Was Ist Wissenschaft
Was Ist Wissenschaft
Was Ist Wissenschaft
Sie planen eine wissenschaftliche Untersuchung? Dann ist es nicht nur hilfreich, sondern
unerlässlich, sich zu Beginn und noch bevor Sie in die Feinplanung Ihres Vorhabens
einsteigen, zunächst einmal ganz grundsätzlich die Frage zu stellen: „Was heißt eigentlich
Wissenschaft?“ Was unterscheidet etwa eine wissenschaftliche Diskussion von einem
alltäglichen Gespräch, warum meint „plausibel“ nicht automatisch das Gleiche wie
„wissenschaftlich gesichert“?. Hat Wissenschaft die Aufgabe, die „Wahrheit“
herauszufinden? Ist wissenschaftliches Arbeiten bedeutungsgleich mit „Experimentieren?“
Der Reihe nach: Im Kern bezeichnet Wissenschaft das Überprüfen von Hypothesen.
Hypothesen sind Vermutungen über die Beschaffenheit der (sozialen oder
physikalischen) Welt, die in begrifflicher Form in der Art eines „Wenn-Dann-Satzes“
gehalten sind (z.B.: „Im Vakuum fallen alle Massen gleich schnell“: Wenn ein Vakuum
gegeben ist und Massen fallen gelassen werden, dann fallen sie gleich schnell, erreichen also
aus gleicher Fallhöhe gleich schnell den Boden ). Die Überprüfung der Hypothese
geschieht auf empirische Weise, also durch eine Beobachtung an der „sinnlich“
wahrnehmbaren Realität. („Sinnlich“ meint nicht nur die einzelnen menschlichen Sinne in
ihrer unmittelbaren Bedeutung, sondern auch deren technische und sozialen Erweiterungen,
wie bereits unter XYZ beschrieben). Entscheidend ist dabei, dass die Überprüfung auch von
unabhängiger Seite vollzogen wird und nicht nur von der Person, welche die Hypothese(n)
aufgestellt hat. Mit anderen Worten impliziert Wissenschaft zwingend eine sog.
„intersubjektive“ (zwischenmenschliche) Vorgehensweise. D.h.: das Nachvollziehen und
Überprüfen von Ergebnissen wird auch durch andere Wissenschaftler angestrebt und
realisiert, die meiner Hypothese ggf. skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen. Erst wenn
diese auf Basis eines präzise zu beschreibenden Vorgehens zum selben Ergebnis gelangen
(oder zumindest zu einem ähnlichen Ergebnis im Rahmen statistischer Schwankungen, wie
sie in den Sozialwissenschaften durchaus üblich sind), kann eine Hypothese als haltbar oder
als gefestigt gelten.
Die intersubjektive Überprüfung bezieht sich dabei sowohl auf die empirischen Fakten selbst
als auch auf die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Diese müssen
nachvollziehbar sein und somit gewissen logischen Regeln der Argumentation und des
Schließens folgen. In obigem aus der Physik entlehnten Beispiel ließe sich den Skeptikern
„meiner“ Hypothese die Fallgesetze betreffend entgegenhalten: „Wenn ihr nicht glaubt, dass
unterschiedliche Massen im Vakuum gleich schnell fallen, untersucht es selber, indem ihr,
völlig unabhängig von mir, ein Vakuum herstellt und bspw. Steine und Federn
unterschiedlicher Masse gleichzeitig aus gleicher Höhe fallen lasst“. Das ist auch der Grund,
weshalb ein Robinson Crusoe (vor dem Eintreffen des „Freitag“) streng genommen keine
Wissenschaft betreiben kann, fehlt es ihm doch an Mitmenschen, die unabhängig von ihm
seine Hypothesen überprüfen könnten. Überprüfen von Hypothesen bedeutet auch, dass diese
Überprüfung nicht nur einmal ein bestimmtes Ergebnis bestätigt (und somit dem Zufall
geschuldet sein kann), sondern beliebig oft. Ein zentrales Gütekriterium für
Wissenschaftlichkeit ist deshalb die Wiederholbarkeit („Reproduzierbarkeit“) von
Forschungsergebnissen.
Wie kommt es aber überhaupt zu solchen Ergebnissen, die dann zwingend auf unabhängig-
intersubjektive und reproduzierbare Weise zu überprüfen sind?
Ausgangspunkt sind, wie gesagt, empirische, also auf Wahrnehmungen gründende
Phänomene. Von bestimmten Prozessen oder Verhaltensweisen schließe ich sodann auf
Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge, die ich zunächst als Behauptung im Sinne einer
Hypothese formuliere. Dieses Verfahren des Schließens von einzelnen Sachverhalten auf
umfassendere Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, also vom Besonderen auf das
Allgemeine, nennt sich „Induktion“. Aus einzelnen Beobachtungen und Fakten wird auf
allgemeine Aussagen geschlossen; auf den einzelnen Fakten gründet mit anderen Worten die
Formulierung von Aussagen über Gesetzmäßigkeiten. Um diese Aussagen (über Ursachen
und ihre Wirkungen) zu überprüfen, bedarf es nun einer Versuchsanordnung, bei der die
Ursache (oder einzelne Ursachen) variiert wird (werden), um deren Einfluss auf bestimmte
Wirkungen zu untersuchen. (In unserem Beispiel können verschiedene Massen und
Gegenstände aus gleicher oder unterschiedlicher Höhe in mehr oder weniger hohem Vakuum
fallen gelassen werden, um präzise zu messen, mit welcher Geschwindigkeit sie dies tun).
Ein solches planmäßiges, methodisches, klar beschreibbares und zielgerichtetes Vorgehen
(d.h. auf einem Regelsystem aufbauend, das der Erlangung von wissenschaftlichen
Erkenntnissen oder praktischen Ergebnissen dient), nennt sich, Sie ahnen es schon:
wissenschaftliches Experiment (von lateinisch „experimentum“: „Versuch, Beweis,
Prüfung, Probe“). Es handelt sich um eine methodisch festgelegte Versuchsanordnung,
durch die Einsichten und Erkenntnisse in Form von Versuchsergebnissen gewonnen werden.
Dabei handelt es sich entweder um neue Erkenntnisse, die dann eingehender zu untersuchen
sind oder aber um bereits bekannte Ergebnisse, die eine Hypothese zu stützen und zu festigen
helfen. Möglicherweise ist das Ergebnis aber auch geeignet, eine Behauptung zu widerlegen
(„falsifizieren“), weil sie etwas anderes oder das Gegenteil dessen liefert, was von einer
Hypothese behauptet wird. Ein Experiment ist von anderen Methoden wissenschaftlicher
Datenerhebung (wie Beobachtung, Befragung, Inhaltsanalyse) durch die besonders
umfassend-systematische Art und Weise charakterisiert, mit der einzelne Variablen (also das,
was im einzelnen konkret beobachtet wird) verändert werden, während andere Faktoren
unverändert bleiben. Einem Experiment haftet deshalb manchmal etwas künstliches an
(„Laborbedingungen“), weil im wirklichen Leben nur selten einzelne Faktoren im Sinne von
Ursachen isolierbar sind, um sie auf ihre Wirkung auf andere Faktoren im Sinne von
Wirkungen hin zu untersuchen. (Prinzipiell kann ein Experiment im Gegensatz zur nicht-
experimentellen Forschung eine aktive systematische Veränderung einer sog. „unabhängigen
Variable“ vornehmen, um deren Wirkung auf die „abhängige Variable“ zu untersuchen.
Zudem kann sie die Wirkung anderer Variablen ausschalten („Kontrolle der Störfaktoren“).
Bspw. kann bei einem Experiment zur Überprüfung der Hypothese „Raucher greifen unter
Stressbedingungen häufiger zur Zigarette“ das jeweilige (künstlich herbeigeführte)
Stressniveau als unabhängige Variable gelten, das daraus resultierende Rauchverhalten als
abhängige Variable.
Natürlich lassen sich solche kontrollierbaren Bedingungen nur selten ganz realisieren,
experimentelle Bedingungen sind deshalb ein Ideal der Wissenschaft, dem oft in
naturwissenschaftlichen Laborbedingungen besonders Nahe gekommen wird. Auch die
Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaft können jedoch wissenschaftlichen Ansprüchen
vollauf genügen, sofern sie sich um argumentative Nachvollziehbarkeit, unabhängige
Überprüfung, Wiederholbarkeit der Ergebnisse und systematisch-planmäßiges
Vorgehen bemühen.
Weitere wichtige Qualitätskriterien der Wissenschaft sind zudem Gültigkeit („Validität“),
Zuverlässigkeit („Reliabilität“) und „Objektivität“. In der empirischen Sozialforschung, in
der Stichproben von Menschen „gezogen“ (untersucht) werden, überdies die
„Repräsentativität“
Die Validität bezeichnet die Gültigkeit eines wissenschaftlichen Versuchs bzw. eines
Messvorgangs. Die Validität gibt dabei den Grad der Genauigkeit an, mit dem ein
Verfahren das misst, was es messen soll. Eine Untersuchung ist also nur dann gültig, wenn
sie genau das Merkmal misst, das sie messen soll – und nichts anderes. Bsp. stellt sich bei
einem Intelligenztest die Frage, ob tatsächlich das Konstrukt Intelligenz gemessen wird oder
vielmehr die Faktoren Übung und Erfahrung im Umgang mit solchen Tests.
Die Reliabilität ist ein Maß für die Genauigkeit und Verlässlichkeit wissenschaftlicher
Untersuchungen, sie beschreibt die Zuverlässigkeit und Genauigkeit eines Messinstruments
oder auch einer Skala, auf der Ergebnisse aufgetragen bzw. abgelesen werden. Ein
wissenschaftliches Untersuchungsverfahren ist nur dann zuverlässig, wenn es genau und exakt
das misst, das es messen soll: im Wiederholungsfall der Messung treten bei sonst gleichen
Bedingungen stets die gleichen Ergebnisse auf. Zuverlässige wissenschaftliche Ergebnisse
sind somit frei von Zufallsfehlern, d.h., dass bei (beliebig häufiger) Wiederholung eines
Experimentes unter den jeweils gleichen Rahmenbedingungen stets das gleiche Messergebnis
erzielt wird. Reliabilität steht m.a.W. für die Wiederholbarkeit der Ergebnisse unter den
gleichen Bedingungen. Bspw. wird die Messung der Geschwindigkeit eines fallenden
Objekts die gleichen Ergebnisse liefern, wenn Masse und Fallhöhe und alle relevanten
Zustandsgrößen (Luftdruck etc.) gleich bleiben. Vorausgesetzt natürlich, dass Messinstrument
funktioniert einwandfrei und wird entsprechend feineingestellt („geeicht“ und „kalibriert“).
Die Objektivität ist die Unabhängigkeit der Beobachtung und Beschreibung eines
Sachverhalts vom Beobachter. Erst wenn unterschiedliche Wissenschaftler zu denselben
Ergebnisses gelangen, ist ein Ergebnis als objektiv zu bewerten. Das Gegenteil ist die rein
subjektive Einschätzung, Vermutung oder Interpretation eines Phänomens.
Repräsentativität schließlich ist ein Maß dafür, inwiefern eine systematische Auswahl,
also eine „Stichprobe“ (an Menschen oder Untersuchungsgegenständen) hinsichtlich
eines bestimmten Merkmalskriteriums die Gesamtheit der Untersuchungssubjekte bzw.
–objekte wiederspiegelt. (Untersuche ich die politischen Einstellungsmuster der gesamten
Bevölkerung eines Landes, ist eine Stichprobe, die sich nur auf Großstadtbewohner bezieht,
nicht repräsentativ).
Nachdem nunmehr geklärt ist, was Wissenschaft als eine solche kennzeichnet, lässt sich
abschließend auch noch die Frage beantworten, was das Gegenteil von Wissenschaft
ausmacht: Der Verzicht auf klar definierte Begriffe und auf exakt formulierte, überprüfbare
Hypothesen („Gott schuf die Welt in sieben Tagen“ ist eine solche völlig unexakte
Formulierung); die Unmöglichkeit einer Wiederholung von Ergebnissen (wie im Falle einer
„UFO-Sichtung“ oder eines erlebten „Wunders“); der Verzicht oder die Unmöglichkeit
einer unabhängigen Überprüfung eines Phänomens auf Basis eines bestimmten
Überprüfungsverfahrens („Wunderheilungen“); die selektive Wahrnehmung von
empirischen Fakten und darauf gründende Fehlschlüsse (wie sie etwa für
Verschwörungstheorien typisch sind) oder auch falsche Voraussetzungen und Prämissen
(wie im Falle der Astrologie), bis hin zu Autosuggestionen und psychischen Fehlleistungen
(etwa Geistersichtungen) – von Hochstapeleien ganz zu schweigen (Hellseher, Wunderheiler,
selbst ernannte Medien und Telepathen, esoterischen Tinkturen usw.). Der Aber- und
Irrglaube in all seinen Manifestationen als Feind der Wissenschaft scheint sich jedenfalls auch
im 21. Jahrhundert nicht auf dem Rückzug zu befinden.