40 Jahre GG
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40 Jahre GG
40 Jahre Grundgesetz -
40 Jahre Sozialstaat*
* Überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der Friedrich-Ebert-Stif tung im März 1989 in Bonn.
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______________________________________________________ 40 Jahre Sozialstaat
Dies war auch ein wesentliches Anliegen von Carlo Schmid im Parlamenta-
rischen Rat. Ihm ging es wie Hermann Heller nicht nur um Randkorrekturen
des bürgerlichen Rechtsstaats. Ihm ging es darum, eben diesen Rechtsstaat als
Sozialstaat gegen jede neue Form von Diktatur zu sichern. Deshalb kämpfte er
dafür, daß das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz mit dem Rechtsstaatsprinzip
zum „sozialen Rechtsstaat" verknüpft wurde. Er meinte damit kein abstraktes
juristisches Prinzip, sondern einen permanenten Gestaltungsauftrag an Politik
und Gesellschaft.
- wie lassen sich Beruf und Familie, Karriere und Kinder miteinander ver-
einbaren;
- wie sicher ist mein Arbeitsplatz, wie sicher ist meine Altersversorgung?
Die Menschen haben nicht nur mehr Entscheidungsmöglichkeiten, sie sind
auch verwundbarer und schutzbedürftiger geworden. Hinzukommt, daß die
Menschen heute Risiken gegenüberstehen, die Alpträumen gleichen: Bergen
von Atom- und Chemiewaffen, der Vergiftung von Umwelt und Lebensmit-
teln, der Massenarbeitslosigkeit.
Gegen beides - Individualisierung wie globale Risiken - müssen wir neue
Formen gesellschaftlicher Solidarität entwickeln und ein neues Verständnis
des Sozialstaats.
Aber auch sie haben die Eigentums- und Machtverhältnisse und die daraus
resultierenden Ungleichheiten in den Start- und Gestaltungschancen nicht
grundlegend verändern können. Schon deshalb nicht, weil das Bundesverfas-
sungsgericht in seinen Entscheidungen zwar die Geltung des Sozialstaatsprin-
zips für den einzelnen bestätigt hat, aber der kollektiven Gestaltung durch die
Gewerkschaften immer wieder Steine in den Weg gelegt und damit die Hand-
lungsmöglichkeiten der Gewerkschaften eingeschränkt hat.
Für die Weiterentwicklung des Rechtsstaats zur sozialen Demokratie
bedeutet dies:
1. Die gesellschaftliche Dimension des Sozialstaatsprinzips muß wieder
stärker in das Zentrum der verfassungsrechtlichen Diskussion und der poli-
tischen Gestaltung gerückt werden. Der Sozialstaat muß einer Restaura-
tion kapitalistischer Strategien entgegenwirken, er muß verhindern, daß
wirtschaftliche Macht politische Macht usurpiert.
2. Zunehmende Individualisierung senkt nicht, sondern erhöht den Bedarf an
sozialstaatlicher Intervention. Wenn traditionelle Netze und Sicherheiten
schwinden, müssen neue geschaffen werden. Eine individualisierte Gesell-
schaft braucht eine breit angelegte soziale Infrastruktur.
Neue Arbeitsbiographien erfordern zusätzliche soziale Sicherungen, aber
auch umfassendere soziale Dienstleistungen: Kinderbetreuung, Bildung,
Kultur und Kommunikation.
Der Sozialstaat muß über monetäre Umverteilung hinaus persönliche
Dienstleistungen anbieten und soziale Freiräume schaffen.
3. Der Sozialstaat muß die globalen Lebensrisiken angehen. Sie erfordern ein
neues Verständnis des „Prinzips der sozialen Verpflichtung". Wenn heute
nach „weniger Staat" gerufen wird, so ist dies Ausdruck eines „nur ökono
mischen" Verständnisses vom Staat, wie es auch dem alten Verständnis
vom Sozialstaat anhing.
Neue Aufgaben des Sozialstaats
Sozialstaat muß heute heißen: Schutz und Gestaltung auf verändertem
gesellschaftlichen Niveau. So lange es grundlegende Ungleichheiten gibt,
bleiben soziale Gerechtigkeit, Sicherheit und Umverteilung unerläßliche
Ziele sozialstaatlichen Handelns. Darüber hinaus aber muß der Staat Be-
dingungen schaffen, die es möglich machen, Vereinzelung, Verarmung und
Ausgrenzung zu überwinden und menschliches Überleben erst zu sichern.
Dies bedeutet zwangsläufig einen Zuwachs staatlicher Funktionen, aber
nicht einfach „mehr Staat", sondern einen anderen Staat. Einen Staat, der
seine Bürger nicht bevormundet oder überwacht, sondern der ihnen mehr
Raum schafft für Selbstbestimmung, kollektive Beteiligung und dezentra-
lisierte Entscheidungen.
Der Sozialstaat muß sensibel auf Ängste vor Kontrolle und Disziplinierung,
vor dem Eindringen des Staates in zivile Freiräume reagieren und Selbstbe-
stimmung, Partizipation und bürgernahe Entscheidungsstrukturen fördern.
Wahl des Berufs und auf freie Berufsausübung (Artikel 12 Absatz 1 Grund-
gesetz) tatsächlich - wie es die Verfassung bestimmt - für „alle Deutschen"
wirksam werden kann. Sozialstaatliche Interpretation der Berufsfreiheit
bedeutet nicht nur, daß zugunsten der Beschäftigten bestimmte Standards -
wie Höchstarbeitszeiten, Grenzwerte im Arbeitsschutz und so weiter - gelten
müssen. Es bedeutet auch - und dies immer mehr -, daß Beschäftigte in allen
sie betreffenden Fragen zu beteiligen sind.
Beim Recht auf Mitbestimmung, beim Streikrecht und beim Recht auf freie
Tarif verhandlungen und -abschlüsse geht es um nichts anderes als die tatsäch-
liche Geltung grundlegender Menschenrechte in der Arbeitswelt — ange-
fangen von der Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) über das Recht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit und Selbstbestimmung (Artikel 2 Grund-
gesetz), das Recht der freien Meinungsäußerung und der freien Information
(Artikel 5 Grundgesetz) bis hin zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
(Artikel 8 und 9 Grundgesetz) vor allem in der Form des freien Zusammen-
schlusses der Arbeitnehmer zu tarif- und kampffähigen Gewerkschaften.
Nicht zufällig hat das Bundesverfassungsgericht das Mitbestimmungsgesetz
von 1976 unter Hinweis auf die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ausdrücklich
gebilligt. Daraus folgt auch, daß Arbeitnehmer viel stärker beteiligt werden
müssen, wenn es um den Einsatz neuer Techniken geht. Nur Kosmetik, wie
1988 am Betriebsverfassungsgesetz, reicht dazu nicht aus.
Die sozialen Grundrechte symbolisieren, aktualisieren und garantieren auf
verfassungsrechtlicher Ebene die Erkenntnis, daß die Grund- und Menschen-
rechte und die Demokratie um ihres Bestandes willen nicht an der „Armuts-
grenze" oder an den Werkstoren enden dürfen.
Auch wenn das Grundgesetz nur wenige soziale Grundrechte enthält, so ent-
faltet das Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit den Grund- und Menschen-
rechten eine - verfassungsrechtliche - Dynamik, die auf eine umfassende Ver-
wirklichung sozialer Grundrechte zielt.
Dem muß auch die soziale Sicherung Rechnung tragen. So gilt es, Lösungen
für diejenigen zu finden, die keine regelmäßige Arbeitsbiographie mit vierzig
oder fünfundvierzig Beschäftigungsjahren und Vollzeitarbeit aufweisen.
Mit einer Abwertung der Erwerbsarbeit ist es dabei nicht getan, solange
Erwerbsarbeit nicht nur das wichtigste Finanzierungsinstrument zur notwen-
digen Aufwertung unbezahlter gesellschaftlicher Arbeit, sondern auch
wesentliches Element zur Selbstverwirklichung ist.
Aber die Altersversorgung wird um Elemente einer bedarfsorientierten
Mindestsicherung ausgebaut werden müssen, um unterschiedliches Erwerbs-
verhalten und unterschiedliche Chancen am Arbeitsmarkt auszugleichen.
Eine Verarmung und Ausgrenzung besonders schutzbedürftiger Gruppen
an den Rand der Gesellschaft, wie sie jetzt durch gesetzliche Veränderungen
der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung geschieht, widerspricht
in eklatanter Weise dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes.