückt. Und
dann liegst du still und bewegungslos da. Von dir geht ein
Schmerz aus, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Kein Weinen ist
zu hören. Kein Würgen. Ich weiß, du konfrontierst dich mit
dem, was aus dir geworden ist. Und mit dem, was nicht mehr
sein wird.
Und wir hören auf zu singen. Mutti, Papa und ich, einer nach
dem anderen. In dieser Reihenfolge hören wir mitten im Lied
einfach auf. Und es ist still. Nur das Kerzenlicht spiegelt
unruhig unsere Atemzüge.
Wir müssen ja auch nicht singen, sagt Papas Stimme leise
und einfühlsam. Hier liegen ein paar schöne Bücher für dich,
Andreas. Die kannst du aber auch morgen auspacken.
Ich glaube, es war die Autobiographie von Gregor
Piatigorsky: «Mein Cello und ich» und ein Lexikon über große
Geiger.
Edgar kann doch mal sein Geschenk auspacken, sagt Mutti,
und ich wickle bereitwillig eine Philosophiegeschichte aus.
Danke, sage ich. Die kann ich gut gebrauchen.
Da liegen auch selbstgebackene Plätzchen von Tante Eka,
sagt Papa.
Er liebt Weihnachtsgebäck, so wie ich auch. Aber wir haben
keinen Appetit, und erst recht wollen wir dir nicht unsere
Essensgeräusche zumuten. Alles entpuppt sich als Staffage.
Obwohl wir dann doch irgendwann verschämt an den
Plätzchen knabbern. Wir wollen ja schließlich wissen, wie das
Traditionsgebäck aus der Familie unserer Tante schmeckt. Das
Schokoladenkonfekt und die Haselnussstängchen sind ähnlich
wie bei uns, die Prager Kuchen hier aus der Mainzer Familie
sind einfach besser. Frischer, mit Zitronenschale. Aber im
Grunde schmeckt gar nichts. Die süßen Krümel bleiben uns im
Hals stecken, und dann blasen wir auch die Kerzen aus,
räumen die Transparente zusammen und schaffen wieder Platz
für das Arbeitszeug der Schwestern und Ärzte.
Möchtest du noch einen Löffel Tee?, fragen wir dich. Du
antwortest nicht und machst nur eine kleine Bewegung in
deiner Seitenlage. Du hast uns gehört, aber du willst nichts von
uns.
Höllischen Durst musst du haben, sollst aber nur minimal
trinken, denn alle Flüssigkeit muss mit der schmerzhaften
Bauchspülung wieder rausgezogen werden.
Wir gehen dann mal, sagt Papa, aber einer bleibt bei dir. Es
ist immer einer von uns da. Die ganze Nacht, immer. Und
morgen kommt Werner und will die ganze Nacht bei dir sitzen.
Also, schlaf gut.
Ich bleibe jetzt hier, sagt Mutti. Und Papa sagt, nein, du
kommst mit und schläfst jetzt mal. Edgar bleibt hier, du kannst
ihn später ablösen. So gegen zwei.
Gerne auch erst um sechs. Ich kann die Beine hochlegen und
schlafen, sage ich.

Und dann gehen sie, und wir sind allein, Andreas.


Zeit vergeht. Es ist Nacht. Wahrscheinlich bin ich eingedöst.
Als ich wieder zu dir schaue, hast du dich auf den Rücken
gedreht und starrst zur Decke.
Tee, sagst du.
Ich steh auf, will dir das Kissen ausschütteln, vielleicht die
Decke glatt ziehen.
Tee, sagst du wieder. Deine Lippen sind vor Trockenheit
gesprungen.
Ich beträufele sie mit Tee und flöße dir ein oder zwei Löffel
ein. Vielleicht auch mehr. Du hast lange nichts getrun- ken.
Danke, sagst du.
Ich streiche dir über den Arm, die Hand. Du reagierst kaum.
Deine Stimme ist leise, fern. Sie ist ganz du. Sie berührt mich.
Ich sitze wieder in meinem Armstuhl, ein Kissen im Rücken,
eine Decke über den Beinen.
Die Welt schrumpft plötzlich zu einer kleinen Plattform, und
drum herum ist nichts. Auf dieser Plattform stehen nur noch
wir beide, du und ich.
Und in deinen Augen, Andreas, blitzt es. Ich sehe, du
realisierst, dass du am Rand stehst und ich in der Mitte.
An diesem Rand, wo du stehst, geht es steil abwärts, da geht
es aus der Welt raus.
Und du sagst: Gibst du mir was zu trinken? Ich habe solchen
Durst.
Und ich, von der Mitte der Welt aus, sage: Nein. Es sind erst
zehn Minuten vorbei, und du sollst nur einmal in der Stunde
zwei Teelöffel trinken.
Die ganze Härte des Nierenspezialisten breitet sich in mir
aus und erfasst mein Herz, und ich denke: Ja, Edgar, das fällt
dir schwer, aber du musst hart bleiben. Es ist in seinem
Interesse.
Ach bitte, sagst du. Einen Löffel.
Nein, sage ich. Es ist nicht gut für dich. Versuch es doch
auszuhalten.
Ich kann das nur sagen, weil ich deine Situation, deinen
brennenden Durst, deine Qual, deine Bitte an mich, deinen
Bruder, zu etwas Theoretischem gemacht habe. Ich weigere
mich, deine Bitte zu fühlen. Furchtbar ist das, was ich da tue.
Grausam.
Du musst es aushalten, und ich schaue dir beim Aushalten
zu. Und das muss ich auch aushalten.
Ich verweigere ein Gefühl. Das weiß ich. Ich mache mich
hart. Und das fühle ich bis heute. Bis jetzt. Das geht nicht weg.
Es ist mein Wesen, Andreas, ich bin so. Ich bin ein Mensch,
der sich einem Gefühl, das vorhanden und natürlich ist und
gelebt werden will, verschließen kann.
Bereue ich es, dass ich mich so hart gemacht habe?
Ja, natürlich bereue ich das. Ich bereue das, solange ich lebe.
Möchte ich ein anderer sein als der, der ich bin?
Nein. Möchte ich nicht. Ich will der bleiben, der ich bin.

Am übernächsten Tag frage ich unseren Bruder Werner: Und


was machst du dann, wenn Andreas dich schon nach zehn
Minuten wieder bittet, ihm noch mal was zu trinken zu geben?
Dann geb ich ihm halt was, sagt Werner. Wer weiß, wie
lange er noch lebt. Ich geb ihm einen Löffel voll und frage ihn:
Willst du noch mehr haben? Und wenn er nickt, sage ich: Trink
dich satt, trink so viele Löffel, wie du willst. Das verbrennt doch
wie nichts in seinem ausgetrockneten Körper. Das zischt doch
weg wie nichts. Kriegt er halt mehr, als er darf. Ist doch sein
einziger Genuss, seine ganze Seligkeit. Ein paar Löffel Tee.
Zitatnachweise

S. 7: König Lear, William Shakespeare.


S. 31f.: Was ihr wollt, William Shakespeare. Deutsche Übersetzung von
Christoph Martin Wieland
S. 49: Leonce und Lena, Georg Büchner
S. 111f.: An den Mond, Johann Wolfgang von Goethe
S. 144: Todesfuge aus: Mohn und Gedächtnis, Paul Celan
S. 151: Go, tell it to the mountain, Textdichter unbekannt
S. 172: Petersburger Marsch (Denkste denn, Du Berliner Pflanze), Komponist
und Textdichter: C. Birth
S. 172f.: Mein Vater wird gesucht, Hans Drach
S. 183: Aida, Libretto von Antonio Ghislanzoni. Deutsche Übersetzung von
Julius Schanz und Kurt Soldan
S. 187: Die Bibel, Offenbarung des Johannes, Kapitel 16, Vers 15
S. 216: 12 Gebote für das Verhalten der Deutschen im Osten und die
Behandlung der Russen, Staatssekretär Herbert Backe, 1941
S. 216: Richtlinien f. Partisanenbekämpfung, 25.10.1941, genehmigt von
Walther von Brauchitsch
S. 233: Der Rosenkavalier, Libretto von Hugo von Hofmannsthal
Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2021


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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung
bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Jan van der Kooi, (Groningen 1957),
«Frühlingsbrise», oil on panel, 122 x 110 cm, 2007;
Flavio Coelho/Getty Images
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender
Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu
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ISBN 978-3-644-00367-5
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