40 Jahre GG

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Monika Wulf-Mathies

40 Jahre Grundgesetz -
40 Jahre Sozialstaat*

Dr. Monika Wulf-Mathies, geb. 1942 in Wernigerode/Harz, Studium von


Geschichte, Germanistik und Volkswirtschaft in Hamburg und Freiburg, war
seit 1976 Mitglied des Geschäftsführenden Hauptvorstandes und ist seit 1981
Vorsitzende der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr.

* Überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der Friedrich-Ebert-Stif tung im März 1989 in Bonn.

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Vom Rechtsstaat zum Sozialstaat


Die Sozialstaatlichkeit ist für unser Verfassungsverständnis von maßgebli-
cher Bedeutung und verbindet es mit der sozialdemokratischen Staatsrechts-
lehre der Weimarer Republik: „Im Jahre 1930 veröffentlichte Hermann
Heller eine kleine Studie mit dem Titel Rechtsstaat oder Diktatur?'. Darin
vertrat er die These, daß nur eine Fortentwicklung des bürgerlichen oder libe-
ralen Rechtsstaats zu einem sozialen Rechtsstaat sein Umschlagen in eine
Diktatur verhindern könne. Die Geschichte gab ihm schon wenige Jahre
später recht.
Heller sah den Unterschied zwischen bürgerlichem und sozialem Rechts-
staat vor allem in einem unterschiedlichen Verständnis des Gleichheitssatzes:
Im bürgerlichen Rechtsstaat ist die Gleichheit lediglich eine formale. Das
bedeutet, daß alle die gleichen Rechte haben, ohne daß es darauf ankommt, ob
sie auch in der Lage sind, von ihnen Gebrauch zu machen. Die sozialen Macht-
verhältnisse sind also im bürgerlichen Rechtsstaat für den Gesetzgeber un-
beachtlich. Damit aber wird die formal gleiche Freiheit aller zum Recht des
Stärkeren, seine soziale Überlegenheit rücksichtslos auszuspielen. [...]
Dies gilt auch für den Arbeitslosen, der sich in einer Krisenzeit um Einstel-
lung bemüht. Er darf ebenso seine Interessen geltend machen wie der Arbeit-
geber. Daß er damit nicht durchdringen wird, sondern die Bedingungen wird
akzeptieren müssen, die ihm der Arbeitgeber diktiert, interessiert im [reinen]
bürgerlichen Rechtsstaat nicht. Dies gilt hier nicht als eine Frage des Rechts,
sondern der tatsächlichen Verhältnisse, die für den Staat nicht relevant sind.
Im [reinen] bürgerlichen Rechtsstaat wird zwischen der ungleichen sozialen
Macht eines Großunternehmers und eines Arbeitslosen rechtlich nicht unter-
schieden, weil jeder das Recht hat, selbst Großunternehmer zu werden."1
Für den sozialdemokratischen Staatsrechtler Hermann Heller ergab sich
daraus zwangsläufig die Schlußfolgerung, daß der Rechtsstaat nur als sozialer
Rechtsstaat lebensfähig ist, daß er Gefahr läuft, sich selbst zu zerstören, wenn
er nicht persönliche Freiheit als unteilbar begreift. Aus diesem Grund hielt er
es auch für notwendig, persönliche Freiheitsspielräume durch Regulierung,
Umverteilung und Kontrolle gesellschaftlichen Reichtums und sozialer Macht
verfassungsrechtlich abzusichern, damit Menschen- und Grundrechte nicht
nur theoretisch, sondern auch faktisch für alle gelten.
Die Verwirklichung der Idee des sozialen Rechtsstaats wurde in der Wei-
marer Republik durch den Beginn eben jener Diktatur unmöglich gemacht,
die Hermann Heller hatte verhindern wollen und die er vorhergesehen hatte.
Die Erfahrungen des Nationalsozialismus sind deshalb eine fortdauernde
politische Verpflichtung, den sozialen Rechtsstaat nicht nur zu bewahren,
sondern ihn um seiner demokratischen Substanz willen weiterzuentwickeln.

1 Ekkehard Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, 11. Aufl. 1988, S. 229

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Dies war auch ein wesentliches Anliegen von Carlo Schmid im Parlamenta-
rischen Rat. Ihm ging es wie Hermann Heller nicht nur um Randkorrekturen
des bürgerlichen Rechtsstaats. Ihm ging es darum, eben diesen Rechtsstaat als
Sozialstaat gegen jede neue Form von Diktatur zu sichern. Deshalb kämpfte er
dafür, daß das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz mit dem Rechtsstaatsprinzip
zum „sozialen Rechtsstaat" verknüpft wurde. Er meinte damit kein abstraktes
juristisches Prinzip, sondern einen permanenten Gestaltungsauftrag an Politik
und Gesellschaft.

Sozialstaatlichkeit als Neuerung des Grundgesetzes


Der Sozialstaatsauftrag war das eigentlich Neue des Grundgesetzes gegen-
über anderen Verfassungen. Zwar enthielten auch frühere Verfassungen
Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, so den Vorbehalt des Gesetzes bei
Eingriffen in Freiheit und Eigentum, die Gewaltentrennung und den Rechts-
schutz. Sie enthielten auch Grundprinzipien der Demokratie - so etwa die
allgemeine, freie, gleiche und unmittelbare Wahl der Repräsentanten des
Volkes.
Doch erst das Grundgesetz hat mit dem Sozialstaatsprinzip einen mate-
rialen Maßstab für staatliches Handeln aufgestellt und ihn - wie auch die
Grundrechte - durch Artikel 1 Absatz 3 mit verpflichtender Kraft ausgestattet.
Mit Artikel 79 Absatz 3 entzieht das Grundgesetz der Legislative sogar
ausdrücklich die Kompetenz, Änderungen vorzunehmen, durch die diese
Grundsätze „berührt werden", und zwar selbst bei einem einstimmigen
Parlamentsbeschluß. Ganz in diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungs-
gericht frühzeitig hervorgehoben, daß das Grundgesetz der „liberal-rechts-
staatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts" „selbst das Prinzip des
Sozialstaats, das heißt das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt hat".
Die Sozialstaatlichkeit ist also verbindlich. Staatliche Entscheidungen
zuungunsten des Sozialstaatsprinzips oder auch nur staatliches Handeln, das
dieses Prinzip außer acht läßt oder als reinen „Programmsatz" behandelt,
sind unzulässig.
Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält zwei Elemente, einen
Schutz- und einen Gestaltungsauftrag. Die gestaltende Komponente des
Sozialstaats erlegt dem Staat auf, gesellschaftliche Institutionen und Struk-
turen zu ändern, wenn sie soziale Gegensätze, Unsicherheit oder Ungleichheit
aufrechterhalten oder gar vertiefen. Die schützende Komponente verpflichtet
den Staat, die Bürgerinnen und Bürger vor Risiken zu bewahren, ihre Folgen
zu mildern und darauf hinzuwirken, daß Risiken gar nicht erst entstehen.

Sozialstaatsprinzip als politische Aufgabe


Das Sozialstaatsprinzip ist zwar verbindlich, aber es ist ein allgemeines
Prinzip. Es bedarf der Konkretisierung durch die dazu legitimierten staat-
lichen Instanzen. Aus dem Sozialstaatsprinzip lassen sich sozialpolitische

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Wünsche nicht unmittelbar „ableiten". Sonst würden der demokratische


Willensbildungsprozeß und die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung
um Gestaltungsfragen zu bloßer Verfassungsanwendung degradiert und die
politische Verantwortung dafür nach Karlsruhe delegiert. Das widerspräche
auch dem historischen Charakter des Sozialstaatsprinzips. Seine Konkreti-
sierung steht nie ein für allemal fest, sondern sie muß dem gesellschafts-
politischen Ringen offenstehen.
Für die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung kommen dem Sozial-
staatsprinzip vor allem drei Funktionen zu:
- Staatlichen Instanzen muß immer wieder vor Augen geführt werden, daß sie
dem Maßstab der Sozialstaatlichkeit zu folgen haben - und nicht indivi-
duellen Einkommens-, Vermögens- und Herrschaftsinteressen.
- Der Staat muß auf eine aktive „Grundrechtspolitik" verpflichtet werden.
Sie darf sich nicht darin erschöpfen, „Eingriffe" in Grundrechtspositionen
abzuwehren. Vielmehr müssen gesellschaftliche Bedingungen geschaffen
werden, die es möglich machen, Grundrechte wie die Berufsfreiheit (Artikel
12 Grundgesetz) - oder den Gleichheitssatz und das Gleichberechtigungs-
gebot (Artikel 3 Absatz 1 und 2 Grundgesetz) - tatsächlich wahrzunehmen
und zu verwirklichen. Auch die Sozialpflichtigkeit und Gemeinwohlbin-
dung des Eigentums (Artikel 14 Grundgesetz) ist aus diesen Anforderungen
heraus zu entwickeln.
- Der Sozialstaat darf soziale Errungenschaften nicht willkürlich wieder in
Frage stellen oder beseitigen. Hat der Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip
einmal konkretisiert - zum Beispiel im Kündigungsschutz oder in der Sozial-
versicherung -, so kann er es nicht beliebig ändern.
Mit dem Sozialstaatsprinzip verträgt sich nicht ein Beschäftigungsför-
derungsgesetz oder ein Zeitvertragsgesetz, das zur Erosion des Normal-
arbeitsverhältnisses führt. Mit dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar ist es, aus
Wettbewerbsgründen in einer Krisenbranche Sozialdumping gesetzlich zu
sanktionieren, wie es mit dem Zweiten Schiffsregister geschehen ist. Das
Sozialstaatsprinzip deckt weder eine Sozialpolitik der Deregulierung noch
eine Arbeitspohtik der Flexibilisierung.
Gesellschaftliche Strukturen, die statt auf soziale Verantwortung und Soli-
darität auf die Privatisierung und Individualisierung sozialer Risiken angelegt
sind, bedürfen der Korrektur durch staatliche Intervention. Das Gebot zur
Erhaltung und zum Ausbau sozialer Sicherheit erfordert Netze solidarischer
Hilfe und kollektiver Gestaltung, um den einzelnen vor dem Fall ins Bodenlose
zu schützen.

Sozialstaat und Tarifautonomie


Dem partizipativen Anspruch wie dem Auftrag zum Ausbau des Sozialstaats
entspricht ein weiteres Element des Sozialstaatsprinzips, nämlich das Recht
der Tarifvertragsparteien zur Normsetzung im gesellschaftlichen Bereich. Das

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Kollektivrecht, das heißt die tarifvertragliche Regelung, ist autonomer


Bestandteil des Sozialstaatsprinzips, neben der staatlichen Rechtsetzungs-
befugnis. Es macht die Gewerkschaften zu Trägern sozialstaatlicher Gestal-
tung und sozialstaatlichen Fortschritts.
Daß die Gewerkschaften diesen Auftrag in der Nachkriegszeit erfüllt
haben, bestreitet nicht einmal Bundeskanzler Kohl. Häufig genug waren sie
dabei allerdings allein auf sich selbst gestellt. Kaum eine politische Forderung
der Gewerkschaften, kaum eine Tarifforderung ist von ihren Kontrahenten
nicht als unerfüllbar, wirtschaftlich unvertretbar, sozial abträglich oder gar als
„dumm und töricht" abgelehnt worden. Ob es um höhere Löhne oder kürzere
Arbeitszeit, ob es um Lohnfortzahlung oder Verbesserungen der sozialen
Sicherheit, ob es um die Mitbestimmung oder das Streikrecht ging: Häufig
genug haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihrer Bereit-
schaft, notfalls Einkommensverluste und Disziplinierung zu riskieren, dafür
einstehen müssen, daß die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Rechts-
staat geworden und geblieben ist.
Zwar ist es gelungen, ein Tarifvertragssystem aufzubauen, dessen integrale
Bestandteile das Recht auf autonome Gestaltung der Sozial- und Arbeitsbezie-
hungen ohne staatliche Einmischung und das Recht auf kollektive Arbeitsver-
weigerung sind. Gleichwohl ist es symptomatisch für das Auseinanderklaffen
von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, daß Rechtsprechung und
Rechtslehre versuchen, die Garantie der Koalitionsfreiheit auf einen Kern-
bereich zu reduzieren. Wenn darüber hinaus die Aussperrung erleichtert wird
und Streikrisiken immer schwieriger zu kalkulieren sind, dann ist das unver-
einbar mit dem Sozialstaatsprinzip.

Sozialstaat und Individualisierung


Das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Individualisierungs-
tendenzen und dem Sozialstaatsprinzip nimmt zu. Traditionelle Bindungen
und Sozialgefüge wie Familie, Nachbarschaft, Milieu, Verband oder Klasse
verlieren an Bedeutung für die individuelle Biographie. Die Menschen sind
heute durchweg gebildeter, materiell unabhängiger, haben mehr Perspek-
tiven und sind freier von starren Rollenfestlegungen als je in der Geschichte
der Arbeiterbewegung.
Was wir heute als Individualisierung wahrnehmen, ist vielfach das direkte
Resultat sozialen Fortschritts, zum Beispiel die Tatsache, daß soziale Herkunft
und Geschlecht nicht mehr ein für allemal die beruflichen und gesellschaft-
lichen Probleme eines Menschen vorherbestimmen.
Für viele bedeutet der Zuwachs an individueller „Freiheit" jedoch gleich-
zeitig Bedrohung, Vereinzelung und Desorientierung. Der Verlust an sozialer
Einbindung führt zu einem permanenten Entscheidungsdruck:
- Soll Mann/Frau an einer beruflichen Tätigkeit festhalten oder sich fort-
und weiterbilden für einen neuen Beruf;

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- wie lassen sich Beruf und Familie, Karriere und Kinder miteinander ver-
einbaren;
- wie sicher ist mein Arbeitsplatz, wie sicher ist meine Altersversorgung?
Die Menschen haben nicht nur mehr Entscheidungsmöglichkeiten, sie sind
auch verwundbarer und schutzbedürftiger geworden. Hinzukommt, daß die
Menschen heute Risiken gegenüberstehen, die Alpträumen gleichen: Bergen
von Atom- und Chemiewaffen, der Vergiftung von Umwelt und Lebensmit-
teln, der Massenarbeitslosigkeit.
Gegen beides - Individualisierung wie globale Risiken - müssen wir neue
Formen gesellschaftlicher Solidarität entwickeln und ein neues Verständnis
des Sozialstaats.

Sozialstaatsprinzip und neokonservative Herausforderung


Gegenwärtig sind es vor allem die Neokonservativen, die sich die Inter-
pretationsherrschaft über die Individualisierungstendenzen angeeignet und
daraus handfeste Politikmuster entworfen haben. Für Neokonservative sind
Freiheit und Sicherheit Gegensätze. Deshalb fordern sie eine Abkehr von
Sicherheit und Kollektivität zugunsten von Freiheit und Individualität.
Auch die Gewerkschaften sind sich bewußt, daß das Verhältnis von Indivi-
duum und Sozialstaat neu bestimmt werden muß.
Die Anwendung des Sozialstaatsprinzips ist, wie unser gesellschaftliches
Verständnis insgesamt, dem historischen Wandel unterworfen. 1949 mußte
Sozialstaatlichkeit noch primär ansetzen an der Ungleichheit von Lohnabhän-
gigkeit und dem Besitz an Produktionsmitteln. Davon waren auch die
Debatten um das Sozialstaatsprinzip in der Entstehungsphase der Bundes-
republik geprägt.
Die einen, etwa Abendroth, konfrontierten die Klassengesellschaft mit dem
Sozialstaatsprinzip und zogen eine Linie zwischen Umverteilung, Gemein-
wohlbindung des Eigentums und Sozialisierung (Artikel 15 Grundgesetz). Die
anderen, etwa Forsthoff, entzogen sich mehr oder weniger dieser Konfronta-
tion, indem sie das Rechtsstaats- gegen das Sozialstaatsprinzip ausspielten und
den Sozialstaat dabei leerlaufen ließen. Formal betrachtet scheint sich eher
Forsthoff durchgesetzt zu haben. Tatsächlich aber ist auch sozialer Fortschritt
seit 1949 unverkennbar: Die Schritte zur Gleichberechtigung, der Ausbau der
sozialen Sicherung, die Expansion und die finanzielle Absicherung des
Bildungswesens und vieles andere mehr waren Ausdruck der Sozialstaat-
lichkeit - nur eher auf einer individualisierenden als auf einer globalen gesell-
schaftlichen Ebene.
Die einzige Ausnahme bilden die Verbesserungen der Lebens- und Arbeits-
bedingungen, die von den Gewerkschaften erkämpft wurden: die Steigerung
des Wohlstands, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Mitbestimmung,
die Verkürzung der Arbeitszeit, die Absicherung der Teilzeitarbeit.

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Aber auch sie haben die Eigentums- und Machtverhältnisse und die daraus
resultierenden Ungleichheiten in den Start- und Gestaltungschancen nicht
grundlegend verändern können. Schon deshalb nicht, weil das Bundesverfas-
sungsgericht in seinen Entscheidungen zwar die Geltung des Sozialstaatsprin-
zips für den einzelnen bestätigt hat, aber der kollektiven Gestaltung durch die
Gewerkschaften immer wieder Steine in den Weg gelegt und damit die Hand-
lungsmöglichkeiten der Gewerkschaften eingeschränkt hat.
Für die Weiterentwicklung des Rechtsstaats zur sozialen Demokratie
bedeutet dies:
1. Die gesellschaftliche Dimension des Sozialstaatsprinzips muß wieder
stärker in das Zentrum der verfassungsrechtlichen Diskussion und der poli-
tischen Gestaltung gerückt werden. Der Sozialstaat muß einer Restaura-
tion kapitalistischer Strategien entgegenwirken, er muß verhindern, daß
wirtschaftliche Macht politische Macht usurpiert.
2. Zunehmende Individualisierung senkt nicht, sondern erhöht den Bedarf an
sozialstaatlicher Intervention. Wenn traditionelle Netze und Sicherheiten
schwinden, müssen neue geschaffen werden. Eine individualisierte Gesell-
schaft braucht eine breit angelegte soziale Infrastruktur.
Neue Arbeitsbiographien erfordern zusätzliche soziale Sicherungen, aber
auch umfassendere soziale Dienstleistungen: Kinderbetreuung, Bildung,
Kultur und Kommunikation.
Der Sozialstaat muß über monetäre Umverteilung hinaus persönliche
Dienstleistungen anbieten und soziale Freiräume schaffen.
3. Der Sozialstaat muß die globalen Lebensrisiken angehen. Sie erfordern ein
neues Verständnis des „Prinzips der sozialen Verpflichtung". Wenn heute
nach „weniger Staat" gerufen wird, so ist dies Ausdruck eines „nur ökono
mischen" Verständnisses vom Staat, wie es auch dem alten Verständnis
vom Sozialstaat anhing.
Neue Aufgaben des Sozialstaats
Sozialstaat muß heute heißen: Schutz und Gestaltung auf verändertem
gesellschaftlichen Niveau. So lange es grundlegende Ungleichheiten gibt,
bleiben soziale Gerechtigkeit, Sicherheit und Umverteilung unerläßliche
Ziele sozialstaatlichen Handelns. Darüber hinaus aber muß der Staat Be-
dingungen schaffen, die es möglich machen, Vereinzelung, Verarmung und
Ausgrenzung zu überwinden und menschliches Überleben erst zu sichern.
Dies bedeutet zwangsläufig einen Zuwachs staatlicher Funktionen, aber
nicht einfach „mehr Staat", sondern einen anderen Staat. Einen Staat, der
seine Bürger nicht bevormundet oder überwacht, sondern der ihnen mehr
Raum schafft für Selbstbestimmung, kollektive Beteiligung und dezentra-
lisierte Entscheidungen.
Der Sozialstaat muß sensibel auf Ängste vor Kontrolle und Disziplinierung,
vor dem Eindringen des Staates in zivile Freiräume reagieren und Selbstbe-
stimmung, Partizipation und bürgernahe Entscheidungsstrukturen fördern.

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Er muß die Kritik an Bürokratisierung und Verrechtlichung, an mangelnder


Effizienz und Transparenz aufnehmen und zu Reformen bereit sein. Nicht
Abkehr vom Solidarprinzip, sondern eine Neubelebung gesellschaftlicher
Solidarität ist notwendig: Sozialstaatliche Leistungen und öffentliche Dienste
müssen ungleiche Startbedingungen und Lebenschancen ausgleichen, sonst
wird Freiheit zur Freiheit einer Minderheit.
Öffentliche Dienste und Einrichtungen nützen nicht nur den sozial Schwa-
chen, sie schaffen auch erst die Voraussetzung für privatwirtschaftliches Han-
deln. Ohne eine weit ausgebaute öffentliche Infrastruktur - vom Straßenbau
über den öffentlichen Personennahverkehr, von der Energie- und Wasserver-
sorgung bis zu Schulen, Hochschulen und beruflicher Bildung - sind Privatin-
vestitionen und Industrieansiedlungen, ist unternehmerisches Handeln kaum
denkbar. Es ist deshalb absurd, wenn Vertreter der Industrie so tun, als ob ihre
Freiheit ohne sozialstaatliches Handeln möglich wäre.
Gewerkschafter können sich aber nicht auf die Freiheit einiger weniger
beschränken. Sie setzen auf Freiheit für alle. Solidarität und Selbstbestim-
mung, Verantwortung für das Ganze und individuelle Freiheit sind keine
Gegensätze.
a) Eigentum muß in Dienst genommen werden für mehr Lebensqualität
Nach Artikel 14 Grundgesetz verpflichtet Eigentum. Sein Gebrauch soll
zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Angesichts der Massen-Arbeitslosigkeit
bedeutet das, soziale Verantwortung zu mobilisieren statt ausschließlich
Angebotsbedingungen zu verbessern, höhere Einkommen an den Kosten zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stärker zu beteiligen und die Belastungen
nicht ausschließlich auf die Arbeitnehmer abzuwälzen. Wer behauptet, welt-
wirtschaftliche Prozesse machten eine staatliche Beschäftigungspolitik auf
nationaler Ebene unwirksam, flieht vor der verteilungspolitischen Verantwor-
tung des Sozialstaats.
Auch die ökologischen Katastrophen der letzten Zeit erfordern neue Ant-
worten aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Wer Risiken und Schäden,
die sich aus privatwirtschaftlicher Produktion ergeben, wie Umweltver-
schmutzung, Gesundheitsschäden, Arbeitslosigkeit, der Allgemeinheit auf-
bürdet, handelt asozial. Es gilt, das „Prinzip der sozialen Verantwortung"
schon dort geltend zu machen, wo Risiken entstehen.
Die gebotene Beschränkung des Gebrauchs von Eigentum darf nicht nur in
Standards und „Grenzwerten" bestehen. Sie muß Mitbestimmung nicht nur
über das, wie, sondern auch über das, was produziert wird, ermöglichen, und
sie muß verhindern, daß Risiken ausschließlich von der Allgemeinheit
getragen werden müssen.
Produktivität ist nicht nur eine betriebswirtschaftliche Kategorie, sie muß
auch qualitative und gesamtgesellschaftliche Aspekte aufnehmen. Wenn der
stärkere Ausstoß von Gütern durch mehr Berufskrankheiten oder durch die

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Verschmutzung der Umwelt erkauft wird, so bedeutet das im ökonomischen


Sinne zwar mehr Wachstum, aber gleichzeitig ist gesellschaftlicher Schaden
entstanden.
Der Sozialstaat muß diese Form der Nutzung des Privateigentums verhin-
dern und ein Wachstum fördern, das mehr Lebensqualität bringt. Gesell-
schaftlicher Fortschritt stellt sich erst ein, wenn Produktivitätssteigerungen
unter besserer Nutzung vorhandener Ressourcen und größtmöglicher Vermei-
dung von Umweltschäden erreicht werden.

b) Sozialstaatsprinzip erfordert mehr Mitbestimmung


bei öffentlichen Dienstleistungen
Auch im öffentlichen Dienst muß sich die veränderte Funktion des Sozial-
staates niederschlagen. Wachsen müssen nicht in erster Linie seine monetären
Leistungen, gefordert ist Staatstätigkeit künftig vor allem in Gestalt sozialer
und persönlicher Dienstleistungen.
Die demographische Entwicklung und der steigende Anteil älterer Men-
schen führen zu einem steigenden Bedarf an Pflegediensten. Konservative
Kreise versuchen, sich dem wachsenden Problemdruck dadurch zu entziehen,
daß sie die Altenpflege in den Bereich der Subsidiarität und Selbsthilfe ver-
weisen. Doch die Verlagerung der Pflege in die Familie schafft neue Pro-
bleme, weil die Kleinfamilie diese Aufgabe allein nicht leisten kann, weil sie
vor allem Frauen überfordert, denn es fehlen Ausbildung, Anerkennung und
soziale Perspektive für diejenigen, die diese Arbeit leisten.
Es geht nicht darum, alte Menschen in Pflegeheimen zu verwahren, sondern
ihnen so lange wie möglich ihren Lebenszusammenhang zu bewahren und sie
in ihren Aktivitäten zu unterstützen. Dazu bedarf es eines Systems, das die
Kontinuität professioneller Betreuung gewährleistet und diese mit ergän-
zenden Angeboten der Selbst- und Nachbarschaftshilfe verbindet.
Selbsthilfe allein ist kein geeigneter Ersatz für professionelle Dienste.
Gerade in der Altenpflege geht es vor allem um Kontinuität und Verläßlich-
keit. Professionelle Strukturen sind deshalb unerläßlich, wenn Selbsthilfe
nicht zum verbrämten Abbau des Sozialstaats oder zum Druck auf die Arbeits-
bedingungen im professionellen System führen soll.
Andererseits muß der öffentliche Dienst lernen, Selbsthilfe als sinnvolle
Ergänzung zum professionellen System zu begreifen, und dafür entspre-
chende Kooperationsstrukturen aufbauen. Der öffentliche Dienst muß sich in
soziale Reformbewegungen in den Gemeinden einbringen. Die Bürger müssen
die Möglichkeit haben, vor Ort mitzubestimmen, wie das Zusammenspiel von
zentralen und dezentralen Diensten organisiert werden soll, wie Schreibtisch-
arbeit und helfende Hände optimal miteinander kooperieren.
Auch Selbsthilfe bedarf also der Staatstätigkeit, allerdings unter qualitativ
veränderten Bedingungen: Der Staat muß stärker als Mittler auftreten,

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Dienstleistungen anbieten, Selbsthilfeaktivitäten unterstützen, Freiräume f in-


aktive Selbstgestaltung öffnen und absichern.
Veränderte Anforderungen des Sozialstaates an den öffentlichen Dienst
setzen mehr Mitbestimmung der im öffentlichen Dienst Beschäftigten voraus.
Sie geben der Mitbestimmung gleichzeitig eine andere Qualität. Bürgernähe,
Interaktion mit den Klienten, ist kaum denkbar, wenn die Beschäftigten selbst
einer strikten Befehlshierarchie unterworfen sind.
Die Qualität sozialer Dienstleistungen hängt in besonderer Weise von der
Qualität der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ab. Nur wenn Selbstver-
antwortung und Selbstbestimmung für die Beschäftigten in der eigenen
Arbeit erlebbar werden, können sie auch die Selbstbestimmung der Bürger
fördern.

c) Soziale Grundrechte müssen Teilhabe am


gesellschaftlichen Reichtum schaffen
Sozialstaatliche Gestaltung erfordert, daß Beschäftigte in Betrieben oder
Verwaltungen auch von ihren Arbeitgebern als Grundrechtsträger wahrge-
nommen und anerkannt werden. Zu Recht wird heute in der verfassungsrecht-
lichen Diskussion zunehmend das Grundrecht der Berufsfreiheit (Artikel 12
Grundgesetz) als das „Verfassungsrecht der Arbeit" anerkannt. Das heißt
aber, daß Betriebe und Verwaltungen kein rechtsfreier Raum sein dürfen, son-
dern daß Arbeitnehmer auch im Betrieb „Bürger einer Demokratie" sind, daß
sie Grundrechte haben, die denen der Arbeitgeber gleichwertig sind.
Die Grund- und Menschenrechte des Grundgesetzes gewährleisten nicht
mehr nur Abwehrrechte in einer Sphäre privater Selbstentfaltung und pri-
vaten Besitzes. Sie richten sich zugleich auf Teilhabe an gesellschaftlichem
Reichtum und Entscheidungen darüber. Erst dann ist private Selbstentfaltung
materiell möglich. Deshalb fordern die Gewerkschaften die politische Umset-
zung der sozialen Grundrechte aus der Verfassung.
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, materielle Bedingungen
für die Schaffung von Wohnraum herzustellen, die es den Bürgerinnen und
Bürgern ermöglichen, überhaupt eine Wohnung zu besitzen und dadurch -
beispielsweise - das Grund- und Menschenrecht auf Unverletzlichkeit der
Wohnung (Artikel 13 Grundgesetz) tatsächlich wahrzunehmen.
Beim Recht auf Bildung geht es um die Verpflichtung, ein entsprechend den
gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen hinreichend gegliedertes und differen-
ziertes Bildungswesen materiell zur Verfügung zu stellen, um die tatsächliche
Ausübung des Rechts auf freie Wahl der Ausbildungsstätte zu garantieren.
Beim Recht auf Arbeit geht es um die Aufgabe, durch eine Politik der Vollbe-
schäftigung und der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie durch die Garantie
von Lohnersatzleistungen bei vorübergehender unvermeidbarer Arbeitslosig-
keit die materiellen Voraussetzungen zu schaffen, damit das Recht auf freie

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Wahl des Berufs und auf freie Berufsausübung (Artikel 12 Absatz 1 Grund-
gesetz) tatsächlich - wie es die Verfassung bestimmt - für „alle Deutschen"
wirksam werden kann. Sozialstaatliche Interpretation der Berufsfreiheit
bedeutet nicht nur, daß zugunsten der Beschäftigten bestimmte Standards -
wie Höchstarbeitszeiten, Grenzwerte im Arbeitsschutz und so weiter - gelten
müssen. Es bedeutet auch - und dies immer mehr -, daß Beschäftigte in allen
sie betreffenden Fragen zu beteiligen sind.
Beim Recht auf Mitbestimmung, beim Streikrecht und beim Recht auf freie
Tarif verhandlungen und -abschlüsse geht es um nichts anderes als die tatsäch-
liche Geltung grundlegender Menschenrechte in der Arbeitswelt — ange-
fangen von der Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) über das Recht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit und Selbstbestimmung (Artikel 2 Grund-
gesetz), das Recht der freien Meinungsäußerung und der freien Information
(Artikel 5 Grundgesetz) bis hin zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
(Artikel 8 und 9 Grundgesetz) vor allem in der Form des freien Zusammen-
schlusses der Arbeitnehmer zu tarif- und kampffähigen Gewerkschaften.
Nicht zufällig hat das Bundesverfassungsgericht das Mitbestimmungsgesetz
von 1976 unter Hinweis auf die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ausdrücklich
gebilligt. Daraus folgt auch, daß Arbeitnehmer viel stärker beteiligt werden
müssen, wenn es um den Einsatz neuer Techniken geht. Nur Kosmetik, wie
1988 am Betriebsverfassungsgesetz, reicht dazu nicht aus.
Die sozialen Grundrechte symbolisieren, aktualisieren und garantieren auf
verfassungsrechtlicher Ebene die Erkenntnis, daß die Grund- und Menschen-
rechte und die Demokratie um ihres Bestandes willen nicht an der „Armuts-
grenze" oder an den Werkstoren enden dürfen.
Auch wenn das Grundgesetz nur wenige soziale Grundrechte enthält, so ent-
faltet das Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit den Grund- und Menschen-
rechten eine - verfassungsrechtliche - Dynamik, die auf eine umfassende Ver-
wirklichung sozialer Grundrechte zielt.

d) Unterschiedliche Erwerbsbiographien erfordern


Ergänzungen der sozialen Sicherung
Sozialstaatliche Sicherung unter den Bedingungen zunehmender Individua-
lisierung bedeutet, daß der Staat drohender Ausgrenzung und Verarmung ent-
gegentreten muß. Das erfordert einen aktiven Abbau von Diskriminierungen,
vor allem eine aktive Politik der Frauenförderung.
Das Verständnis von Emanzipation hat sich gewandelt. Gleichberechtigung
und Chancengleichheit heißen für Frauen heute nicht mehr, so sein und
arbeiten zu dürfen wie Männer, sondern ihren eigenen Lebensentwurf ver-
folgen zu können. Sie wehren sich gegen die männliche Berufsbiographie als
Maßstab für ihr eigenes Leben. Sie wollen Beruf und Kinder und gesellschaft-
liche Anerkennung für Leistungen der Kinderbetreuung.

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Dem muß auch die soziale Sicherung Rechnung tragen. So gilt es, Lösungen
für diejenigen zu finden, die keine regelmäßige Arbeitsbiographie mit vierzig
oder fünfundvierzig Beschäftigungsjahren und Vollzeitarbeit aufweisen.
Mit einer Abwertung der Erwerbsarbeit ist es dabei nicht getan, solange
Erwerbsarbeit nicht nur das wichtigste Finanzierungsinstrument zur notwen-
digen Aufwertung unbezahlter gesellschaftlicher Arbeit, sondern auch
wesentliches Element zur Selbstverwirklichung ist.
Aber die Altersversorgung wird um Elemente einer bedarfsorientierten
Mindestsicherung ausgebaut werden müssen, um unterschiedliches Erwerbs-
verhalten und unterschiedliche Chancen am Arbeitsmarkt auszugleichen.
Eine Verarmung und Ausgrenzung besonders schutzbedürftiger Gruppen
an den Rand der Gesellschaft, wie sie jetzt durch gesetzliche Veränderungen
der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung geschieht, widerspricht
in eklatanter Weise dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes.

e) Sozialstaat braucht partizipative Gestaltung


Die Chancen für den Ausbau des Sozialstaats und seine arbeitnehmerorien-
tierte Gestaltung in der Zukunft werden wesentlich davon abhängen, ob es
gelingt, den partizipativen Charakter des Sozialstaatsprinzips neu zu beleben
und zu verbreitern.
Die staatliche Rechtsetzungsbefugnis bedarf der ständigen Ergänzung,
indem die kollektive Gestaltung über Tarifverträge ausgeweitet, die Mitbe-
stimmung am Arbeitsplatz ausgedehnt wird. Nur so können sich Arbeit-
nehmer aus ihrer Objektstellung befreien. Nur so ist für jeden Menschen
soziale Selbstbestimmung möglich.
Tarifpolitik ist nicht irgendeine andere Form von Politik, wie sie soziale
Bewegungen außerhalb der Parlamente machen. Die Verfassung schützt die
Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems auch nicht, um den politischen
Parteien den Rücken für ihre parlamentarisch-politische Arbeit freizuhalten.
Vielmehr ist Tarifpolitik eine notwendige Ergänzung der parlamentarisch-
politischen Willensbildung und Entscheidung.
Dem Verfassungsauftrag, den Sozialstaat durch kollektives Handeln auszu-
gestalten, entspricht die Ausprägung der Einheitsgewerkschaften nach 1945.
Aus den bitteren Erfahrungen der Nazi-Barbarei und dem gemeinsamen Lei-
densweg christlicher und sozialistischer Gewerkschafter in den Konzentra-
tionslagern Hitlers ergab sich das gemeinsame Ziel der Einheitsgewerk-
schaften. Eine gemeinsame Organisation sollte die Grundlagen dafür
schaffen, daß alle Arbeitnehmer, unabhängig von religiösen und politischen
Überzeugungen, zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen aller
Arbeitnehmer, zur Bündelung der politischen Interessen der Arbeitnehmer,
für Demokratie und sozialen Fortschritt, für die Gleichberechtigung von
Arbeit und Kapital, für Frieden und Abrüstung zusammenarbeiten.

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Es entspricht dem Selbstverständnis der Einheitsgewerkschaften, daß


Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in die Parteien hineinwirken und
gewerkschaftliche Gedanken und Forderungen in die Parteien hineintragen.
Gerade die Einheitsgewerkschaft kann die politischen Interessen der Arbeit-
nehmer nicht einfach an eine oder an die politischen Parteien oder an den
Staat abtreten, denn die großen Volksparteien müssen nun einmal versuchen,
eine Vielzahl von Interessen in ihre Politik aufzunehmen.
Unverkennbar sind Versuche im konservativen Lager, die autonomen
Handlungsspielräume der Gewerkschaften einzuschränken, sei es durch
restriktive gesetzliche Regelungen, wie zum Beispiel zum Paragraphen 116
Arbeitsförderungsgesetz oder durch immer wieder auflebende Tendenzen zu
einem Verbändegesetz oder zu einer Kodifizierung des Arbeitskampfrechts.
Mit den Sozialdemokraten kämpfen die Gewerkschaften gegen eine ein-
schränkende verfassungsrechtliche Interpretation der Tarifautonomie. Die
Tarifautonomie ist ein prägendes Merkmal zur Ausfüllung des Sozialstaats-
prinzip. Es wäre zu wünschen, daß dies auch in der praktischen Politik der SPD
stärker zum Ausdruck käme,
- indem die SPD der Versuchung widersteht, tarif politische Entscheidungen
in Parteiprogrammen festzulegen;
- indem sie die Gewerkschaften dabei unterstützt, Felder kollektiver Rege-
lungen auch gegenüber gesetzlichen Handlungsmöglichkeiten offensiv aus-
zuweiten.
In diesem Sinne wurde im Frühjahr 1988 eine Chance verpaßt, tarifliche
Gestaltungsspielräume, zum Beispiel zur Schaffung von Arbeitsplätzen, in den
Bereich haushaltsrechthch-parlamentarischer Entscheidungen hinein zu
erweitern. Gefragt ist nicht nur mehr Phantasie in der Entwicklung neuer
Ziele, sondern mehr Übereinstirnmung zwischen programmatischen Forde-
rungen und praktischem Handeln. Das erfordert auch die Bereitschaft, im par-
lamentarischen Bereich Macht zu teilen, um einen Zugewinn an Mitbestim-
mung und gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen.
Mehr soziale Phantasie zu entfalten, bedeutet, die soziale Gestaltung neuer
Technologien, die ökologische Erneuerung der Volkswirtschaft zu einem
gemeinsamen Ziel kollektiver Regelungen und staatlicher Rahmensetzungen
zu entwickeln und Blockaden von Unternehmern und neokonservativen Politi-
kern zu beseitigen.
Mehr soziale Phantasie zu entfalten, bedeutet aber auch, den einzelnen
gegenüber kollektiven Entscheidungen und gesetzlichen Eingriffen abzusi-
chern, seine Möglichkeiten zur Selbstbestimmung auszubauen. Neue Unsi-
cherheiten durch wachsende weltwirtschaftliche Verflechtungen und zuneh-
mende Instabilität auf den internationalen Finanzmärkten verlangen nach
mehr Planungssicherheit für Unternehmen, nach einem Ordnungsrahmen als
Grundlage für ökonomische Produktivität. Fehlentwicklungen einer allzu for-
schen Deregulierungspolitik bedürfen neuer Modelle innovativer Regulie-

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______________________________________________________ 40 Jahre Sozialstaat

rung, die veränderten gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen,


veränderten Wertvorstellungen Rechnung tragen, ohne notwendige soziale
Schutzfunktionen über Bord zu werfen.
Die Nachrangigkeit der Sozialpolitik und der präventiven Gestaltung
sozialer Prozesse gegenüber ökonomischen Entscheidungen muß beseitigt
werden. Nur wenn die kollektiven Systeme funktionsfähig bleiben, ist zu ver-
hindern, daß die Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche, daß wach-
sende Differenzierungen und Ungleichheiten zum Spaltpilz unserer Gesell-
schaft werden.
Nach 40 Jahren Grundgesetz bedarf es nach wie vor des Mutes, für die
sozialen Konsequenzen einzutreten, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip des
Grundgesetzes ergeben, denn, so hat es Carlo Schmid 1949 formuliert: „Demo-
kratie ist nur dort eine lebendige Wirklichkeit, wo man bereit ist, die sozialen
und ökonomischen Konsequenzen aus ihren Postulaten zu ziehen. Dazu
gehört, daß man den Menschen herausnimmt aus der bloßen Objektsituation
- nicht nur im formaljuristischen Bereich, sondern auch und gerade dort, wo
der Schwerpunkt seines Lebens liegt, nämlich im ökonomischen und sozialen
Bereich."

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