Kohns Die Verruecktheit Des Sinns

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Oliver Kohns

Die Verrcktheit des Sinns

Literalitt und Liminalitt


hrsg. v. Achim Geisenhanslke und Georg Mein | Band 5
Oliver Kohns (Dr. phil.) unterrichtet zurzeit an der Universitt Re-
gensburg im Fach Germanistik. Seine Forschungsschwerpunkte sind
die Literatur und Philosophie der europischen Romantik, Literatur-
theorie (besonders Poststrukturalismus) sowie Medientheorie (be-
sonders die Philosophie der Stimme).
Oliver Kohns
Die Verrcktheit des Sinns.
Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann
und Thomas Carlyle
Die vorliegende Arbeit ist 2006 von der
Johann-Wolfgang Goethe-Universitt in Frankfurt am Main
als Dissertation angenommen worden.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet ber
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2007 transcript Verlag, Bielefeld

This work is licensed under a Creative Commons


Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Umschlaggestaltung: Kordula Rckenhaus, Bielefeld


Lektorat & Satz: Oliver Kohns
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 978-3-89942-738-7

Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier mit chlorfrei


gebleichtem Zellstoff.

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INHALT

I. Einleitung
7

II. Velut Aegri Somnia (Kant)


27
II. 1 Wahnsinn die unheilbare Unordnung
27
II. 2 Zeichen und Zeit (Kant, Rousseau)
30
II. 3 Gesellschaft und Wahnsinn
56
II. 4 Der Wahnsinn der Vernunft (Kant, Shaftesbury)
101
II. 5 Velut aegri somnia:
Der Wahnsinn der Sprache (Kant, Swedenborg)
122

III. Zwischen Enthusiasmus und Mesmerismus:


Literatur, der andere Wahnsinn (E.T.A. Hoffmann)
151
III. 1 Wahnsinn und Ironie (Friedrich Schlegel)
151
III. 2 Die Ironie wahnsinniger Kunst
(Der Einsiedler Serapion)
170
III. 3 Das fremde Gesicht im Spiegel (Das de Haus)
195
III. 4 Mechanisierte Trume (Die Automate)
227
III. 5 Die doppelte Supposition (Doge und Dogaresse)
252
IV. This Dreaming, this Somnabulism (Carlyle)
269
IV. 1 Humor und Wahnsinn (Jean Paul)
269
IV. 2 Die drei Bcher in Sartor Resartus
276
IV. 3 Symbole
293
IV. 4 bersetzung und Wahnsinn
309

V. Die Verrcktheit des Sinns. Nachwort


315

VI. Literatur
337
I. E I N L E I T U N G

Wenn wir im Leben vom Tode umgeben sind,


so auch in der Gesundheit des Verstands vom
Wahnsinn.
(Ludwig Wittgenstein: Vermischte
Bemerkungen)

Wahn, Wahn, berall Wahn!


(Richard Wagner: Die Meistersinger von
Nrnberg)

Zu Recht erwartet man von einer Abhandlung die Klrung und Defini-
tion ihrer wichtigen Begriffe. Dennoch wird dieses Buch jeden Leser ent-
tuschen mssen, der eine psychologische Definition des Wahnsinns vor-
zufinden erwartet.
Auch dem klinischen Diskurs der Psychopathologie ist freilich bis
heute nicht gelungen, den Begriff des Wahnsinns oder auch nur den (en-
geren) Begriff des Wahns zu definieren. Das Urteil aus dem Jahr 1967
scheint bis heute gltig zu sein: Die Frage, was Wahn berhaupt sei, ist
bisher ungeklrt geblieben. Die Beschftigung mit den Ergebnissen der
Wahnforschung [...] gibt auch fr die Zukunft wenig Hoffnung auf eine
befriedigende Antwort.1 Dieser Umstand resultiert keinesfalls aus einem
empirischen Versagen der Psychologie, sondern spricht im Gegenteil
eher fr die intellektuelle Redlichkeit der Disziplin.
Eine psychologische Definition des Wahnsinns, das kann nicht zu-
letzt aus den wichtigen Arbeiten Michel Foucaults gelernt werden, ist a
priori unmglich. Wie Foucault herausgearbeitet hat, besitzt Wahnsinn
eine ausschlielich diskursive Existenz. Der Wahnsinn ist, so schreibt
Foucault, nicht eine psychologische Tatsache, sondern etwas, das von der

1 W. Janzanic: Der Wahn in strukturdynamischer Sicht. In: Studium Genera-


le 20 (1967), S. 628-638, hier: S. 628.

7
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Vernunft durch einen Akt der Abgrenzung und Ausgrenzung konstituiert


wird. Seine Geschichte des Wahnsinns ist entsprechend eine Geschich-
te der Grenzen:

Man knnte die Geschichte der Grenzen schreiben [...], mit denen eine Kultur
etwas zurckweist, was fr sie auerhalb liegt [...]. Eine Kultur ber ihre
Grenzerfahrungen zu befragen, heit, sie an den Grenzen der Geschichte ber
eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen.2

Jede Definition des Wahnsinns sagt demzufolge mehr ber den Defi-
nierenden als ber das Definierte aus. Keine adquate Beschreibung des
Wahnsinns kann, mit anderen Worten, ohne Bercksichtigung des Stand-
punktes des Beobachters erfolgen.
Wenn Wahnsinn dasjenige ist, das die Vernunft von sich abgrenzt
und ausgrenzt, dann ist der Wahnsinnige immer der Andere. Foucault be-
schreibt diese Alterisierung des Wahnsinnigen in erster Linie als eine Al-
terisierung der Sprache. Die Sprache der Vernunft grenzt bestimmte
Sprachformen von sich aus und definiert sich selbst durch diese Aus-
schlsse. Die Herstellung des Wahnsinns geschieht demnach durch
Sprachverbote. Wahnsinn, schreibt Foucault,

ist die ausgeschlossene Sprache , die Sprache, die gegen den Code der Spra-
che Reden ohne Bedeutung ausstt (die von Sinnen sind, die Dummkpfe,
die Schwachsinnigen), oder die Sprache, die als heilig verehrte Reden aus-
spricht (die Gewaltttigen, die Rasenden), oder die Sprache, die untersagte
Bedeutungen durchrutschen lsst (die Libertins, die Starrkpfigen).3

Wahnsinn ist fr Foucault eine Form der Sprache: eine ausgesperrte und
ausgeschlossene Sprache. Die Sprache der Vernunft konstituiert sich, in-
dem sie andere Sprachen aus dem Bereich der Sprache ausschliet und in
die Sphre des Stammelns und Schweigens verweist.4 Seit seiner ur-

2 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns


im Zeitalter der Vernunft [1961]. bers. von Ulrich Kppen. 12. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 39), S. 9.
3 Michel Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes [1964]. In:
ders.: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Daniel Defert und Franois Ewald.
bers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 1675), S. 175-185, hier: S. 181.
4 Diese These bestimmt im brigen bis heute den Diskurs der Psychiatriege-
schichte. Vgl. Roy Porter: Madness and Creativity: Communication and
Excommunication. In: Madness and Creativity in Literature and Culture.

8
I. EINLEITUNG

sprnglichen Formulierung, schreibt Foucault, legt die historische Zeit


ein Schweigen auf etwas, das wir in der Folge nur noch in den Begriffen
der Leere, der Nichtigkeit, des Nichts erfassen knnen. Die Geschichte
ist nur auf dem Hintergrund einer geschichtlichen Abwesenheit inmitten
des groen Raumes voller Gemurmel mglich, den das Schweigen beob-
achtet, als sei er seine Berufung und seine Wahrheit.5 Die Sprache des
Wahnsinns wiederzuentdecken, obgleich diese zu einem vollstndigen
Schweigen verurteilt wurde hierin liegt das ehrgeizige Unternehmen
Foucaults.

In der Tat kndigt Foucault an, nicht die Geschichte der Psychiatrie,
sondern die des Wahnsinns selbst in seinen Aufwallungen vor jedem Er-
fatwerden durch die Gelehrsamkeit6 schreiben zu wollen. Foucault
postuliert: Die Flle der Geschichte ist nur in dem leeren und zugleich
bevlkerten Raum all jener Wrter ohne Sprache mglich, die einen
tauben Lrm denjenigen hren lassen, der sein Ohr leiht, einen tauben
Lrm von unterhalb der Geschichte, das obstinate Gemurmel einer Spra-
che, die von allein spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Ge-
sprchspartner, auf sich selbst gehuft, in der Gurgel geballt, und die
noch zusammenbricht, bevor jegliche Formulierung erreicht ist.7
Vor allem Jacques Derridas Kommentar zu Foucaults Folie et Drai-
son hat die Aussichtslosigkeit jedes Versuchs aufgezeigt, eine Sprache
des Schweigens oder eine Sprache der Wrter ohne Sprache wieder-
zuentdecken. Ein bedeutendes Argument Derridas gegen Foucaults Kon-
zeption weist darauf hin, dass das gesamte begriffliche und kategorische
Instrumentarium Foucaults die Geschichte, der Begriff des Begriffs
selbst, kurz: die gesamte Sprache weiterhin eben der Vernunft ver-
pflichtet bleiben, von der Foucault sich entfernt zu haben glaubt. Es ge-
ngt vielleicht nicht, schreibt Derrida,

sich des begrifflichen Materials der Psychiatrie zu berauben, um seine eigene


Sprache zu entschuldigen. Unsere ganze europische Sprache, die Sprache all
dessen, was an dem Abenteuer der abendlndischen Vernunft von nah oder fern
teilgenommen hat, ist die immense Delegierung eines Plans, den Foucault in

Hrsg. von Corinne Saunders and Jane Macnaughton. Basingstoke, New


York: Palgrave Macmillan 2005, S. 19-34.
5 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 11.
6 Ebd., S. 13.
7 Ebd., S. 12.

9
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

der Gestalt der Erfassung oder der Objektivierung des Wahnsinns definiert.
Nichts in dieser Sprache und niemand unter denen die sie sprechen, kann der
historischen Schuld entgehen [...], der Foucault den Proze machen zu wollen
scheint.8

Derridas Kommentar zu Foucaults Buch hat seinerseits bereits zu viele


ausfhrliche Kommentare gefunden, als dass es ntig wre, Derridas Kri-
tik hier noch einmal in aller Ausfhrlichkeit darzustellen.9 In aller Krze
muss jedoch auf Derridas Lektre des kartesianischen Cogito eingegan-
gen werden, weil sie auf eine recht subtile Art und Weise, geradezu en
passant eine These ber den Zusammenhang zwischen (philosophi-
scher) Sprache und Wahnsinn entfaltet.
Zu Beginn des zweiten Kapitels seiner Geschichte des Wahnsinns
geht Foucault in einer vielzitierten Passage auf den Ausschluss ein,
den Descartes mit dem Wahnsinn vollzieht. Das zweifelnde Subjekt
kann, so Foucaults Lektre, fr Descartes per se nicht wahnsinnig sein.
Der Weg des Zweifels bei Descartes, schreibt Foucault,

scheint zu bezeugen, da im siebzehnten Jahrhundert die Gefahr gebannt ist


und der Wahnsinn auerhalb des Gebietes gestellt ist, in dem der Wahnsinn
sein Recht auf Freiheit besitzt. Es handelt sich um jenes Zugehrigkeitsgebiet,
das fr das klassische Denken die Vernunft selbst ist. Der Wahnsinn befindet

8 Jacques Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns [1964]. In:
ders.: Die Schrift und die Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 177), S. 53-101, hier: S. 60. Die deutsche bersetzung dieses Tex-
tes wurde verglichen mit der Originalfassung (und an einer Stelle korri-
giert): vgl. Jacques Derrida: Cogito et histoire de la folie. In: ders.: Lcri-
ture et la diffrence. Paris: Seuil 1967, S. 51-97.
9 Vgl. Shoshana Felman: Writing and Madness (Literature, Philosophy,
Psychoanalysis). bers. von Martha Noel Evans und Shoshana Felman.
Ithaca, NY.: Cornell University Press 1987; S. 35-55; Roy Boyne: Foucault
and Derrida. The other Side of Reason. London, New York: Routledge
1994, S. 53-89; Wolfgang Schffner: Wahnsinn und Literatur. Zur Ge-
schichte eines Dispositivs bei Michel Foucault. In: Poststrukturalismus.
Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neu-
mann. Stuttgart, Weimar: Metzler 1997 (Germanistische Symposien-Be-
richtsbnde. 18), S. 59-77, hier: S. 76f.; Peter Fenves: Derrida and History:
Some Questions Derrida pursues in his Early Writings. In: Jacques Derrida
and the Humanities. A Critical Reader. Hrsg. von Tom Cohen. Cambridge:
Cambridge University Press 2001, S. 271-295, hier: S. 273-280; Pier Aldo
Rovatti: Der Wahnsinn in wenigen Worten. bers. von Ren Scheu und
Andreas Fagetti. Wien: Turia + Kant 2004, S. 17-35.

10
I. EINLEITUNG

sich knftig im Exil. Wenn der Mensch immer wahnsinnig sein kann, so kann
das Denken als Ausbung der Souvernitt eines Subjekts, das sich die Ver-
pflichtung auferlegt, das Wahre wahrzunehmen, nicht wahnsinnig sein.10

Derridas Lektre der Meditationen Descartes geht demgegenber davon


aus, dass Descartes die Mglichkeit des Wahnsinns fr das Denken zu
keiner Zeit seiner Argumentation ausschliet. Die Pointe des kartesiani-
schen Cogito liegt fr Derrida vielmehr gerade darin, dass sie eine Ge-
wissheit bietet, die sogar dann noch gltig ist, wenn das Ich wahnsinnig
ist. So schreibt Derrida:

Der Akt des Cogito und die Gewiheit, zu existieren, entgehen zum ersten
Mal dem Wahnsinn. Aber abgesehen davon, da es sich dabei zum ersten Mal
nicht mehr um eine objektive und reprsentative Erkenntnis handelt, kann
man nicht mehr buchstabengetreu sagen, da das Cogito dem Wahnsinn ent-
geht, weil es sich seinem Griff entzieht, oder weil, wie Foucault sagt, ich als
Denkender nicht irre sein kann (S. 69), sondern weil in seinem Augenblick, in
seiner eigenen Instanz der Akt des Cogito sogar gilt, wenn ich wahnsinnig bin,
sogar wenn mein Denken durch und durch wahnsinnig ist [mme si ma pense
est folle de part en part].11

Der Wahnsinn wird nicht ausgeschlossen, sondern eher eingeschlossen:


Die Gewissheit des Cogito schliet die Mglichkeit des Wahnsinns je-
derzeit ein. Die vollkommene Evidenz, die absolute Sicherheit eines ob-
jektiven Wissens, stellt sich fr Descartes schlielich, so hebt Derrida
hervor, nicht durch den Satz des Cogito ein, sondern durch die Vorstel-
lung der Existenz Gottes: Einleuchtenderes, Gewisseres kann vom Men-
schengeist nicht erkannt werden.12 Gott aber, betont Derrida, ist nichts
anderes als der andere Name fr das Absolute der Vernunft selbst [lau-
tre nom de labsolu de la raison elle-mme], der Vernunft und des Sinns
im allgemeinen.13 Der begrenzten Gewissheit des Cogito, die die Mg-
lichkeit der jederzeitigen Tuschung und des Wahnsinns keineswegs aus-
schlieen kann, steht damit allein die Gewissheit der Vernunft Gottes,
des logos selbst, entgegen. Nur Gott kann Descartes vor dem Wahnsinn
schtzen, aber indem er Gott zu Hilfe zieht, indem er aus Gott einen
Dritten oder eine endliche Macht macht, verwandelt er die unendliche

10 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 70.


11 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 89.
12 Ren Descartes: Meditationes de prima philosophia. Meditationen ber die
Grundlagen der Philosophie [1641]. Hrsg. von Lder Gbe. 2. Aufl. Ham-
burg: Meiner 1977, S. 97.
13 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 94
(Funote 30).

11
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Kraft Gottes in einen endlichen Schutz in der Welt.14 Diese Verwand-


lung ist aber nur im Rahmen einer konomischen List im Rahmen ei-
nes diskursiven Tauschs und einer diskursiven Tuschung, kurz: im Rah-
men einer spezifischen Rhetorik mglich: Aber diese konomischen
Listen [ces ruses conomiques] sind wie jede List nur fr endliche Worte
und Absichten [pour des paroles et des intentions finies] mglich, wobei
ein Endliches an die Stelle eines Anderen tritt.15
Whrend Foucault der Philosophie seit Descartes vorwirft, den
Wahnsinn aus sich ausgegrenzt zu haben und damit die Bedingung der
Mglichkeit der Internierung der Wahnsinnigen in den Heilanstalten der
Moderne geliefert zu haben, vollzieht die Philosophie fr Derrida gerade
bei Descartes einen Einschluss des Wahnsinns: auch und gerade der Phi-
losoph muss sich seines jederzeitigen Wahnsinns gewiss sein. Die Philo-
sophie kann jederzeit nur, wie Shoshana Felman schreibt, ihren eigenen
Wahnsinn bezeugen: any Philosophy of Madness can only bear witness
to the Reason of Philosophy, philosophical reason itself, however, is but
the economy of its own madness. The impossible philosophy of madness
becomes, in Derridas reading, the inverted and irrefutable sign of the
constitutive madness of philosophy.16
Ausdrcklich wird diese Aussage in Derridas Text eher am Rande, in
einer scheinbar beilufigen Bemerkung. Nachdem er Foucault vorgewor-
fen hat, dass er von einem ungeklrten Vorverstndnis des Begriffs
Wahnsinn ausgeht,17 beschreibt er in der scheinbar beilufigen Ein-
klammerung einer Parenthese seine eigene Bestimmung dessen, was er
Wahnsinn nennt. Derrida schreibt:

Wenn nmlich das Cogito sogar fr den Irren Gltigkeit hat, bedeutet wahn-
sinnig zu sein wenn, noch einmal, dieser Ausdruck einen eindeutigen philoso-
phischen Sinn hat, was ich nicht glaube: er besagt lediglich das Andere jeder
determinierten Form des Logos [elle dit simplement lautre de chaque forme
dtermine du logos] , nicht das Cogito reflektieren und aussagen zu knnen,
das heit, es als solches fr einen anderen erscheinen zu lassen; einen anderen,
der ich selber sein kann.18

Das Andere jeder determinierten Form des Logos: damit bestimmt


Derrida den Wahnsinn als ein Element des philosophischen Denkens
selbst. Der Wahnsinn ist dann nicht mehr das Andere der Vernunft (wie

14 Ebd.
15 Ebd.
16 Felman: Writing and Madness (wie Anm. 9), S. 46.
17 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 69.
18 Ebd., S. 95 (Hervorhebung von mir, O.K.).

12
I. EINLEITUNG

fr Foucault), sondern nurmehr das Andere einer determinierten Form


des Logos. Dieses Andere ist damit nicht mehr einfach etwas auerhalb
der Vernunft, sondern vielmehr eine andere determinierte Form des
Logos. Eine Form des Logos bestimmt andere Formen des Logos als
Wahnsinn, aber dieser Angriff auf die andere Form geschieht, indem sie
sich auf eine nicht determinierte Vernunft, die Vernunft im allgemeinen
beruft. So schreibt Derrida:

Da die unberwindbare, unersetzbare, beherrschende Gre der Ordnung der


Vernunft nicht [...] eine determinierte historische Struktur unter anderen mgli-
chen Strukturen ist, liegt daran, da man gegen sie sich nur verwahren kann, in-
dem man sie anruft, da man gegen sie nur in ihr protestieren kann [...]. Das
luft darauf hinaus, eine historische Determinierung der Vernunft vor dem Tri-
bunal der Vernunft im allgemeinen erscheinen zu lassen.19

Eine ganze (Philosophie der) Geschichte der Philosophie ist in Derridas


Ausfhrungen angelegt. Das Unternehmen Descartes, in der unendli-
chen Vernunft also bei Gott Zuflucht vor dem Wahnsinn zu suchen,
eine Allianz mit der Vernunft im allgemeinen zu suchen, erscheint als
Zielpunkt der Philosophie berhaupt. Derrida schreibt:

Wenn die Philosophie stattgehabt hat was man immer bestreiten kann ,
dann nur in dem Mae, in dem sie das Ziel entworfen hat, jenseits des endli-
chen Schutzes zu denken. Indem man die historische Konstituierung dieser end-
lichen Schutzvorrichtungen in der Bewegung der Individuen, der Gesellschaf-
ten und aller endlichen Totalitten im allgemeinen beschreibt, kann man letzt-
lich alles beschreiben [...], ausgenommen das philosophische Vorhaben
selbst.20

Wenn es also ein Unternehmen der Philosophie gibt Derrida hlt die
Mglichkeit und Gegebenheit dieses Unternehmens stets offen , dann
besteht sein Kern darin, die endliche Vernunft des Individuellen und Ge-
sellschaftlichen transzendieren zu wollen, um sich die unendliche Ver-
nunft anzueignen. Wie der wahnsinnige Weltschpfer in Klingemanns
Nachtwachen von Bonaventura, der dem Erzhler Kreuzgang zufolge
eben so gut sein konsequentes System wie Fichte21 besitzt; wie also
das System Fichtes nichts geringeres als die Gottgleichheit des Philoso-
phen behauptet, so besteht der Wahnsinn der Philosophie darin, eine ab-

19 Ebd., S. 61.
20 Ebd., S. 94 (Funote 30).
21 August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura [1805]. Frankfurt am
Main: Insel 1974, S. 116.

13
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

solute und nicht-menschliche Vernunft vorzugeben. Dem in dieser Per-


spektive bescheidenen Cogito Ich denke, also bin ich steht dann ein
aberwitziger, aber gleichfalls fr die Philosophie konstitutiver Sprechakt
Ich denke, ich bin Gott gegenber.
Jedes Denken, das sich als Denken des Unendlichen ausgibt, also
letztendlich jedes philosophische Denken, muss somit Lge, Gewalt
oder Mystifikation22 sein, denn es impliziert die fiktive Verweltlichung
(und Verendlichung) der gttlichen Perspektive: Insgesamt wute Des-
cartes, da das endliche Denken ohne Gott nie das Recht hatte, den
Wahnsinn auszuschlieen.23 Wenn ein Endliches an die Stelle eines
anderen tritt,24 um die Position eines Unendlichen vorzugeben, dann
kann dies als Irrtum, Mystifikation oder Wahnsinn entlarvt werden. So-
lange aber, wie Derrida zu Beginn seines Aufsatzes hervorhebt, jede hi-
storische Determinierung der Vernunft nur vor dem Tribunal der Ver-
nunft im allgemeinen25 angeklagt werden kann, solange also jede Kritik
der endlichen Vernunft nur im Namen einer wiederum sich selbst als ab-
solut setzenden Vernunft geschehen kann, wird nur eine Mystifikation
durch eine andere ersetzt. Es ergibt sich eine dynamische Struktur, die
Derrida als die Geschichtlichkeit der Philosophie ausweist:

Die der Philosophie eigene Geschichtlichkeit [Lhistoricit propre de la philo-


sophie] hat ihren Ort und konstituiert sich in diesem bergang [dans ce passa-
ge], diesem Dialog zwischen der Hyperbel und der endlichen Struktur, zwi-
schen dem Ausbruch aus der Totalitt und der geschlossenen Totalitt, im Un-
terschied zwischen der Geschichte und der Geschichtlichkeit; das heit, an der
Stelle oder vielmehr in dem Augenblick, wo das Cogito und alles, was es hier
symbolisiert (Wahnsinn, Malosigkeit, Hyperbel usw...) gesagt werden, sich
vergewissern und verfallen, notwendig vergessen werden bis zu ihrer Reakti-
vierung, ihrem Erwachen in einem anderen Sagen des Exzesses, der wiederum
spter ein anderer Verfall und eine andere Krise sein wird.26

22 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 94
(Funote 30).
23 Ebd.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 61.
26 Ebd., S. 98. Diese Aussage wird in jeder Hinsicht gesttzt, wenn man die
Argumente Derridas selbst als Verdunklung und Obskuritt, als Blindheit
und Verblendung und also letztendlich als unvernnftig charakterisiert.
Vgl. Gary Steiner: This Project is mad: Descartes, Derrida, and the no-
tion of philosophical crisis. In: Man and World. An international Philoso-
phical Review 30 (1997), S. 179-198, hier: S. 182, ber Derridas Bestim-
mung des Wahnsinns: Taken together, these claims [] demand that we
resign ourselves entirely to the realm of obscurity and confusion that the

14
I. EINLEITUNG

Die Geschichtlichkeit der Philosophie, begrndet durch eine dynamische


Struktur der wechselseitigen und eigenen Aufdeckung des Wahnsinns
des Denkens selbst: hierin liegt die Sprengkraft des Derridaschen Textes,
die weit ber eine Kritik an dem Buch Foucaults hinausreicht.

Wenn das kartesianische Cogito in Derridas Interpretation nicht ber die


Kraft verfgt, den Wahnsinn auszuschlieen, dann erklrt sich diese
Kraftlosigkeit aus der Struktur des Sinns: Weil das Cogito auch dann
sinnhaft ist, wenn es von einem durch und durch wahnsinnigen Ich aus-
gesprochen wird, behlt es auch in diesem Fall seine Gltigkeit. Das Co-
gito gilt, so schreibt Derrida, gar fr den Allerwahnsinnigsten.27 Es
gilt, wie Geoffrey Bennington ergnzt, selbst dann, wenn ich tot oder
eine Maschine bin.28
Es handelt sich hier also nicht um eine psychologische oder empiri-
sche Problematik, sondern um eine Folge aus der apriorischen Struktur
der Sprache und des Sinns. Dass das Cogito auch fr den Allerwahnsin-
nigsten Gltigkeit besitzt, folgt daraus, dass es sich hierbei um nichts
anderes als um einen Sprechakt, eine rein sprachliche Handlung handelt.
Derrida weist in seiner Kritik an Foucault mit einigem Recht auf die
Komplizitt der Sprache mit der Vernunft im allgemeinen hin. Zu An-
fang des Textes, wiederum in einer Funote, zitiert Derrida eine Formu-
lierung Foucaults, der von der Sprache selbst der Vernunft spricht, und
kommentiert: Die Sprache selbst der Vernunft ... aber welche Sprache
gehrt nicht zur Vernunft im allgemeinen?29 Die Sprache ist per se und
von Anfang an zur Vernunft gehrig, insofern ihre Struktur diejenige des
Sinns ist. In einem Kommentar zu Foucaults Bestimmung des Wahnsinns

philosophical tradition has sought to transcend through the appeal to rea-


son. Wenn Steiner jedoch zu dem Schlu kommt, Derrida sei wholly
committed to a kind of anti-rationalism that sees all philosophy as a despe-
rate attempt to escape time and contingency (ebd., S. 193), dann unterluft
ihm genau die entdifferenzierende Ungenauigkeit und Beliebigkeit, die er
Derrida mit einer Habermasschen Geste vorwirft.
27 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 93.
28 Geoffrey Bennington: Derridabase. In: Geoffrey Bennington und Jacques
Derrida: Jacques Derrida. Ein Portrt. bers. von Stefan Lorenzer. Frank-
furt am Main: Suhrkamp 1994, S. 11-323, hier: S. 122.
29 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 56f.
(Funote 4).

15
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

als Abwesenheit eines Werks30 geht Derrida ausfhrlicher auf diese


Verstrickung der Sprache mit der Vernunft ein. Foucault behauptet,
Wahnsinn sei die Abwesenheit eines Werks und versteht darunter eine
Sprache, die sich nicht auf die Struktur des Sinns festlegen lsst, weil sie
den Sinn zurck- und in der Schwebe hlt und eine Leere einrichtet, in
der allein die noch nicht vollzogene Mglichkeit so zur Vorlage kommt,
da irgendein Sinn sich darin niederlsst, oder irgendein anderer, oder
gar noch ein dritter, und dies vielleicht in unendlicher Folge.31 Die
Sprache des Wahnsinns, die Sprache ohne Werk ist deshalb fr Foucault
eine Sprache, die im strengen Sinne, nichts sagt.32
Aber wie kann es eine Sprache geben, die nichts sagt? Gegen Fou-
caults Annahme, die Sprache des Wahnsinns knne ohne Werk sein und
der Struktur des Sinns und also: der Vernunft entgehen, beharrt Der-
rida auf der Allianz der Sprache mit dem Sinn, dem Logos und also der
Vernunft selbst. Derrida schreibt:

Nun beginnt das Werk mit dem elementarsten Diskurs, mit der ersten Artiku-
lation eines Sinnes, mit dem Satz, mit dem ersten syntaktischen Stck eines als
solches, weil einen Satz zu bilden einen mglichen Sinn zu manifestie-
ren heit. Der Satz ist seinem Wesen nach normal. Er trgt die Normalitt in
sich, das heit den Sinn, in jedem Sinne dieses Wortes, dem Descartes insbe-
sondere. Er trgt die Normalitt und den Sinn in sich, wie der Zustand, die Ge-
sundheit oder der Wahnsinn desjenigen im brigen auch sein mgen, der ihn
ausspricht oder durch den und ber den er luft, in dem er artikuliert wird. In
seiner rmsten Syntax ist der Logos die Vernunft, und zwar eine bereits histori-
sche Vernunft.33

Es fllt nicht schwer, in diesen Stzen Derridas ein Echo der Sprachkritik
Nietzsches zu vernehmen. Derridas Aussage, bereits die syntaktische
Struktur des Satzes binde die Sprache notwendigerweise an die Mglich-
keit des Sinns und also an die Vernunft, scheint direkt auf eine Bemer-
kung Nietzsches aus der Gtzen-Dmmerung zu antworten: Die Ver-
nunft in der Sprache: oh was fr eine alte betrgerische Weibsperson!
Ich frchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik

30 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 11.


31 Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes (wie Anm. 3), S. 182.
Vgl. zu Foucaults Formel der Abwesenheit eines Werks und ihrer philo-
sophischen Vorgeschichte von Hegel bis Blanchot ausfhrlicher Andreas
Gelhard: Unvernunft, Un-wahrheit, Unzeit: Foucault, Blanchot und die Ge-
schichte des Wahnsinns. In: Internationale Zeitschrift fr Philosophie
(2000), H. 1, S. 48-62.
32 Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes (wie Anm. 3), S. 182.
33 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 87.

16
I. EINLEITUNG

glauben...34 Im Gegensatz zu Nietzsche (und Foucault) sucht Derrida je-


doch nicht nach einer Mglichkeit, eine neue Sprache zu finden, die nicht
die Sprache der Vernunft wre. Ihm geht es vielmehr darum, die Logik
(die konomie, wie Derrida sagen wrde) zu beschreiben, mit der die
Vernunft durch die Sprache konstituiert und dekonstituiert wird.
Der Logos ist also die Vernunft, und zwar eine bereits historische
Vernunft. Die Sprache ist die Vernunft selbst, aber wenn das Dogma
der kartesianischen Vernunft fr jeden Sprechenden und sei es fr den
Allerwahnsinnigsten gltig ist, dann muss es umgekehrt auch heien:
Die (endliche) Vernunft ist (nur) Sprache, sie ist nicht mehr als eine
Struktur der Syntax und des Sinns. Der Satz ist seinem Wesen nach nor-
mal, aber diese Normalitt trgt alle Zeichen eines vollkommenen Wahn-
sinns an sich. In Derridas Lektre von Descartes zeigen sich diese Zei-
chen in dem Auftreten des bsen Dmons, der noch die mathemati-
schen Wahrheiten mit der Mglichkeit eines totalen Wahnsinns infizie-
ren kann.35 Die Vernunft kann dem Wahnsinn demnach nie vollstndig
entgehen. Sie versucht jederzeit, mittels verschiedener konomischer
Listen, sich fr etwas anderes als Sprache auszugeben als die Wahr-
heit selbst oder dergleichen , und so ihre Endlichkeit zu transzendieren,
aber in der Dynamik ihrer Geschichtlichkeit werden alle Listen als solche
entlarvt und wird jede Form der Vernunft auf ihre Sprachlichkeit zurck-
geworfen.
Wenn das Cogito den Wahnsinn nicht ausschlieen kann, dann des-
wegen, weil es nicht mehr als ein Sprechakt ist, eine sprachliche ue-
rung, deren Aussprache keineswegs auf bestimmte Umstnde oder gar
auf bestimmte geistige Zustnde ihres Sprechers zu beschrnken ist.
Wenn es zur Struktur des Sinns gehrt, jederzeit und unter allen Umstn-
den gltig zu sein, dann muss er jederzeit zitiert oder wiederholt und da-

34 Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Ein-


zelbnden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Mnchen,
Berlin: Dtv, de Gruyter 1988, Bd. 6, S. 78 (Gtzen-Dmmerung).
35 Nun wird aber der Rckgriff auf die Hypothese des bsen Damns die
Mglichkeit eines totalen Wahnsinns gegenwrtig werden lassen und her-
beifhren, eines totalen Wahnsinnigwerdens, das ich nicht meistern kann,
weil es mir hypothetisch auferlegt ist und ich nicht mehr dafr verantwort-
lich bin; eines totalen Wahnsinnigwerdens, das heit eines Wahnsinns, der
nicht mehr nur eine Unordnung des Krpers, des Objekts [...] sein wird,
sondern ein Wahnsinn, der in das reine Denken, in seine rein intelligiblen
Gegenstnde, in das Feld der klaren und distinkten Ideen, in das Gebiet der
mathematischen Wahrheiten, die dem natrlichen Zweifel entgingen, die
Subversion hineintrgt (Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahn-
sinns [wie Anm. 8], S. 85).

17
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

durch jeden eigentlichen Bedingungen seiner Hervorbringung entfrem-


det werden knnen.36 Es gehrt, wie Derrida in verschiedenen Zusam-
menhngen herausgearbeitet hat, zu den Grundbedingungen der Sprache,
dass sie jederzeit zitiert, entwendet, parodiert, plagiiert, gestohlen, ver-
fremdet, missverstanden, geheuchelt, kopiert, fingiert, aus dem Zusam-
menhang gerissen oder sonstwie einer unkontrollierbaren Wiederholung
unterworfen werden kann. In Die soufflierte Rede schreibt Derrida:

Vom Augenblick an, wo ich spreche, gehren die Wrter, die ich gefunden
habe, mir nicht mehr, weil sie Wrter sind; sie werden in ursprnglicher Weise
wiederholt [...]. Die Entwendung ereignet sich als das ursprngliche Geheimnis,
das heit als Rede oder Geschichte (), die ihren Ursprung und ihren Sinn
verbirgt und nie sagt, woher sie kommt noch wohin sie geht; zunchst, weil sie
es nicht wei und weil dieses Nichtwissen, die Abwesenheit ihres eigentlichen
Subjektes nmlich, nicht ber sie hereinbricht, sondern sie konstituiert. [...]
Folglich ist, was man das sprechende Subjekt nennt, nicht mehr jener oder jener
allein, der spricht. Er befindet sich in einer irreduziblen Zweitrangigkeit, dem
immer schon, aus einem organisierten Feld der Rede, in dem er vergeblich eine
stets fehlende Stelle sucht, entwendeten Ursprung.37

Diese Struktur der ursprnglichen Wiederholung des Sinns beschreibt


Derrida spter in seiner Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheo-
rie als Iterabilitt (oder Iterierbarkeit).38 Austins Theorie des performa-
tiven Sprechakts versucht, einen unernsten (und damit auch etwa einen
literarischen) Gebrauch des Sprechakts auszuschlieen, aber die Zitier-
barkeit und Wiederholbarkeit des Zeichens (die es erst zu einem Zeichen

36 Vgl. Fenves: Derrida and History (wie Anm. 9), S. 278: The Cogito is a
name for that which makes it impossible for any historical context to be
closed, even in principle: no context can be so completely determined and
fully saturated that it thereby excludes the possibility of thought the
possibility, in other words, not only that utterances mean something other
than what they are said to mean but that utterances mean precisely nothing,
that they are mad utterances and therefore not utterances, strictly spea-
king, but, as Derrida underscores, silences or, to use Foucaults phrase, the
absence of work.
37 Jacques Derrida: Die soufflierte Rede [1965]. In: ders.: Die Schrift und die
Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 177), S. 259-301, hier:
S. 271f.
38 Vgl. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext [1971]. In: ders.: Rand-
gnge der Philosophie. bers. von Gerhard Ahrens u. a. Hrsg. von Peter
Engelmann. 2., berarb. Aufl. Wien: Passagen 1999, S. 325-351, hier: S.
346f.

18
I. EINLEITUNG

machen) ist Derrida zufolge dafr verantwortlich, dass dieser Aus-


schluss, analog zu dem scheiternden Ausschluss des Wahnsinns bei Des-
cartes, niemals gelingen kann.39 Die Mglichkeit des Unsinns in all sei-
nen Varianten des Unernstes, der absurden Verwendung ist dem Sinn
immer schon eingeschrieben.
Whrend Descartes Philosophie in Foucaults Interpretation versucht,
den Wahnsinn aus dem Denken insgesamt auszuschlieen, erweist sie
sich in Derridas Kommentar als eine Meditation ber die Macht und
Ohnmacht der Sprache. Der Philosoph, schreibt Derrida wiederum eher
beilufig, am Rande seiner Argumentation, ist lediglich das sprechende
Subjekt par excellence.40 Als das sprechende Subjekt par excellence ist
der Philosoph mithin derjenige, der die Entdeckung machen muss, dass
kein sprechendes Subjekt sein Sprechen beherrschen kann. Jeder Sinn, so
muss der Philosoph angesichts seines eigenen Sprechens erkennen, birgt
jederzeit einen Unsinn und einen Wahnsinn in sich, denn die Unmglich-
keit des Ausschlusses beider liegt in der Mglichkeit des Sinns berhaupt
begrndet.

Trotz seiner heftigen Kritik an Foucaults Buch, die darin gipfelt, es als
genau das zu bezeichnen, was es hatte anklagen wollen (Eine kartesiani-
sche Geste fr das 20. Jahrhundert41), betont Derrida immer wieder
auch seine vllige bereinstimmung mit Foucault. Paradoxerweise ist
das von mir Gesagte streng Foucault entsprechend,42 schreibt Derrida.
Dieser Satz leitet Derridas Errterung der Foucaultschen Definition des
Wahnsinns als Abwesenheit eines Werkes ein. Tatschlich verwerfen
Derridas Ausfhrungen zum Wahnsinn diese Definition nicht; viel eher
muss man sagen, dass Derrida die Bestimmung des Wahnsinns als Ab-
wesenheit eines Werkes aufnimmt und sogar radikalisiert.
Durch diese Radikalisierung ndert sich die Rolle der Literatur, wel-
che fr Foucault noch eine emphatische Rolle eingenommen hat. Im An-
schluss an Blanchot43 beschreibt Foucault in Folie et Draison die Li-

39 Vgl. ausfhrlicher zur Iterabilitt und zu Derridas Kritik an Austin J. Hillis


Miller: Speech Acts in Literature. Stanford, CA.: Stanford University Press
2001, S. 63-139, besonders S. 77-85.
40 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 88.
41 Ebd.
42 Ebd., S. 86.
43 Vgl. vor allem Blanchots Artikel ber Hlderlin. Solche uerungen Hl-
derlins, schreibt Blanchot ber Hlderlins spte Lyrik, mssen vernom-

19
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

teratur als eine Sprache, welche die objektivierende Geste der Vernunft
vermeiden und einen unverstellten Zugang zur Wahrheit des Seins her-
stellen kann.44 ber die diskursiven Umstellungen des neunzehnten Jahr-
hunderts schreibt Foucault:

Dann tritt der Wahnsinn in einen neuen Kreis ein. Er ist jetzt von der Unver-
nunft losgelst, die lange Zeit bleiben wird, als streng poetische oder philoso-
phische Erfahrung, die von de Sade bis Hlderlin, bis Nerval und bis Nietzsche
wiederholt wird, das reine Eintauchen in eine Sprache, die die Geschichte auf-
hebt und an der empfindlichen Oberflche des Wahrnehmbaren die Bedrohung
einer unerinnerlichen Wahrheit schimmern lt.45

Das, was Foucault als Literatur bezeichnet, erscheint in seiner Ge-


schichte des Wahnsinns immer wieder als ein exklusiver Kanon, eine
Reihe von Autorennamen: de Sade, Hlderlin, Nerval, Nietzsche, allen-
falls noch Artaud.46 Foucault begrndet diesen Kanon an keiner Stelle.
Als einzige Gemeinsamkeit dieses Zirkels fllt jedoch auf, dass alle diese
Autoren zu ihrer Zeit als wahnsinnig verurteilt wurden. Das Leben des
Autors, dessen Name ohnehin sein Werk reprsentiert, garantiert die
Wahrheit des Geschriebenen.
Aus den wiederholten Erwhnungen, die Foucault von seinem per-
snlichen Kanon der verfemten und aus- bzw. eingesperrten (Sade, Hl-
derlin) Autoren macht, ergibt sich die Suggestion, dass ein Schreiben
ohne Werk in der Zeit nach Descartes durchaus mglich ist, wenn-
gleich nur im Rahmen einer streng poetischen oder philosophischen Er-
fahrung, die nur wenigen zuteil wird. In seinem Aufsatz La folie, lab-
sence duvre besttigt Foucault diesen Zusammenhang zwischen
Wahnsinn und Literatur:

Daher auch diese befremdliche Nachbarschaft von Wahnsinn und Literatur,


der man nicht den Sinn einer endlich blogelegten psychologischen Verwandt-
schaft unterstellen darf. Entdeckt als eine in ihrer Selbstberlagerung verstum-
menden [sic] Sprache, zeigt der Wahnsinn weder die Entstehung eines Werkes
noch berichtet er davon [...]; er bezeichnet die leere Form, aus der dieses Werk

men werden als die Wahrheit, als der wieder begriffene und auf die poe-
tische Schpfung bezogene Sinn einer unmittelbaren Erfahrung (Maurice
Blanchot: Der Wahnsinn par excellence [1953/70]. In: Jaspers, Karl:
Strindberg und van Gogh. Versuch einer vergleichenden pathographischen
Analyse. Mit einem Essay von Maurice Blanchot. bers. von Henning
Schmidgen. Berlin: Merve 1998, S. 7-33, hier: S. 14f.).
44 Vgl. Gelhard: Unvernunft, Un-wahrheit, Unzeit (wie Anm. 31), S. 55.
45 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 386.
46 Vgl. ebd., S. 536.

20
I. EINLEITUNG

kommt, das heit den Ort, von dem her es nicht aufhren wird, abwesend zu
sein.47

Derridas Ausfhrungen zum Zusammenhang des Sprechens mit dem


Wahnsinn legen eine vllig andere und weitaus radikalere Perspektive
nahe. Nun ist es nicht mehr von dem Bemhen einiger weniger privile-
gierter Autoren abhngig, ob es gelingen kann, die streng poetische und
philosophische Erfahrung einer Sprache ohne Werk zu erreichen. Einer-
seits ist fr Derrida, wie beschrieben, die Sprache ihrem Wesen nach
normal: sie ist bereits ihrer Syntax nach in die objektivierende Struktur
der Vernunft und des Werks eingebunden. Andererseits aber ist diese
Normalitt des Sinns nichts anderes als ein Wahnsinn, insofern sie die je-
derzeitige Mglichkeit der Tuschung, des Betrugs, des Irrtums in all sei-
nen Varianten niemals ausschlieen kann. Dem Sinn ist folglich immer
schon ein Wahnsinn eingeschrieben. In dem Moment, in dem es spricht,
ist das Ich dem Wahnsinn preisgegeben. Was nach Foucault nur wenigen
exzeptionellen Auenseitern gelingt eine Sprache jenseits der Sprache
der Vernunft, eine Sprache ohne Werk ist fr Derrida eine unver-
meidliche Folge der konomie des Sinns und derjenigen der Sprache
insgesamt. Nicht allein Nerval oder Nietzsche, nicht einmal nur Descar-
tes, sondern jeder Sprechende macht die Erfahrung einer Sprache, die
sich von keinem Subjekt beherrschen lsst.
Ohne Zweifel kann Literatur in dieser Konstellation nicht mehr die
emphatische Rolle spielen, die sie fr Foucault einnimmt. Literatur ist
nichts anderes als das, was Sprache berhaupt ist: ein Sinn, der jederzeit
auch vielleicht, wie Derrida schreibt ein Unsinn und ein Wahnsinn
sein kann; ein Sinn als Wahnsinn. Literatur ist, wie Derrida in seinem
Kommentar zu einem Text Baudelaires ausfhrt, vielleicht nichts anderes
als Falschgeld, eine Mnze, deren Wert niemand kennen kann:

Die Geschichte [d.i. Baudelaires La fausse monnaie] ist vielleicht selbst


als Literatur Falschgeld, eine Fiktion, ber die man [...] all das sagen kann, was
der Erzhler [...] ber das falsche Geldstck seines Freundes wird gesagt haben
knnen, ber die Intentionen, die er seinem Freund zuschreibt, ber die Berech-
nung und all die Tauschverhltnisse [...]. Dieser Text ist auch das Stck, ein
falsches Geldstck, das ein Ereignis hervorruft und sich fr jeden Schauplatz
des Trugs, der Gabe, der Vergebung und der Nicht-Vergebung hergibt.48

47 Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes (wie Anm. 3), S. 183.
48 Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben I [1991]. bers. von Andreas
Knop und Michael Wetzel. Mnchen: Fink 1993, S. 116.

21
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Der Schriftsteller ist unter diesen Umstnden allenfalls, wie der Philo-
soph Descartes, lediglich das sprechende Subjekt par excellence, inso-
fern sein Sprechen den Wahnsinn im Sinn aufzeigt und sichtbar werden
lassen kann. Der literarische Text ist derjenige, der sich als Falschgeld
erweist (als Fiktion etc.). Dies ist nicht einfach in dem Sinne zu verste-
hen, dass die Sprache der Literatur tuschen oder lgen wrde (in
dem Sinne der platonischen Kritik). Die Analogie zwischen dem literari-
schen Text und dem Falschgeld basiert vielmehr auf einer tiefen episte-
mologischen Verunsicherung. Derrida weist ausdrcklich darauf hin,
dass ein falsches Geldstck nicht lnger als Falschgeld wirken kann, so-
bald es als Falschgeld anerkannt wird: Das falsche Geldstck ist als sol-
ches niemals Falschgeld. Sobald es ist, was es ist, anerkannt als solches,
hrt es auf, als Falschgeld zu wirken und zu gelten. Es ist nur, wenn es
sein kann, mglicherweise, was es ist.49 In diesem Sinn wre ein literari-
scher Text, sobald er als Tuschung markiert wre, keine Tuschung
mehr; Falschgeld ist der literarische Text vielmehr in dem Sinn, dass in
ihm jeder Sinn sich jederzeit mglicherweise als Unsinn und Wahn-
sinn herausstellen kann.
Literatur ist vielleicht derjenige Text, von dem gesagt werden muss,
er sei verrckt. Ihre epistemologische Verunsicherung gilt auch und
vielleicht gerade dann, wenn sie dieses Urteil zu antizipieren scheint
und sagt: Ich bin verrckt. Der Erzhler in Flauberts Mmoires dun fou
(1838) fragt: Wit ihr denn selbst, warum ihr die erbrmlichen Bltter
aufgeschlagen habt, die die Hand eines Irren vollzeichnen will?50
Unmglicher Sprechakt: ich bin wahnsinnig. Wenn der Wahnsin-
nige immer der Andere ist, dann muss die Aussage ich bin wahnsinnig
a priori unmglich sein. Sie bildet einen paradoxen Sprechakt: wenn er
zutrifft, kann er nicht ausgesagt werden (denn dann wre das Ich nicht zu
einer sinnhaften Sprache fhig); sobald er gesagt wird, dementiert der
Akt des Aussagens (in seiner sinnhaften Struktur) den Inhalt der Aus-
sage.51 Wie Shoshana Felman in ihrer Lektre der Mmoires dun fou ge-
zeigt hat, entwickelt Flauberts Text verschiedene Strategien, aus diesem
Widerspruch einen produktiven rhetorischen Mechanismus zu machen:
Wahnsinn ist das Urteil der Anderen, eine sprachliche Aggression etc.52
Wahnsinn wird zu einem beweglichen Attribut, das verschiedene
Adressaten ansprechen und bezeichnen kann. Der Wahnsinn des literari-

49 Ebd., S. 117.
50 Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. November, Erinnerungen, Auf-
zeichnungen und innerste Gedanken. bers. von Traugott Knig. Zrich:
Diogenes 2005, S. 53.
51 Felman: Writing and Madness (wie Anm. 9), S. 89.
52 Vgl. ebd., S. 82f.

22
I. EINLEITUNG

schen Textes liegt dann mglicherweise gerade darin, dass nicht mehr
gesagt werden kann, wer wahnsinnig ist und wer nicht. Die Worte ich
bin wahnsinnig sind auch hier mglicherweise eine Zitation, eine ironi-
sche Formel, kurz: eine entwendete Sprache, die nur die Abwesenheit
des sprechenden Subjekts im Sprechen aussagt. Flauberts Text spricht
nicht nur ber die Verrcktheit seiner Protagonisten, sondern ebenso
auch ber das, was de Man als Verrcktheit der Wrter53 bezeichnet.
Die Verrcktheit der Wrter ist die Verrcktheit der Sprache, die Sinn
nur innerhalb einer internen Verweisstruktur besitzt, aber keine berein-
stimmung mit einer ueren Realitt garantieren kann. Hast du jemals
darber nachgedacht, da der linguistische Terminus Metathese dem
onkologischen Terminus Metastase hnelt?, fragt Ecos Protagonist Ja-
copo Belbo:

Das Wrterbuch sagt dir, da Metathese Umstellung heit, Mutation. Und


Metastase heit Umstellung, Vernderung. Wie dumm, die Wrterbcher. Die
Wurzel ist dieselbe, entweder das Verb metatithemi oder das Verb methistemi.
Aber metatithemi heit: ich setze um, ich verrcke, verschiebe, substituiere,
schaffe ein Gesetz ab, ndere den Sinn. Und methistemi? Genau dasselbe, ich
verlagere, permutiere, transponiere, ndere die ffentliche Meinung, schnappe
ber und werde ver-rckt. Wir, und mit uns jeder, der einen verborgenen Sinn
hinter den Buchstaben sucht, wir sind bergeschnappt und verrckt gewor-
den.54

Verrcken, verschieben, substituieren, das Gesetz abschaffen, den Sinn


ndern: Diese A-Logik der Permutation und der Verrckung ist die Lo-
gik des Sinns selbst. Diese Verrcktheit der Wrter ist es, die Derrida
als einen Wahnsinn der Sprache beschreibt (in der der Sinn niemals den
Wahnsinn wird ausschlieen knnen). Die Verrcktheit der Wrter ist in
diesem Sinn nicht einfach ein Gegensatz zum Logos, zur Vernunft, wie
Foucault es beschreibt. Sie ist diejenige Verrrcktheit, die noch in jeder
Sprache der Vernunft notwendigerweise am Werk sein muss. Im Gegen-
satz zu demjenigen Wahnsinn, der von der objektivierenden Vernunft
(Foucault zufolge) gleichermaen diskursiv erschaffen wie kontrolliert

53 Paul de Man: Shelleys Entstellung [1979]. In: ders.: Die Ideologie des s-
thetischen. bers. von Jrgen Blasius. Hrsg. von Christoph Menke. Frank-
furt am Main: Suhrkamp 1993 (edition suhrkamp. 1682), S. 147-182, hier:
S. 176. Vgl. ausfhrlicher zu dieser Formel: Hans-Jost Frey: Die Verrckt-
heit der Wrter. In: ders.: Die Autoritt der Sprache. Lana, Wien, Zrich:
Edition Holweg + edition per procura 1999, S. 253-285.
54 Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. bers. von Burkhart Kroeber.
Mnchen, Wien: Hanser 1989, S. 665.

23
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

wird, handelt es sich hier, wie Derrida schreibt, um einen totalen Wahn-
sinn,55 der noch die Vernunft selbst umgreift. Um diesen Wahnsinn soll
es in der folgenden Arbeit gehen. Sie soll den Nachweis fhren, dass be-
reits im philosophischen und literarischen Diskurs gegen Ende des acht-
zehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Reflexionen ber eine
Form des totalen Wahnsinns vorzufinden sind, der jeden Sinn (und al-
so die Sprache als Medium des Sinns) erst konstituiert.

Gerade das Werk Kants ist in Bezug auf die Thematik des Wahnsinns ei-
nigen Missverstndnissen ausgesetzt gewesen, gegen die es einzutreten
gilt. Weil sich ihre Studie in dieser Hinsicht besonders hervorgetan hat
und weil diese Deutung immer noch hufig zitiert wird, muss hier insbe-
sondere die Arbeit ber Das Andere der Vernunft (1983) von Hartmut
und Gernot Bhme erwhnt werden. Bhme und Bhme konstruieren
den Plot ihrer Untersuchung offensichtlich analog zu Foucaults Ge-
schichte des Wahnsinns, wobei Kant die Rolle einnimmt, die Descartes
bei Foucault hat. Kant erscheint folglich als kalter, rigider und misan-
thropischer Rationalist, der alles als Unvernunft und Wahnsinn dekla-
riert, was sich seinem Rationalittsprogramm widersetzt. Bhme und
Bhme rcken Kant in ihrer Einleitung explizit in die Tradition Des-
cartes:

In dieser Perspektive ist die neuzeitliche Bewutseinsphilosophie, als deren


Hhepunkt die Philosophie Kants nach ihrer Exposition durch Descartes gelten
kann, neu in den Blick zu nehmen. Sie erscheint dann als Geschichte einer
grandiosen Selbstermchtigung [...]. Aufklrung trat an, um das Irrationale der
Welt Religion und Aberglauben, stndische Autoritten und Ungleichheiten,
irrlichternde Affekte und Naturzwnge durch Kritik aufzulsen.56

Analog zu Foucaults Untersuchung geht es Bhme und Bhme darum zu


zeigen, wie eine bestimmte (historische) Vernunft eine Grenze zieht und
wie sie bestimmte Formen des Denkens und Handelns in ein Jenseits der
Grenze ausschliet: Kants Philosophie war als das Unternehmen einer
Grenzziehung angesetzt worden.57

55 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 85.
56 Hartmut Bhme und Gernot Bhme: Das Andere der Vernunft. Zur Ent-
wicklung von Rationalittsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1983, S. 17.
57 Ebd, S. 11.

24
I. EINLEITUNG

Was aber liegt jenseits der Grenze der Vernunft? Was ist das Andere
der Vernunft? Bhme und Bhme geben hier klare Auskunft:

Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale,
ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische.
Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die
Phantasie, das Begehren, die Gefhle oder besser: all dieses, insoweit es sich
die Vernunft nicht hat aneignen knnen.58

So einfach und symmetrisch kann die Opposition zwischen der Vernunft


und ihrem Anderen wenn es so etwas denn berhaupt gibt kaum
sein. Jeder Gegenbegriff zu einem Konzept der Vernunft ist schlielich
immer noch selbst ein Konzept der Vernunft: das Irreale ist ebenso ein
Begriff der Ontologie wie das Unschickliche ein Begriff der Moral.
Angreifbar sind auch die Vorschlge Bhmes und Bhmes fr die in-
haltliche Bestimmung des Anderen der Vernunft: die Natur, der
menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefhle sind samt
und sonders diskursive Obsessionen des 18. Jahrhunderts, die kaum einer
Ausgrenzung unterworfen wurden. Man knnte sogar die These wagen,
dass alle genannten Phnomene zumindest in ihrer modernen Semantik
in dem Diskurs des 18. Jahrhunderts zuallererst erfunden werden. All
dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen knnen, schrei-
ben Bhme und Bhme, aber sie bersehen, dass es sich hier um Kon-
zepte handelt, die die Vernunft sich nicht aneignen muss, weil sie selbst
sie erfunden hat.
Zustzlich stellt sich die Frage, ob Bhme und Bhme die Aussagen
der Kantschen Texte korrekt wiedergeben. Dies betrifft insbesondere die
angebliche Disziplinierung der Einbildungskraft durch Kant. Motiviert
wird diese, so Bhme und Bhme, durch Kants Gefhl der Bedrohung
und Angst: Erkenntnis bleibt stndig bedroht vom Zweifel, da das, was
wir zu erfahren glauben, nur Traum ist;59 der Wahnsinn kann nicht ab-
gehalten werden,60 und durch das Auftreten von Sehern, Mystikern und
Wundermnnern fhlen sich Aufklrer wie Locke, Shaftesbury, Kant
[...] geradezu persnlich bedroht.61 Ausgehend von dieser vorgeblichen
Vorherrschaft der Phobie wird Kants Beziehung zur Einbildungskraft als
der Versuch der Kontrolle und Disziplinierung verstanden. Bhme und
Bhme schreiben: Tatsache ist nun, da Kant das bildermachende Ver-
mgen radikal der Herrschaft des Verstandes unterwirft, so radikal, da

58 Ebd., S. 13.
59 Ebd., S. 240.
60 Ebd., S. 243.
61 Ebd., S. 249.

25
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

es seine Eigenstndigkeit verliert. Der Verstand bernimmt selbst die


Funktion der Einbildungskraft.62 Zwar trifft es zu, dass die Einbildungs-
kraft in der Kritik der reinen Vernunft nicht ohne die schematisierende
Kraft des Verstandes gedacht wird. Ebenso gilt aber umgekehrt, dass der
Verstand nicht ohne das bildermachende Vermgen der Einbildungs-
kraft (und also nicht ohne die Sinnlichkeit) funktionieren kann.63 Zudem
ist es unzulssig, Kants Behandlung der Einbildungskraft auf die Er-
kenntnistheorie der Kritik der reinen Vernunft zu beschrnken, ohne die
freiere Position der Einbildungskraft in der Kritik der Urteilskraft zu be-
rcksichtigen.
Demgegenber wird die folgende Untersuchung von Kants Ausfh-
rungen zum Thema Wahnsinn versuchen zu zeigen, dass man nicht vor-
eilig das Schema der Foucaultschen Ausfhrungen ber Descartes auf
Kant bertragen darf. Wie sich nicht zuletzt anhand der von Kant empha-
tisch positiv besetzten Kategorie des Enthusiasmus wird zeigen lassen,
ist Kant alles andere als der strenge Rationalist, der allein danach trach-
tet, den Wahnsinn aus einem engen Raum der Vernunft auszusperren.
Die vorliegende Arbeit beginnt mit einer Lektre der Ausfhrungen
Kants zum Thema des Wahnsinns in all seinen Facetten, nicht allein des-
halb, weil das Thema fr Kant Zeit seines Lebens von Bedeutung gewe-
sen ist (und nicht allein deshalb, weil dies in der Kantforschung bis heute
kaum wahrgenommen wurde). Die Arbeit beginnt mit Kant, weil er die
philosophischen und politischen Gefahren bestimmter Formen des
Wahnsinns eindringlich beschreibt und zugleich eine radikal positive
Bewertung bestimmter Formen des Wahnsinns vornimmt, die fr die
Philosophie und Literatur seiner Zeit in hchstem Mae anregend wirkte.
Die Untersuchung versucht zu zeigen, wie Kant, ausgehend von einer se-
miotischen Bestimmung des Wahnsinns, einen Zusammenhang zwischen
dem Begriff des Zeichens und dem des Wahnsinns beschreibt, der
Derridas Formel eines totalen Wahnsinns przise vorwegnimmt. Des
weiteren mchte die Arbeit den Gedanken dieses totalen Wahnsinns in
den literarischen Texten E.T.A. Hoffmanns und Thomas Carlyles weiter-
verfolgen.

62 Ebd., S. 232.
63 Dies hat insbesondere Heideggers Interpretation der Kritik der reinen Ver-
nunft betont. Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphy-
sik [1929]. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 6. Aufl. Frankfurt
am Main: Klostermann 1998.

26
II. V EL U T A E G R I S O M N I A (K A N T )
Did the Sage of Knigsberg Have no Dreams?
(C. I. Lewis: Mind and the World Order)

What do we know about the nightmares of


Immanuel Kant? Im sure they were...
very interesting... Knigsberg there in the
winter I shudder to think.
(Paul de Man: Kant and Schiller)

Ich bin sehr verlangend Kants Anthropologie


zu lesen. Die pathologische Seite, die er am
Menschen immer herauskehrt und die bei einer
Anthropologie vielleicht am Platze sein mag,
verfolgt einen fast in allem, was er schreibt,
und sie ists, die seiner praktischen Philosophie
ein so grmliches Ansehen gibt.
(F. Schiller: Brief an J. W. Goethe, 22.
Dezember 1798)

I I . 1 W ah n si n n : d i e u n he i l b a r e Un o r d n u n g

Warum es keine Systematik der Unvernunft geben kann

Den Wahnsinn gibt es nicht. Dies muss als erstes Ergebnis der Beschf-
tigung Kants mit der Unvernunft festgehalten werden. Wre es anders,
gbe es ein Wesen des Wahnsinns, eine fest umschriebene Form, die
ein apriorisches Wissen ber den Unverstand ermglichen wrde, dann
wrde es sich kaum mehr um einen Wahnsinn handeln, sondern lediglich
um ein Negativbild der Vernunft. Der Wahnsinn wre nicht das Andere
der Vernunft, wenn er einfach eine bloe Gegenvernunft oder Unver-
nunft wre. Das Gegenstck zur einen und einzigen Vernunft bildet fr
Kant nicht einfach eine einzige Unvernunft oder einen Unverstand
im Gegensatz zum einzigen Verstand , sondern eine auerordentliche
Flle von Bezeichnungen verschiedenster Geistesstrungen. Eine Liste
der Kantschen Benennungen der Unvernunft aufzufinden in den ver-

27
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

schiedensten Texten und Kontexten msste die Begriffe Wahnsinn,


Verrcktheit, Narrheit, Unsinnigkeit, Wahnwitz, Aberwitz, Bldsinn,
Phantasterey, Enthusiasmus, Schwrmerei, Trumerei, Zerstreuung, Hy-
pochondrie und Melancholie auffhren und wre wohl immer noch nicht
vollstndig. Der klaren Ordnung der Vermgen in Kants Modell des Gei-
stes steht somit eine bunte und vielfltige Reihe von Unvermgen entge-
gen. Insofern jeder dieser Begriffe einen Phnomenbereich mit je diffe-
renzierter Pathologie umschreibt, scheint Kants Behandlung der Thema-
tik des Wahnsinns etwas rettungslos Empirisches anzuhaften: Es scheint
dem transzendentalphilosophischen Denker nicht mglich gewesen sein,
a priori ber den Wahnsinn zu sprechen. Die Unvernunft entzieht sich
der Untersuchung durch die Vernunft. In diesem Sinn rumt Kant in der
Anthropologie mit Blick auf die auch fr ihn unbefriedigende Systematik
der Geistesstrungen ein, es sei schwer, eine systematische Einteilung
in das zu bringen, was wesentlich und unheilbare Unordnung ist.1
Wahnsinn (ob als Unvernunft oder als Unverstand) affiziert noch das,
was ihn betrachten und systematisieren soll. Angesichts dieser Lage em-
pfiehlt sich Distanz. Kant rt im nchsten Satz von einer weiteren Be-
schftigung mit der Thematik ab: Es hat auch wenig Nutzen, sich damit
zu befassen; weil, da die Krfte des Subjekts dahin nicht mitwirken [...]
und doch nur durch den eigenen Verstandesgebrauch dieser Zweck er-
reicht werden kann, alle Heilmethode in dieser Absicht fruchtlos bleiben
mu.2
Diese Aussage muss in Erinnerung daran gelesen werden, dass Kant
seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht geschrieben hat und also
mit Blick auf den Menschen als freihandelndes Wesen3 womit der
Wahnsinnige von vornherein ein denkbar problematisches Sujet wird.
Als htten sie die Warnung Kants wrtlich genommen, haben in der Fol-
ge nur wenige seiner Kommentatoren der Thematik des Wahnsinns eine
Bedeutung beigemessen. Den ungezhlten Abhandlungen ber die Ver-
mgen in der Philosophie Kants stehen nur wenige ber das Unvermgen
gegenber. Die wenigen Untersuchungen zu Kants Beschftigung mit
dem Wahnsinn bieten zudem wenig mehr als eine Paraphrase der auf den
ersten Blick kaum berzeugenden Systematisierungen Kants.4

1 Immanuel Kant: Werke in sechs Bnden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel.


Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Bd. 6, S. 529 (An-
thropologie 49, BA 144).
2 Ebd.
3 Ebd., S. 399 (Anthropologie, BA IV).
4 Vgl. Fritz Kufferath: Kants Auffassung und Einteilung der Geisteskrank-
heiten. Diss. Dsseldorf 1947; K. P. Kisker: Kants psychiatrische Systema-
tik. In: Psychiatria et Neurologia. Internationale Monatsschrift fr Psychia-

28
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Diejenigen Autoren, die eine philosophische Bewertung des Themas


versuchen, beschreiben Kants Interesse am Gegenstand als dasjenige des
khlen Rationalisten, der den Wahnsinn ausgrenzen will.5 Angesichts
dieses grob vereinfachenden Umgangs mit dem Thema kann es nicht ver-
wundern, dass die Texte, in denen Kant sich der Problematik des Wahn-
sinns widmet, kaum je der Gegenstand einer grndlichen Lektre wur-
den. Der Versuch ber die Krankheiten des Kopfes von 1764, der einzige
Text Kants, der sich ausschlielich dem Thema widmet, findet in der
Kantforschung nur wenig Beachtung. Wenn er berhaupt wahrgenom-
men wird, dann nicht selten als ein Gelegenheitstext, der auf eine Episo-
de im gesellschaftlichen Leben Knigsbergs zurckfhren sei: das Auf-
tauchen eines Einsiedlers, der vorgeblich eine Christuserscheinung erlebt
hatte und aufgrund seiner naturnahen Lebensweise im Volksmund Zie-

trie und Neurologie 133 (1957), S. 17-28; Werner Leibbrand und Annema-
rie Wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendlndischen Psychopatho-
logie. Freiburg, Mnchen: Alber 1961, S. 360-368; Helen Liebel-Wecko-
wicz und Thaddeus E. Weckowicz: Kants Theory of Mental Illness. In:
Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover 17. bis 22. Juli
1972. Bd. 1-3. Wiesbaden: Steiner 1973-1975, Bd. 1, S. 261-277.
5 Vgl. Gabriele Ricke: Schwarze Phantasie und trauriges Wissen. Beobach-
tungen ber Melancholie und Denken im 18. Jahrhundert. Hildesheim:
Gerstenberg 1981, S. 149-152 sowie S. 166-181; Jutta Osinski: ber Ver-
nunft und Wahnsinn. Studien zur literarischen Aufklrung in der Gegen-
wart und im 18. Jahrhundert. Bonn: Bouvier 1983, bes. S. 105f.; Hartmut
und Gernot Bhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Ratio-
nalittsstrukturen am Beispiel Kants. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1992 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 542), S. 233-274; Ste-
fan Niessen: Traum und Realitt. Ihre neuzeitliche Trennung. Wrzburg:
Knigshausen & Neumann 1993, S. 274-285; Iris Denneler: Die Kehrseite
der Vernunft. Zur Widersetzlichkeit der Literatur in Sptaufklrung und
Romantik. Mnchen: Fink 1996, S. 106-111; Simonetta Sanna: Im ge-
sprungenen Spiegel des Wahnsinns: Die Moderne und ihre Bewutseins-
krise. In: sthetische Moderne in Europa. Grundzge und Problemzusam-
menhnge seit der Romantik. Hrsg. von Silvio Vietta und Dirk Kemper.
Mnchen: Fink 1997, S. 287-319, hier: S. 305; Leonhard Fuest: Grillen an
Bord. ber Immanuel Kants Verhltnis zum Wahnsinn und dessen Rezep-
tion bei Thomas Bernhard. In: Der Andere Ein alltglicher Begriff in phi-
losophischer Perspektive. Hrsg. von Ulrike Hagel u.a. Leipzig: Leipziger
Universittsverlag 2002, S. 129-138; Bernadette Malinowski: Literatur und
Wahnsinn Aspekte eines kulturhistorischen Paradigmas. In: Germanica
32 (2003), S. 11-30, hier: S. 21f.

29
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

genprophet hie.6 Erst eine Lektre, die den Text ernst nimmt, wird
ber diese Vorurteile hinauskommen.
Das schwierige Verhltnis zwischen dem systematisierenden Ver-
stand und der wesentlichen Unordnung des Wahnsinns und somit
zwischen dem Philosophen und dem Wahnsinnigen findet im ersten
Abschnitt des Versuchs einen ironischen Kommentar. Kant kndigt sei-
nen Versuch mit einiger Bescheidenheit als eine kleine Onomastik der
Gebrechen des Kopfes an und vergleicht sich bei diesem Unternehmen
mit einem jener rzte, die glauben ihrem Patienten sehr viel genutzt zu
haben, wenn sie seiner Krankheit einen Namen geben.7
Der Philosoph, der ber den Wahnsinn spricht, ist demnach darauf
verwiesen, sich mit Wrtern zu beschftigen und nicht mit Krankheiten.
Da eine Krankheit etwas anderes als ein Wort ist, verfehlt er notwendig
den Gegenstand seines Nachdenkens und gleicht einem schlechten Arzt,
welcher eine Komdienfigur abgeben knnte. Insofern sich sein Wissen
lediglich auf die selbstgeschaffenen Wrter bezieht und nicht auf die
Dinge, die diese Wrter bezeichnen sollen, stellt der Arzt in Kants Text
die Figuration eines komischen Realittsverlusts dar. Mit seiner Ver-
wechslung des Wortes mit dem bezeichneten Ding erinnert jener Arzt
(und jener Philosoph) unweigerlich an den ersten Wahnsinnigen der mo-
dernen Literatur, an Cervantes Don Quijote. Ein Arzt, der Wrter be-
handelt anstelle von Krankheiten, muss sich dem Verdacht stellen, selbst
wahnsinnig zu sein. Im Versuch zeigt sich mithin wiederum eine Affek-
tion der scheinbar distanziert betrachtenden ratio durch die beobachtete
Unvernunft, die Kants Anthropologie andeutet.

II. 2 Zeichen und Zeit (Kant, Rousseau)

Naturzustand als Zeit ohne Zeit und ohne Wahnsinn

Der erste Absatz des Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes fragt
nach der Mglichkeit des Wahnsinns im Naturzustand und rckt die

6 Vgl. Ludwig Ernst Borowski: Darstellung des Lebens und Charakters Im-
manuel Kants. Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt [1804]. In:
Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Bio-
graphien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 1-115, hier: S. 31;
Arsenij Gulyga: Immanuel Kant. bers. von Sigrun Bielfeldt. Frankfurt am
Main: Insel 1981, S. 85f.
7 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 888 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 14).

30
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Thematik damit in einen gattungshistorischen Zusammenhang. Durch


den Begriff des Naturzustands weist Kant sich, fr jeden einigermaen
belesenen Zeitgenossen erkennbar, als Leser Rousseaus aus und lsst
dessen Discours sur lorigine et les fondemens de lingalit parmi les
hommes, der 1755 zuerst erschienen und nur ein Jahr spter durch Moses
Mendelssohn ins Deutsche bersetzt worden ist, als einen wichtigen Pr-
text seines Versuchs erscheinen. So beginnt Kants Versuch:

Die Einfalt und Gngsamkeit der Natur fordert und bildet an dem Menschen
nur gemeine Begriffe und eine plumpe Redlichkeit, der knstliche Zwang und
die ppigkeit der brgerlichen Verfassung hecket Witzlinge und Vernnftler,
gelegentlich aber auch Narren und Betrger aus, und gebieret den weisen oder
sittsamen Schein, bei dem man so wohl des Verstandes als auch der Recht-
schaffenheit entbehren kann, wann nur der schne Schleier dichte genug ge-
webt ist, den die Anstndigkeit ber die geheime Gebrechen des Kopfes oder
des Herzens ausbreitet.8

Der Anfang der Menschheitsgeschichte ist ein Zeitpunkt, an dem es


schlechthin keinen Wahnsinn gibt. Am Anfang steht allerdings nicht der
Verstand, die Vernunft oder die Vernnftigkeit, sondern der Mangel an
eben diesen Kategorien. Indem Kant den Naturzustand als Negativfolie
des gesellschaftlichen Zustands beschreibt, deutet er schon in diesem
ersten Absatz eine wesentliche Grundthese des Versuchs an: Die Bedin-
gung der Mglichkeit des Wahnsinns liegt in der Gesellschaft (die p-
pigkeit der brgerlichen Verfassung) und dort in der Neigung der br-
gerlichen Gesellschaft zur Verstellung, zum weisen oder sittsamen
Schein. Im Gegensatz zur sprachlichen Armut der Natur (gemeine Be-
griffe und eine plumpe Redlichkeit) ist die brgerliche Gesellschaft
durch die Existenz von Sprache bestimmt, die sie zugleich auch zu einem
Ort der Tuschungen und Fiktionen macht.
Die brgerliche Gesellschaft ist fr Kant essentiell mit der stetigen
Mglichkeit der Lge, der Verstellung und der Tuschung verbunden. Im
Vergleich zu frheren Epochen ist die gegenwrtige Gesellschaft zwar
durch eine auerordentliche Macht der Vernunft gekennzeichnet, aber
die Entwicklung der Vernunft geht notwendig mit der Genese einer nur
zur Schau gestellten Vernunft einher, die in Wahrheit Unvernunft heien
muss.

Nach dem Mae, als die Kunst hoch steigt, werden Vernunft und Tugend end-
lich das allgemeine Losungswort, doch so, da der Eifer, von beiden zu spre-
chen, wohl unterwiesene und artige Personen berheben kann, sich mit ihrem

8 Ebd., S. 887 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 14).

31
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Besitze zu belstigen. [...] Ich lebe unter weisen und wohlgesitteten Brgern,
nmlich unter denen, die sich darauf verstehen, so zu scheinen.9

Die Gesellschaft des Brgers ist eine Gesellschaft der Kunst und der
Knstlichkeit und also der Destabilisierung jeder festen und zuverlssi-
gen Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichneten. Kant stellt der br-
gerliche Gesellschaft jedoch nicht eine andere Gesellschaftsform gegen-
ber, sondern dem Naturzustand, den man am ehesten als eine Nicht-
Gesellschaft beschreiben knnte. Die brgerliche Gesellschaft mit ih-
rer Kunst ist hier nicht eine Regierungsform unter anderen gleichfalls
mglichen und auch nicht nur eine historische Entwicklungsstufe der
menschlichen Gattung, sondern eher der Zustand der Mglichkeit von hi-
storischer Entwicklung berhaupt.
Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Isolation des Men-
schen in der Natur und seinem Nicht-Wahnsinn? Kants Beschreibung
des Naturzustands zielt auf eine spezifische konomie der Bedrfnisse,
die sich durch ihre Vermittlungslosigkeit auszeichnet. Zwischen dem Be-
drfnis und dessen Erfllung schiebt sich keine Vorstellung von dem
Werte ungenossener Gter, welche die Struktur des Bedrfnisses ver-
komplizieren knnte. Statt dessen halten seine Bedrfnisse den Natur-
menschen jederzeit nahe an der Erfahrung; diese sind demzufolge
strikt sinnlicher Natur. Wenn der Mensch im Zustande der Natur dem-
zufolge ein Mensch ohne eine Instanz der Vermittlung ist, dann ist es nur
folgerichtig, dass er um anderer Urteil unbekmmert lebt: Er hat ber-
haupt keine Beziehung zum Anderen.

Vorstellung und Sprache in Rousseaus zweitem Discours

Die Nhe von Kants Versuch ber die Krankheiten des Kopfes zu einigen
Gedanken Rousseaus wurde bereits gelegentlich bemerkt.10 Offenkundig

9 Ebd.
10 Vgl. Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht (1798). Hamburg: Meiner 1999 (Kant-Forschun-
gen. 10), S. 286. Siehe ferner Hans-Jrgen Schings: Melancholie und Auf-
klrung. Melancholiker und Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Litera-
tur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1977, S. 71f.; Willi Goetschel:
Kant als Schriftsteller. Wien: Passagen 1990, S. 78; Eric J. Schwab: Wit,
Satire, and Low Humor in Early Kant. In: Lessing Yearbook 29 (1997), S.
131-150, hier: S. 136; Meike Hillen: Die Pathologie der Literatur. Zur
wechselseitigen Beobachtung von Medizin und Literatur. Frankfurt am
Main: Lang 2003 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur. 61), S. 56.

32
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

ist vor allem die Beschreibung des Menschen im Naturzustand durch


die Texte Rousseaus inspiriert. Ein vergleichender Blick in den Discours
sur lorigine et les fondemens de lingalit parmi les hommes wird ins-
besondere den Zusammenhang zwischen dem Vermgen der Einbildung
von etwas nicht sinnlich Prsentem (der imagination) und der Fhigkeit
zur Beziehung zum Anderen verdeutlichen.
Der wilde Mensch ist fr Rousseau dadurch charakterisiert, dass
seine Bedrfnisse sich auf die Notwendigkeiten des berlebens be-
schrnken. Die einzige Leidenschaft, die der Naturmensch als Hand-
lungsantrieb kennen muss, ist die Selbstliebe (amour de soi), die ihm
einen Eifer fr sein eigenes Wohlsein [bien-tre]11 gebietet. Entschei-
dend ist fr Rousseau, dass dieser Eifer ohne jede Einwirkung eines
Verstandesorgans auskommt; er ist ein instinktnahes Verhalten, das sich
ausschlielich auf die unmittelbare sinnliche Erfahrung bezieht. Der Na-
turmensch wird durch nichts von den sinnlichen Eindrcken abgelenkt.
Seine Einbildungskraft [imagination], schreibt Rousseau,

bietet ihm keine Bilder dar [ne lui peint rien], sein Herz fordert nichts. Seinen
migen Bedrfnissen [modiques besoins] kann er leicht genug tun, und er ist
von allen Einsichten [connoissances], ohne welche man niemals nach greren
Bedrfnissen strebt, so weit entfernt, da er weder etwas vorhersehen noch neu-
gierig sein kann.12

Die einzige Frage, die sich dem Naturmenschen Rousseaus angesichts


eines wahrgenommenen Objekts (eines Dings oder eines anderes We-
sens) stellen kann, ist, inwiefern dieses fr seine augenblickliche Selbst-
erhaltung ntzlich oder schdlich sein knnte. Er lebt ohne Bedrfnisse
des Intellekts und ohne jede Leidenschaft, er ist ebenso ohne theoretische

11 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundla-


gen der Ungleichheit unter den Menschen [revidierte Fassung der ber-
setzung von Moses Mendelssohn]. In: ders.: Schriften. Hrsg. von Henning
Ritter. Bd. 1-2. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, Bd.
1, S. 165-302, hier: S. 218. Die bersetzung Mendelssohns wurde mit der
zweisprachigen Edition Heinrich Meiers (Jean-Jacques Rousseau: Diskurs
ber die Ungleichheit. Discours sur lingalit. Kritische Ausgabe des inte-
gralen Textes. Neu ediert, bers. und kommentiert von Heinrich Meier. 2.,
durchges. und erw. Aufl. Paderborn u.a.: Schningh 1990 [UTB. 725]) ver-
glichen und stellenweise modifiziert. Auerdem auch fr weitere Texte
Rousseaus wurde die Pliade-Ausgabe eingesehen (Jean-Jacques Rous-
seau: uvres compltes. Bd. 1-5. dition publie sous la direction de Ber-
nard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1964-1995).
12 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 206.

33
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Einsicht wie ohne emotionale Bindung. Diese beiden Eigenheiten haben


in Rousseaus Modell eine gemeinsame Ursache: das Schweigen der Ein-
bildungskraft, die dem wilden Menschen keine Bilder bietet. Der
Naturmensch ist gnzlich auf die reinen Sinneswahrnehmungen be-
schrnkt [born dabord aux pures sensations].13
Diese enge Anbindung der Bedrfnisse an die Natur und an den na-
trlichen Drang zur Selbsterhaltung begrndet das utopische Potential
des Discours sur lorigine et les fondemens de lingalit. Alle bel der
Gesellschaft liegen fr Rousseau darin, dass sie Begierden hervorbringt,
die nicht mehr natrlichen Bedrfnissen entsprechen, sondern auf kultu-
relle Erwerbungen zielen. Der Mensch, so die Grundannahme Rousseaus,
unterscheidet sich vom Tier durch sein Vermgen, sich vollkommener
zu machen [la facult de se perfectionner]14 und das heit, sich zu ent-
wickeln, um die Geschichte durchlaufen zu knnen, die Rousseaus Text
beschreibt.
Rousseaus Discours schreibt die Geschichte der Menschheit als eine
Geschichte der Ablsung von den unmittelbaren natrlichen Bedrfnis-
sen, beginnend mit der Kunst des Ackerbaus, die bereits so viel Arbeit
und Voraussicht [prvoyance] erfordert und auch so sehr von anderen
Knsten [abhngt], da sie nirgends anders als in einer wenigstens ange-
henden Gesellschaft auszuben ist.15 Im zweiten Teil des Discours hebt
Rousseau hervor, dass der Ackerbau ein auerordentliches Ma an Vor-
aussicht erfordert, insofern

man sich, um sich dieser Beschftigung hinzugeben und die Felder zu besen,
entschlieen mu, erst einmal etwas zu verlieren, um in der Folge viel zu ge-
winnen [perdre dabord quelque chose pour gagner beaucoup dans la suite]:
eine Vorsorge [prcaution], die der Geistesverfassung des wilden Menschen
hchst fern liegt, der, wie ich gesagt habe, groe Mhe hat, am Morgen an sei-
ne Bedrfnisse fr den Abend zu denken.16

Ohne an dieser Stelle ausfhrlich auf die komplexe Konstruktion des


Discours sur lorigine et les fondemens de lingalit einzugehen, kann
man das Schema folgendermaen zusammenfassen: Ackerbau, wie alle
weiterentwickelten Knste, wird mglich durch die Voraussicht und
Vorsorge (prvoyance, prcaution), in der wiederum die Einbildungs-
kraft als die Fhigkeit der Vorstellung eines zuknftigen Zustands wie-

13 Ebd., S. 231.
14 Ebd., S. 204.
15 Ebd., S. 207.
16 Ebd., S. 240.

34
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

dererkannt werden kann. Die Gesellschaft beginnt in dem Moment, in


dem der Mensch ein zeitliches Wesen wird.
Mit anderen Worten: Die Zirkulation der konomie jetzt etwas zu
verlieren, um spter mehr zu gewinnen wird ermglicht durch einen ihr
vorausgehenden Kreislauf, durch eine Einwirkung des Verstandes auf
sich selbst; der Befhigung des Menschen, einem Produkt seiner Phanta-
sie, einer Vorstellung der Einbildungskraft den Vorzug gegenber der
sinnlichen Evidenz zu geben. Mit einem Begriff, der im Mittelpunkt von
Derridas Rousseaulektre steht, entlehnt aus Heideggers Kantbuch und
also indirekt aus der Analyse der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft,
und daher schon fr Derrida die Mglichkeit eines Brckenschlags
zwischen Rousseau und Kant andeutend,17 kann man von Selbstaffektion
sprechen.
In der Transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft
fhrt Kant aus, dass der innere Sinn, der die Form von Zeit annimmt,
nicht weniger als eine Paradoxie ist, insofern das Subjekt in ihm notwen-
dig zugleich spontan und rezeptiv sein muss: nmlich wie dieser auch so
gar uns selbst, nur wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst
sind, dem Bewutsein darstelle, weil wir nmlich uns nur anschauen, wie
wir innerlich affiziert werden, welches widersprechend zu sein scheint,
indem wir uns gegen uns selbst als leidend verhalten mten.18 Der in-
nere Sinn die Zeit ist eine Affektion des Subjekts durch sich selbst,
durch sein eigenes Vermgen. Wie es in Kants Modell des reinen Ver-
standes eine ursprngliche Selbstaffektion ist, die Raum erffnet fr die
Affektion durch etwas anderes als das Selbst, so ist es in Rousseaus An-
thropologie die Befhigung (oder der Zwang: man wird hier nicht an die
Mglichkeit einer Wahl denken knnen) zu eben dieser, die den Men-
schen aus der reinen Gegenwrtigkeit und Passivitt des Naturzustands
herausbricht und ihn in seine eigene Geschichte hineinwirft.
Nachdem Rousseau den Ackerbau und mit ihm die Mglichkeit der
Voraussicht (und also des Begehrens eines Nicht-Anwesenden) einge-
fhrt hat, kann er die folgenden Schritte seiner Menschheitsgeschichte
mit wenigen weiteren Elementen beschreiben. Sobald die Einbildungs-
kraft einmal begonnen hat, abwesende Dinge vorzustellen, gibt es offen-
sichtlich kein Halten mehr. Sobald der Mensch mehr besitzen kann als
seine Natur fordert, ndert sich die Art seines Begehrens. Whrend das
Leben des Naturmenschen durch ein Gleichgewicht der Macht und der

17 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [1967]. bers. von Hans-Jrg


Rheinberger und Hanns Zischler. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1994 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 417), S. 319.
18 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 149 (KrV, B 152f.).

35
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Begierde [quilibre du pouvoir et du desir]19 ein ausgewogenes Ver-


hltnis von Begierden und den zur Erfllung derselbigen notwendigen
Krften charakterisiert ist, wachsen die Begierden des zivilisierten
Menschen ins Unendliche. Der Mensch beginnt, sich die Ziele seiner Be-
gierden selbst zu setzen, statt sie von der Natur vorgegeben zu bekom-
men. Der eigentliche Motor der perfectibilit ist somit die Einbildungs-
kraft, in deren Macht der Mensch keine Grenzen mehr kennt. Sobald
seine verborgenen Krfte [ses facults virtuelles] wirksam werden [se
mettent en action], heit es in Rousseaus mile,

erwacht die Einbildungskraft, die wirksamste unter allen [la plus active de
toutes], und kommt ihnen zuvor. Die Einbildungskraft erweitert fr uns das
Ma der mglichen Dinge, es sei nun im Guten oder im Bsen, und erweckt
und nhrt folglich die Begierden [les dsirs] durch die Hoffnung [lespoir], sie
zu befriedigen.20

Aber nicht nur das Verhltnis zwischen Krften und Begierden ndert
sich in diesem Moment radikal, sondern ebenso auch die Zielrichtung des
Begehrens: Der natrliche Wille zur Selbsterhaltung wird nun durch
den Willen zur Anerkennung durch den Anderen ersetzt. Rousseau fhrt
die Idee des Vergleichs zwischen zwei gleichermaen nicht sinnlichen
Vorstellungen ein, um diesen bergang zu erklren.21
Whrend der Naturmensch seine natrlichen Bedrfnisse befriedigen
will, strebt der zivilisierte Mensch die Anerkennung von seinen Mitmen-
schen an. Zu diesem Zwecke kann er Gter herstellen, welche die Einbil-
dungskraft seiner Mitmenschen anstacheln, um sich Verdienst zu er-
werben, oder er kann diesen Verdienst vortuschen. Weil in der Ge-
sellschaft alle Menschen dasselbe Gut begehren Anerkennung durch
den Anderen , beginnen die Menschen, sich gegenseitig zu tuschen
und zu betrgen. Rousseau setzt nicht nur den gesellschaftlichen Unfrie-
den bellum omnia contra omnes in genauer Umkehrung der ge-
schichtsphilosophischen Perspektive Hobbes an den Endpunkt seiner
Betrachtung, sondern er beschreibt das Medium der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung als den Motor der Vergesellschaftung.

19 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Von der Erziehung [1762]. In der [ano-
nymen] deutschen Erstbertragung von 1762. berarb. von Siegfried
Schmitz. 2. Aufl. Dsseldorf, Zrich: Artemis & Winkler 1997, S. 69.
20 Ebd.
21 Vgl. Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der
Ungleichheit (wie Anm. 11), S. 236.

36
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Der Rang und das Schicksal eines jeden Menschen ist [...] auch in Ansehung
des Verstandes [lesprit], der Schnheit, der Leibesstrke, der Geschicklichkeit
und der Verdienste und Talente festgesetzt, und da diese Eigenschaften die ein-
zigen Mittel sind, sich Achtung [considration] zu erwerben, so war es bald
notwendig, sie zu haben oder sie vorzutuschen [il falut bientot les avoir ou les
affecter]; man mute sich um seines Vorteiles willen anders zeigen, als man tat-
schlich war. Sein und Scheinen wurden zwei ganz verschiedene Dinge, und
aus diesem Unterschiede entsprang die tuschende Hoheitsmiene, die betrgeri-
sche List [la ruse trompeuse] und ihr Gefolge, alle brigen Laster [tous les vi-
ces].22

Das Zeitalter der Zivilisation ist somit ein Zeitalter der Phantasmen und
Tuschungen: des Betrugs seiner selbst wie auch des Betrugs des Ande-
ren. Beide Arten des Betrugs beruhen auf dem gleichen Prinzip: Sie wir-
ken durch die Macht der Einbildungskraft, abwesende zuknftige oder
vermeintlich zuknftige Dinge so stark vorzustellen, dass sie erreichbar
erscheinen und die Begierde beflgeln. Wenn Rousseau im zweiten Teil
des Discours das Zeichen explizit als Mittel der Tuschung einfhrt
(Zeichen [...], um Reichtum auszudrcken [signes reprsentatifs des ri-
chesses]23), gibt er der Vorstellung (der ide), welches die Einbildungs-
kraft als Medium fr alle Selbstaffektion bentigt, lediglich einen ande-
ren Namen. Tatschlich geht es im zweiten Discours um das Zeichen, so-
bald der Mensch nicht mehr an den gegenwrtigen Augenblick geheftet
ist, sondern beginnt, sich eine mgliche, reale oder irreale Zukunft oder
auch Vergangenheit (jedenfalls: das Nichtgegenwrtige) vorzustellen.
Die Verflschung der ursprnglichen Prsenz des Naturzustands durch
das Zeichen ist es, die Rousseau zu einer entschiedenen Ablehnung der
Reprsentation in allen ihren Erscheinungsformen fhrt.24
Im Essai sur lorigine des langues unterscheidet Rousseau zwischen
der lteren Form des Austauschs durch vorzeigbare Gegenstnde oder
Gesten Zeichen und der neueren durch gesprochene Wrter: aufein-
anderfolgende, immaterielle Zeichen. Erstere stellen (als Spur oder Indiz)
ein Mittel der juristischen Evidenz dar:

Als der Levit aus Ephraim den Tod seiner Frau rchen wollte, sandte er kein
Schreiben an die Stmme Israels, sondern zerstckelte ihren Krper in zwlf
Teile und lie diese den Stmmen zukommen. [...] Heutigentags htte die An-
gelegenheit sich in die Lnge gezogen, verdreht in Pldoyers und Streitgespr-

22 Ebd., S. 242.
23 Vgl. ebd., S. 243.
24 Vgl. Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemein-
schaft. bers. von Sabine Schulz und Francesca Raimondi. Berlin: diapha-
nes 2004, S. 75f.

37
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

che [tourne en plaidoys, en discussions] und vielleicht in einen Schwank, und


das schrecklichste aller Verbrechen wre schlielich ungeshnt geblieben.25

Der bergang von den materiellen Zeichen zu den lautlichen Zeichen


gleicht demjenigen von der Zeichenlosigkeit zum Zeichen: Das Verhlt-
nis zwischen Zeichen und Bezeichnetem wird willkrlich und dadurch
abermals verunsichert, korrumpiert und der Verflschung geffnet. Wh-
rend bei dem gezeigten Gegenstand ein Signifikat einem Signifikanten
entspricht, erlauben es sprachliche Zeichen, mehrere aufeinanderfolgen-
de Partikel auf einen Signifikanten zu beziehen. Die Einbildungskraft
wird durch die Sprache in einem vielfach hheren Mae beflgelt als
durch das sinnliche Erblicken eines Objekts. Die aufeinanderfolgenden
Eindrcke einer Rede [Limpression successive du discours] haben
Rousseau zufolge durch ihre wiederholte Bekrftigung eine strkere
Wirkung als die Anwesenheit des Gegenstandes selbst (la prsence de
lobjet mme), und bereiten euch eine andere Gemtsbewegung [une
autre motion].26 Rousseau erfasst klar, dass die Anteilnahme am Ande-
ren sich nur im Feld der Reprsentation (der Einbildungskraft und der
Sprache) abspielen kann und folglich an allen Fehlern und Schwchen
dieses Feldes teilhat. Die Gefhle vermitteln sich notwendigerweise ber
vom Krper ablsbare Zeichen, die auf die Einbildungskraft des Hrers
einen Zwang ausben, an der dargestellten Empfindung teilzuhaben.
Whrend Rousseaus Naturmensch nur sinnliche Objekte kennt und
diese nach Magabe seines ausschlielichen Interesses an Nahrung,
Frau und Schlaf27 bewertet, treten mit der Genese des Zeichens Objekte
auf, die auf ein Objekt verweisen, das nicht sinnlich greifbar sein muss.
Sobald das Begehren sich einmal auf ein Zeichen anstelle des sinnlich
anwesenden Objekts richtet, ndert sich seine Natur. Das Begehren wird
offen fr Ersetzungen und symbolische Stellvertretungen. Wie bereits
Rousseaus Confessions zeigen, kann ein von seiner Einbildungskraft ge-

25 Jean-Jacques Rousseau: Versuch ber den Ursprung der Sprachen, in dem


von der Melodie und der musikalischen Nachahmung die Rede ist. In:
ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften. In Erstbersetzung
von Eckhart Koch, Dietrich Leube, Melanie Walz und Hanns Zischler so-
wie bearbeiteten und ergnzten bersetzungen aus dem 18. und 19. Jahr-
hundert. Mnchen: Winkler 1981, S. 163-221, hier: S. 167.
26 Ebd., S. 167f.
27 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 205.

38
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

triebener Mensch in schlechthin jedem Objekt das Zeichen eines be-


gehrten Ideals erkennen.28
Die Vorbedingung fr jede dieser Ersetzungen ist jedoch, dass der
Mensch befhigt ist, von der sinnlichen Gegenwrtigkeit abzusehen. Fr
Rousseau geschieht dies im Vermgen der Voraussicht und also durch
eine Vorstellung von Zeit. Es ist nur konsequent, wenn Rousseau in
Emile explizit die Voraussicht als Grund allen zivilisatorischen bels an-
prangert. Die Voraussicht, schreibt Rousseau, ist der Beginn allen Wahn-
sinns:

Die Voraussicht [La prvoyance]! die Voraussicht, die uns ohne Unterla ber
uns hinaustreibt [qui nous porte sans cesse del de nous] und uns so oft dahin
streben lt, wohin wir niemals kommen werden; sie ist die wahre Quelle all
unseres Elendes. Was fr ein Wahn [Quelle manie] fr so ein vergngliches
Wesen [un tre aussi passager], wie den Menschen, stets fern in eine Zukunft
zu sehen, die so selten kommt, und das Gegenwrtige zu verabsumen, dessen
er gewi [sur] ist!29

Im gleichen Mae, wie der Mensch nach seinem Austritt aus dem Natur-
zustand nicht mehr nur den gegenwrtigen Augenblick wahrnimmt
weil er ihm jederzeit voraus oder hinterher und jedenfalls nicht bei ihm
ist , lst sich fr ihn die enge Bindung zwischen Zeichen und Bezeich-
netem auf. Diese Entwicklung ist fr Rousseau die manie des modernen
Menschen. Insofern ist es kaum erstaunlich, dass Rousseau in Emile die
Lehre entwickelt, man mge den Kindern nicht mehr Worte vermitteln,
als sie mit Bedeutungen verbinden knnen, um ihre geistige Gesundheit
zu erhalten.

Man beschrnke also den Wortschatz der Kinder so sehr wie nur mglich. Es
ist eine sehr groe Unbequemlichkeit, da es mehr Wrter hat als Vorstellun-
gen [ides], da es mehr Dinge zu sagen wei, als es denken kann. Ich glaube,
eine der Ursachen, warum die Bauern gewhnlich einen gesnderen Verstand
[lesprit plus juste] haben als die Stadtleute, ist, da ihr Wortschatz nicht so
weitlufig ist.30

28 Vgl. Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau und die Gefahren der Refle-
xion. In: ders.: Das Leben der Augen [1961]. bers. von Henriette Beese.
Berlin, Wien: Ullstein 1984, S. 67-146, hier: S. 78.
29 Rousseau: Emile oder Von der Erziehung (wie Anm. 19), S. 72.
30 Ebd., S. 63.

39
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Wahnsinn ist fr Rousseau vor allem die Dissoziation von Wort und Be-
deutung, der berschuss des Sprechens ber die Vorstellung.31 Er ist in
die Geschichte des Zeichens eingeschrieben und entfaltet sich sptestens
mit der Einfhrung des lautlichen Zeichens. Wahnsinn ist jederzeit
Wahnsinn der Sprache, eine Verrcktheit des Sinns.
Rousseaus Forderung einer klaren Zuordnung jeden Wortes zu einer
Vorstellung hat seine Herkunft in einer Grndungsakte der abendlndi-
schen Sprachphilosophie. Aristoteles bestimmt zu Beginn seiner Ab-
handlung Peri Hermeneias, dass die uerungen unserer Stimme ein
Ausdruck der seelischen Eindrcke () seien und diese wie-
derum Abbildungen der Dinge ().32 Die Wahrheitsfhig-
keit der Sprache beweist sich, indem jede Aussage auf ein Ding zurck-
gefhrt werden kann. Sprache gilt damit im Idealfall als ein transparentes
Medium, das im Prozess des analysierenden Verstehens restlos ver-
schwindet und einen Einblick in die Welt der Dinge ermglicht.33 Wenn
die Sprache des Wahnsinns eine Sprache ist, in der Worte sich nicht auf
Vorstellungen beziehen lassen (oder nicht auf eine Vorstellung) und in
der Vorstellungen sich nicht auf Dinge beziehen lassen, dann widersetzt
sie sich ihrem Verschwinden im Prozess des Verstehens und gefhrdet so
die Annahme einer Transparenz der Sprache.
Wie kann ein Jenseits des Wahnsinns aussehen? Rousseau spricht
diese Frage explizit an, im Vorwort seines Romans Julie. Hier findet sich
eine Passage, in der die nrrische Neigung der stdtischen gens du monde
zur tuschenden Fiktion, zum ueren Glanz und zur schnen Rede der-
jenigen zur wahren Tugend der lndlichen campagnards gegenberge-
stellt wird. Die durch das Lesen der modischen Romane bewirkte Gei-
stesverwirrung der Stdter geht so weit, dass jene guten Romane, welche
die Grundstze der groen Gesellschaften bekmpfen und zerstren
wollen, von den Leuten nach der Mode als ein plattes, berspanntes, l-
cherliches Buch ausgepfiffen, gehat, verschrien werden.34

31 Vgl. Manfred Schneider: Das Grauen der Beobachter: Schriften und Bilder
des Wahnsinns. In: Bild und Schrift in der Romantik. Hrsg. von Gerhard
Neumann und Gnter Oesterle. Wrzburg: Knigshausen & Neumann
1999 (Stiftung fr Romantikforschung. 6), S. 237-253, hier: S. 240f.
32 Aristoteles: Werke in deutscher bersetzung. Begrndet von Ernst Gru-
mach. Hrsg. von Hellmut Flashar. [Bisher:] Bd. 1-14/III; 17-20. Berlin:
Akademie 1973-2002, Bd. 1/II, S. 3 (Peri Hermeneias, 16a).
33 Vgl. Daniel Heller-Roazen: Language, or no Language. In: Diacritics 29
(1999), H. 3, S. 22-39, hier: S. 22f.
34 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die neue Hloise. Briefe zweier Lieben-
den aus einer kleinen Stadt am Fue der Alpen. bers. von Johann Gott-

40
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Die wahnsinnige Gesellschaft nennt die Darstellung ihres Wahnsinns


ebenso wie die Gesundheit der Landleute Wahnsinn. Hier zeigt sich die
polemische Energie, die der Bezeichnung Wahnsinn anhngt der
Wahnsinnige ist immer der andere, der Ausgeschlossene , und gleich-
zeitig zeigt sich die Macht der Sprache, durch die Unklarheit ihrer Refe-
renzen Verwirrung zu stiften. Voil, Monsieur, comment la folie du
monde est sagesse, ruft Rousseaus fiktiver Redner R. aus sehen
Sie, mein Herr, wie die Torheit der Welt Weisheit ist.35 Rousseaus Red-
ner zitiert die herrschende Wertung die Stadtleute sind gesund, ihre
Kritiker sind wahnsinnig , um sie umzukehren. Die Menschen nach
der Mode sind die eigentlich Wahnsinnigen, die von ihnen diffamierten
Landleute aber eigentlich gesund. Die Figur dieser Umkehrung, welche
die ausgegrenzte Seite der Ausgeschlossenen affirmativ besetzt, wird in
zahlreichen romantischen Texten ber Wahnsinn gebraucht.36
Rousseaus Versuch einer Umwertung der Opposition von verrckt
und gesund kann allerdings nicht umhin, einzugestehen, seinerseits das
Ergebnis einer sprachlichen Operation und eines fiktionalen Entwurfs
(eines Romans) zu sein. Insofern die Hauptfrage des Vorworts von Julie,
ob die den Roman konstituierenden Briefe fingiert sind oder nicht, unbe-
antwortet bleibt, bleibt auch die Frage nach der Fiktionalitt des Lebens
der einfachen und gesunden Menschen unbeantwortet: es wird wie-
der unentscheidbar, wer verrckt und wer vernnftig ist.37 Die eigent-
liche Verrcktheit liegt demnach in der Unmglichkeit, eine sichere Re-
ferenz fr die Unterscheidung zwischen gesund und wahnsinnig zu
finden. Der Wahnsinn liegt in der umherirrenden Referentialitt der
Sprache begrndet. Wenn Wahnsinn nicht einfach ein Missbrauch von
Sprache ist, der abzustellen wre; wenn sich er sich aus der Logik (oder
A-Logik) der Sprache konstituiert, dann kann Rousseaus Schreiben dem
Wahnsinn unmglich entkommen. Wahnsinn ist weniger ein Missbrauch
der Sprache oder eine Missachtung der Gesetze der Sprache als vielmehr
eine Folge der Gesetzlosigkeit von Sprache.

fried Gellius, berarb. und Ergnzung der bersetzung von Dietrich Leu-
be. Mnchen: Winkler 1978, S. 19.
35 Ebd.
36 Vgl. Shoshana Felman: Writing and Madness (Literature, Philosophy, Psy-
choanalysis). bers. von Martha Noel Evans und Shoshana Felman. Ithaca,
NY.: Cornell University Press 1987, S. 83; Hans-Jost Frey: Die Verrckt-
heit der Wrter. In: ders.: Die Autoritt der Sprache. Lana, Wien, Zrich:
Edition Holweg + edition per procura 1999, S. 253-285, hier: S. 266.
37 Frey: Die Verrcktheit der Wrter (wie Anm. 36), S. 266.

41
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Warum Rousseaus Naturmensch keine Gegenwart kennt

Der Unterschied zwischen dem natrlichen und dem zivilisierten


Menschen ist fr Rousseau demnach dadurch bestimmt, dass letzterer
ber eine Instanz der Vermittlung verfgt, die ihm einen engen Bezug zu
den Dingen ermglicht und ihn zugleich von diesen separiert. Man kann
Rousseaus Beschreibung des Naturmenschen als eine Negativfolie die-
ser Entwicklung verstehen. Er ist dasjenige Wesen, dessen Einbildungs-
kraft schweigt. Als unmittelbare Folge dieses Schweigens lebt er nicht
nur vor der Zeit (vor der menschlichen Geschichte), sondern gnzlich oh-
ne Zeit, ohne Voraussicht und also ohne Reprsentation:

Seine Seele, die von nichts bewegt wird, berlt sich der bloen Empfindung
ihres gegenwrtigen Daseins [au seul sentiment de son existence actuelle], ohne
den mindesten Begriff von dem Zuknftigen zu haben [sans aucune ide de
lavenir], es mag noch so nahe bevorstehen. Seine Entwrfe [projets], die eben-
so eingeschrnkt sind wie seine Anschauungen [vues], erstrecken sich kaum bis
an das Ende eines einzigen Tages.38

Der wilde Mensch hat nicht nur keine Vorstellung von der Zeit er hat,
weil er nicht ber Zeit verfgt, weil er keine Zukunft und damit auch
keine Vergangenheit kennt, berhaupt keine Vorstellung. Daraus ergibt
sich die paradoxe Konsequenz einer vollstndigen Unkenntnis der Ge-
genwart: Weil und insofern er ausschlielich im gegenwrtigen Augen-
blick lebt, weil er die zuknftige Gegenwrtigkeit nicht antizipieren und
die vergangene Gegenwrtigkeit nicht memorieren kann, ist ihm der ge-
genwrtige Augenblick, den allein er doch kennt, kognitiv unzugnglich.
Wenn der Naturmensch keinen anderen Bezug zu seiner Auenwelt als
den der unmittelbaren sinnlichen Eindrcke hat; wenn Wahrnehmen
und Fhlen [appercevoir et sentir], die reine Passivitt der Rezeption al-
so, seinen ersten Zustand [son premier tat]39 ausmachen, dann tritt
ihm jeder Augenblick vereinzelt gegenber. Das Leben des Naturmen-
schen ist eine blinde Reihung abwechselnder Zustnde, ohne die Mg-
lichkeit, sich selbst oder einen anderen je wiederzuerkennen. Rous-
seau folgert, dass im Naturzustand keinerlei Gesellschaft entstehen kann,
nicht einmal die der Familie (Sie hatten nicht die mindeste Gemein-
schaft unter sich [ils navoient entre eux aucune espce de commer-
ce]).40

38 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 207.
39 Ebd., S. 205.
40 Ebd., S. 222.

42
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Ohne die Fhigkeit, etwas Abwesendes reprsentieren zu knnen, auf


die rein sinnliche Gegenwart angewiesen, mssen zwei Menschen nur fr
einen Augenblick getrennt werden, und sie knnen einander nicht mehr
wiedererkennen. Nachdem er feststellt, dass im Naturzustand die Kinder
ihre Mtter verlieen, sobald sie Krfte genug hatten, bemerkt Rous-
seau: Ja, sie drften sich in ihrem Leben nicht wieder erkannt [se recon-
notre] haben, weil man sie gar nicht aus den Augen lassen durfte, wenn
man sich wieder finden [se retrouver] wollte.41 Wiedererkennen und
Wiederfinden: beides heit, gleichzeitig das zu sehen, das da ist und das-
jenige, das nicht da ist; es heit, dasjenige, das da ist, als dasjenige wie-
derzusehen, das man bereits gesehen hat.
Jedes Wiedererkennen ist ein Wiedererkennen des Anderen als ein
Wiederfinden des Anderen im eigenen selbst, in der eigenen Vorstellung.
Das Wiedererkennen ist damit auf eine Form der Reprsentation auf
das Zeichen also angewiesen. Umgekehrt erffnet der Gebrauch des
Zeichens stets eine Szene des Wiedererkennens. Wenn man das Zeichen
als ein notwendiges Element in der Vermittlung des Ich mit sich selbst
bestimmt, kommt man zu dem Schluss, dass der Naturmensch Rous-
seaus keine Beziehung zum Anderen haben kann, weil er keine Bezie-
hung zu sich selbst hat.42 Die Paradoxie des Naturzustands lautet: Weil
und insofern der Naturmensch nur die Gegenwart kennt, weil er keine
Vorstellung einer Zukunft hat, kann er auch die Gegenwart nicht kennen.

Mitleid und Mimesis als Perversion

Die Bedeutung der Einbildungskraft fr jede noch so basale Gesellschaft-


lichkeit zeigt sich insbesondere in Rousseaus Diskussion des Mitleids.
Dieses ist fr Rousseau die einzige natrliche Tugend [la seul vertu Na-
turelle]43 und folglich die einzige bereits dem Naturmenschen mgli-
che Beziehung zu einem Anderen. Eine Tugend ist das Mitleid, insofern
es den Eifer fr sein eigenes Wohlsein, die natrliche Selbstliebe,
migt [tempere].44
Alle weiteren Formen der sozialen Beziehung sind Weiterentwick-
lungen oder Perversionen des Mitleids. Dieses ist die Grundlage jeder

41 Ebd., S. 210.
42 Vgl. Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie
von Descartes bis Rousseau. Tbingen: Niemeyer 1997 (Mimesis. 29), S.
214.
43 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 218.
44 Ebd.

43
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Vergesellschaftung. Die Gewogenheit und die Freundschaft selbst ent-


springen [...] aus einem bestndigen Mitleiden [une piti constante], das
auf einen besonderen Gegenstand geheftet [fixe] ist.45 Um seine Natr-
lichkeit und Universalitt zu belegen, betont Rousseau, dass das Mitleid
jeder Reflexion vorausgeht. Sie ist, schreibt Rousseau, eine allgemei-
ne und dem Menschen ungemein ntzliche Tugend, weil sie bei ihm vor
aller Reflexion hereilt [prcde en lui lusage de toute rflexion].46
Wie aber wirkt das Mitleid? Es ist, schreibt Rousseau, der angebo-
rene Widerwille, seinesgleichen leiden zu sehen [un rpugnance inn
voir souffrir son semblable]47 und bezeichnet so die Fhigkeit, die Lei-
den eines dem Selbst hnlichen anderen als gleichartig zu den eigenen zu
betrachten (insofern der andere ein Exemplar der gleichen Gattung ist),48
wodurch die Leiden des anderen als eigenes Leiden vorgestellt werden
knnen. Das Mitleid, schreibt Rousseau, ist

nichts als ein Gefhl, das uns an die Stelle des Leidenden setzt [un sentiment
qui nous met place de celui qui souffre], ein Gefhl, das bei einem Wilden
[dans lhomme sauvage] dunkel und lebhaft [obscur et vif], bei dem gesitteten
Menschen [dans lhomme civil] hingegen aufgeklrt, aber schwach [dvelopp,
mais foible] sein mu [...].49

Insofern es die Vorstellung einer Gattungsidentitt einfhrt, welche die


Vergleichbarkeit der Leiden ermglicht, ist das Mitleid nicht so sehr eine
Migung der Selbstliebe, wie Rousseau schreibt, sondern weitaus eher
deren Vermittlung und Aufschub. Durch das Mitleid, durch die Mglich-
keit, das Leiden des Anderen als eigenes Leiden vorzustellen, dehnt sich
die Selbstliebe gleichsam auf die gesamte Gattung aus.
Mitleid versetzt in den anderen: Es ist nur mglich aufgrund eines
Vermgens zur Identifikation. Mitleid muss in der Konzeption Rousseaus
mehr sein als nur die Verwandlung eines nichtleidenden Ich in ein lei-
dendes. Es handelt sich um eine zweifache Bewegung: Zuerst lsst das
Mitleid das Ich an dem Schmerz des anderen teilhaben, woraufhin es

45 Ebd., S. 220.
46 Ebd., S. 219.
47 Ebd., S. 218.
48 Vgl. ebd., S. 219: Kein Tier geht ohne einige Unruhe [sans inquitude] an
einem Leichnam seiner Art [de son espce] vorber. Es gibt sogar einige,
die ihre Toten begraben.
49 Ebd., S. 220 (Hervorhebung von mir, O. K.).

44
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

wnscht, der andere wrde nicht leiden. Beide Bewegungen vermischen


sich im Mitleid und bedingen sich gegenseitig.50
Wenn Mitleid in diesem Sinne eine zweifache Alterisierung auslst
(zunchst eine teilnehmende bernahme eines gesehenen Schmerzes und
dann das Gefhl, einen solchen Schmerz bei einem anderen vermeiden
zu wollen), dann wird man nicht sagen knnen, dass es eine stabile Be-
ziehung zwischen zwei etablierten Subjekten herbeifhrt. Das Wort
Identifikation knnte hier in die Irre fhren. Statt einer Gleichwer-
dung vollzieht das Mitleid eine komplexe Bewegung der Alterisierung
und Selbstalterisierung, die als das Paradigma der von Rousseau als per-
fectibilit bezeichneten Selbsteinwirkung und damit der Etablierung ei-
nes Selbst gesehen werden kann.
Fr Rousseau ist Mitleid kein moralisches Gefhl, denn das mitlei-
dende Ich will aus reinem Eigennutz, dass der Andere nicht leidet. Indem
es jedoch der Grund ist, warum jeder Mensch [tout homme] bei sich ei-
nen Widerwillen versprt, anderen Bses zu tun,51 ist es dennoch die
Anlage zu moralischem Verhalten. Im Mitleid zeigt sich, dass der
Mensch fr Rousseau unvermeidlich ein soziales Wesen ist. Im Mitleid
zeigt sich das Rousseausche Ich von Anfang an aus sich heraus getrie-
ben: zum Anderen hingezogen und zur Selbstalterierung angehalten.52
Als Versetzung in den Anderen geschieht Mitleid nur ber die
Vermittlung der Einbildungskraft. Schon der Naturmensch, will er nur
die geringsten Beziehung zu einem anderen Menschen haben, muss dem-
nach entgegen Rousseaus ausdrcklicher Aussage die Macht der Einbil-
dungskraft fhlen und sich also im Raum der Selbstaffektion bewegen.53
Ohne Einbildungskraft, ohne die Fhigkeit und den Zwang zur Selbstaf-
fektion, kann es auch keine Fremdaffektion geben. Dies schreibt Rous-
seau im Essai sur lorigine des langues: Derjenige, der sich nichts vor-
stellt, fhlt nur sich selbst; er ist allein inmitten des Menschengeschlechts
[Celui qui nimagine rien ne sent que lui-mme; il est seul au milieu du

50 Wenn aber die Strke einer sich ausdehnenden Seele mich mit meinem
Mitmenschen [mon semblable] identifiziert und ich mich sozusagen in ihm
fhle [et que je me sens pour ainsi dire en lui], so will ich nicht, da er lei-
de, damit ich selbst nicht leide. Ich nehme mich seiner aus Liebe zu mir
selbst an, und die Ursache des Gebotes liegt in der Natur selbst, die mir die
Begierde zu meinem Wohlsein [le dsir de mon bien-tre] einflt (Rous-
seau: Emile oder Von der Erziehung [wie Anm. 19], S. 291).
51 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 221.
52 Vgl. Esposito: Communitas (wie Anm. 24), S. 93f.
53 Vgl. Derrida: Grammatologie (wie Anm. 17), S. 295-312.

45
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

genre humain].54 Daraus folgt die Kontamination noch des ursprng-


lichsten Zustands mit der Reprsentation.
Bei nherer Betrachtung zeigt sich, dass das Mitleid nicht nur eine
Theorie der Reprsentation voraussetzt, sondern sogar von einer Theorie
der theatralen Reprsentation im engeren Sinne abgeleitet ist. Rousseaus
Analyse des Mitleids verwandelt entscheidende Elemente der aristoteli-
schen Tragdientheorie in ein anthropologisches Schema.55 Wenn die
dramatische mimesis, wie das sechste Kapitel der aristotelischen Poetik
behauptet, bei ihrem Zuschauer und Manfred Fuhrmann
bersetzt wie zuvor schon Wolfgang Schadewaldt: Jammer und Schau-
dern56 hervorruft und dadurch einen Effekt der Katharsis, der Reini-
gung von diesen Affekten, bewirkt, dann liegt ihr zumindest implizit
eine Theorie der Erweckung eigener Emotionen durch pathetische Dar-
stellung und also der Aneignung des Gesehen in den eigenen emotiona-
len Erfahrungsbereich zugrunde.57 Um diese Annahme zu rechtfertigen,
muss auch Aristoteles Betrachter der Tragdie fhig sein, durch sprach-
liche Zeichen quasi-sinnlich affiziert zu werden, und also ber eine Form
von passiv-aktiver (nmlich: selbstaffektiver) Einbildungskraft verfgen.
Rousseau hat diese Nhe seiner Theorie des Mitleids zur im 18.
Jahrhundert nach wie vor unbestritten aktuellen aristotelischen Wir-
kungstheorie des Dramas selbst bemerkt. Ausdrcklich geht er in dem
Abschnitt des Discours sur lorigine et les fondemens de lingalit, der
dem Mitleid gewidmet ist, auch auf das Theater ein. Rousseau geht je-
doch nicht von einer Kontinuitt zwischen dem im Theater erzeugten und
dem realen Mitleid aus. Rousseau leitet seine Theorie des Mitleids
nicht nur nicht von einer Theorie des Theaters ab, sondern er versucht
umgekehrt zu zeigen, dass die Wirkung des Theaters eine Perversion des
Mitleids in der entwickelten Kultur zeigt:

54 Rousseau: Versuch ber den Ursprung der Sprachen (wie Anm. 25), S.
186. Die neuerdings diskutierte These, jede Gemeinschaft sei grundstzlich
imaginr verfasst vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur
Karriere eines folgenreichen Konzepts [1983]. bers. von Benedikt Bur-
kard und Christoph Mnz. Erw. Ausgabe. Berlin: Ullstein 1998, S. 15 ,
darf bereits im 18. Jahrhundert als Gemeingut gelten.
55 Vgl. Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts (wie Anm. 42), S.
215.
56 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. bers. und hrsg. von Manfred
Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, S. 18f.
57 Vgl. Ian Watt: Der brgerliche Roman. Defoe Richardson Fielding
[1957]. bers. von Kurt Wlfel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974
(Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 78), S. 235.

46
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

dies ist die Macht [force] des natrlichen Mitleids, das die depraviertesten Sit-
ten [les murs les plus dpraves] noch Mhe haben zu zerstren, die man in
unseren Theatern [spectacles] tglich sieht, wie manch einer sich vom Leid und
Unheil eines Unglcklichen rhren lt und darber weint, der, wre er an der
Stelle des Tyrannen, die Qualen seines Feindes noch verschrfen wrde, gleich
dem blutdrstigen Sulla [...] oder jenem Alexander von Pherae, der es nicht
wagte, der Auffhrung irgendeiner Tragdie beizuwohnen, aus Furcht, da man
ihn mit Andromache oder Priamos wehklagen she, whrend er die Schreie so
vieler Brger, die man tglich auf seine Befehle hin umbrachte, unbewegt [sans
motion] mitanhrte.58

Whrend das natrliche Mitleid auf das Leiden des anderen hin rea-
giert, lsst das Theater die Trnen durch eine mimetische Darstellung der
Leiden flieen dergestalt, dass diese Darstellung berzeugender wirkt
und daher ein strkeres Gefhl des Mitleids bewirkt als echtes Leiden.
Das Verhltnis der dargestellten Leiden zu den echten ist insofern ver-
gleichbar mit der Gegenberstellung des Gefhlsmenschen und des
Schauspielers in Diderots Paradoxe sur le Comedien: Hier wird die
Frage, wer in der Liebe eher Erfolg haben wrde, zugunsten des Schau-
spielers beantwortet, weil er sich beherrscht und berzeugen kann, wh-
rend der Gefhlsmensch nur unbeholfen stammeln knne.59 Der Per-
version des Tyrannen, im Schauspiel mit den Unglcklichen zu
weinen, whrend ihn in der Realitt keinerlei Rhrung bewegt, entspricht
in Rousseaus Darstellung die Perversion des Theaters, knstliche Zeichen
zu verwenden, um das Mitleid darzustellen, durch welche unweigerlich
auch das echte Leiden in die stetige Gefahr der Falschheit und Tu-
schung (in die Macht der Einbildungskraft also) hineingezogen wird. Das
Mitleid darf nicht ber Zeichen vermittelt sein, damit es erstens natr-
lich und universell bleibt und zweitens nicht der Tuschung, dem Irr-
tum, der Affektation anheimfllt.
Insofern das Theater seine Nachahmbarkeit vorfhrt, zeigt es, dass
das Mitleid von Anfang an auf das Zeichen angewiesen ist. Die mime-
tische Wiederholung fgt dem natrlichen Zeichen des Leidens ein
nachgeahmtes hinzu und zerstrt damit jene eindeutige Beziehung zwi-
schen Wort und Vorstellung, die in Emile als die Grundlage geistiger Ge-
sundheit gilt. Das Auftreten der Mimesis zeigt den Beginn des Wahn-

58 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 219f. Vgl. Rousseau: Versuch ber den Ur-
sprung der Sprachen (wie Anm. 25), S. 168.
59 Vgl. Denis Diderot: Das Paradox ber den Schauspieler. In: ders.: Erzh-
lungen und Gesprche. bers. von Katharina Scheinfu. Leipzig: Diete-
richsche Verlagsbuchhandlung 1953, S. 337-416, hier: S. 370f.

47
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

sinns an und befrdert ihn zugleich.60 Doch ist die Mimesis dem Mitleid
von Anfang an eingeschrieben. Die Perversion des Tyrannen der auf
die Anzeichen des Leidens hin Mitleid empfindet statt auf das wirkliche
Leiden hin ist nur mglich, weil Mitleid sich stets nur auf die Zeichen
des Leidens und nie auf das Leiden selbst beziehen kann. Das Theater
knnte die Perversion des Tyrannen nicht vollbringen, wenn sie nicht in
der Struktur des Mitleids angelegt wre wenn das Mitleid nicht von
vornherein pervertierbar wre. Das Theater ist die Perversion des Mit-
leids, aber Mitleid ist nur mglich aufgrund der menschlichen Perversibi-
litt ein anderer Name fr die perfectibilit und aufgrund des
menschlichen Vermgens der Perversibilitt, der Einbildungskraft.
Indem Rousseau derart, ber das Mitleid, seinen Naturmenschen
mit der Einbildungskraft und damit mit der ffnung fr die Zukunft (fr
die Selbstaffektion) ausstattet, rettet er diesen aus der Paradoxie der rei-
nen Passivitt, erweckt dafr allerdings den Eindruck, dass der Discours
sur lorigine et les fondemens de lingalit eine andere These belegt, als
der Autor zu beweisen vorgibt. Wenn der Discours ausdrcklich zu be-
weisen sucht, dass der Mensch ursprnglich nmlich von Natur aus
moralisch gut und unverdorben ist und nur die Gesellschaft den Keim
des Bsen in ihn hineingetragen hat,61 dann fhrt er gegen diese These
vor, dass der Mensch genau dasjenige Wesen ist, das keine Natur hat.
Seine Natur ist vielmehr das Potential der Denaturalisierung, der fort-
schreitenden Entnatrlichung, und das bedeutet nicht weniger als das He-
raustreten aus jeder Bestimmung, aus jeder Eigenheit oder Eigentlichkeit.
Die Natur des Menschen ist es, von keiner Natur bestimmt zu werden.

60 Als Folge dieser berlegungen erscheint im 18. Jahrhundert die Rckkehr


zum Unmittelbaren die Abkehr von den Bchern und die Orientierung
am einfachen Leben des Landmanns als mgliche Therapieform ge-
gen Wahnsinn. Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine
Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft [1961]. bers. von Ulrich
Kppen. 12. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp Ta-
schenbuch Wissenschaft. 39), S. 339-345. Ein Echo dieser Rousseauschen
Festlegungen findet sich noch in Schopenhauers Verbindung von Wahn-
sinn und Schauspiel: Meine eigene, vieljhrige Erfahrung hat mich auf die
Vermutung gefhrt, da Wahnsinn verhltnismig am hufigsten bei
Schauspielern eintritt. Welchen Mibrauch treiben aber auch diese Leute
mit ihrem Gedchtni! (Arthur Schopenhauer: Werke in fnf Bnden.
Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. von Ludger Ltkehaus. Zrich:
Haffmanns 1988, Bd. 2, S. 465 [Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2,
Kap. 32]).
61 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 275 (Anm. IX).

48
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Wenn die Einbildungskraft das Vermgen dieser Selbst-denaturali-


sierung ist, dann ist sie fr Rousseau zugleich das Vermgen der Tu-
schung und Lge und damit einer neuen, gesellschaftlich generierten Ab-
hngigkeit. Man kann die Konsequenzen, die sich aus dieser Denaturali-
sierung ergeben, kaum unterschtzen. Die philosophische Leitdisziplin
der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts, die Anthropologie, wird inso-
fern sie die Lehre von der Natur des Menschen und also seiner Deter-
minationen zu sein beansprucht von hier aus grundstzlich in Frage ge-
stellt. Zumindest in Bezug auf ihr Untersuchungsfeld und ihre Methodik
kann sie die Untersuchungen Rousseaus nicht anders denn als Herausfor-
derung verstehen, ihre Aufmerksamkeit weniger auf natrliche Festle-
gungen zu richten als vielmehr darauf, wie man den Menschen als
selbstaffektives (und das heit: sich aus jeder Eigentlichkeit herausbe-
wegendes) Wesen beschreiben kann. Wenn die wachsende Bedeutung
der Anthropologie gegen Ende des 18. Jahrhunderts als eine Wende zur
Natur durch Abkehr von der Geschichtsphilosophie62 beschrieben wird,
dann muss man dieser These entgegenhalten, dass bereits zum Beginn
der Epoche jede Natrlichkeit des Menschen problematisch wurde.

Der Naturzustand in Kants Versuch

Kant hat Rousseau vor allem Anfang und Mitte der 1760er Jahre mit Be-
geisterung gelesen. Mit Blick auf die Differenz der Kantschen Anthropo-
logie zur physiologischen Anthropologie lsst sich die These vertreten,
dass Kant an Rousseau vor allem der Gedanke interessierte, der Mensch
sei als dasjenige Wesen zu bestimmen, das sich nicht an natrlichen
Zielen, sondern an idealen und also nicht naturgegebenen, sondern
selbstgesetzten Zielen orientiert.63

62 Odo Marquard: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs Anthropolo-


gie seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts [1973]. In: ders.: Schwie-
rigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufstze. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1982 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 394), S. 122-144,
hier: S. 125.
63 Dies ist die These von Richard Velkleys Studie zur Rezeption Rousseaus
durch Kant. Vgl. Richard L. Velkley: Freedom and the End of Reason. On
the Moral Foundations of Kants Critical Philosophy. Chicago, London:
University of Chicago Press 1989. Velkley betont, dass sowohl Rousseau
als auch Kant aus dem menschlichen Potential der Denaturalisierung die
Schlussfolgerung ziehen, dass the human capacity to project and pursue
ideal goals (or ideal objects of desire) that are not limited or determined
by instinct, inclination, or in general by nature is the source of the gravest

49
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes ist insbesondere die


Opposition von Einfalt und Gngsamkeit der Natur und ppigkeit
der brgerlichen Verfassung64 und damit das wesentliche Struktur-
prinzip des Textes nicht ohne eine Rezeption der Rousseauschen Ab-
handlung zu verstehen. Mit dem Gegensatz von Gengsamkeit und
ppigkeit bestimmt Kant den Unterschied zwischen dem Naturzu-
stand und dem der Zivilisation wie Rousseau in seinem zweiten Dis-
cours als Differenz von der Orientierung an den natrlichen (zur
Selbsterhaltung notwendigen) Bedrfnissen und derjenigen an den luxu-
risen Bedrfnissen, die ber erstere in jeder Hinsicht hinausgehen.
ppigkeit ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Wort, das eine pejo-
rative Bedeutung nahelegt: es konnotiert Luxus, berfluss, wenn nicht
gar Verschwendung.65
Aus der Unterscheidung zwischen dem natrlichen Menschen mit
seinem Mangel an Verstandeskrften und dem Menschen der brgerli-
chen Verfassung mit seiner Fehl- bzw. berfunktion dieser Krfte er-
gibt sich die grundstzliche Zweiteilung des Versuchs. Diese Zweiteilung
lsst sich mit Kants spterer Unterscheidung zwischen Gemtsschwchen
und Gemtskrankheiten parallelisieren. Die Unterscheidung zwischen
Gemtsschwchen und Gemtskrankheiten wird Kant zwar erst in der
Anthropologie terminologisch ausfhren, sachlich gibt sie aber bereits
die Struktur des Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes vor.66
Der Naturzustand, den Kant aus der Schilderung Rousseaus entleh-
nen konnte, ist der Zustand vor jedem Wahnsinn.

human perplexities and evils, as well as of their possible overcoming in a


future that surpasses all previous peaks of humanity (Ebd., S. 7), aber er
geht auf die Problematik des Wahnsinns, die bei Kant ein Exempel einer
menschlichen perplexity abgibt, nicht ein.
64 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 887 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 14).
65 Derjenige so mehr hat begehren lernen als was durch die Natur noth-
wendig ist, ist ppig (Immanuel Kant: Bemerkungen in den Beobachtun-
gen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen. Neu hrsg. und kom-
mentiert von Marie Rischmller. Hamburg: Meiner 1991 [Kant-Forschun-
gen. 3], S. 10). Vgl. David E. Wellbery: Der Zug der Sinnlichkeit. Kants
Beobachtungen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen. In: Wei-
marer Beitrge 43 (1997), S. 36-48, hier: S. 38.
66 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 512f. (Anthropologie
42, BA 124). Vgl. Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropolo-
gie in pragmatischer Hinsicht (wie Anm. 10), S. 286f.

50
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Der Mensch im Zustande der Natur kann nur wenig Torheiten und schwerlich
einiger Narrheit unterworfen sein. Seine Bedrfnisse halten ihn jederzeit nahe
an der Erfahrung, und geben seinem gesunden Verstande eine so leichte Be-
schftigung, da er kaum bemerkt, er habe zu seinen Handlungen Verstand
ntig. [...] Wo sollte er wohl zur Narrheit Stoff hernehmen, da er um anderer
Urteil unbekmmert weder eitel noch aufgeblasen sein kann? Indem er von
dem Werte ungenossener Gter gar keine Vorstellung hat, so ist er vor die Un-
gereimtheit der filzigen Habsucht gesichert, und weil in seinen Kopf niemals
einiger Witz Eingang findet, so ist er eben so wohl gegen allen Aberwitz gut
verwahret.67

Der Mensch im Naturzustand besitzt zwar Verstand, aber kaum allzu


viel davon. Kant schreibt ihm zwar den Besitz von Verstand zu sonst
knnte er kaum von einem Menschen sprechen , aber er nennt diesen
einen gesunden im Gegensatz zum feinen des zivilisierten Men-
schen. Der gesunde Verstand ist, man kann hier eine polemische Pointe
gegen die common-sense-Philosophie des 18. Jahrhunderts sehen, ein
grundstzlich schwacher Verstand.
Wenn man sieht, wie Kants Vorstellung von den intellektuellen Ver-
mgen des Naturmenschen an Rousseaus Beschreibung desselbigen an-
gelehnt ist, wird deutlich, wie das eine das Unbekmmertsein um den
Anderen mit dem anderen dem Unvermgen zur Reprsentation einer
Abwesenheit nicht nur stringent zusammenhngt, sondern sogar not-
wendig aus diesem folgt. Ohne die Befhigung zur Selbstaffektion ist
ihm auch die Fremdaffektion unbekannt. Wenn der Mensch im Zustand
der Natur keine Anflligkeit fr den Wahnsinn zeigt (wenn er nur we-

67 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 898f. (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 29). Dieses Schema findet sich noch in Gar-
ves Essay Ueber die Rollen der Wahnwitzigen in Shakespears Schauspie-
len, und ber den Charakter Hamlets ins besondre (1796): Und Wahn-
witz, oder die Anlage dazu, eine phantastische Einbildungskraft, ist in ei-
nem rohen Zeitalter eben so selten, als unter den gemeinen und ganz unge-
sitteten Stnden. Man mu, um schwrmen zu knnen, vielerley wissen,
vielerley Ideen und Bilder im Kopfe haben; besonders sich mit bersinn-
lichen Dingen beschftigen. Der ganz sinnliche Mensch bleibt dewegen
leichter vernnftig, weil er nicht einen Fu breit von dem Pfade alltglicher
Erfahrung abweicht (Christian Garve: Ueber die Rollen der Wahnwitzi-
gen in Shakespears Schauspielen, und ber den Charakter Hamlets ins be-
sondere [1796]. In: ders.: Popularphilosophische Schriften ber literari-
sche, sthetische und gesellschaftliche Gegenstnde. Im Faksimiledruck
hrsg. von Kurt Wlfel. Bd. 1-2. Stuttgart: Metzler 1974, Bd. 2, S. 719-798,
hier: S. 722).

51
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

nig Torheiten und schwerlich einiger Narrheit unterworfen sein kann),


dann alleine deswegen, weil er ohne jede Gesellschaft ist.
Das Verhltnis des Menschen im Zustand der Natur zu sich (und
infolgedessen zu seiner Auenwelt) ist zwar nicht wahnsinnig, aber
nichtsdestotrotz pathologisch. Whrend die Orientierung an den natrli-
chen Bedrfnissen fr Rousseau die Gesundheit schlechthin darstellt, ist
sie fr Kant nun zwar nicht ein Symptom des Wahnsinns, aber doch im-
merhin von einer Geistesschwche. Der Naturzustand, die Immunitt
gegen den Wahnsinn als Geistesschwche das ist die Einfalt.
Gleichermaen, schreibt Kant, kann die Strung des Gemts in
diesem Stande der Einfalt nur selten statt finden. Wenn das Gehirn des
Wilden einigen Ansto erlitten htte, so wei ich nicht wo die Phantaste-
rei herkommen sollte, um die gewhnliche Empfindungen, die ihn allein
unablssig beschftigten, zu verdrngen.68 Solchermaen allein durch
die Empfindungen beschftigt, bedingt die Einfalt einen vollstndi-
gen Mangel an jeglicher Sozialitt. Wenn Kant die brgerliche Gesell-
schaft durch ihren Hang zu weisem oder sittsamem Schein69 und damit
durch ihren Charakter der Falschheit und Verstellung beschreibt, so um-
gekehrt die Menschen im Zustand der einfltigen Natur durch ihren
Mangel an allen Mitteln der Hervorbringung von solchem Schein. Die
Einfalt der natrlichen Menschen ist fr Kant jedoch keineswegs
wie es in der Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem im Gefolge von Win-
ckelmanns berhmter Formulierung aus seinen Gedancken ber die
Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-
Kunst (1755) im Bezug auf die Einfalt der Griechen zu einem topi-
schen Urteil wurde edel und zur Nachahmung zu empfehlen. Kant
schreibt zwar, die Einfalt sei ein liebenswrdiger Mangel, aber
nichtsdestoweniger ist auch der Naturzustand im Versuch eine Krank-
heit des Kopfes: Sie ist diejenige Krankheit, fr alle Krankheiten (und je-
de Fortentwicklung des Verstandes ber die reine Natur hinaus) unem-
pfnglich zu sein.

Torheit Wahn Narrheit

Wenn die Einfalt den Beginn der Geschichte ausmacht, den Men-
schen im Zustande der Natur, dann lsst sich die Abfolge der Geistes-
krankheiten im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes als eine Ge-

68 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 899 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 29).
69 Ebd., S. 887 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 14).

52
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

schichte der Entfernung des Menschen von der Natur begreifen. Die im-
plizite Geschichtsphilosophie des Versuchs ist dann sozusagen die Ent-
faltung der humanen perfectibilit als einer Geschichte des sukzessiv ge-
steigerten Wahnsinns, in der die Einfalt der Natur kaum mehr als
einen Nullpunkt der Geschichte abgibt. Die Bedingung der Mglichkeit
des Wahnsinns liegt fr Kant in der sowohl gattungshistorischen als
auch individuellen Entwicklung des Verstandes begrndet. Der ge-
schichtsphilosophische Entwurf des Versuchs ist jedoch notwendiger-
weise dadurch in Unordnung gebracht, dass Kant den Wahnsinn letztlich
berall und jederzeit vorfindet. Die Geschichtsphilosophie des Versuchs
demontiert sich selbst und ist offen pseudo-historisch.
Innerhalb dieser Pseudo-Historie sind Torheit und Narrheit die
ersten Schritte der Menschheit heraus aus der Einfalt des Naturzu-
stands. Die Torheit ist Kant zufolge der Wahnsinn einer bersteigerten
Leidenschaft: Der Tor ist durch diese Leidenschaft bezaubert, er
fllt in einen Zustand der gefesselten Vernunft.70 Der Begriff der Tor-
heit mit seiner Nhe zur Betrung deutet an, dass Kant die wesentli-
che Folge der Leidenschaft darin sieht, dass sie dem von ihr befallenen
Mensch ein Ziel setzt, das dessen Realitt nicht angemessen ist, insofern
es unerreichbar oder unwrdig ist. Die verliebte Leidenschaft, oder ein
groer Grad der Ehrbegierde, schreibt Kant, haben von je her viele
vernnftige Leute zu Toren gemacht. Ein Mdchen ntigt den furchtba-
ren Alcides, den Faden am Rocken zu ziehen, und Athens mige Brger
schicken durch ihr lppisches Lob den Alexander an das Ende der
Welt.71 Torheit ist die Unfhigkeit, sich von einem Objekt des Begeh-
rens zu lsen, das den begehrenden Menschen notwendig in einen komi-
schen (oder tragischen) Widerspruch zwischen seiner Person und dem
begehrten Objekt treibt. Der Tor ist der aus der Gruppe ausgeschlosse-
ne Mensch: derjenige, dessen Neigung ihn lcherlich macht, derjenige,
der sich an das Ende der Welt fhren lsst (dorthin, wohin ihm kein
vernnftiger Mensch mehr folgen wollte). In der Torheit weicht der
Mensch aus seiner natrlichen Stelle,72 insofern sich in ihr ein Raum
ffnet zwischen dem begehrenden Ich und dem begehrten Objekt. Wie
das Beispiel der Ehrbegierde zeigt, knnen sich die Leidenschaften zu-
letzt auf ein Objekt der Begierde richten, das gnzlich irreal ist und sich
vollkommen im Bereich der Einbildungen befindet.73

70 Ebd., S. 889 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 17).


71 Ebd., S. 890.
72 Ebd.
73 In diesem Sinne notiert Kant, der Wahn beginne genau dort, wo ein Be-
gehren sich auf eine Meinung anstatt auf eine Sache richtet: Ein Gut
des Wahns besteht darin da die Meinung nur allein gesucht die Sache

53
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Das Verhalten des Tors wird bestimmt durch eine Verschiebung


seines Begehrens von dem Sichtbaren und Anwesenden auf das Eingebil-
dete, auf dasjenige, das nur eine sprachliche Realitt hat. Er begehrt die
Meinung, nicht aber die Sache. Gleich dem literarische Ahnherr al-
ler Wahnkranken, Don Quijote, vermischt er sprachliche und fiktionale
Realitt mit der ueren Wirklichkeit und begehrt Traumgestalten. In
dieser Verwechslung einer Vorstellung mit der Sache selbst liegt die
allgemeinste Bestimmung des Wahns fr Kant. So heit es in einer Fu-
note zu Die Religion innerhalb der Grenzen der bloen Vernunft (1793):

Wahn ist die Tuschung, die bloe Vorstellung einer Sache mit der Sache
selbst fr gleichgeltend zu halten. So ist es bei einem kargen Reichen der gei-
zende Wahn, da er die Vorstellung, sich einmal, wenn er wollte, seiner Reich-
tmer bedienen zu knnen, fr genugsamen Ersatz dafr hlt, da er sich ihrer
niemals bedient. Der Ehrenwahn setzt in anderer Hochpreisung, welche im
Grunde nur die uere Vorstellung ihrer (innerlich vielleicht gar nicht geheg-
ten) Achtung ist, den Wert, den er blo der letzteren beilegen sollte; zu diesem
gehrt also auch die Titel- und Ordenssucht; weil diese nur die uere Vorstel-
lungen eines Vorzugs vor andern sind. Selbst der Wahnsinn hat daher diesen
Namen, weil er eine bloe Vorstellung (der Einbildungskraft) fr die Gegen-
wart einer Sache selbst zu nehmen, und ebenso zu wrdigen gewohnt ist.74

Kant schliet an die klassische Wortbedeutung von Wahn und Wahn-


sinn an: Insofern Wahn sich von wana (ohne) ableitet und Wahn-
sinn folglich der Ohnesinn75 ist, dann ist er fr Kant vor allem ein Ver-
lust der Sinne (d.h.: der Sinnlichkeit, der Empfindung, der ueren Af-
fektion). In den Texten Kants, sowohl im Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes wie auch in der Religion innerhalb der Grenzen der bloen
Vernunft, bildet sich die Beschreibung des Wahnsinnigen heraus als
diejenige Figur, die an die Verwechslung von Vorstellung und Objekt

selbst aber entweder mit Gleichgltigkeit angesehen oder gar gehasset


wird. Der erste Wahn ist der der Ehre. Der zweyte des Geitzes (Kant: Be-
merkungen in den Beobachtungen ber das Gefhl des Schnen und Er-
habenen [wie Anm. 65], S. 45).
74 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 839 (Religion, B
256, A 241).
75 Vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollstndiges Universal-Lexikon
[1732-1750]. Bd. 1-64. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt
1961, Bd. 52, Sp. 856: Wahn, ist ein Vorsetze=Wrtgen, und bedeutet so
viel, als ohne; ist auch ohne Zweiffel das Wort ohne, oder von, selber, wie
es die Bedeutung in Wahnsinnig, d.i. ohne Sinnen, und Wahnwitzig, d.i. oh-
ne Witz, ausweiset. Vgl. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache
[1959]. 12. Aufl. Stuttgart: Neske 2001, S. 53.

54
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

gewohnt ist und die also eine prinzipielle Unfhigkeit aufweist, beides
zu unterscheiden.76
Die Unterscheidung zwischen der phnomenalen Vorstellung eines
Objekts und dem noumenalen Objekt selbst ist bekanntlich der argu-
mentative Ausgangspunkt der Kritik der reinen Vernunft. Die spte Ab-
handlung ber Religion transformiert die Bestimmungen des Wahnsinns
aus dem Versuch ber die Krankheiten des Kopfes in die Terminologie
der kritischen Philosophie und zeigt in aller Deutlichkeit, dass die The-
matik des Wahnsinns, dem geringen Interesse seiner Interpreten zum
Trotz, Kant von Anfang bis Ende seiner philosophischen Ttigkeit be-
schftigt hat.
Titel, Orden, Mnze: Die Torheit ist eine Krankheit der Vermittlung
und des Mediums. In seiner Beschreibung der Torheit zeigt sich eine zi-
vilisationskritische Spitze, die Kant von Rousseau erbt. Die gesellschaft-
lichen Instanzen der Vermittlung erscheinen in dieser Perspektive als
Strungen und Irritationen der Kommunikation. Sie verfhren zu einer
Verwechslung der Reprsentation mit dem reprsentierten Objekt und al-
so zu nichts anderem als Wahnsinn.
Die Narrheit bildet die nchste Stufe in der im Versuch implizier-
ten Geschichte des Wahnsinns. Der Narrheit gengt es nicht mehr, die
Leidenschaft auf ein nichtiges Objekt zu lenken, sondern sie erzeugt eine
Leidenschaft, die das Objekt der Leidenschaft hasst. Whrend die Tor-
heit die Folge einer unkontrollierten Leidenschaft darstellt, ist die
Narrheit die Bezeichnung einer verkehrten Leidenschaft. Kant
schreibt: Wenn die herrschende Leidenschaft an sich selbst hassenswr-
dig und zugleich abgeschmackt genug ist, um dasjenige, was der natrli-
chen Absicht derselben gerade entgegengesetzt ist, fr die Befriedigung
derselben zu halten, so ist dieser Zustand der verkehrten Vernunft Narr-
heit.77 Im Gegensatz zum Toren, der immerhin die wahre Absicht
seiner Leidenschaft sehr wohl versteht, ist der Narr durch seine Leiden-
schaft zugleich so dumm gemacht, dass er alsdenn nur glaubt im Be-
sitze zu sein, wenn er sich des Begehrten zugleich beraubt.78
Die Narrheit ist autodestruktiv, insofern sie eine Leidenschaft ist,
die notwendig das Gegenteil des beabsichtigten Zweckes hervorbringt.

76 Vgl. Wolfgang U. Eckart: Vom Wahn zum Wahnsinn. Anmerkungen zur


Begriffsgeschichte einer Strung der Wahrnehmung in Medizin- und Kul-
turgeschichte bis ins frhe 20. Jahrhundert. In: Hysterie und Wahnsinn.
Hrsg. von Silke Leopold und Agnes Speck. Heidelberg: Verlag Das Wun-
derhorn 2000 (Heidelberger Frauenstudien. 7), S. 10-30, hier: S. 14f.
77 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 890 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 17).
78 Ebd. (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 17f.).

55
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Der Hochmtige, fhrt Kant aus, uert eine unverdeckte Anmaung


des Vorzuges vor andere durch eine deutliche Geringschtzung dersel-
ben. Er glaubt geehrt zu sein, indem er ausgepfiffen wird, denn es ist
nichts klrer, als da die Verachtung anderer dieser ihre eigene Eitelkeit
gegen den Anmaer empre.79
Die Narrheit ist eine Strung der Kommunikation und des Zei-
chens. Auch die Narrheit siedelt sich in der Kluft zwischen Bezeich-
nendem und Bezeichneten an. Die Vernunft des Narren ist die Schauspie-
lerei, die Verstellung. Wenn die Verstellung aber einmal eingefhrt ist,
werden die Verhltnisse schnell komplex. Wenn der Narr seine Abhn-
gigkeit von dem Urteil der anderen durch Zeichen der Gleichgltigkeit
auszudrcken pflegt, wenn also seine Zeichen das Gegenteil des Be-
zeichneten ausdrcken, dann ist er geneigt, diese Umkehrung auch bei
den uerungen der anderen zu vermuten. Die Zeichen der Verach-
tung der anderen knnen in den Augen des Narren nichts anderes als
ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen, denn es ist nichts klrer, als
da die Verachtung anderer dieser ihre eigene Eitelkeit gegen den Anma-
er empre.
Die politische Bedeutung der Narrheit kann nicht bersehen wer-
den. Kants Beispiel fr die Narrheit kennzeichnet die perverse Lust an
der Geringschtzung der anderen und durch die anderen als eine
Krankheit der Macht. Sein Beispiel zitiert Nero, den gefrchteten und
ausgelachten Beherrscher von Rom,80 als ein historisches Exempel der
Tyrannei. Das verkehrte Begehren des Narren macht aus dem gesell-
schaftlichen Umgang einen Machtkampf, aus jedem Sprechakt eine
Frage der gegenseitigen Bewertung. Weil der Narr aber alle uerungen
seiner Mitmenschen und selbst noch die Enthaltung einer uerung
als Zeichen der Hochschtzung und Bewunderung versteht, verlieren die
sprachlichen Zeichen potentiell jede Bedeutung.

I I . 3 G e se l l sc ha f t und Wa hn si n n

Der Beginn des zweiten Teils des Versuchs scheint zumindest auf den er-
sten Blick keinen Bezug zu den geschichts- bzw. sprachphilosophischen
Postulaten Kants zu nehmen. Kant unterscheidet hier drei Hauptgruppen
der Gemtskrankheiten und ordnet diese jeweils einem Erkenntnisverm-
gen zu. Nun also scheint endlich eine Systematik einzugreifen. Die Ge-
brechen des gestrten Kopfes, schreibt Kant,

79 Ebd.
80 Ebd., S. 891 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 18).

56
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

lassen sich auf so viel verschiedene Hauptgattungen bringen, als Gemtsfhig-


keiten sind, die dadurch angegriffen werden. Ich vermeine sie insgesamt unter
folgende drei Einteilungen ordnen zu knnen: erstlich die Verkehrtheit der Er-
fahrungsbegriffe, in der Verrckung, zweitens die in Unordnung gebrachte Ur-
teilskraft zunchst bei dieser Erfahrung, in dem Wahnsinn, drittens die in Anse-
hung allgemeinerer Urteile verkehrt gewordene Vernunft, in dem Wahn-
witze.81

Die Ordnung der Geisteskrankheiten wird bei Kant also durch die triadi-
sche Struktur von Begriff, Urteil und Vernunft vorgegeben, die seit der
Rezeption der aristotelischen Logik in der scholastischen Philosophie als
die drei Elemente der Logik gelten und bereits bei Nikolaus von Kues
auch eine vermgenstheoretische Deutung erfahren haben.82 Mit der Zu-
ordnung der Geisteskrankheiten zu den somit als Gemtsfhigkeiten
definierten Elementen Begriff, Urteil und Vernunft setzt Kant eine impli-
zite Theorie der Vermgen voraus, die mit seiner spter ausgearbeiteten
Version (vor allem in der Kritik der reinen Vernunft und der Anthropolo-
gie) nicht vollstndig bereinstimmt (insbesondere in der spteren Tren-
nung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, welche hier beide noch dem
Begriff zugeschlagen werden), aber doch sichtlich verwandt ist. Das
Thema, dem Kant bei weitem den meisten Raum widmet, ist die Ver-
rckung, die Strung der sinnlichen Erfahrung.

Verrckung und Einbildungskraft

Was also ist die Verrckung? Wie man dem vergleichenden Blick in
Rousseaus zweiten Discours entnehmen konnte, musste Kant nicht erst
das Modell des transzendentalen Schematismus entwerfen, um die
Selbstaffektion denken zu knnen. Bereits in Rousseaus Beschreibung
der imagination als einer Affektion des Subjekts durch sich selbst findet
sich eine spezifische Ambivalenz: Einerseits ist die Selbstaffektion als
Mittel der Denaturalisierung die Quelle allen bels und aller Perversio-
nen, anderseits ist sie als Bedingung der Mglichkeit der perfectibilit
dasjenige, das den Menschen dazu befhigt, diese bel zu erkennen
und vielleicht zu beheben.
Der Name fr die gefhrliche Seite der Selbstaffektion ist im Ver-
such ber die Krankheiten des Kopfes Verrckung. Diese ist dement-

81 Ebd., S. 892f. (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 22).


82 Vgl. Reinhard Brandt: DArtagnan und die Urteilstafel. ber ein Ord-
nungsprinzip der europischen Kulturgeschichte: 1, 2, 3/4. berarb. Neu-
aufl. Mnchen: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 133f.

57
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

sprechend wesentlich durch die Halluzination charakterisiert. Man fin-


det auch, schreibt Kant,

da Personen, die in andern Fllen gnug reife Vernunft zeigen, gleichwohl fest
darauf beharren, mit aller Achtsamkeit wer wei was vor Gespenstergestalten
und Fratzengesichter gesehen zu haben, und da sie wohl gar fein genug sind,
ihre eingebildete Erfahrung mit manchem subtilen Vernunfturteil in Zusam-
menhang zu bringen. Diese Eigenschaft des Gestrten, nach welcher er ohne
einen besonders merklichen Grad einer heftigen Krankheit im wachen Zustande
gewohnt ist, gewisse Dinge als klar empfunden sich vorzustellen, von denen
gleichwohl nichts gegenwrtig ist, heit die Verrckung.83

Der Verrckte ist derjenige, der Dinge und Gestalten sieht, die nur
seiner eingebildeten Erfahrung, nicht aber der Realitt entspringen.
Entsprechend nennt Kant den Verrckten einen Trumer im Wa-
chen:84 dieser trumt (d.h. er wird zum Objekt eines unwillkrlichen
Spiels seiner Einbildungen85) auch dann, wenn er vermeintlich wach
ist.86 Wenn die Verrckung diejenige Krankheit ist, in welcher der Be-
troffene gezwungen ist, sich gewisse Dinge [...] vorzustellen, von denen
gleichwohl nichts gegenwrtig ist, dann ist als ihre Ursache das Prinzip
und Vermgen der Einbildungskraft genannt. Diese wird von Kant so-
wohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Anthropologie als
ein Vermgen der Anschauungen auch ohne Gegenwart eines Gegen-
standes87 definiert. Es handelt sich bei ihr somit um dasjenige Verm-

83 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 894 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 22).
84 Ebd.
85 Ebd., Bd. 6, S. 466 (Anthropologie 25, B 68, A 67).
86 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Wer-
ke von 1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 10, S.
162 (Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften 408): Es ist der
Unterschied wie beim Wachen und Trumen; aber hier fllt der Traum in-
nerhalb des Wachens selbst, so da er dem wirklichen Selbstgefhl ange-
hrt. Irrtum und dergleichen ist ein in jenen objektiven Zusammenhang
konsequent aufgenommener Inhalt.
87 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 466 (Anthropologie
25, B 68, A 67). Vgl. ebd., Bd. 2, S. 148 (KrV, B 151). Diese Bestim-
mung steht natrlich in einer langen philosophischen (und prziser: aristo-
telischen) Tradition. Annhernd gleichlautend schreibt Christian Wolff be-
reits 1720: Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfle-
get man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vor-
stellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungs-Kraft (Christian

58
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

gen, das es dem Menschen gestattet, die Grenzen der sinnlichen Affek-
tion zu berschreiten und quasi-sinnlich (sich selbst affizierend) von
Vorgestelltem und Vorstellbarem affiziert zu werden. Die Einbildungs-
kraft bildet ein: Sie erschafft und aktualisiert Vorstellungen, die das je-
weils aktuell sinnlich Vorhandene in jede mgliche Richtung ber-
schreiten.
Als Verwechslung der (gegenwrtigen) Sache selbst mit der (ein-
gebildeten) Vorstellung der Sache88 ist Wahnsinn damit grundstzlich
semiotisch bestimmt. Auch wenn der Begriff des Zeichens in diesem Zu-
sammenhang nicht immer explizit gebraucht wird, wird er in der Unter-
scheidung zwischen der Sache selbst (dem Signifikat) und der Vor-
stellung (dem Signifikanten) implizit notwendig vorausgesetzt. Wahn-
sinn wird in diesem Modell erst mglich durch einen vorausgehenden,
durch die Einbildungskraft erfolgenden Akt der Verdopplung der gesam-
ten Wirklichkeit durch ihre mentale Reprsentation und Darstellung.
Wahnsinn ist demzufolge eine Krankheit des Zeichenvermgens, des Be-
zeichnens und also des Zeichens. Kants Versuch ber die Krankheit des
Kopfes und seine anderen Ausfhrungen zum Thema beschreiben eine
Pathologie des Zeichens.
In der Annahme der Einbildungskraft als Ursache des Wahnsinns
stimmt Kant berein mit der Definition des Wahns in Humes Enquiry
concerning human Understanding (1748). Es komme vor, schreibt Hu-
me, dass das Gedchtnis oder die Einbildungskraft eine vergangene oder
erwartete Wahrnehmung so lebhaft (in so lively a matter) prsentier-
ten, that we could almost say we feel or see it, aber man msse doch
wohl wahnsinnig sein, um sie nicht auseinanderhalten zu knnen: But,
except the mind be disordered by disease or madness, they never can ar-
rive at such a pitch of vivacity, as to render these perceptions altogether
undistinguishable.89 Das Unvermgen, zwischen echter und eingebil-
deter Erfahrung unterscheiden zu knnen, macht demnach den Wahn-
sinn aus. Eine traditionsreiche Bestimmung: Die traditionelle Psycholo-
gie wie noch Hume, Rousseau und Kant bestimmt mentale Gesund-

Wolff: Vernnftige Gedanken von Gott, Der Welt und der Seele des Men-
schen, Auch allen Dingen berhaupt [1720]. Nachdruck der Ausgabe Halle
1751. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A.
Corr. Hildesheim, Zrich, New York: Olms 1983, S. 130 [ 235]).
88 Vgl. die oben zitierte Definition des Wahns aus der Religion innerhalb
der Grenzen der bloen Vernunft: Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm.
1), Bd. 4, S. 839 (Religion, B 256, A 241).
89 David Hume: An Enquiry concerning Human Understanding [1748]. A cri-
tical Edition. Hrsg. von Tom L. Beauchamp. Oxford: Clarendon Press
2000, S. 13.

59
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

heit als die Abwesenheit der Einmischung von Einbildungskraft in die


Wahrnehmung der Realitt.90
Was fr Hume eine Ausnahme ist die exception: das Ausgenomme-
ne, das Ausgeschlossene , wird fr Kant zum Gesetz des zivilisierten
Menschen. Die Vermischung von Sinnlichkeit und Einbildung ist
fr den Autor des Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes durchaus
normal. Sinneswahrnehmung und Einbildung sind immer schon in ei-
nem Verhltnis der gegenseitigen Ergnzung und Vermischung. Kant
schreibt:

Die Seele eines jeden Menschen ist, selbst in dem gesundesten Zustande ge-
schftig, allerlei Bilder von Dingen, die nicht gegenwrtig sein, zu malen, oder
auch an der Vorstellung gegenwrtiger Dinge einige unvollkommene hnlich-
keit zu vollenden, durch einen oder andern chimrischen Zug, den die schpfe-
rische Dichtungsfhigkeit mit in die Empfindung einzeichnet.91

Der Unterschied zwischen dem gesundesten Zustande und dem Wahn-


sinn ist lediglich graduell: Nicht die Tatsache der Einzeichnung des
Chimrischen in die Wahrnehmung, sondern allein das Ausma ihrer
Vollstndigkeit bestimmt die Differenz.92 Bis zu einem gewissen Grade
aber bis zu welchem? ist auch der gesundeste Mensch verrckt.
In der Kritik der reinen Vernunft fhrt Kant den Gedanken einer not-
wendigen Teilnahme der Einbildungskraft an jeder Wahrnehmung weiter
aus. Die transzendentale Einbildungskraft ist hier an der Konstitution von
Gegenwrtigkeit beteiligt; ihr kann man demzufolge nicht entkommen
durch eine reine Sinnlichkeit oder einen reinen Verstand. Wenn es die
Einbildungskraft (als produktive Einbildungskraft) ist, die das Bild der
Realitt konstituiert, dann wird es unmglich, ihre Produktionen mit
dem Verweis zu kritisieren auf eine nicht eingebildete, reale Wirklich-
keit, die sie nachzuahmen und abzubilden habe. Solange auch Kant (im
Versuch ber die Krankheiten des Kopfes) die Einmischung der Einbil-
dungskraft in die Wahrnehmung als eine Neigung zu Wahnsinn und Ver-
rcktheit interpretiert, kann es unter diesen Bedingungen keine geistige
Gesundheit geben. Die Einbildung und mit ihr die jederzeitige Mg-

90 Vgl. Lszl Fldnyi: Melancholie [1984]. bers. von Nora Tahy. 2., erw.
Aufl. Berlin: Matthes & Seitz 2004, S. 82f.
91 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 893 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 22).
92 Dieses Problem hebt Monique David-Mnards Lektre des Versuchs her-
vor. Vgl. Monique David-Mnard: Kants An Essay on the Maladies of
the Mind and Observations on the Feelings of the Beautiful and the Subli-
me. In: Hypatia 15 (2000), H. 4, S. 82-98, hier: S. 86.

60
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

lichkeit des Wahnsinns erhlt einen transzendentalen Stellenwert, der


Wahnsinn wird (als Mglichkeit) ubiquitr.93
Damit geschieht ein Bruch mit der semiotischen Tradition des 18.
Jahrhunderts. Sowohl die rationalistischen als auch die empiristischen
Denkschulen der Zeit bestimmten Sprache wesentlich als Reprsentation
von Ideen und folgerten daraus als Aufgabe fr das Verstehen und fr die
Sprachphilosophie, den Transport der Ideen von Sprecher zu Hrer
mglichst ohne Verzerrung zu gewhrleisten, um Missverstndnisse und
Strungen der Kommunikation zu minimieren. Das Ideal des semioti-
schen und sthetischen Diskurses in weiten Teilen des 18. Jahrhunderts
bildete die Vorstellung einer rest- und lckenlosen bermittlung der Idee
von Person zu Person, wobei das Medium der bermittlung im Transport
verschwindet.94 Was die rationalistische und empiristische Theorie des
Zeichens mglichst zum Verschwinden bringen will: die Mglichkeit des
Missverstndnisses, der Tuschung, des Wahns etc., wird bei Kant zur
unverzichtbaren Bedingung der Mglichkeit jeder Mitteilung berhaupt.
Das Thema der Verrcktheit und des Wahnsinns ist dem Diskurs
der Einbildungskraft lngst eingeschrieben. Wenn die Einbildungskraft

93 Vgl. Jeffrey Bernstein: Imagination and Lunacy in Kants First Critique


and Anthropology. In: Idealistic Studies 27 (1997), H. 3, S. 143-154, hier:
S. 148. Kants Anthropologie, schreibt Goethe 1798 an Schiller, ist mir
ein sehr wertes Buch und wird es knftig noch mehr sein, wenn ich es in
geringern Dosen wiederholt geniee, denn im ganzen, wie es dasteht, ist es
nicht erquicklich. Von diesem Gesichtspunkt aus sieht sich der Mensch im-
mer im pathologischen Zustande (Johann Wolfgang von Goethe: Briefe.
Hamburger Ausgabe in vier Bnden. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow.
Hamburg: Wegner 1964, Bd. 2, S. 362 [an Schiller, 19. Dez. 1798]). Vgl.
Schings: Melancholie und Aufklrung (wie Anm. 10), S. 12 und S. 298. In-
sofern Goethe die Verallgemeinerung des Wahnsinns bei Kant als eine ra-
tionalistische und misanthropische Geste missversteht, kann man in seinen
Anmerkungen zur Kantschen Anthropologie durchaus den Beginn jener
Tradition sehen, die dieses Missverstndnis bis heute verbreitet.
94 Seit dem siebzehnten Jahrhundert ist diese massive und intrigierende Exi-
stenz der Sprache beseitigt, schreibt Michel Foucault: Hchstens knnte
man sagen, da die klassische Sprache nicht existiert, da sie aber funktio-
niert (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archologie der
Humanwissenschaften [1966]. bers. von Ulrich Kppen. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1974, S. 115). Vgl. Robert S. Leventhal: Semiotic Inter-
pretation and Rhetoric in the German Enlightenment 1740-1760. In: Deut-
sche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60
(1986), S. 223-248; Paul de Man: Epistemologie der Metapher [1978]. In:
Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. 2. Aufl. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 414-437.

61
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

fr Kant wie vor ihm fr Rousseau und nach ihm fr Hegel die Be-
zeichnung fr eine Kraft der Einwirkung des Ich auf sich selbst darstellt,
die der ueren sinnlichen Affektion eine Autoaffektion hinzufgt und es
dadurch ermglicht, ihrer Unmittelbarkeit zu entgehen, dann stellt die
Verrckung, die unkontrollierte Einzeichnung von Einbildung in die
Erfahrung, nicht so sehr eine Strung oder Unterbrechung dieses Pro-
zesses der Autoaffektion dar, sondern sie ist ihr von Beginn an einge-
schrieben. Wenn die Verrckung der Name fr eine gewisse Intranspa-
renz der Selbstaffektion fr das sich affizierende Subjekt ist, so dass es
nicht sicher sein kann, inwieweit die Wahrnehmung eines Gegenstandes
durch die eigene Einbildungskraft geformt oder verformt ist, dann ist
diese Intransparenz zugleich die Bedingung der Mglichkeit der Synthe-
se von Sinnlichkeit und Verstand. Die Verrckung ist so nicht nur die
Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe, sondern sie wohnt den Erfah-
rungsbegriffen als notwendige Mglichkeit potentiell, als Potential,
als Vermgen also immer schon bei.

Die Gefahren der Einbildung

Diese Problematisierung der Einbildungskraft muss im Kontext einer in


den verschiedensten Institutionen gefhrten Diskussion ber die Gefahr
und das Potential der Einbildungskraft gesehen werden. Einbildungs-
kraft ist fr verschiedene Autoren im 18. Jahrhundert der Name einer
Kraft im menschlichen Verstand, die auf eine unbersichtliche, unkon-
trollierbare und darum stets suspekte Art und Weise sowohl aktiv vom
Subjekt ausgebt werden wie auch passiv auf dieses einwirken kann. Die
sprichwrtliche Nhe von Genie und Wahnsinn wie es denn auch
schon eine alte Bemerkung ist, dass dem Genie eine gewisse Dosis von
Tollheit beigemischt sei,95 heit in Kants Anthropologie liegt im Dis-
kurs des 18. Jahrhunderts darin begrndet, dass sowohl das Genie als
auch der Irrsinnige ber eine mchtige Einbildungskraft verfgen, die
ihnen berraschende und innovative Assoziationen mitteilt.96 Schon die

95 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 494 (Anthropologie
33, BA 102). Der topos leitet natrlich sich aus der Lehre des Enthusias-
mus bei Platon und Aristoteles ab. Vgl. Frederick Burwick: Romantic
Madness. Hlderlin, Nerval, Clare. In: Cultural Interactions in the Roman-
tic Age. Critical Essays in Comparative Literature. Hrsg. von Gregory
Maertz. Albany: State University of New York Press 1998, S. 29-51.
96 Vgl. Kants Anthropologie: Wie aber gar die Poeten dazu kamen, sich
auch fr begeistert (oder besessen) und fr wahrsagend (vates) zu halten,
und in ihren dichterischen Anwandlungen (furor poeticus) Eingebungen zu

62
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

antiken Autoren thematisieren eine spezifische Unbeherrschbarkeit der


Einbildungskraft. Sie haben diese auf die Krperlichkeit der Imagination
zurckgefhrt.97 In Robert Burtons Anatomy of Melancholy von 1621
wird die Einbildungskraft fr alle denkbaren Formen seelischer und kr-
perlicher Erkrankung verantwortlich gemacht. Parallel zur Aufwertung
der Einbildungskraft im sthetischen Diskurs wird sie hier als eine Macht
bestimmt, die sich den menschlichen Geist untertan machen kann:

Die Imagination besitzt erstaunliche Krfte und bringt wundersame Wirkun-


gen hervor. Das gilt generell, wenngleich sie in Melancholikern besonders w-
tet und ihre Wahrnehmungen durch bestndiges und heftiges Brten so ver-
flscht, verzerrt und berzeichnet, da sich endlich handgreifliche Folgen ein-
stellen und zahlreiche Krankheiten entstehen.98

Kants Anmerkungen zur Einbildungskraft in der Anthropologie sind ent-


sprechend gekennzeichnet durch eine Unentschiedenheit ber den Anteil
von Aktivitt bzw. Passivitt in der Ausbung des Vermgens. Kant
versucht, zwischen Einbildungskraft und Phantasie zu unterscheiden, in-
dem er die erste als eine willkrliche Ausbung des Verstandes, die

haben sich berhmen konnten, kann nur dadurch erklrt werden: da der
Dichter [...] den gnstigen Augenblick seiner ihn anwandelnden inneren
Sinnenstimmung haschen mu, in welchem ihm lebendige und krftige Bil-
der und Gefhle von selbst zustrmen, und er hiebei sich gleichsam nur lei-
dend verhlt (Kant: Werke in sechs Bnden [wie Anm. 1], Bd. 6, S. 494
[Anthropologie 33, BA 102]). Die Kritik der Einbildungskraft war in
der Tat wie der Diskurs ber die Rolle der Einbildungskraft fr das kreati-
ve Genie immer eine Variation ber einige Motive der passiven Einbil-
dung. Vgl. Lorraine Daston: Angst und Abscheu vor der Einbildungskraft
in den Wissenschaften [1998]. In: dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen.
Zur Geschichte der Rationalitt. bers. von Gerhard Herrgott, Christa Kr-
ger und Susanne Scharnowski. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch
Verlag 2001, S. 99-125; Ursula Geitner: Kritik der Einbildungskraft (poe-
tologisch/pathologisch). In: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur
schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Hrsg. von Helmut J. Schneider,
Ralf Simon und Thomas Wirtz. Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 307-332.
97 Vgl. Jean Starobinski: Grundlinien fr eine Geschichte des Begriffs der
Einbildungskraft [1970]. In: ders.: Psychoanalyse und Literatur. bers. von
Eckhart Rohloff. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 3-23, hier: S. 9.
98 Robert Burton: Anatomie der Melancholie [1621]. ber die Allgegenwart
der Schwermut, ihrer Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr
auszuhalten. bers. von Ulrich Horstmann. Mnchen: Dtv 1991, S. 199.

63
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

zweite als unwillkrliche Produktion von Einbildungen definiert.99 Die


Einbildungskraft ist eine aktive und kontrollierbare Kraft, unter die
Bezeichnung der Phantasie dagegen fllt die andere Seite der Einbil-
dungskraft. Die Unterscheidung zwischen willkrlich und unwillkr-
lich verluft parallel zu der von aktiv (vom Verstand ausgebt) bzw.
passiv (auf den Verstand einwirkend).
Die Unterscheidung zwischen Einbildungskraft und Phantasie
die Kant in dieser Form aus Wolffs Psychologica empirica (1732) ber-
nommen hat100 erweist sich jedoch bereits in der Anthropologie als we-
nig berzeugend, denn immer wieder spricht Kant von unwillkrlichen
Einwirkungen der Einbildungskraft. Wir spielen oft und gern mit der
Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so
oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns.101 Eine grundstzlich
neue Perspektive auf die Unentscheidbarkeit von Aktivitt und Passivitt
in der Ausbung der Einbildungskraft gewinnt Kant in der Kritik der rei-
nen Vernunft, wenn er die Selbstaffektion zu transzendentalem Status
erhebt.102 Dadurch ergibt sich eine neue Konzeption des Ich. Die Einbil-
dungskraft ist nicht mehr etwas, das dem Ich uerlich wre und es ver-
fhren knnte. Die Einbildungskraft ist vielmehr ein konstitutiver
Bestandteil des Ich. Das Ich ist fr Kant in sich plural, ein nicht notwen-
digerweise harmonisches Zusammenspiel mehrerer Stimmen. Als Selbst-
affektion beschreibt Kant die Eigenschaft der Einbildungskraft, das Ich
zu alterieren und wie eine uere Kraft auf das Innere einzuwirken.

Witz und Einbildungskraft als Vermgen


des Zeichens und des Wahnsinns

Als vermgenstheoretische Grundlage des Wahnsinns gilt in Kants Ver-


such ber die Krankheiten des Kopfes somit die Einbildungskraft. Als
Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Menschen im Naturzustand und
demjenigen in der Zeit der Zivilisation nennt Kant ausdrcklich die

99 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 466 (Anthropologie
25, B 68, A 67).
100 Vgl. Liliane Weissberg: Geistersprache. Philosophischer und literarischer
Diskurs im spten achtzehnten Jahrhundert. Wrzburg: Knigshausen &
Neumann 1990, S. 37.
101 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 476 (Anthropologie
25, BA 80).
102 Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [1929].
Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 6. Aufl. Frankfurt am Main:
Klostermann 1998, bes. S. 127ff.

64
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Einbildungskraft in der Form des Witzes. So heit es im ersten Teil des


Versuchs:

Die Behendigkeit, etwas zu fassen und sich zu erinnern, imgleichen die Leich-
tigkeit, es geziemend auszudrcken, kommen gar sehr auf den Witz an; [...] und
die Schwierigkeit, sich ausdrcken zu knnen, beweiset nichts minder als die
Verstandesfhigkeit, sondern nur, da der Witz nicht gnugsame Beihlfe leiste,
den Gedanken in mancherlei Zeichen einzukleiden.103

Witz ist somit ein Vermgen des Zeichens und Bezeichnens. Bekanntlich
hat Kant in seiner kritischen Philosophie die Frage des Zeichens und der
Sprache kaum je explizit thematisiert. Einzig in der Anthropologie, im
Abschnitt ber die Einbildungskraft, findet sich eine knappe Bestimmung
des Bezeichnens. Kant schreibt: Das Vermgen der Erkenntnis des
Gegenwrtigen, als Mittel der Verknpfung der Vorstellung des Vorher-
gesehenen mit der des Vergangenen, ist das Bezeichnungsvermgen.
Die Handlung des Gemts, diese Verknpfung zu bewirken, ist die Be-
zeichnung (signatio).104 Das Zeichen als Instrument der Zusammenfas-
sung sinnlicher Daten ist demnach nicht zu denken ohne das Vermgen
der Einbildungskraft, nicht aktuell sinnlich gegebene und also nicht-ge-
genwrtige Vorstellungen zu gegenwrtigen zu assoziieren und so eine
Kontinuitt der zeitlichen Folge herzustellen. Das Zeichen ist eine gegen-
wrtige Vorstellung, die dem Zweck dient, eine sinnlich abwesende Vor-
stellung zu vergegenwrtigen.105
Der Witz als Vermgen der Beihlfe zur Bezeichnung ist notwen-
dig eine Form des Bezeichnungsvermgens. In der Anthropologie defi-
niert Kant den Witz ganz in der Tradition des 18. Jahrhunderts als ein
Vermgen der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem.106 Das
Verfahren des Witzes, Regeln zu erfinden, beschreibt Kant, wie vor ihm

103 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 888 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 14).
104 Ebd., Bd. 6, S. 497 (Anthropologie 35, BA 106).
105 Vgl. Hermann Mrchen: Die Einbildungskraft bei Kant. In: Jahrbuch fr
Philosophie und phnomenologische Forschung 11 (1930), S. 311-495,
hier: S. 347.
106 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 511 (Anthro-
pologie 41, BA 123).

65
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

bereits Locke, Addison und Wolff,107 als ein Erkennen von hnlich-
keiten.108
Witz ist ein Vermgen der Synthese, indem er Gattungen erfinden
kann, die verschiedene Besondere zu einem Allgemeinen zusam-
menfassen. Da dieses Allgemeine nicht einfach vorgegeben ist, muss
auch dieses als ein Produkt des Witzes begriffen werden, der in der Lage
ist, es zu erfinden. Die Regeln, von denen Kant spricht, sind nichts an-
deres als Zeichen: allgemeine Bezeichnungen einer Gattung, die ver-
schiedene besondere Dinge unter dem Zeichen eines ihnen gemeinsa-
men Allgemeinen versammelt. Der Witz ist indem er in verschiede-
nen Einzelwahrnehmungen hnlichkeiten entdeckt, die es erlauben, die
wahrgenommenen Dinge als gleichartig zu behandeln ein zeichenpro-
duzierendes Vermgen: ein Vermgen der Sprache.
Kant beschreibt im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes und in
anderen Texten den Witz ebenso wie das ihm zugrundeliegende Verm-
gen der Einbildungskraft einerseits als das Vermgen des Wahnsinns, der
Tuschung, der Strung in jeder Form; andererseits als das Vermgen
des Zeichens im allgemeinen, der Sprache und der Kommunikation. Der
Wahnsinn folgt aus dem Vermgen des Menschen, Zeichen zu gebrau-
chen, um mit ihnen zu kommunizieren und zu denken, er folgt hierin
bleibt Kant nahe bei der Vorlage Rousseaus demnach aus der Mg-
lichkeit der Entwicklung, des Fortschritts und der Gesellschaftlichkeit
und ist zugleich deren eigene Bedrohung.
Kein anderer Autor nach Kant hat diese Ambivalenz des Wahnsinns
hnlich pointiert formuliert wie Hegel. In seiner Enzyklopdie definiert
Hegel Wahnsinn zunchst bereinstimmend mit Kant als den Fall, wo

107 Lockes Essay concerning Human Understanding (1690) definiert wit im


fr das 18. Jahrhundert kanonischen Gegensatz zu judgment. Vgl.
John Locke: An Essay Concerning Human Understanding [1690]. In:
ders.: Works. A New Edition, corrected. In ten Volumes. London: Tho-
mas Tegg u.a. 1823. Reprint: Aalen: Scientia 1963, Bd. 1, S. 145 (Book
2, Chapter XI, 2). Vgl. zum Verhltnis von Witz, Urteilskraft und Ein-
bildungskraft M. A. Goldberg: Wit and the Imagination in Eighteenth-
Century Aesthetics. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 16
(1958), S. 503-509; Karl-Otto Schtz: Witz und Humor. In: Wolfgang
Schmidt-Hidding: Humor und Witz. Mnchen: Hueber 1963 (Europ-
ische Schlsselwrter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Stu-
dien. 1), S. 161-244, hier: S. 167f.; Stanley Corngold: Wit and Judgment
in the Eighteenth Century: Lessing and Kant. In: MLN 102 (1987), S.
461-482.
108 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 537f. (Anthro-
pologie 51, BA 153).

66
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

der Mensch seine nur subjektive Vorstellung als objektiv sich gegenwr-
tig zu haben glaubt und gegen die mit derselben in Widerspruch stehende
wirkliche Objektivitt festhlt.109 Wahnsinn wird fr Hegel demnach
mglich aus dem Gegensatz von Konkretem und Abstraktem, Wirkli-
chem und Mglichen: Der Wahnsinnige verwechselt seine subjektive
Vorstellung mit dem objektiv Gegenwrtigen, auch wenn es in Wider-
spruch zu seiner subjektiven Meinung steht. So fhrt Hegel fort:

Aus dem eben Gesagten folgt, da man die verrckte Vorstellung eine vom
Verrckten fr etwas Konkretes und Wirkliches angesehene leere Abstraktion
und bloe Mglichkeit nennen kann; denn wie wir gesehen haben, wird eben in
jener Vorstellung von der konkreten Wirklichkeit des Verrckten abstra-
hiert.110

Wer hier nun abermals einen eindeutigen Ausschluss des Wahnsinns aus
der Ordnung der Vernunft erkennen mchte, muss sich daran erinnern,
dass Hegel alles andere als ein Advokat des unmittelbar gegenwrtigen
sinnlichen Eindrucks ist; nicht nur die Phnomenologie des Geistes be-
vorzugt demgegenber jederzeit den Gedanken, der das Ergebnis einer
abstrahierenden und entgegenwrtigenden Reflexion ist. In diesem Sinne
beschreibt Hegel nur einen Absatz zuvor die Notwendigkeit, das Gefun-
dene und Empfundene die sinnliche Rezeptivitt also in Vorstel-
lungen zu verwandeln und dasselbe zugleich zu einem uerlichen
Gegenstande111 zu machen. Nur wenn ich auf die eben angegebene Art
verfahre, bin ich bei Verstande und erhlt der mich erfllende Inhalt sei-
nerseits die Form der Objektivitt.112 Die Mglichkeit des Irrtums
Sowohl ber mich selbst wie ber die Auenwelt kann ich mich nun al-
lerdings irren113 , ja letztendlich die Mglichkeit des Wahnsinns als
Extrem des Irrtums ist damit der Struktur des Verstandes und der Ver-
stndigkeit eingeschrieben. Hegel folgt hier sehr przise dem von Kant
beschriebenen Zusammenhang zwischen Zeichen und Wahnsinn und
schreibt diesen Zusammenhang wiederum in seine Analytik des Verstan-
des ein, in dem die Verrcktheit folgerichtig als eine wesentliche Ent-
wicklungsstufe der Seele114 erscheint.

109 Hegel: Werke (wie Anm. 86), Bd. 10, S. 167 (Enzyklopdie der philoso-
phischen Wissenschaften 408, Zusatz).
110 Ebd., S. 168.
111 Ebd., S. 166f.
112 Ebd., S. 167.
113 Ebd.
114 Ebd., S. 164.

67
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Der Mensch ist dasjenige Wesen, das die Mglichkeit des Wahnsinns
besitzt: Er hat sozusagen das Vorrecht der Narrheit und des Wahn-
sinns.115 In Hegels Beschreibung des notwendigen Wahnsinns in aller
Vernnftigkeit liegt selbstverstndlich eine auerordentliche kritische
Energie, die sich vor allem gegen die rationalistische und empiristische
Vorstellung einer objektiven Erkennbarkeit des Wirklichen wendet. Das
Thema des Wahnsinns hat demnach auch fr Hegel seine Faszination
ebendort, wo es gilt, der rationalistischen Vernunft ihre Limitationen auf-
zuzeigen; die rationalistische Vorstellung einer sich selbst und seiner Er-
kenntnis gewissen Vernunft muss von hier aus als hchste Stufe der Ver-
blendung und des Wahns erscheinen. Die Ausfhrungen ber Wahnsinn
in der Enzyklopdie stehen damit in enger Beziehung zum philosophi-
schen Unternehmen Hegels insgesamt, welches, wie Adorno formuliert,
darauf zielt, die rationalistische Vernunft kritisch auf sich selbst anzu-
wenden, damit sie der Male von Unvernunft heilend noch an ihrer eige-
nen Vernunft innewird, aber auch der Spur des Vernnftigen am Unver-
nnftigen.116

Witz als Spiel

In der Diskussion des Witzes hebt Kant das Element der Leichtigkeit
der Synthesenbildung hervor. Zwar stiftet das Vermgen Zusammenhn-
ge und ist insofern ein Erkenntnisorgan, aber es erkennt diese Zusam-
menhnge stets spielerisch, ohne Mhe, pltzlich und mit einer Vor-
liebe fr berraschende und neue Zusammenhnge: Des vergleichenden
Witzes Tun und Lassen ist mehr Spiel; das der Urteilskraft aber mehr
Geschfte.117 Wenn der Witz allerdings vornehmlich ein Spiel ist und
nicht ein serises Geschft , dann ist sein Wirken nicht ohne Gefahren.
Das Spiel bezeichnet fr Kant eine Freiheit von allen Kategorien des

115 Ebd., S. 168. Zum Wahnsinn als wesentlicher Entwicklungsstufe der


Seele fr Hegel vgl. Gerhard Gamm: Der Wahnsinn in der Vernunft. Hi-
storische und erkenntniskritische Studien zur Dimension des Anders-
Seins in der Philosophie Hegels. Bonn: Bouvier 1981, S. 89-115; Daniel
Berthold-Bond: Hegels Theory of Madness. Albany: State University of
New York Press 1995, insbes. S. 37-70.
116 Theodor W. Adorno: Erfahrungsgehalt. In: ders.: Drei Studien zu Hegel
[1963]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft. 110), S. 53-83, hier: S. 71.
117 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), S. 539 (Anthropologie 52,
BA 154).

68
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Verstandes, die man als Vorgaben von Ordnung begreifen kann: Konti-
nuitt, Sinnhaftigkeit, Vorhersagbarkeit.118
Im zerstreuten Suchen nach hnlichkeiten zeigt sich die Freiheit des
Bezeichnungsvermgens von den Vorgaben der sinnlichen Wahrneh-
mung und vom eigenen Verstand. Wenn es sich hier um ein Vermgen
handelt, frei von dem Diktat einer gegebenen Ordnung einen Sinn zu kre-
ieren, dann kann dies nur mglich sein aufgrund des immanenten Poten-
tials, jederzeit auch Unsinn hervorzubringen. Whrend der Verstand
durch seine Kategorien an die Gesetze des Sinns gebunden bleibt, erhlt
der Witz und das ihm zugeordnete Seelenvermgen, die Einbildungs-
kraft durch seine Freiheit zum vlligen Unsinn die Mglichkeit, neuen
Sinn hervorbringen zu knnen.
Denn aller Reichtum der ersteren [der Einbildungskraft, O.K.],
heit es in der Kritik der Urteilskraft, bringt in ihrer gesetzlosen Frei-
heit nichts als Unsinn hervor.119 Einbildungskraft ist das Vermgen des
Unsinns, weil es das Vermgen der Kombination und Rekombination
von Sinnpartikeln darstellt. Unsinn die Absenz von Zusammenhngen
jeglicher Art zeigt sich als die Grundlage jedes Sinns. Unsinnigkeit
als das Unvermgen, seine Vorstellungen auch nur in den zur Mglich-
keit der Erfahrung ntigen Zusammenhang zu bringen, wird in Kants
Anthropologie mit einer Weiblichkeit assoziiert, die ihre Einbildungs-
kraft nicht zu bndigen vermag: Der Unsinnigkeit sei in den Tollhu-
sern [...] das weibliche Geschlecht, seiner Schwatzhaftigkeit halber, [...]
am meisten unterworfen.120 Indem freilich die Unsinnigkeit der hchste
Ausdruck der Freiheit der Einbildungskraft darstellt, wird das Genie
das Wesen mit einer besonders krftigen Einbildungskraft und produkti-
vem Witz unweigerlich in die Nachbarschaft jener baren Unsinn
schwatzenden Frauen gezogen.121 Witz ist in der Anthropologie ein
schlechthin sprunghaftes und unberechenbares Vermgen, und insofern
mindestens ebenso ein Unvermgen wie ein Vermgen. Die in ihm ange-
legte Tendenz zur Selbstberbietung der Wille, hnlichkeiten unter un-
hnlichen Dingen zu sehen macht ihn suspekt. Witz, schreibt Kant,

118 Insofern verbindet sich der Begriff des Spiels in der Kritik der Urteils-
kraft mit dem der Freiheit und wird zu einem zentralen Begriff in der
Beschreibung der Aktivitt des Genies. Vgl. Winfried Sdun: Zum Be-
griff des Spiels bei Kant und Schiller. In: Kant-Studien 57 (1966), S.
500-518, hier: S. 504f.
119 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 421 (KdU 50, B
202f., A 200).
120 Ebd., Bd. 6, S. 530 (Anthropologie, BA 144).
121 Vgl. Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. ber Kant, Tieck und
Blaubart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 26-45.

69
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

hascht nach Einfllen; Urteilskraft strebt nach Einsichten. [...] Die Jagd auf
Witzwrter (bon mots), wie sie der Abt Troulet reichlich aufstellte, und den
Witz dabei auf die Folter spannte, macht seichte Kpfe, oder ekelt den grnd-
lichen nach gerade an. Er [?] ist erfinderisch in Moden, d. i. den angenomme-
nen Verhaltungsregeln, die nur durch die Neuheit gefallen [...].122

Die Spannung zwischen Vermgen und Unvermgen bezieht sich aller-


dings nicht nur auf die Frage der Seriositt der Produkte des Witzes.
Schon im Begriff des Spiels ist eine Selbstttigkeit des Vermgens an-
gelegt: Wer spielt, handelt nicht im Auftrag oder unter der Kontrolle ei-
nes anderen (Vermgens).
So schildert Kant die Struktur der Phantasterey einer milderen,
alltglicheren Form der Verrckung als eine klassische Szene der
Selbstaffektion. Sie findet statt in der Sphre des Erwachens, in jenem
Zwischenraum zwischen Tag und Nacht also, in dem der Traum die
vollstndige Inbesitznahme des Verstandes durch seine Phantasie endet
und das Wachsein beginnt. Dieses ist mit all den Konnotationen belegt,
die nicht nur bei Kant (man denke an die Semantik von Aufklrung)
dem Wortfeld des Sehens, der Klarheit, der Bewusstheit etc. zugeordnet
sind. Das Aufwachen und sein Pendant, das Einschlafen diese Zwi-
schenstadien waren Kant suspekt genug, um sie mglichst radikal ver-
krzen und den bergang vom einen Zustand in den anderen mglichst
direkt erlangen zu wollen.123 Diese Zwischenstadien lassen sich mit der
Aktivitt des Wachtraums assoziieren, einer wiederum spielerischen Ein-
mischung eingebildeter Elemente in die sinnliche Wahrnehmung. Kant
schreibt:

Wenn wir nach dem Erwachen in einer lssigen und sanften Zerstreuung lie-
gen, so zeichnet unsere Einbildung die unregelmige Figuren etwa der Bett-
vorhnge, oder gewisser Flecke einer nahen Wand zu Menschengestalten aus,
mit einer scheinbaren Richtigkeit, welche uns auf eine nicht unangenehme Art
unterhlt, wovon wir aber das Blendwerk den Augenblick wenn wir wollen zer-
streuen. [...] Geschieht etwas dem hnliches in einem hheren Grade, ohne da
die Aufmerksamkeit des Wachenden das Blendwerk in der tuschenden Einbil-
dung abzusondern vermag, so lt diese Verkehrtheit einen Phantasten vermu-
ten.124

122 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 539f. (Anthropolo-
gie 52, BA 155).
123 Vgl. Jean-Baptiste Botul: Das sexuelle Leben des Immanuel Kant [1945].
Hrsg. und bers. von Dieter Redlich und Angelika Rther. Leipzig: Re-
clam 2001, S. 50f.
124 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 894 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 22).

70
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Indem es in einer scheinbar ordnungslosen Materie eine hnlichkeit zu


einer allgemeinen Vorstellung, einem allgemeinen Bild, erkennt und auf-
findet, kann das Subjekt sich selbst unterhalten und sich ein nicht unan-
genehmes Gefhl verschaffen. Man knnte die Szene ebenso durch Kants
Beschreibung des Witzes erklren als eine durch das Erkennen von
hnlichkeiten vermittelte Beziehung eines Besonderen auf ein Allge-
meines , ebenso aber auch als eine Vorwegnahme der synthetisierenden
Dynamik der Einbildungskraft. Indem der Witz die Kraft ist, an der
Vorstellung gegenwrtiger Dinge einige unvollkommene hnlichkeit zu
vollenden wie etwa die hnlichkeit unregelmiger Figuren der
Bettvorhnge zu Menschengestalten , bettigt sich diese Verhnli-
chung als schpferische Dichtungsfhigkeit, die den einen oder ande-
ren chimrischen Zug [...] mit in die Empfindung einzeichnet.125
Kants Erzhlung ber das Aufwachen beschreibt eine Autosugge-
stion. Zwar schreibt Kant, dass wir das Blendwerk den Augenblick
wenn wir wollen zerstreuen knnten, aber sein Beispiel fhrt das Ge-
genteil einer aktiven und kontrollierten Ausbung der Einbildung durch
das einbildende Subjekt vor. Vielmehr verdeutlicht die Szenerie der Ver-
wandlung von Flecken in Menschengestalten den Zwang, der von
der durch die Einbildungskraft erfundenen und suggerierten hnlichkeit
ausgeht (so wird dieses Hirngespenst [...] fr eine wirkliche Erfahrung
gehalten werden mssen).126 Durch die Suggestion des Zusammenhangs
verndert sich jedoch die Wahrnehmung der Materie. Sie richtet sich an
der hnlichkeit aus und verwandelt die unregelmigen Figuren in
den Kanon der Regelmigkeit und Schnheit schlechthin, die menschli-
che Gestalt. Die Evidenz des Zusammenhangs wird quasi-sinnlich: der
Aufwachende sieht, vermittelt ber die Einwirkung seiner Einbildungs-
kraft, nicht mehr die unregelmigen Flecken, sondern die regelmi-
ge Menschengestalt.
Man kann Kants Szenerie als Geschichte eines Einfalls lesen, in dem
Sinne, wie Friedrich Schlegel den gewitzten Einfall zum zentralen Or-
gan einer Erkenntnis machen wird, die nicht mehr durch ein denkendes
Subjekt regiert wird, sondern die sich in der Sprache (als dem Medium
des Denkens) ebenso unberechenbar wie unvorhersehbar ergibt. Der Ein-
fall erreicht fr Schlegel eine solche Evidenz, dass ein berraschend
gesehener Zusammenhang nur als das geradezu anamnestische Wiederer-
kennen eines notwendig bereits dagewesenen, der Erkenntnis vorausge-
henden Zusammenhangs erscheinen kann. Der Verstand desjenigen, dem
etwas einfllt, wird zur Bhne der Wiederbegegnung scheinbar alter

125 Ebd., S. 893 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 22).
126 Ebd. (Hervorhebung von mir, O.K.).

71
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Freunde. Manche witzige Einflle, schreibt Schlegel, sind wie das


berraschende Wiedersehen zwei befreundeter Gedanken nach einer lan-
gen Trennung.127

Gefahren der Einbildungskraft: Methoden der


Tuschung Identifikation, Sympathie: Einbildungskraft
als Medium der Vergesellschaftung

Im Paragraph 29 der Anthropologie geht es Kant darum, die von diesem


Vermgen ausgehenden Bedrohungen aufzuzeigen. Kant geht insbeson-
dere auf verschiedene Mglichkeiten der Tuschung ein, die sich aus
ihrem quasi-sinnlichen Charakter ergeben. Die Tuschung durch die
Strke der Einbildungskraft des Menschen, schreibt Kant, geht oft so
weit, da er dasjenige, was er nur im Kopf hat, auer sich zu sehen und
zu fhlen glaubt.128
Welche Dinge aber bildet die Einbildungskraft ein? Kant gibt hier,
im Anschluss an Humes Ausfhrungen ber das Vermgen, die Aus-
kunft, dass sie zumeist bei weitem nicht so ungewhnliche und kreative
Assoziationen hervorbringt, wie man es vielleicht erwarten knnte. Kant
schreibt: Die Einbildungskraft ist indessen nicht so schpferisch, als
man wohl vorgibt. Wir knnen uns fr ein vernnftiges Wesen keine an-
dere Gestalt als schicklich denken, als die Gestalt eines Menschen.129
Die Erzeugungen der Einbildungskraft folgen einem Gesetz des Erwart-
baren und Wahrscheinlichen. Wenn man sich an die bei Kant jederzeit
betonte Freiheit der Einbildungskraft erinnert an ihr Potential also, al-
les Mgliche oder auch Unmgliche, alles Sinnvolle oder auch Wahnsin-
nige sinnlich zu vergegenwrtigen , dann mag diese Aussage zunchst
erstaunlich wirken. Wie kann es erklrt werden, dass sich die Einbil-
dungskraft bei ihren Schpfungen an ein bestimmtes Gesetz des Erwart-

127 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von


Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eich-
ner. [Bisher:] Bd. 1-14, Bd. 16-23. Paderborn u. a.: Schningh, Zrich:
Thomas 1958-1995, Bd. 2, S. 171 (Athenums-Fragment, Nr. 37). Zur
romantischen Konzeption des Einfalls vgl. Philippe Lacoue-Labarthe
und Jean-Luc Nancy: The Literary Absolute. The Theory of Literature in
German Romanticism [1978]. bers. von Philip Barnard und Cheryl Le-
ster. Albany, N.Y.: State University of New York Press 1988 (Intersec-
tions: Philosophy and Critical Theory), S. 52-56.
128 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 481 (Anthropologie
29, B 86, A 85f.).
129 Ebd., S. 480 (Anthropologie 29, B 85f., A 84).

72
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

baren und des Wahrscheinlichen hlt, wenn sie doch eigentlich alle Frei-
heit htte, Unerwartetes zu erschaffen?
Kants Ausfhrungen ber die Strke der Einbildungskraft geben
eine Antwort auf diese Frage. Indem sie dasjenige zur Darstellung bringt,
was man fr real hlt, erfllt sie die Erwartungen des Verstandes und
kann es daher erreichen, dass dieser ihre Darstellung fr wahr hlt. Das
Erwartbare allein ist evident und glaubwrdig. Daher, schreibt Kant,
macht der Bildhauer oder Maler, wenn er einen Engel oder einen Gott
verfertigt, jederzeit einen Menschen. Jede andere Figur scheint ihm Teile
zu enthalten, die sich, seiner Idee nach, mit dem Bau eines vernnftigen
Wesens nicht zusammen vereinigen lassen (als Flgel, Krallen, oder Hu-
fe).130 Die meisten Geschpfe der Einbildungskraft sind demnach nicht
besonders ungewhnlich. Gerade darin liegt die eigentliche Strke der
Einbildungskraft, und folglich ihre eigentliche Gefahr: Ihre Assoziatio-
nen sind nicht auf den ersten Blick chimrisch, sondern mit allen schein-
baren Regeln der Erfahrung vereinbar (selbst dort, wo, wie im Fall der
Frage nach der Gestalt eines Engels oder Gottes, Erfahrung berhaupt
nicht mglich ist). Die Gefahr der Einbildungskraft liegt darin, dass sie
sich naturalisiert, dass ihre Schpfungen als selbstverstndlich hinge-
nommen werden, so dass sie nicht mehr als Einbildungen erscheinen,
sondern als reale Erfahrungen.
In seinen weiteren Ausfhrungen ber die Strke erweitert Kant
die Mglichkeiten der Einbildungen ber die Assoziation des Wahr-
scheinlichen hinaus, indem er die Verbindung der Einbildungskraft mit
den Affekten bespricht. Die Assoziationen folgen nicht nur dem Gesetz
des allgemein fr wahr Gehaltenen, sondern ebenso sehr dem Gesetz
der subjektiven Affekte. Die Einbildungskraft hat also zwei Methoden,
das sinnlich Anwesende mit einem Abwesenden zu verknpfen: neben
dem Wahrscheinlichen (demjenigen, das durch die Schemata des Ver-
standes verbrgt wird) die affektive Neigung des Subjekts.131

130 Ebd., S. 480f.


131 Beide Arten der Assoziation bilden bereits bei Hume wesentliche Prinzi-
pien der Einbildungskraft. Im Treatise of Human Nature (1739/40) wird
dies insbesondere anhand des Mitleids vorgefhrt (vgl. David Hume: A
Treatise of Human Nature. Hrsg. von David Fate Norton und Mary J.
Norton. Oxford: Oxford University Press 2000, S. 238f.). Die Assozia-
tionsprinzipien, schreibt Deleuze, erhalten ihren Sinn nur in der Ver-
bindung mit den Affekten. Nicht nur sind es die affektiven Umstnde, die
die Ideenassoziationen lenken, sondern den Relationen selbst wird ein
Sinn, eine Richtung, eine Unumkehrbarkeit, eine Ausschlielichkeit in
Funktion der Affekte zugewiesen (Gilles Deleuze: Hume [1972]. In:
ders.: Die einsame Insel. Texte und Gesprche von 1953 bis 1974. Hrsg.

73
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Kant nennt zuerst das Beispiel des Heimwehs: Das Heimweh der
Schweizer [...], welches sie befllt, wenn sie in andere Lnder versetzt
werden, ist die Wirkung einer durch die Zurckrufung der Bilder der
Sorgenfreiheit und nachbarlichen Gesellschaft in ihren Jugendjahren er-
regten Sehnsucht nach den rtern, so sie die sehr einfachen Lebensfreu-
den genossen.132 Doch ist diese Lebensfreude der Jugend, wie Kant
ergnzt, stets eine Fiktion. Falls die Schweizer wieder die Orte ihrer
Jugend aufsuchten, wrden sie in ihrer Erwartung sehr getuscht und so
auch geheilt.133
Schon das die Sehnsucht auslsende Begehren an sich ist ein Produkt
der Einbildungskraft, insofern der ersehnte Zustand (die Sorgenfreiheit
der Jugend) immer schon ein Bild, eine Projektion war. Wenn der heim-
kehrende Schweizer meint, sein Land habe sich in der Zeit seiner Ab-
wesenheit sehr gendert, tuscht er sich darber, dass sein Blick nicht
mehr derjenige seiner Jugend ist, in der er sich als Teil einer nachbarli-
chen Gesellschaft vorgestellt hat.
Auch wenn Kant dies nicht ausfhrt, knnen alle von ihm genannten
Beispiele auf Humes Assoziationsprinzipien der Nachbarschaft in Raum
und Zeit (die Schweizer), vor allem aber auf das der hnlichkeit zu-
rckgefhrt werden. Der letztere Bezug ergibt sich vor allem durch den
aus einer hnlichkeit hervorgebrachten Akt der Identifikation, der sich
zur sympathetischen Ferneinwirkung steigern kann. Die Identifikation

von David Lapoujade. bers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main:


Suhrkamp 2003, S. 236-247, hier: S. 242). Vgl. Holger Wille: Inwiefern
ein Empirismus kein Empirismus bleiben kann Zu David Humes Theo-
rie der Imagination im Traktat ber die menschliche Natur (1739/40). In:
Reiz Imagination Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Ein-
bildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Hrsg. von Jrn Stei-
gerwald und Daniela Watzke. Wrzburg: Knigshausen & Neumann
2003, S. 75-89.
132 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 481 (Anthropologie
29, B 87f., A 86). Nur auf den ersten Blick wirkt es berraschend, dass
Kant sich hier auf das Heimweh der Schweizer bezieht. Dies hat seinen
Grund darin, dass die erste wissenschaftliche Untersuchung des Heim-
wehs als pathologischem Syndrom, J. Hofers Dissertatio Medica De -
, oder Heimwehe (1688), sich ausschlielich mit dem Heimweh
Schweizer Brger auerhalb der Schweiz beschftigt. Spter wurde die
Nostalgie auch als Schweizerkrankheit bezeichnet (vgl. K.-H. Gersch-
mann: Nostalgie. In: Historisches Wrterbuch der Philosophie. Hrsg. von
Joachim Ritter und Karlfried Grnder. Bd. 1-12. Basel, Stuttgart: Schwa-
be & Co 1971-2004, Bd. 6, Sp. 934f.).
133 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 481 (Anthropologie
29, B 87f., A 86).

74
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

macht eine sinnliche Affektion des anderen als eigene Affektion erfahr-
bar. Die Einbildungskraft versetzt den Zuschauer, wie bereits Rous-
seau beschrieben hat, in das Innere des Akteurs und lsst ihn eine (ver-
meinte) Affektion quasi-sinnlich spren. Ein starkes Gefhl wie etwa
Ekel kann so, allein durch den Sichtkontakt vermittelt, von einem Sub-
jekt zum anderen augenblicklich bergreifen. Kants schreibt, mit seinem
Beispiel aus der Sphre des Reiseberichts die phantastische Ttigkeit der
Einbildungskraft seinerseits vollziehend: Der Anblick des Genusses
ekeler Sachen an anderen (z.B. wenn die Tungusen den Rotz aus den Na-
sen ihrer Kinder mit einem Tempo aussaugen und verschlucken) bewegt
den Zuschauer eben so zum Erbrechen, als die wenn ihm selbst ein sol-
cher Genu aufgedrungen wrde.134
Als eine gesteigerte und dynamisierte Variante der Identifikation
spricht Kant im folgenden Abschnitt die Sympathie der Einbildungs-
kraft an. Kant schreibt:

Man kann zu allen diesen noch die Wirkungen durch die Sympathie der Ein-
bildungskraft zhlen. Der Anblick eines Menschen in konvulsivischen, oder gar
epileptischen Zufllen reizt zu hnlichen krampfhaften Bewegungen [...], und
der Arzt, Hr. Michaelis, fhrt an: da, als bei der Armee in Nordamerika ein
Mann in heftige Raserei geriet, zwei oder drei beistehende durch den Anblick
desselben pltzlich auch darin versetzt wurden [...]; daher es Nervenschwachen
(Hypochondrischen) nicht zu raten ist, aus Neugierde Tollhuser zu be-
suchen.135

Sympathie ist eine Krankheit des Zufalls: Sie fllt pltzlich beiste-
hende Personen an und versetzt sie unvermittelt in die Lage eines an-
deren Befallenen. Kant versteht Sympathie demnach nicht (im Sinne
des 18. Jahrhunderts) als Mitleid und noch weniger (im modernen
Sinne des Wortes) als Bezeichnung fr eine Zuneigung oder Affinitt
einer Person zu einer anderen obgleich bereits Hume sympathy in
diesem Sinne gebraucht , sondern als die okkulte Macht der Einbil-
dungskraft, durch bloen Blickkontakt sinnliche Affektionen von einem
Subjekt zu einem anderen zu vermitteln. Die Quelle fr Kants Verstnd-
nis von Sympathie kann entsprechend eher in der Naturphilosophie der
frhen Neuzeit als in der zeitgenssischen Vermgenslehre ausgemacht
werden. Sympathie bezeichnet hier die Vorstellung einer Wechselwir-
kung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, die es ermglicht, Din-

134 Ebd. (Anthropologie 29, BA 86).


135 Ebd., S. 482 (Anthropologie 29, B 87f., A 88).

75
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ge zu Heilzwecken einzusetzen, die qua natrlicher Magie (magia na-


turalis) in Korrespondenz zu der Erkrankung stehen.136
Kant begreift die durch Sympathie entstandenen Korrespondenzen
nicht als Zeichen eines universellen Zusammenhangs, sondern im Gegen-
teil als radikale Unterbrechung. Durch sie kann der Mensch pltzlich
aus der Kontinuitt seiner Erfahrung herausgerissen und buchstblich
versetzt werden. So leitet Kant in der Anthropologie das Wort Ver-
rckung daraus ab, dass sie einen ganz verschiedenen Standpunkt be-
nennt, worein, so zu sagen, die Seele versetzt wird, und aus dem sie alle
Gegenstnde anders sieht.137 Das Tollhaus erscheint in dieser Lage
als die einzige Mglichkeit, eine Epidemie der Zuflligkeiten zu verhin-
dern. Wenn die Einbildungskraft die Grenzen von auen und innen
berspringt, helfen nur noch Mauern.
Kants Modell der Einbildungskraft in der Anthropologie grndet in
einer impliziten Theorie der Gemeinschaft und Vergemeinschaftung. Die
Einbildung versetzt das Ich in die eingebildete Position des anderen
und lsst es phantasmatisch an dessen Affektion teilhaben. Was Kant als
Sympathie der Einbildungskraft bezeichnet, ist eine Erweiterung des
Gedankens der Identifikation um die Annahme, dass schon das Anzei-
chen der Reaktion auf eine solche das Gefhl der teilnehmenden Mit-Af-
fektion auslsen kann. Die Sympathie ist die Identifikation: Sie negiert
die Grenzen zwischen einem Ich und dem anderen und schafft die Fik-
tion eines wir. Insofern die Einbildungskraft fr Kant ein sinnliches
Vermgen ist sie ist jederzeit sinnlich,138 heit es in der Kritik der
reinen Vernunft , ist die durch sie begrndete Gemeinsamkeit allerdings
notwendig eine Gemeinsamkeit des Leidens und Erleidens. Die Gemein-
schaft der Sympathie ist eine Raserei, ein epileptischer Zufall. Die
Mit-Affektion lst fr Kant nicht, wie das Mitleid fr Rousseau, eine
sozusagen dialektische Bewegung aus dem Ich heraus und zu diesem
zurck aus, sondern sie verbleibt in einem reinen Auer-sich-sein: im
Versetztsein und also in der Verrcktheit.

136 Vgl. Heinz Schott: Sympathie als Metapher in der Medizingeschichte. In:
Wrzburger medizinhistorische Mitteilungen 10 (1992), S. 107-127, bes.
S. 109f.; Joseph Vogl: Kalkl und Leidenschaft. Poetik des konomi-
schen Menschen. Mnchen: sequenzia 2002, S. 87-107.
137 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 531 (Anthro-
pologie 49, BA 146f.).
138 Ebd., Bd. 2, S. 178 (KrV, A 124).

76
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Hypochondrie als Pathologie der Mit-Affektion


Wahnsinn als hermeneutische Pathologie

Eine fr Rousseau wie auch fr Kant besonders wichtige Art und Weise
der Wirkung der Einbildungskraft ist nun, dass sie die Erfahrungen (das
Denken, die Gefhle) des anderen erfahrbar macht, gleichsam als wren
es die eigenen Erfahrungen. Whrend Rousseau die durch die Einbil-
dungskraft ermglichte Form der Vergemeinschaftung auf das Mitleid
beschrnkt, stellt dieses fr Kant nur eine und keineswegs eine beson-
ders hoch einzuschtzende Mglichkeit des Bezugs zum anderen dar.
Die Einbildungskraft ist fr Kant nicht blo das Vermgen des Mit-
leids, sondern das Vermgen der Teilhabe ebenso wie des Bezeichnens
(als Witz) und also allgemein der Kommunikation und Mitteilung.
Man kann sogar sagen, dass es das Vermgen berhaupt als eine Er-
mglichung des Mglichen des potentiell Zuknftigen oder Gegenwr-
tigen ist im Gegensatz zu den Sinnesvermgen, die auf das Aktuelle
und Wirkliche beschrnkt sind. Allerdings darf das Vermgen hier wie
auch sonst nicht nur als die Mglichkeit der Ausbung einer vorhande-
nen Befhigung verstanden werden, sondern mindestens ebenso als ein
Zwang, das Eingebildete wahrzunehmen.
Wenn die Einbildungskraft das fundamentale Vermgen der Verge-
meinschaftung (als Grundvermgen der Mitteilung) ist, dann ist es zu-
gleich und dieses zugleich ist keine empirische Zuflligkeit, sondern
es folgt aus der transzendentalen Struktur der Einbildungskraft und dem
von ihr Ermglichten das Vermgen der Tuschung, der Verstellung,
der Blendung und Verblendung, der Lge und also des Scheins. Wenn
Kant die brgerliche Gesellschaft zu Beginn des Versuchs ber die
Krankheiten des Kopfes als eine Gesellschaft der Tuschung und Dissi-
mulation charakterisiert, dann bedeutet dies kaum, dass Kant sich auf ei-
ne wie auch immer satirische oder gar rousseauistische Art und Weise
von seiner zeitgenssischen Gesellschaft distanzieren will. Vielmehr
zeigt sich hier die Einsicht, dass eine brgerliche Gesellschaft nur eine
Gesellschaft der Einbildungskraft, der Einbildungen sein kann und dass
diese Gesellschaft stets potentiell eine der Tuschung und Verstellung, ja
selbst der Narrheit und des Wahnsinns sein muss.
Der Versuch ber die Krankheiten des Kopfes ist demzufolge ein
Versuch ber die Pathologien der Gesellschaft, die von den Bedingungen
der Mglichkeit der Gesellschaft selbst hervorgebracht werden. Mit an-
deren Worten fragt Kant nicht danach, ob Geisteskrankheiten soziale Ur-
sachen haben, sondern es geht ihm darum, zu zeigen, wie die in der Ein-
bildungskraft begrndete Mglichkeit der Mitteilung und Vergemein-
schaftung zugleich den Wahnsinn als Pathologie der Gesellschaftlichkeit

77
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

produziert. Eine pathologische Strung der Gesellschaft ist der Wahnsinn


in den Varianten, die Kants Versuch beschreibt, weil er entweder eine
Unterbrechung der gesellschaftlichen Mitteilung und einen Ausschluss
des Wahnsinnigen mit sich bringt wie im Falle der Narrheit oder
aber, indem er geradezu umgekehrt eine bersteigerung der Mitteilung
mit sich bringt, die die Menschen in eine nicht mehr kontrollierbare,
irrationale Masse verwandelt wie im Fall der Schwrmerei.
Im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes ist es zunchst die Hy-
pochondrie, die den Zusammenhang der Verrckung zur Thematik der
Gemeinschaft verdeutlicht. Die phantastische Gemtsbeschaffenheit,
schreibt Kant, ist nirgend gemeiner als in der Hypochondrie.139 Wenn
Kant die Hypochondrie im Versuch als ausfhrlichstes Paradigma einer
Ausprgung der Verrcktheit behandelt, dann wohl nicht nur wegen
ihrer gemeinen Verbreitung, sondern auch, weil ihre Charakteristik
durch die Struktur der Einzeichnung fremder Zeichen in die eigene
Wahrnehmung definiert ist. Kant schreibt:

Der Hypochondrist hat ein bel, das, an welchem Orte es auch seinen Haupt-
sitz haben mag, dennoch wahrscheinlicher Weise das Nervengewebe in allerlei
Teilen des Krpers unstetig durchwandert. Es ziehet aber vornehmlich einen
melancholischen Dunst um den Sitz der Seele, dermaen, da der Patient das
Blendwerk fast aller Krankheiten, von denen er nur hret, an sich selbst
fhlt.140

Der Hypochonder leidet zwar unter einem realen bel, aber sein Lei-
den multipliziert sich durch die Neigung des Hypochonders, jede Krank-
heit, von der er hrt, fr diejenige zu halten, unter der er leidet. Durch
den melancholischen Dunst, den die Hypochondrie verursacht, fhlt er
augenblicklich jede Krankheit, von der er nur hret. Auch der Hypo-
chonder verwechselt also Zeichen und Bezeichnetes und auch seine
Variante des Wahns ist eine sprachliche und semiotische Verrckung.
Angestoen von einer vagen und unsteten Affektion seines Gemts
durch den Krper, sucht der Hypochonder nach einem Namen und nach
einer Ursache fr sein bel, um dann jede sich anbietende Krankheit
augenblicklich an sich aufzufinden und vermittelt ber eine Affektion
des Krpers durch das Gemt tatschlich zu fhlen. Sein innerer Zustand
ist nichts anderes als ein Einfallstor fr die Analogie mit dem ueren.
Die Wahrnehmung des eigenen krperlichen Zustands ist beim Hy-
pochonder somit krankhaft ber uere Zeichen vermittelt: Er befindet
sich stets auf der Suche nach hnlichkeiten zwischen den eigenen Symp-

139 Ebd., Bd. 1, S. 895 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 25).
140 Ebd.

78
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

tomen und den Krankheiten, von denen er hrt. Insofern das Auffinden
solcher hnlichkeiten, das bei fast allen Krankheiten gelingt, von de-
nen er hrt, augenblicklich das tatschliche Empfinden der jeweiligen
Krankheiten bewirkt, ist die Hypochondrie der Name fr ein krankhaft
rezeptives Verhltnis zum Sprechen (und Schreiben) ber Krankhei-
ten.141 Das Leiden des Hypochonders kann sich entsprechend unendlich
potenzieren, wenn er in medizinischer Literatur nicht mehr nur nach den
Ursachen fr sein anfngliches bel sucht, sondern beginnen muss,
auch noch fr jedes angelesene bel eine Ursache zu suchen. Der Hy-
pochonder, schreibt Kant, redet daher von nichts lieber als von seiner
Unplichkeit, lieset gerne medizinische Bcher, findet allenthalben sei-
ne eigene Zuflle, in Gesellschaft wandelt ihn auch wohl unvermerkt sei-
ne gute Laune an, und alsdann lachet er viel, speiset gut, und hat gemei-
niglich das Ansehen eines gesunden Menschen.142
Wenn man folglich die Hypochondrie als eine Krankheit der Lese-
sucht, der wahnhaften und abhngigen Lektre (addictive reading)143
bezeichnen kann, dann wird man zugleich sagen mssen, dass Kant hier
nicht etwa eine zu ausgiebige Lektre als solche kritisiert, sondern die
Methode des Lesens: die Identifikation. Der hypochondrische Leser ist
ein einfhlender Leser, eine Technik, die sich gleichermaen auf den
Witz (das Erkennen von hnlichkeiten zwischen dem Gelesenen und
dem eigenen Krperzustand) wie auf die Sympathie der Einbildungs-
kraft (das durch das Erkennen von hnlichkeiten mgliche Vermgen
der Identifikation) zurckfhren lsst. Wenn schon Rousseau die Identifi-
kation nicht als eine stabile Beziehung zwischen zwei Subjekten versteht,
entfaltet sie bei Kant explizit eine destabilisierende Dynamik, die zu ei-
ner Potenzierung des Wahns fhren kann.
Die Verrcktheit oder Phantasterei ist mit anderen Worten eine
Krankheit der bersteigerten Mit-Empfindung und Mit-Affektion. Kant
beschreibt sie als ein strukturelles Auer-sich-sein, eine Raserei der

141 Vgl. Peter D. Fenves: A Peculiar Fate. Metaphysics and World-History in


Kant. Ithaca, London: Cornell University Press 1991, S. 211f. Zur Hypo-
chondrie als Mode- und Lektrekrankheit in medizinischen Diskursen
des 18. Jahrhunderts vgl. Ulrich Nassen: Trbsinn und Indigestion. Zum
medizinischen und literarischen Diskurs ber Hypochondrie im 18. Jahr-
hundert. In: Fugen. Deutsch-Franzsisches Jahrbuch fr Text-Analytik.
Hrsg. von Manfred Frank, Friedrich A. Kittler und Samuel Weber. Olten,
Freiburg i.Br.: Walter 1980, S. 171-186.
142 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 895 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 25).
143 Fenves: A Peculiar Fate (wie Anm. 141), S. 211.

79
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Empfindung in privater wie auch ffentlicher (und in beiden Fllen somit


politischer) Hinsicht:

Einerlei Vorstellung wirkt nach dem verschiedenen Gemtszustande der Men-


schen in ganz unterschiedlichen Graden auf die Empfindung. Es gibt daher eine
Art von Phantasterei, die jemanden blo deswegen beigemessen wird, weil der
Grad des Gefhls, dadurch er von gewissen Gegenstnden gerhrt wird, vor die
Migung eines gesunden Kopfes ausschweifend zu sein geurteilt wird. Auf
diesen Fu ist der Melancholicus ein Phantast in Ansehung der bel des Le-
bens. Die Liebe hat beraus viel phantastische Entzckungen, und das feine
Kunststck der alten Staaten bestand darin, die Brger fr die Empfindung der
ffentlichen Wohlfahrt zu Phantasten zu machen.144

Eine Variante der Hypochondrie ist die von Kant im Versuch als Wahn-
sinn (im engeren Sinn) bezeichnete Gemtskrankheit. Der Wahnsinni-
ge, schreibt Kant, siehet oder erinnert sich der Gegenstnde so richtig
wie jeder Gesunde, nur er deutet gemeiniglich das Betragen anderer
Menschen durch einen ungereimten Wahn auf sich aus und glaubet da-
raus wer wei was vor bedenkliche Absichten lesen zu knnen, die jenen
niemals in den Sinn kommen. Wenn man ihn hrt, so sollte man glauben,
die ganze Stadt beschftige sich mit ihm.145 Mit einem Begriff, der sp-
ter gebruchlich wurde, kann man Wahnsinn in Kants Beschreibung
als Paranoia verstehen: als Beobachtungs- bzw. Verfolgungswahn, der
wahnhaften Gedanken ber eine externen Beeinflussung und Bedrohung
des eigenen Ich beinhaltet. Der wahnsinnige Paranoiker bezieht nicht,
wie der Hypochonder, eine Form des Sprechens (etwa der medizinischen
Literatur) auf seinen krperlichen Zustand, sondern er versteht jegliches
Sprechen als ein gegen ihn gerichtetes und ihn bedrohendes Sprechen.
Der Wahnsinnige ist in gewisser Weise die symmetrische Gegenfigur
zum Hypochonder, denn wo jener jeden Sprechakt zwanghaft in sich
aufnimmt und als krperlichen Zustand umsetzt, sieht dieser eine zuknf-
tige Bedrohung seiner Person durch die Sprechakte der anderen.
Auch Wahnsinn (im engen Sinn) ist eine Krankheit der Sprache.
Wie der Hypochonder ist der Wahnsinnige durch eine zwanghafte Re-
zeptivitt geprgt, durch die Abhngigkeit vom Sprechen der Anderen,
dem er immer eine lebensnotwendige Bedeutung zuweist, denn nur hier
kann er Anzeichen ber knftige Gefahren erkennen. Jeder beobachtete
Austausch wird zum Anzeichen einer knftigen Bedrohung: Die Markt-
leute, welche miteinander handeln und ihn etwa ansehen, schmieden An-

144 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 25).
145 Ebd., S. 897 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 26).

80
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

schlge wider ihn, der Nachtwchter rufet ihm zum Possen, und kurz er
siehet nichts als eine allgemeine Verschwrung wider sich.146 Auch
wenn Kant den Namen Rousseaus in diesem Zusammenhang nicht
erwhnt, wird es den Zeitgenossen nicht schwer gefallen sein, in der Be-
schreibung des Krankheitsbildes des Wahnsinns den berhmtesten Pa-
ranoiker des 18. Jahrhunderts wiederzuerkennen. In seinen Anthropolo-
gievorlesungen nennt Kant Rousseau explizit als Beispiel fr den Verfol-
gungswahn.147 Es ergibt sich die ironische Folgerung, dass ausgerechnet
der Theoretiker eines Naturzustands ohne jede Einbildungskraft fr Kant
eine phantastische Abhngigkeit vom gesellschaftlichen Sprechen auf-
weist.

Wahnsinn und sensus communis

Wahnsinn ist ein Produkt der Gesellschaftlichkeit: Er wre ohne den


Raum des Fiktionalen und des Phantastischen, den die Sprache als Me-
dium der Gesellschaftlichkeit erffnet, nicht denkbar. Zugleich aber be-
endet er auch die Gesellschaft, insofern Wahnsinn gerade durch die Un-
fhigkeit von Kommunikation und Mitteilung bestimmt wird. Kants Ana-
lyse lsst keinen Zweifel daran, dass diese Dissoziation des Wahnsinni-
gen aus dem Raum der Gesellschaft aus einer strukturellen Gegebenheit
der Sprache folgt. In dem Raum zwischen Signifikant und Signifikat er-
ffnet die Einbildungskraft ein Feld der Tuschung, der Fiktion, der L-
ge und also des Wahns in allen seinen Facetten.
Deutlicher als im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes hat
Kant diesen Aspekt seiner Theorie des Wahnsinns in der Anthropologie
angesprochen. Das einzige allgemeine Merkmal der Verrcktheit,
schreibt Kant,

146 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 897 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 26).
147 Rousseau, so kann man in einer Mitschrift der Anthropologievorlesun-
gen Kants nachlesen, war ein Mann von groer Laune, hatte aber auch
wunderliche Grillen, und einen groen Hang zum Argwohne; er glaubte
immer Rnke zu bemerken, so da seine Phantasie sehr nahe an Wahn-
sinn grnzte. [...] Rousseau hatte eine eingebildete Grille, da er glaubte,
alle Menschen verschwren sich gegen ihn (zit. nach Brandt: Kritischer
Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [wie
Anm. 10], S. 316). Zu einer Lektre der Kulturtheorie Rousseaus als pa-
ranoider Verschwrungstheorie vgl. John Farrell: Paranoia and Moder-
nity. Cervantes to Rousseau. Ithaca, NY, London: Cornell University
Press 2006, S. 251-278 (Rousseaus Great Plot).

81
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis), und der dagegen eintre-
tende logische Eigensinn (sensus privatus), z.B. ein Mensch sieht am hellen Ta-
ge auf seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende
nicht sieht, oder hrt eine Stimme, die kein anderer hrt.148

Die Anthropologie entwickelt damit eine neue Bestimmung dessen, was


Wahnsinn allgemein genannt werden kann und was die einzelnen Phno-
mene des Wahns vereint. Der Wahnsinnige kann nicht Teil einer Ge-
meinschaft (communitas) sein, er ist per se alleine (privat). In diesem
Sinn ist der Wahnsinn sowohl der Definition des Versuchs als auch der
der Anthropologie gem die Singularitt, die absolute Unvermitteltheit
einer unbegrenzten Subjektivitt, die sich jeder Befhigung zur Kommu-
nikation entzieht.149
Kant bestimmt den sensus communis anders als seine Vorgnger im
18. Jahrhundert. Bei den meisten Autoren des 18. Jahrhunderts, vor allem
in der englischen Moralphilosophie (Adam Smith, Hume) wird der com-
mon sense als ein (natrliches) Gefhl fr Gesellschaftlichkeit, fr sthe-
tischen Geschmack und fr richtiges moralisches Verhalten bestimmt.150
Fr Kant ist der sensus communis dagegen kein Gefhl fr eine bereits
bestehende Gemeinschaft, sondern eher (im Gegenteil) die Grundlage fr
Kommunikation und Sozialitt. Diese neue Interpretation des sensus
communis nimmt Kant in der Kritik der Urteilskraft vor. In 40 heit es:

Unter dem sensus communis aber mu man die Idee eines gemeinschaftlichen
Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermgens verstehen, welches in seiner Refle-
xion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rcksicht
nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten
und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen,
welche leicht fr objektiv gehalten werden knnten, auf das Urteil nachteiligen
Einflu haben wrde.151

148 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 535 (Anthropologie
50, B 151).
149 Vgl. Avital Ronell: Taking it Philosophically: Torquato Tassos Women
as Theorists. In: dies.: Finitudes Score. Essays for the End of the Mil-
lennium. Lincoln, London: University of Nebraska Press 1994, S. 129-
158, hier: S. 156.
150 Vgl. Astrid von der Lhe: Aisthesis synaisthesis sensus communis.
Shaftesburys Entdeckung des moralischen Gefhls. In: Synsthesie. In-
terferenz Transfer Synthese der Sinne. Hrsg. von Hans Adler. Wrz-
burg: Knigshausen & Neumann 2002, S. 185-203.
151 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 389 (KdU 40, B
157).

82
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

In erster Linie also ist der sensus communis die Idee eines gemein-
schaftlichen Sinnes. Er ist also zunchst ein Sinn fr die Gemeinschaft-
lichkeit der im sthetischen Urteil frei miteinander arbeitenden Erkennt-
niskrfte (Verstand und Einbildungskraft). Der sensus communis aesthe-
ticus ist demnach ein Sinn der Sinne, eine Wahrnehmung der eigenen
Wahrnehmung, die einen Konsensus der Erkenntniskrfte152 fhlbar
macht. Gegen die Tradition der common-sense-Philosophie des 18. Jahr-
hunderts greift Kant damit auf eine historisch ltere Bestimmung des
sensus communis zurck: Die Beschreibung eines inneren Sinnes, der die
Einheit der ueren Sinne herstellt, miteinander vermittelt und somit ein
Sinn fr die Gemeinschaft der Sinne ist, lsst sich in diesem Sinn bereits
bei Aristoteles finden.153
Der sensus communis nimmt in seiner Reflexion auf die Vorstel-
lungsart jedes andern in Gedanken [...] Rcksicht, heit es in der Kritik
der Urteilskraft. Die Vorstellungsart ist allerdings keine konkrete Vor-
stellung, keine bestimmte Meinung und kein bestimmtes Urteil, sondern
viel eher die Struktur der Vorstellungen und also der Vorstellbarkeit. Der
sensus communis nimmt also auf die allen Menschen gleichsam gegebe-
ne apriorische Struktur der Erkenntnisvermgen Rcksicht, durch die
allein Erfahrung mglich ist: die Sinnlichkeit und ihre apriorischen Be-
dingungen, deren Zusammenspiel zum Zweck der Erkenntnis Kant in der
Kritik der reinen Vernunft beschreibt. In diesem Sinn schreibt Kant, der
Gemeinsinn sei die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnis-
krfte.154
Erst aus diesem Sinn fr die Sinnlichkeit, fr die allen Menschen ge-
meinsame Endlichkeit, erwchst fr Kant die transzendentalpolitische
Bedeutung des sensus communis.155 Indem der Urteilende auf die Vor-
stellungsart aller anderen potentiell urteilenden Menschen a priori

152 Hans Graubner: Mitteilbarkeit und Lebensgefhl in Kants Kritik


der Urteilskraft. Zur kommunikativen Bedeutung des sthetischen. In:
Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik.
Hrsg. von Friedrich A. Kittler und Horst Turk. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1977, S. 53-75, hier: S. 63.
153 Vgl. Waltraud Naumann-Beyer: Zwei Bedeutungen von Gemeinsinn und
ihr Zusammentreffen in Kants Begriff sensus communis aestheticus. In:
Synsthesie. Interferenz Transfer Synthese der Sinne. Hrsg. von Hans
Adler. Wrzburg: Knigshausen & Neumann 2002, S. 213-224, hier: S.
214f.
154 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 321 (KdU 20, B
65).
155 Vgl. Graubner: Mitteilbarkeit und Lebensgefhl in Kants Kritik der
Urteilskraft (wie Anm. 152), S. 63f.

83
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Rcksicht nimmt, hlt er sein Urteil gleichsam an die gesamte Men-


schenvernunft, um es dadurch entprivatisieren, seinen privaten Bedin-
gungen, Interessen und Vorurteilen entziehen. Die beiden groen Tradi-
tionslinien der Bestimmung des sensus communis als Sinn fr die Ge-
meinsamkeit der Sinne einerseits und als Sinn fr eine menschliche
Gemeinschaft andererseits kommen demnach in Kants Bestimmung
des Begriffs zusammen, wobei die politische Bedeutung erst an die trans-
zendentalsthetische anknpft. In den zahlreichen neueren Kommentaren
zur politischen Bedeutung des sensus communis in der Kritik der Urteils-
kraft, die durch Hannah Arendt angeregt wurden, wird dieser Zusammen-
hang oft nicht erkennbar.156
Aus diesem Zusammenhang heraus wird einsichtig, dass der Kant-
sche sensus communis komplexer strukturiert ist, als etwa Hannah
Arendt es beschreibt.157 Es handelt sich nicht einfach um die Vergegen-
wrtigung der gesamten Menschheit im Verstand des Urteilenden durch
die Einbildungskraft,158 sondern um die Vergegenwrtigung der apriori-
schen Strukturen, die aller Erfahrung und jedem Urteil zugrunde liegen.
Der Gemeinsinn ist nicht die empirische Erfahrung und nicht einmal die
Einbildung einer Gemeinsamkeit; ihre transzendentalpolitische Bedeu-

156 Vgl. Ernst Vollrath: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Po-
litischen. Wrzburg: Knigshausen & Neumann 1987, S. 257-288; Tho-
mas Gutschker: sthetik und Politik. Annherungen an Kants politische
Philosophie. In: Kant als politischer Schriftsteller. Hrsg. von Theo Stam-
men. Wrzburg: Ergon 1999, S. 43-56; Bernadette Meyler: What is Poli-
tical Feeling? In: Diacritics 30 (2000), H. 2, S. 25-42; Heinz Paetzold:
Die Bedeutung von Kants Dritter Kritik fr die politische Philosophie in
der Postmoderne. Zu Hannah Arendts Lektre der Kritik der Urteils-
kraft als Kants Politische Philosophie. In: Kants Schlssel zur Kritik des
Geschmacks. sthetische Erfahrung heute Studien zur Aktualitt von
Kants Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Ursula Franke. Hamburg: Mei-
ner 2000 (Zeitschrift fr sthetik und Allgemeine Kunstwissenschaft:
Sonderheft), S. 189-208; Markus Arnold: Die harmonische Stimmung
aufgeklrter Brger. Zum Verhltnis von Politik und sthetik in Imma-
nuel Kants Kritik der Urteilskraft. In: Kant-Studien 94 (2003), S. 24-
50.
157 Vgl. Esposito: Communitas (wie Anm. 24), S. 119-130; Seyla Benhabib:
Hannah Arendt. die melancholische Denkerin der Moderne. Erweiterte
Ausgabe. bers. von Karin Wrdemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2006 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 1797), S. 291-301.
158 Vgl. Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philoso-
phie. Hrsg. und mit einem Essay von Ronald Beiner. bers. von Ursula
Ludz. Durchgesehene Taschenbuchauflage. Mnchen, Zrich: Piper
1998, S. 60.

84
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

tung liegt vielmehr darin begrndet, dass sie eine Angemessenheit von
Begriffen zu Anschauungen und also von Sprache zu Welt suggeriert,
welche die Mitteilbarkeit von Erfahrung ermglicht. Statt eines quantita-
tiv gemessenen Konsenses Kant spricht abschtzig von Stimmen-
sammlung und Herumfragen bei andern wegen ihrer Art zu empfin-
den159 ist der sensus communis die Voraussetzung der Mglichkeit
von Mitteilung.

Also nur unter der Voraussetzung, da es einen Gemeinsinn gebe (wodurch


wir aber keinen ueren Sinn, sondern die Wirkung aus dem freien Spiel unsrer
Erkenntniskrfte, verstehen), nur unter der Voraussetzung, sage ich, eines sol-
chen Gemeinsinns kann das Geschmacksurteil gefllt werden.160

Diese Voraussetzung setzt die reine Potentialitt von Mitteilung und also
die Mitteilbarkeit (eines Urteils) voraus. Der sensus communis teilt keine
bestimmten Werte oder Gedanken mit er teilt berhaupt nichts mit,
sondern fordert lediglich die Mglichkeit von Mitteilung berhaupt ein.
Hans-Georg Gadamer hat in dieser Ausrichtung des sensus communis
durch Kant eine inhaltliche Entleerung und Intellektuierung161 des Ge-
meinsinns im Vergleich zur vorherigen Tradition gesehen, die den Ge-
schmack (exemplarisch bei Gracin) noch als Bildungsideal162 konzi-
piert habe. Dieser Vorwurf ist jedoch unberechtigt, denn Kant gibt mit
der Verbindung zu den apriorischen Strukturen der Erkenntnis durchaus
eine inhaltliche Bestimmung des sensus communis: Nicht zuletzt das Kri-
terium der Mitteilbarkeit.163
Die im Gemeinsinn erfahrbare Harmonie zwischen den frei spielen-
den Erkenntnisvermgen teilt einen zweckmigen Zustand des Ge-
mts in der Verbindung von Begriff und Anschauung und also nichts
anderes als die Mitteilbarkeit des Gefhls mit.

Nur da, wo Einbildungskraft in ihrer Freiheit den Verstand erweckt, und die-
ser ohne Begriffe die Einbildungskraft in ein regelmiges Spiel versetzt: da

159 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 374 (KdU 31, B
135, A 133).
160 Ebd., S. 321 (KdU 20, B 64f.).
161 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzge einer philoso-
phischen Hermeneutik [1960]. 6. Aufl. Tbingen: Mohr 1990, S. 35.
162 Ebd., S. 41.
163 Vgl. Graubner: Mitteilbarkeit und Lebensgefhl in Kants Kritik der
Urteilskraft (wie Anm. 152), S. 60f.

85
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

teilt sich die Vorstellung, nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefhl eines
zweckmigen Zustandes des Gemts, mit.164

Im nchsten Satz folgert Kant aus diesem Argument, dass dem Ge-
schmack den er zuvor mit dem sensus communis identifiziert hat kei-
ne geringere Aufgabe zugemutet werden kann als die Beurteilung der
Mitteilbarkeit eines Gefhls a priori: Der Geschmack ist also das Ver-
mgen, die Mitteilbarkeit der Gefhle, welche mit gegebener Vorstellung
(ohne Vermittlung eines Begriffs) verbunden sind, a priori zu beurtei-
len.165
Auf dem gemeinsamen Grund der allgemein geteilten transzenden-
talen Struktur erffnet sich somit kein direkter Zugang zum Gegenber;
es wird kein Gedanke kommuniziert. Vielmehr wird die Befhigung zur
Vermittlung, zur Mitteilbarkeit der Gefhle, von jedem einzelnen im
Augenblick seines Urteilens eingefordert. Die Gemeinschaftlichkeit des
Gemeinsinns ist damit eine Setzung, die im voraus die Mglichkeit des
Geschmacksurteils ermglichen soll; niemals kann aber der Gemeinsinn
umgekehrt aus empirischen Geschmacksurteilen abgeleitet werden. Mit
dieser Umkehrung formuliert Kant die denkbar radikalste Antithese zur
britischen common-sense-Philosophie des 18. Jahrhunderts. Der sensus
communis in der Kantschen Version stiftet keinen Konsensus der urtei-
lenden oder erkennenden Subjekte und macht einen solchen auch nicht
fhlbar;166 vielmehr setzt er allein die Befhigung zur Mitteilung der
Gefhle und Urteile voraus und stiftet damit erst die Mglichkeit eines
jeden Konsenses und Dissenses.
Damit ergibt sich ein gewisser Widerspruch zwischen Kants Be-
schreibung des sensus communis in der Kritik der Urteilskraft und seinen
Ausfhrungen zur Verrcktheit in der Anthropologie. Kant suggeriert in
seiner Anthropologie einen direkten Zusammenhang zwischen dem
Wahnsinn und dem Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis)167
und deutet damit an, der sensus communis knnte den Wahnsinn abweh-
ren: Die Gemeinsamkeit des Urteilens knnte das Subjekt vor dem
Wahnsinn retten.168 Wenn aber der sensus communis in der Kritik der
Urteilskraft keine inhaltlich bestimmten moralischen Wertungen trans-

164 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 392 (KdU 40, B
161).
165 Ebd.
166 Graubner: Mitteilbarkeit und Lebensgefhl in Kants Kritik der Ur-
teilskraft (wie Anm. 152), S. 64.
167 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 535 (Anthropologie
50, B 151).
168 Vgl. Arendt: Das Urteilen (wie Anm. 158), S. 86.

86
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

portiert, sondern allein die Mglichkeit der Mitteilbarkeit voraussetzt und


begrndet, dann kann er keine Form des Wahnsinns ausschlieen.
Im Gegenteil: Der sensus communis begrndet eine Alterisierung des
Ich, in der nicht nur die Mglichkeit der Kommunikation und Mitteilung,
sondern ebenso auch die des Wahnsinns begrndet liegt. Das Ich zeigt
sich im sensus communis als immer schon alteriert, aus sich und seiner
Einheit mit sich herausgetrieben. Der sensus communis schliet den
Wahnsinn daher nicht aus, sondern ein: Die Alterisierung des Ich begrn-
det zugleich die Fhigkeit zur Mitteilung und zu gesellschaftlicher Kom-
munikation und die Mglichkeit des Wahnsinns. Auch dieser gehorcht
nicht allein den Gesetzen der Mitteilbarkeit sondern er wird, nicht zu-
letzt in seiner politisch gefhrlichsten Form, tatschlich von einem Sub-
jekt zum anderen mitgeteilt.

Schwrmerei und Fanatismus:


Der Wahnsinn des politischen Krpers

Wahnsinn (im weiteren Sinne, in dem er alle Gemtskrankheiten um-


fasst) ist fr Kant, wie sich zeigt, weniger ein erkenntnistheoretisches als
vielmehr ein politisches Problem. Er bezeichnet eine Ausgrenzung des
Individuums aus der Gemeinschaft und zugleich eine unwillkrliche,
pltzliche, mitunter sogar zufllige, stets aber unkontrollierbare, epilepti-
sche, also zuckende und sogar rasende Form der Vergemeinschaftung,
die potentiell alle Grenzen zwischen einem Ich und anderen nieder-
reien und verschiedene Individuen zu einer Masse (einem Haufen)
formen und also eher: entformen, deformieren, entgrenzen, jedem Wis-
sen und jeder Kontrolle durch eine ratio entziehen kann.
Der 1764 und also Jahre vor der Franzsischen Revolution erschiene-
ne Versuch beschreibt als finale Mglichkeit des Wahnsinns den der
Verrckung erlegenen Staatskrper. Dieser Zustand kann erreicht wer-
den durch eine weitere Variante der Verrckung, durch den Fanati-
ker (Visionr, Schwrmer), der ebenfalls, der allgemeinen Struktur der
Verrckung entsprechend, auf phantastische Art und Weise sich
durch eine vermeintliche uere Affektion selbst affiziert, hier jedoch
mit der Variante, dass er die uere Affektion nicht als die eines anderen
Menschen, sondern als Zeichen einer Eingebung durch eine gttliche
Macht begreift.169

169 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 457 (Anthro-
pologie 22, BA 58).

87
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Schwrmerei ist, wie es in der Kritik der praktischen Vernunft


heit, eine nach Grundstzen unternommene berschreitung der Gren-
zen der menschlichen Vernunft170 und also eine systematische Missach-
tung der Kantschen Kritiken. Der Schwrmer wagt sich mit seiner Einbil-
dungskraft ber die Grenzen des Erfahrbaren hinaus, wenn er etwa
meint, mit gttlichen Wesen kommunizieren zu knnen. In seiner Ab-
handlung ber Die Religion innerhalb der Grenzen der bloen Vernunft
schreibt Kant: Himmlische Einflsse in sich wahrnehmen zu wollen, ist
eine Art Wahnsinn, in welchem wohl gar auch Methode sein kann [...],
der aber immer doch eine der Religion nachteilige Selbsttuschung
bleibt.171 Der Schwrmer bildet sich ein, er tuscht sich selbst, indem er
himmlische Stimmen in sich wahrzunehmen vermeint. Indem er derart
durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte Vorstellungen
fr Wahrnehmungen172 hlt, verfllt er der fr Kant klassischen Defi-
nition des Wahnsinns. Insofern sein Wahnsinn jedoch gar auch Metho-
de sein kann, also systematische Zge an sich trgt, fllt der Schwrmer
zugleich in die Kategorie des Aberwitzes, wie Kant sie in der Anthropo-
logie beschreibt. Aberwitz (vesania), heit hier,

ist die Krankheit der gestrten Vernunft. Der Seelenkranke berfliegt die
ganze Erfahrungsleiter und hascht nach Prinzipien, die des Probiersteins der Er-
fahrung ganz berhoben sein knnen und whnt das Unbegreifliche zu begrei-
fen. Die Erfindung der Quadratur des Kreises, des Perpetuum Mobile, die
Enthllung der bersinnlichen Krfte der Natur und die Befreiung des Geheim-
nisses der Dreieinigkeit sind in seiner Gewalt. [...] Diese vierte Art der Ver-
rckung knnte man systematisch nennen.173

Das Unbegreifliche zu begreifen, die Stimmen des Himmels zu hren:


Der Aberwitzige und der Schwrmer kennen keine Grenzen der Erfah-
rung. Als methodischer oder systematischer Wahnsinn ist diese
Form des Wahns in Kants Ordnung der Vermgen nicht als Strung des
Verstandes gedacht, sondern als gestrte Vernunft. Insofern die Suche
nach Prinzipien, die des Probiersteins der Erfahrung ganz berhoben
sein knnten, allerdings das Wesen der Vernunft berhaupt ausmacht
diese Suche gehrt zum besonderen Schicksal der menschlichen Ver-
nunft,174 von dem der erste Satz der Kritik der reinen Vernunft spricht ,
ist sie eigentlich eher der Wahnsinn einer ungestrten Vernunft, einer

170 Ebd., Bd. 4, S. 208 (KpU, A 153).


171 Ebd., S. 846 (Religion, B 267, A 251).
172 Ebd., Bd. 6, S. 530 (Anthropologie 49, BA 145).
173 Ebd., S. 531 (Anthropologie 49, BA 146).
174 Ebd., Bd. 2, S. 11 (KrV, A VII).

88
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Vernunft, die sich keiner Grenze mehr bewusst ist und die ihre Prinzipien
als sinnlich gegeben wahrzunehmen whnt. Unbestreitbar ist der
Wahnsinn der Schwrmerei ebenfalls ein Wahnsinn der Zeichen, ein se-
miotisch grundierter Wahnsinn, denn er ist die Wahrnehmung (fr Kant)
niemals aktuell wahrnehmbaren Dingen und Zusammenhnge, die durch
eine halluzinierende Einbildungskraft suggeriert werden.175
Ein Schwrmer ist fr Kant, wie der Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes zeigt, jedoch allein derjenige, der mit einem gttlichen Wesen
zu kommunizieren vermeint, sondern auch derjenige, der glaubt, eine
Gemeinschaft mit einem anderen Wesen empirisch erfahren zu knnen.
In diesem Sinn ist die Schwrmerei als der exakte Gegenentwurf zum
Modell des sensus communis zu beschreiben wenn nicht die chronolo-
gische Folge der Schriften Kants eher die gegenteilige Annahme nahele-
gen wrde, nach welcher Kant den sensus communis als Antwort und
Reaktion auf die Schwrmerei entwickelt hat.
Der Fanatiker, schreibt Kant im Versuch ber die Krankheiten des
Kopfes,

ist eigentlich ein Verrckter von einer vermeintlichen unmittelbaren Einge-


bung, und einer groen Vertraulichkeit mit den Mchten des Himmels. Die
menschliche Natur kennt kein gefhrlicheres Blendwerk. Wenn der Ausbruch
davon neu ist, wenn der betrogene Mensch Talente hat und der groe Haufe
vorbereitet ist, dieses Grungsmittel innigst aufzunehmen, alsdenn erduldet bis-
weilen so gar der Staat Verzuckungen. Die Schwrmerei fhret den Begeister-
ten auf das uerste, den Mahomet auf den Frstenthron, und den Johann von
Leyden aufs Blutgerste.176

Eine fanatische Politik ist demnach eine solche, die auf einer vermeint-
lichen unmittelbaren Eingebung beruht und demzufolge auf der berhe-
bung einer einzelnen Person ber alle von Kant festgelegten Grenzen
menschlichen Wissens. Insofern solche Eingebung fr Kant immer eine
vermeintliche Eingebung sein kann, muss sie eine tuschende, getusch-
te, wenn nicht gar vorgetuschte Eingebung sein. Wenn der solcherart
betrogene Mensch jedoch Talente hat wenn er sich also mitteilen
kann , dann ist er jedoch zugleich in der Lage, alle ihm erreichbaren
Menschen mit seiner Schwrmerei buchstblich anzustecken und sie
gleichfalls in Schwrmer zu verwandeln. Wenn bisweilen so gar der
Staat Verzuckungen erleidet, kann er zu einem Staat der Schwrmer

175 Vgl. Bernstein: Imagination and Lunacy in Kants First Critique and An-
thropology (wie Anm. 93), S. 150.
176 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 26).

89
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

werden, zu einem fanatischen und schwrmerischen Staat, der sich


dem Blendwerk des ersten Schwrmers ergibt und ihm bedingungslos
folgt, selbst wenn diese Begeisterung auch auf das uerste und also
zu blutigen Auseinandersetzungen fhrt.
Das Wort Schwrmer (oder Schwarmgeist) gilt als eine Wort-
schpfung Luthers und bezeichnete bis in das 18. Jahrhundert hinein
protestantische Sektierer wie Pietisten, Mystiker oder Wiedertufer.177 In
der Reaktion auf den Verlust der religisen Deutungshoheit der katholi-
schen Kirche entwickelten diese Gruppierungen Alternativen zu dem von
Luther geforderten strikt individualistischen Glauben, indem sie (durch
verschiedene Rituale und Praktiken vermittelt) wiederum die Mglich-
keit einer kollektiven religisen Erfahrung einfhrten. Insofern Kant die
fanatische Politik des Islam als Schwrmerei charakterisiert, begreift er
diesen strukturell als eine protestantische Sekte, und das heit: als eine
spontan entstandene, ebenso irrationale wie instabile Masse, die sich um
einen betrogenen Menschen schart.
Die politische Gefahr der Schwrmerei liegt demnach vor allem in
ihrer Neigung zu epidemischer Ausbreitung. Der Schwrmer ist nicht nur
selbst einer Einbildung erlegen, sondern er setzt eine ganze Kette weite-
rer Einbildungen in Gang, die einen ganzen Staat buchstblich ver-
rckt machen knnen. Schwarm bezeichnet wrtlich keine mensch-
liche Versammlung, es handelt sich um eine zoologische Metapher.
Lessing schreibt: Schwrmer, Schwrmerei kommt von Schwarm,

177 Zur Geschichte des Begriffs Schwrmer vgl. Eric W. Gritsch: Luther
und die Schwrmer: Verworfene Anfechtung? In: Luther. Zeitschrift der
Luther-Gesellschaft 47 (1976), H. 3, S. 105-121; Anthony J. La Vopa:
The Philosopher and the Schwrmer: On the Career of a German Epithet
from Luther to Kant. In: Huntington Library Quarterly 60 (1997), S. 85-
115. Auch der englische Begriff Enthusiasm, fr den Schwrmerei im
18. Jahrhundert die gebruchliche bersetzung wurde, wurde im 17. und
18. Jahrhundert vor allem fr die Mitglieder einer unberschaubaren Zahl
protestantischer Sekten verwendet. Alexander Ross, in his A View of All
Religions of the World (1654) lists as enthusiasts the Adamites, Anabap-
tists, Antinomians, Brownists, Familists, Independents, Quakers, Ranters
and Socinians. By the late eighteenth century many people would also
have included the Methodists (Timothy Clark: The Theory of Inspira-
tion. Composition as a Crisis of Subjectivity in Romantic and post-Ro-
mantic Writing. Manchester, New York: Manchester University Press
1997, S. 63). Vgl. Lothar Kreimendahl: Humes Kritik an den Schwr-
mern und das Problem der wahren Religion in seiner Philosophie. In:
Aufklrung. Interdisziplinre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18.
Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 3 (1988), H. 1, S. 7-27.

90
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

schwrmen; so wie es besonders von den Bienen gebraucht wird.178 Mit


dem Schwrmen der Bienen verbindet sich, wie Orrin Summerell an-
merkt, die durcheinanderwimmelnde Art der Fortbewegung der Bie-
nen, die bei der Honigsuche zu beobachten ist, und zugleich die Vorstel-
lung einer schwebenden Bienenmasse in dem Moment, in dem sich ein
Bienenstaat von einem anderen abspaltet bzw. berhaupt ein neuer Bie-
nenstaat konstituiert.179 Der Schwrmer ist so auf der kreativen Suche
nach dem Honig des Geistes, aber zugleich ist er immer auch derjenige,
der eine brgerliche Gesellschaft in einen von keiner Vernunft kontrol-
lierten, durcheinanderwirbelnden Bienenschwarm verwandeln kann, die
aus unzhligen entindividualisierten Wesen besteht.
Der Schwarm stellt demnach die paradoxe Gemeinschaft mehrerer
Verrckter dar. Mglich ist dies aufgrund des Blendwerks, durch das
der Schwrmer eine falsche Unmittelbarkeit und somit eine letztendliche
berwindung der gesellschaftlichen Mittel behaupten kann. Sobald es
ihm gelingt, andere Menschen mit seiner Begeisterung anzustecken und
ihnen einen Glauben an die Mglichkeit seiner Unmittelbarkeit einzufl-
en, verlsst er seine Position als Einzelgnger. Im Schwarm bildet sich
eine Gesellschaft von Menschen, deren Grundlage paradoxerweise das

178 Gotthold Ephraim Lessing: Ueber eine zeitige Aufgabe: Wird durch die
Bemhung kaltbltiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das,
was sie Enthusiasmus und Schwrmerei nennen, mehr Bses als Gutes
gestiftet? Und in welchen Schranken mssen sich die Antiplatoniker hal-
ten, um ntzlich zu seyn? In: ders.: Smtliche Werke. Hrsg. von Karl
Lachmann und Franz Muncker. Unvernderter photomechanischer Ab-
druck. Berlin, New York: de Gruyter 1979, Bd. 16, S. 293-301, hier: S.
297.
179 Orrin F. Summerell: Perspektiven der Schwrmerei um 1800. Anmerkun-
gen zu einer Selbstinterpretation Schellings. In: Platonismus im Idealis-
mus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie.
Hrsg. von Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell. Mnchen, Leip-
zig: Saur 2003, S. 139-173, hier: S. 152: Geschwrmt wird, wenn ein al-
ter Bienenstock einen jungen abstt oder ein junger Stock den alten ver-
lt. Diese Bedeutung des Schwrmens bestimmt die Metaphorik, die in
den Debatten des 18. Jahrhunderts eine tragende Rolle spielt. Die nur
scheinbar ungeordnete, zwar vernunftlose, gleichwohl aber nicht um-
sichtslose Bewegung der schwebenden Bienenmasse bzw. ihr Umherge-
trieben-Werden an erster Stelle ihr Ausfliegen zur Grndung eines neu-
en Staates, an zweiter Stelle ihre durcheinanderwimmelnde Fortbewe-
gung, z.B. zum Honig-Sammeln wird auf ein anderes Verhalten ber-
tragen, um dieses zu bestimmen.

91
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Streben nach etwas ist, das kategorial ber jede menschliche Gesellschaft
hinausgeht.180
Sptestens hier zeigen sich entscheidende Differenzen und Verschie-
bungen zwischen der Beschreibung des Wahnsinns bei Kant und bei
Rousseau. Wenngleich Kants Versuch ber die Krankheiten des Kopfes
und auch seine spteren Ausfhrungen zur Thematik auf den ersten Blick
mit den Kategorien und Schemata des franzsischen Vorbilds zu arbeiten
scheinen, verkehrt er Rousseaus Perspektive dennoch geradezu in ihr Ge-
genteil. Zwar bernimmt Kant von Rousseau die grundstzliche Ver-
bindung von Wahnsinn, Einbildungskraft und Sprache. Demzufolge sind
es auch fr Kant die gesellschaftlichen Instanzen der Vermittlung, wel-
che die Mglichkeit des Wahnsinns hervorbringen. Anders als Rousseau
beschreibt Kant jedoch an keiner Stelle die Utopie einer anderen, nicht
arbitrren und strungsfreien Kommunikation, in der sich die ideale
menschliche Gemeinschaft verwirklichen knnte. Die konsequente
Selbstironie Kants verweist vielmehr darauf, dass es einen Ort der wah-
ren Kommunikation und Gemeinschaft a priori nicht geben kann und
niemals gegeben hat.
Indem Kant keine Utopie einer nicht-reprsentativen Sprache mehr
beschreibt, werden in seinem Modell die Pathologien der Gesellschaft-
lichkeit wie der Wahnsinn berhaupt ubiquitr. Was Rousseau fr eine
Abweichung vom reinen Ursprung der Gemeinschaft hielt, wird fr Kant
der Ursprung der Gemeinschaftlichkeit berhaupt. Gleichzeitig ver-
schiebt sich damit das Verhltnis des Ich zur Gemeinschaft: Das Ich ist
keine in sich geschlossene Innerlichkeit, sondern, durch seine Einbil-
dungskraft und durch seine Sprache, immer schon alteriert, immer schon
Teil einer menschlichen Gemeinschaft. Dies ist es, wie Kant im Ab-
schnitt ber den Wahnsinn mit einem ironischen Verweis auf Rous-
seau illustriert, umso mehr, wenn es sich von der Gemeinschaft ausgesto-
en und verfolgt whnt.
Rousseaus Utopie einer Gemeinschaft jenseits der Missverstndnisse,
Tuschungen und Verblendungen der Gesellschaft erscheint aus dieser
Perspektive als der eigentlich bedrohliche Wahnsinn, weil sie die politi-
sche Sprengkraft in sich birgt, die Gesellschaft als Ganzes anzugreifen
und durch etwas anderes als eine Gesellschaft ersetzen zu wollen. Eine
reine Kommunikation und Mitteilung ist fr Kant ebenso unerreichbar
wie unvorstellbar. Wie das Ding an sich gehrt sie zur Sphre des Un-
endlichen, die dem endlichen Menschen a priori verschlossen bleibt. Der

180 Peter Fenves formuliert bndig: Schwrmer are the ones who cannot be-
long to any stable society because they want something more than so-
ciety (Peter Fenves: The Scale of Enthusiasm. In: Huntington Library
Quarterly 60 [1997], S. 117-152, hier: S. 121 [Funote 5]).

92
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

schwrmerische Traum der Unmittelbarkeit erscheint in Kants Texten


folglich als der Alptraum des Politischen. Die Gemeinschaft, schreibt
Roberto Esposito,

mu durch eine Blende geschtzt werden, durch die wir nicht hindurch kn-
nen, ohne in sie zu fallen ohne gnzlich von einem Objekt verschluckt zu
werden, das uns als Subjekte verlieren wrde. [...] Hinter der Grenze zeigt sich
das konturlose Gesicht des Ungeheueren [monstruoso] hervor oder auch das
unertrgliche Sich-Zeigen [mostrarsi] einer Welt ohne Grenzen; buchstblich
unweltlich, wie es eine Gemeinschaft nur sein kann, die absolut mit sich selbst
bereinstimmt, die indifferent ist gegenber jeglicher Differenz.181

Schwrmerei und Unmittelbarkeit


Die Sprache der Schwrmerei

Mit radikaler Konsequenz folgert Kant in der spteren Schrift ber Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloen Vernunft aus seiner Kritik
des Schwrmertums die vollstndige Ausschlieung von Inspiration und
Offenbarung fr die Theorie und Praxis der Religion. Die Frage der Reli-
gion, wie Gott verehrt (und gehorcht) sein wolle,182 stellt sich fr Kant
demnach in einer radikalen Ungewissheit. Da diese Frage fr die theore-
tische Vernunft prinzipiell nicht zu beantworten sein kann, muss die
praktische Vernunft die Antwort bernehmen. Entsprechend statuiert
Kant, dass die reine moralische Gesetzgebung, dadurch der Wille Got-
tes ursprnglich in unser Herz eingeschrieben ist, nicht allein die unum-
gngliche Bedingung aller wahren Religion berhaupt [ist], sondern sie
ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht.183 Hierin liegt das
zentrale Anliegen des Projekts der Vernunftreligion: Nicht die Moral
soll aus der Religion folgen, sondern umgekehrt muss jede religise
Handlung sich durch ihre bereinstimmung mit dem moralischen Urteil
legitimieren.184 Jede religise Praxis kann sich daher nur aus ihrer ber-
einstimmung mit der fr jeden Einzelnen autonom urteilenden Vernunft

181 Esposito: Communitas (wie Anm. 24), S. 128.


182 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 763 (Religion, B
147, A 139).
183 Ebd., S. 764 (Religion, B 148).
184 Vgl. Arnold I. Davidson: Religion and the Distortions of Human Reason:
On Kants Religion within the Limits of Reason Alone. In: Pursuits of
Reason. Essays in Honor of Stanley Cavell. Hrsg. von Ted Cohen, Paul
Guyer und Hilary Putnam. Lubbock, Tx.: Texas Tech University Press
1993, S. 67-104, hier: S. 68f.

93
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

gleichermaen gltigen Moral legitimieren. Wer dagegen behauptet, ber


andere Wege (Tradition, Inspiration, Offenbarung) Aussagen ber reli-
gise Handlungen treffen zu knnen, der mat sich eine der endlichen
Vernunft berlegene Position an. Jeglicher Glaube, mit einem berirdi-
schen Wesen in Kontakt treten zu knnen, fhrt fr Kant zu After-
dienst. Kant schreibt:

Unter einem Afterdienst (cultus spurius) wird die berredung, jemandem


durch solche Handlungen zu dienen, verstanden, die in der Tat dieses seine Ab-
sicht rckgngig machen. Das geschieht aber in einem gemeinen Wesen da-
durch, da, was nur den Wert eines Mittels hat, um dem Willen eines Oberen
Genge zu tun, fr dasjenige ausgegeben, und an die Stelle dessen gesetzt wird,
was uns an ihm unmittelbar wohlgefllig macht; wodurch dann die Absicht des
letzteren vereitelt wird.185

Der Fanatiker ist derjenige, der ein Mittel als unmittelbar ausweist. Aus
einer solchen (vermeintlich) gottgeflligen Absicht folgen nach Kant
notwendig lauter Verirrungen einer ber ihre Schranken hinausgehen-
den Vernunft.186 Indem der Fanatiker durch seinen Willen definiert
wird, etwas Vermitteltes als unmittelbar zu behaupten, verweist auch die
Beschreibung des Fanatismus bei Kant deutlich auf den Bereich der
Sprache. Die Sprache des Fanatikers und Schwrmers ist tuschend,
denn sie behauptet eine unmittelbare Kommunikation, die es innerhalb
der Grenzen der bloen Vernunft nicht geben kann.
Die Tuschung der Schwrmerei ist ein sprachlicher Akt. In seiner
Polemik Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philo-
sophie beschreibt Kant die Sprache seiner neuplatonischen Konkurren-
ten, welche durch Einflu eines hheren Gefhls philosophieren [...]
wollen,187 als einen spezifischen Ton. Die vornehmen Philosophen
des neuerdings erhobenen Tons sprechen, so Kant, nicht mehr in den
Kategorien des Wissens, Glaubens und Meinens; ihnen geht es um etwas
vllig anderes, welches gar nichts mit der Logik gemein hat, die kein
Fortschritt des Verstandes, sondern Vorempfindung (praevisio sensitiva)
dessen sein soll, was gar kein Gegenstand der Sinne ist: d.i. Ahnung des
bersinnlichen.188 Eine Ahnung ist allerdings a priori kein Gegenstand

185 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 821 (Religion, B
229).
186 Ebd., S. 704 (Religion, B 64).
187 Ebd., Bd. 3, S. 384 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
400).
188 Ebd., S. 385f. (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
404ff.).

94
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

eines philosophischen Urteils, deren Form Kant in seinen Kritiken zu for-


malisieren suchte. Insofern die Aussagen der Neuplatoniker nichts ande-
res als Ahnungen sind, erreichen sie fr Kant nicht die Dignitt einer phi-
losophischen Erkenntnis, sondern sie sprechen nur die Hoffnung auf eine
Erkenntnis aus, deren Eintreffen aber von den Grenzen des Verstandes
verhindert wird.

Da hierin nun ein gewisser mystischer Takt, ein bersprung (salto mortale)
von Begriffen zum Undenkbaren, ein Vermgen der Ergreifung dessen, was
kein Begriff erreicht, eine Erwartung von Geheimnissen, oder vielmehr Hinhal-
tung mit solchen, eigentlich aber Verstimmung der Kpfe zur Schwrmerei,
liege: leuchtet von selbst ein.189

Wie aber geschieht diese Verstimmung der Kpfe? Wie spricht man
ber eine Ahnung? Die Sprache der Mystiker, der sich vornehm ge-
benden Neuplatoniker ist figurativ: Sie ersetzt den Begriff durch die Me-
tapher. So fhrt Kant aus:

In der neueren mystisch-platonischen Sprache heit es: Alle Philosophie der


Menschen kann nur die Morgenrte zeichnen; die Sonne mu geahnet werden.
[...] In solchen bildlichen Ausdrcken, die jenes Ahnen verstndlich machen
sollen, ist nun der platonisierende Gefhlsphilosoph unerschpflich: z.B. der
Gttin Weisheit so nahe zu kommen, da man das Rauschen ihres Gewandes
vernehmen kann; aber auch in Preisung der Kunst des Afterplato, da er den
Schleier der Isis nicht aufheben kann, ihn doch so dnne zu machen, da man
unter ihm die Gttin ahnen kann. Wie dnn, wird hiebei nicht gesagt; vermut-
lich doch noch so dicht, da man aus dem Gespenst machen kann, was man
will, denn sonst wre es ein Sehen, welches ja vermieden werden sollte.190

Die Sprache der Schwrmer suggeriert bildlich, was sich begrifflich


nicht mehr erfassen lsst. Indem die Metapher eine bildliche Fassbarkeit
eines durch den Verstand nicht Erfahrbaren suggeriert, wird sie zum
sprachlichen Medium der Ahnung. In dieser schwrmerischen Sugge-
stion, so legt Kant nahe, sind die Texte der Neuplatoniker allenfalls Lite-
ratur, nicht aber Philosophie.191 Gefhrlich ist an der Ahnung, dass sie es
ermglicht, aus dem Gespenst zu machen, was man will. In ihrer

189 Ebd., S. 386 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A 407).
190 Ebd., S. 388f. (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
409ff.).
191 Vgl. Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen
Ton in der Philosophie [1983]. In: ders.: Apokalypse. bers. von Michael
Wetzel. Hrsg. von Peter Engelmann. 2. Aufl. Wien: Passagen 2000, S.
11-79, hier: S. 39f.

95
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

bildreichen Sprache verwandeln die neuplatonischen Konkurrenten


Kants die Gttin Isis in ein Gespenst und damit in ein Objekt, von dem
noch nicht einmal gesagt werden kann, ob es tot ist oder lebendig.192
In Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton beschreibt Kant
diese Einmischung der willkrlichen Subjektivitt des Schwrmers als
eine Vermischung und Verwechslung der Stimme der Vernunft mit der
des subjektiven Gefhls, die er eine Stimme des Orakels nennt.

Die innere Erfahrung, und das Gefhl (welches an sich empirisch und hiemit
zufllig ist), wird allein durch die Stimme der Vernunft (dictamen rationis), die
zu jedermann deutlich spricht und einer wissenschaftlichen Erkenntnis fhig ist,
aufgeregt; nicht aber etwa durchs Gefhl eine besondere praktische Regel fr
die Vernunft eingefhrt, welches unmglich ist: weil jene sonst nie allgemein-
gltig sein knnte.193

Wenn es eine innere Stimme geben darf, dann nur die Stimme der
Vernunft, denn nur diese kann zu jedermann deutlich und also allge-
meingltig sprechen, whrend die Stimme des Gefhls zufllig ist und je-
der Verallgemeinerung entbehrt. In der Diktion des Abschnitts ber den
sensus communis aus der Kritik der Urteilskraft msste es heien, dass
die Vermischung der Stimme der Vernunft mit der des Gefhls sich
nicht von den Illusionen der subjektiven Privatbedingungen lsen
kann. Die metaphernreichen Ahnungen der Neuplatoniker geben vor,
eine bessere Auskunft ber das Wesen der Natur (Gttin Isis) als die
prosaische Vernunft geben zu knnen; sie ersetzen deren allgemeinglti-
ge und jederzeit deutliche Sprache allerdings durch das dunkle (Ora-
kel) Sprechen eines subjektiven und privaten Gefhls.
In dieser Privatisierung des philosophischen Urteils, welches dadurch
aufhrt, ein philosophisches Urteil zu sein, liegt zugleich die politische
Bedrohung der Schwrmerei. Wer moralische Gesetze aus einer Stim-
me des Orakels statt aus der Stimme der Vernunft ableitet, setzt seine
private Meinung als allgemeine Stimme des Gesetzes ein und ntigt alle
anderen dazu, der subjektiven Eingebung eines einzelnen zu folgen. Mit
anderen Worten neigt die Schwrmerei zu einer aristokratischen (vor-
nehmen) Politik, die sich in der Hierarchie zwischen Eingeweihten (mit
Zugang zur Stimme des Orakels) und Uneingeweihten (dem Volk)

192 Vgl. Detlef Thiel: Die Illusionen der Isis. Schleier zwischen Kant und
Derrida. In: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium
und Metapher. Hrsg. von Johannes Endres, Barbara Wittmann und Ger-
hard Wolf. Mnchen: Fink 2005, S. 309-330, hier. S. 322.
193 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 392 (Von einem
neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A 416f.).

96
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

manifestiert. So schreibt Kant: Wer sieht hier nicht den Mystagogen,


der nicht blo fr sich schwrmt, sondern zugleich Klubbist ist, und, in-
dem er zu seinen Adepten, im Gegensatz von dem Volke (worunter alle
Uneingeweihten verstanden werden) spricht, mit seiner vorgeblichen
Philosophie vornehm tut!194
Der Schwrmer behauptet eine unmittelbare Vermittlung zu dem
empirisch nicht Erfahrbaren und grndet darauf ein mystisches Wissen,
das ihn ber die Endlichkeit der menschlichen Gesellschaft erhebt. Aus
diesem Grund aber ist die Konstitution der Gemeinschaft von Schwr-
mern grundstzlich problematisch und instabil: Einerseits ist die Gemein-
schaft notwendig, denn der Schwrmer braucht eine Anhngerschaft, die
an ihn glaubt und die seinen Schwarm bildet. Andererseits ist es aber un-
vermeidlich, dass der Schwrmer sich (als Eingeweihter) hierarchisch
ber den Rest seines Schwarms erhebt, denn die Behauptung eines mysti-
schen Wissens kann per se nicht einer greren Menge an Personen ge-
stattet sein. Aufgrund dieser inneren Spannung ist es jederzeit mglich,
dass die Stimme des Orakels sich multipliziert: Die Uneingeweihten
mssen sich nur auf die Stimme ihres Gefhls berufen, um selbst Einge-
weihte ihrer eigenen Orakels werden zu knnen. In dieser inneren Span-
nung ist die Schwrmerei nicht nur undemokratisch, sondern auch insta-
bil und destabilisierend.

Herder und Kant ber Mitleid und Sympathie

Die Bedeutung und Radikalitt von Kants Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes und der darin vorgenommenen Bewertung der Mit-Affektion
als politischer Bedrohung kann allerdings erst im Vergleich mit dem zeit-
genssischen Diskurs eingeschtzt werden. Allgemein wird man sagen
knnen, dass Kants Untersuchung der Rolle von Gefhlen insbeson-
dere dem des Mit-Gefhls eine Reaktion auf die von Kant aufmerksam
verfolgten Versuche insbesondere englischer Moralphilosophien dar-
stellt, ein moralisches Gefhl, einen moral sense zu statuieren. Dieser
sollte moralisches (gutes) Handeln einerseits auf die Unmittelbarkeit ei-
nes Gefhls begrnden statt auf reflektierenden Akten der Vernunft, an-
dererseits aber auch eine Grundlage politischen Verhaltens berhaupt
etablieren. Hierbei gert vor allem das Gefhl der Sympathie des Mit-
gefhls, der Einfhlung etc. in den Blickpunkt, wie sich insbesondere
anhand von Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759) zeigen
lsst, die mit einer ausfhrlichen Analyse der Sympathie als Vergesell-

194 Ebd., S. 388 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A 409).

97
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

schaftungsvermgens anhebt. Es ist demnach die sympathetische


Macht der Einbildungskraft, die in der Moralphilosophie der Mitte des
18. Jahrhunderts von Autoren wie Hutcheson, Adam Smith, Hume oder
Rousseau als das grundlegende Vermgen der Wahrnehmung des Fh-
lens des anderen und insofern als Grundlage moralischen Verhaltens be-
schrieben wird.195 Dieses moralische Gefhl gilt Kant als eine Quelle
wilder Raserei.
Kants Versuch stellt das Mitleid in der ganzen Breite seiner Bedeu-
tung als psychologische und politische Kategorie neu zur Diskussion.
Die Bedeutung der Diskussion ber das Mit-Gefhl zeigt sich darin, dass
noch Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
(1784-1791) explizit das Gefhl der Sympathie ausdrcklich gegen die
Rolle der Vernunft ausspielen und als Grundlage guten Verhaltens
proklamieren. Fr Herder ist Sympathie der Ausdruck einer die gesamte
Schpfung durchziehenden Analogizitt, die von einer alles durchfh-
lenden Gottheit Gott als Instanz eines grenzenlosen Mitleids garan-
tiert wird und auf der sowohl theoretische als praktische Vernunft basie-
ren. Sein Fiberngebude, schreibt Herder ber den Menschen,

ist so elastisch fein und zart, und sein Nervengebude so verschlungen in alle
Theile seines vibrirenden Wesens, da er als ein Analogon der alles durchfh-
lenden Gottheit sich beinah in jedes Geschpf setzen und gerade in dem Maas
mit ihm empfinden kann, als das Geschpf es bedarf und sein Ganzes es ohne
eigene Zerrttung, ja selbst mit Gefahr derselben, leidet.196

Die Befhigung des Menschen zur Sympathie ist demnach eine Folge der
allgemeinen Sympathie, die die Natur fr alle ihre Teile empfindet und
die den Menschen noch fr pflanzliche Wesen fr Bume Mitleid
empfinden lsst: Auch an einem Baum nimmt unsre Maschiene Theil,
sofern sie ein wachsender grnender Baum ist; und es giebt Menschen,
die den Sturz oder die Verstmmelung desselben in seiner grnenden Ju-
gendgestalt krperlich nicht ertragen.197 Herder entwickelt ein Modell
der Natur, in der alles mit allem mitfhlt, indem sich nicht mehr nur
ein Mensch in den anderen hineinversetzt (wie noch bei Rousseau),
sondern in der ein Wesen mit dem anderen mitfhlt.

195 Vgl. Walter Jackson Bate: The Sympathetic Imagination in Eighteenth-


Century English Criticism. In: ELH. A Journal of English Literary Histo-
ry 12 (1945), S. 144-164, hier: S. 146-149.
196 Johann Gottfried Herder: Smmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Su-
phan. Bd. 1-33. Berlin: Weidmann 1877-1913, Bd. 13, S. 156.
197 Ebd., S. 156f.

98
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

So sympathetisch webte die allgemeine Mutter, die alles aus sich nahm und
mit allem in der innigsten Sympathie mitfhlet, den menschlichen Krper. Sein
vibrirendes Fibernsystem, sein Theilnehmendes Nervengebude hat des Auf-
rufs der Vernunft nicht nthig; es kommt ihr zuvor, ja es setzet sich ihr oft
mchtig und widersinnig entgegen. Der Umgang mit Wahnsinnigen, an denen
wir Theil nehmen, erregt selbst Wahnsinn, und desto eher, je mehr sich der
Mensch davor frchtet.198

Der Mensch ist nur ein Element einer vollstndigen Verkettung der Le-
bewesen in einer einzigen Mit-Vibration, die ausdrcklich auch die Mg-
lichkeit des epidemischen Wahnsinns als Besttigung der grundstzlich
sympathetischen Struktur der gesamten Schpfung einschliet.
Kant stimmt mit seinem abtrnnigen Schler Herder berein, indem
auch er die Genese der Sympathie eher als eine krperliche Mit-Affek-
tion vermittelt durch die Quasi-Sinnlichkeit der Einbildungskraft
denn etwa als einen Vorgang der Identifikation eines Subjekts mit einem
anderen beschreibt. Trotz ihrer grundstzlich gegenlufigen Bewertung
dieses Vorgangs greifen damit sowohl Kant als auch Herder (im Gegen-
satz zu Lessing) auf die griechische Wortbedeutung von Mitleid zu-
rck: , was sich bersetzen lsst als Mit-Erleiden, in Mitlei-
denschaft gezogen werden, mit zugleich affiziert werden.199 Whrend
das Mitleid in Lessings (und Rousseaus) christlich geprgtem Verstnd-
nis durch den Anblick eines leidenden Menschen ausgelst wird, ist im
lteren Sinne des Wortes gerade nicht das Objekt der Sympathie der Aus-
lser des Gefhls, sondern eine uere Affektion. Entsprechend vern-
dert sich das Verhltnis der Personen zueinander: Whrend das Mitleid
bei Lessing prinzipiell binr (Mitleidender Bemitleideter) ausgerichtet
ist, verbindet die Sympathie fr Kant (und Herder) eine amorphe und
potentiell unendliche Masse (Haufen) von Personen ohne jede Ord-
nung miteinander. In diesem Sinne ist die Sympathie Kants eher ein
Zusammen-Gestimmtsein als das christlich gefrbte Mitleiden.
Die politische Gefahr des Wahnsinns, wie sie im Versuch dargestellt
wird, geht demnach nicht zuletzt von der Sympathie aus, welche Men-
schen zu blinden Sklaven von Einbildungen werden lsst. In den Beo-
bachtungen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen kommt Kant in
diesem Sinne auf das Mitleid zu sprechen und subsumiert es unter die

198 Ebd., S. 157.


199 Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aris-
totelischen Tragdiensatzes [1955]. In: ders.: Hellas und Hesperien. Ge-
sammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur. Zrich, Stutt-
gart: Artemis 1960, S. 346-388, hier: S. 349.

99
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Sympathie. Ein knappes Lob schlgt dementsprechend in eine scharfe


Kritik um. Eine gewisse Weichmtigkeit, schreibt Kant,

die leichtlich in ein warmes Gefhl des Mitleidens gesetzt wird, ist schn und
liebenswrdig [...]. Allein diese gutartige Leidenschaft ist gleichwohl schwach
und jederzeit blind. Denn setzet: diese Empfindung bewege euch, mit eurem
Aufwande einen Notleidenden aufzuhelfen, allein ihr seid einem andern schul-
dig und setzt euch dadurch auer Stand, die strenge Pflicht der Gerechtigkeit zu
erfllen, so kann offenbar die Handlung aus keinem tugendhaften Vorsatze ent-
springen, denn ein solcher knnte euch unmglich anreizen, eine hhere Ver-
bindlichkeit dieser blinden Bezauberung aufzuopfern.200

Die Neigung zum Mitleiden mag zwar eine schne und damit eher
dem weiblichen Geschlecht201 zuzutrauende Eigenschaft sein, aber da-
raus folgt ihre entscheidende Schwche: Sie ist ber die Sinnlichkeit ver-
mittelt, sie bezaubert, macht blind fr die eigentliche Pflicht, wel-
che wiederum nicht ber die Sinnlichkeit vermittelt ist, sondern durch die
Vernunft geboten wird. Diese wiederum gilt Kant als das Vermgen der
Prinzipien,202 als welches es nicht auf die sinnliche Affektion durch eine
empirische Wirklichkeit angewiesen ist, sondern schlechthin freie Set-
zungen vornimmt.
In der Metaphysik der Sitten (1797) unterscheidet Kant innerhalb der
Menschlichkeit (humanitas) als der Pflicht zum ttigen und vernnf-
tigen Wohlwollen zwei Grundformen: die sinnlich vermittelte Mittei-
lung und das von der praktischen Vernunft geforderte bloe Vermgen
der Mitteilung. Die Menschlichkeit, schreibt Kant,

kann nun in dem Vermgen und Willen, sich einander in Ansehung seiner Ge-
fhle mitzuteilen (humanitas practica) oder blo in der Empfnglichkeit fr das
gemeinsame Gefhl des Vergngens oder Schmerzens (humanitas aesthetica),
was die Natur selbst gibt, gesetzt werden. Das erstere ist frei und wird daher
teilnehmend genannt (communio sentiendi liberalis) und grndet sich auf prak-
tische Vernunft; das zweite ist unfrei (communio sentiendi illiberalis, servilis)
und kann mitteilend (wie die der Wrme oder ansteckender Krankheiten), auch
Mitleidenschaft heien; weil sie sich unter nebeneinander lebenden Menschen
natrlicher Weise verbreitet. Nur zu dem ersten gibts Verbindlichkeit.203

200 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 835 (Beobachtun-
gen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen, A 20).
201 Vgl. ebd., S. 851 (Beobachtungen ber das Gefhl des Schnen und Er-
habenen, A 49).
202 Ebd., Bd. 2, S. 312 (KrV B 356, A 299).
203 Ebd., Bd. 4, S. 394 (MdS, Tugendlehre 34, A 130).

100
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Kant subsumiert demnach das Mitleid der Sympathie und lehnt es als
solche ab, weil es unfrei ist: Es steckt ein Subjekt nach dem anderen
durch ein Gefhl an und verwandelt die Menschen potentiell in einen
wahnsinnigen und fanatischen Haufen. Die Teilnahme dagegen ist
eher ein Gefhl der Mitteilbarkeit als ein mitgeteiltes Gefhl; es umfasst
also ausschlielich die Kommunikabilitt der menschlichen Gemein-
schaft als reiner Mglichkeit. Die Teilnehmung bermittelt nicht ein
bestimmtes, determiniertes Gefhl, sondern nur Wille und Verm-
gen zur Mitteilung der Gefhle.204

II. 4 Der Wahnsinn der Vernunft


(Kant, Shaftesbury)

Kein Jenseits des Wahnsinns


Enthusiasmus und Schwrmerei

Luft seine Beschftigung mit der Thematik des Wahns fr Kant also auf
den klassischen Gegensatz von Vernunft und Wahnsinn hinaus? Muss
man zu dem Schluss kommen, dass die reine Vernunft fr Kant die Si-
cherheit vor einem mit der Einbildungskraft identifizierbaren Wahnsinn
darstellt?
Der Versuch ber die Krankheiten des Kopfes legt diesen Schluss
keinesfalls nahe: Hier ist von einer ber den Wahn erhabenen Vernunft
keine Rede. Im Gegenteil ist der Text durchzogen von einer spezifischen
Identifikation des Autors mit seinem Gegenstand, einer Identifikation des
Philosophen mit dem Wahnsinn also. Die Ironie, mit der Kant etwa sein
eigenes Unternehmen zu Beginn des Versuchs ankndigt, muss jedem
entgehen, der sich nur fr seine Systematik interessiert. Kant geht von
der grundstzlichen Unterscheidung zwischen dem Naturzustand und
dem der ppigkeit der brgerlichen Verfassung aus, die den gesamten
Versuch strukturiert, und stellt dann fest, dass er, selbst wenn er auch im
Besitze der bewhrtesten Heilungsmittel gegen die Krankheiten des
Kopfes wre, er dennoch

Bedenken tragen wrde, diesen altvterischen Plunder dem ffentlichen Ge-


werbe in den Weg zu legen, wohlbewut, da die beliebte Modekur des Ver-
standes und des Herzens schon in erwnschtem Fortgange sei und da vor-

204 Vgl. Fenves: A Peculiar Fate (wie Anm. 141), S. 264f.

101
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

nehmlich die rzte des ersteren, die sich Logiker nennen, sehr gut dem allge-
meinen Verlangen Gnge leisten.205

Wenn die feine und brgerliche Gesellschaft wahnsinnig ist, dann


wird man ihren Wahn mit altvterischen Heilmitteln kaum kurieren
knnen. Gefragt ist in einer solchen Gesellschaft vielmehr ein Arzt, der
eine Modekur verabreicht, der also selbst teilnimmt am Spiel der fei-
nen und interessanten Reize des Witzes. Ich sehe demnach, fhrt
Kant fort, nichts Besseres fr mich, als die Methode der rzte nachzu-
ahmen, welche glauben ihrem Patienten sehr viel genutzt zu haben, wenn
sie seiner Krankheit einen Namen geben, und entwerfe eine kleine Ono-
mastik der Gebrechen des Kopfes.206
Eine ironische Bemerkung: Kant versucht im Verlauf seines Ver-
suchs weitaus mehr als nur eine kleine Onomastik der Gebrechen des
Kopfes, weitaus mehr als nur eine Beschftigung mit Namen und Be-
zeichnungen, sondern mindestens einen Essai ber die Geschichte des
Wahnsinns und eine Theorie des Zusammenhangs von Einbildungskraft
und Gemeinschaft. Doch handelt es sich hier kaum um Ironie im Sinne
Quintilians, der diese bekanntlich als eine Aussage bestimmt, die das Ge-
genteil des Gemeinten sagt. Wenn Kant sich als einen Arzt bezeichnet,
der Wrter behandelt anstelle seiner Patienten als ein Arzt also, der
mglicherweise selbst einen Arzt braucht , dann beschreibt er damit
przise das Problem der Abgrenzung des Philosophen von seinem zu un-
tersuchenden Gegenstandsbereich. Wenn sich allein der Geisteszustand
des Naturmenschen von dem Wahnsinn entfernt halten kann und Kant
keinen Zweifel daran lsst, dass es nicht um die Suche nach einem Weg
zurck gehen kann, dann muss jeder moderne Mensch notwendig
mehr oder weniger von dem Wahnsinn affiziert sein, indem er auf diese
oder jene Art die Chimren seiner eigenen Einbildung in seine Au-
enwelt hineinprojiziert.
Die eigentliche Ironie des Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes
besteht demnach darin, dass der Text die Geste des Klassifizierens und
Definierens bis zu dem Punkt bringt, an dem kein Jenseits des Wahns
mehr zu sehen ist. So schreibt Kant ber die Mglichkeit, ohne Torheit
zu leben: Dem Toren ist der gescheute Mann entgegengesetzt; wer aber
ohne Torheit ist, ist ein Weiser. Dieser Weise kann etwa im Monde
gesucht werden; vielleicht, da man daselbst ohne Leidenschaft ist und
unendlich viel Vernunft hat.207 Kant, ber den De Quincey schreiben

205 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 887f. (Versuch
ber die Krankheiten des Kopfes, A 14).
206 Ebd., S. 888.
207 Ebd., S. 890 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 17).

102
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

wird, er habe nie any tendency to mania208 gezeigt, spielt im gesamten


Text des Versuchs mit der Mglichkeit seines Wahnsinns.
Kant betont ausdrcklich, dass es eine Form des Wahns gibt, die ge-
radezu mit moralischer Gte identifiziert werden kann. Im Abschnitt
ber die Verrckung heit es unvermittelt:

Wer durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr er-
hitzt wird, als es andere nach ihrem matten und fters unedlen Gefhl sich vor-
stellen knnen, ist in ihrer Vorstellung ein Phantast. Ich stelle den Aristides un-
ter Wucherer, den Epiktet unter Hofleute und den Johann Jacob Rousseau unter
die Doktoren der Sorbonne. Mich deucht, ich hre ein lautes Hohngelchter,
und hundert Stimmen rufen: Welche Phantasten! Dieser zweideutige Anschein
von Phantasterei, in an sich guten moralischen Empfindungen, ist der Enthu-
siasmus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Groes ausge-
richtet worden.209

Enthusiasmus und Schwrmerei knnen in der Mitte des 18. Jahrhun-


derts generell synonym verstanden werden (wobei Schwrmer die ge-
bruchliche Eindeutschung von Enthusiast ist): Erst in der zweiten
Hlfte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich eine Gegenberstellung beider
Begriffe ab, nicht zuletzt in der Rezeption von Shaftesburys Abhand-
lung.210 Fr Kant ist Enthusiasmus bereits 1764 der Gegenbegriff zur
Schwrmerei. Der Enthusiast ist kein Fanatiker, denn er bildet sich
keine gttliche Eingebung ein, sondern ist lediglich durch eine morali-
sche Empfindung in besonderem Ausma erhitzt. Diese Erhitzung
macht es ihm unmglich, ohne Rcksicht auf das moralische Gefhl zu
handeln, wie seine khlen und matten Zeitgenossen es zu tun pfle-
gen. Indem er durch eine erhitzte moralische Empfindung ausgelst
wird, ist der Enthusiasmus eine mit der Vernunft im Einklang stehende
Form der Verrckung ein vernnftiger Wahnsinn.

208 Thomas De Quincey: The Last Days of Immanuel Kant [1827]. In: ders.:
Collected Writings. Hrsg. von David Masson. Bd. 1-14. Edinburgh:
Adam and Charles Black 1889-1890, Bd. 4, S. 323-379, hier: S. 340.
209 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 25f.).
210 Vgl. Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwrmers. Theorie und
Darstellung des Schwrmers in Sptaufklrung und frher Goethezeit. In:
Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert.
DFG-Symposion 1992. Hrsg. von Hans-Jrgen Schings. Stuttgart, Wei-
mar: Metzler 1994 (Germanistische Symposien Berichtsbnde. 15), S.
469-498; Summerell: Perspektiven der Schwrmerei um 1800 (wie Anm.
179), S. 148-157.

103
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Shaftesbury ber Enthusiasmus:


A sensible kind of Madness

Die Unterscheidung zwischen Fanatismus und Enthusiasmus wie


auch die abschlieende Bewertung des Enthusiasmus weist Kant als
einen Kenner von Shaftesburys A Letter concerning Enthusiasm (1708)
aus, des zweiten wichtigen Prtextes fr den Versuch ber die Krankhei-
ten des Kopfes neben Rousseaus Discours sur lorigine et les fondemens
de lingalit. Shaftesburys Text behandelt vordergrndig, im Anschluss
an die in der zweiten Hlfte des siebzehnten und in der ersten Hlfte des
achtzehnten Jahrhunderts in England hitzig gefhrte Debatte ber die
Frage nach dem Umgang mit potentiell anti-aufklrerischen Phnome-
nen wie Sektiererei, Prophezeiungen und Aberglaube, die ihren Nieder-
schlag bereits in Lockes Kritik am Enthusiasmus im Essay concerning
Human Understanding findet. Bei den unterschiedlichsten Autoren die-
ser Zeit Hobbes, Locke, Henry More oder Jonathan Swift lsst sich
eine entschiedene Ablehnung des Enthusiasmus beobachten, die sich je-
weils aus einer Ablehnung bestimmter Massenphnomene begrndet.
Fear of enthusiasm, schreibt Timothy Clark ber diesen Zeitraum, is
fear of mass cults, of crowd behaviour, of popular delusions or even in-
surrections. Elusive and unobjectifiable, enthusiasm may be as invisible
and insidious as a rumour, and yet capable of galvanizing multitudes.211
Auch Shaftesbury wie vor ihm Locke kritisiert den Enthusiasmus zu-
nchst ausdrcklich, indem er ihn fr die Erzeugung politischer Epide-
mien verantwortlich macht. Insbesondere in Verbindung mit Religion
kann Enthusiasmus Panik auslsen, die in einer Masse unkontrollier-
bar berspringt:

WE may with good reason call every Passion Pannick which is raisd in a
Multitude, and conveyd by Aspect, or as it were by Contact or Sympathy.
Thus popular Fury may be calld Pannick, when the Rage of the People, as we
have sometimes known, has put them beyond themselves; especially where Re-
ligion has to do. And in this state their very Looks are infectious. The Fury flies
from Face to Face: and the Disease is no sooner seen than caught. [...] Such for-

211 Clark: The Theory of Inspiration (wie Anm. 177), S. 63. Vgl. Michael
Heyd: Be Sober and Reasonable. The Critique of Enthusiasm in the
Seventeenth and Early Eighteenth Centuries. Leiden, New York, Kln:
Brill 1995, S. 165ff.; Karl Tilman Winkler: Enthusiasmus und gesell-
schaftliche Ordnung. Enthusiasm im englischen Sprachgebrauch in der
ersten Hlfte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklrung. Interdisziplinre
Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wir-
kungsgeschichte 3 (1988), H. 1, S. 29-47.

104
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

ce has Society in ill, as well as in good Passions: and so much stronger any Af-
fection is for being social and communicative.212

Die Kehrseite des Sozialen und der Kommunikation ist die Gefahr der
Ansteckung. Die Kontakte innerhalb der Masse (Multitude) sind hoch-
gradig kontagis: allein durch den Blickkontakt bertrgt sich in ihr eine
einmal ausgebrochene Leidenschaft. Das Modell der Gesellschaft ist der
menschliche Krper, und Massenbegeisterungen sind nichts anderes als
soziale Fieberkrankheiten. Alle mit dem Fanatismus in der Geschichte
der Menschheit verbundenen Schrecken Bloodshed, Wars, Persecu-
tions and Devastations213 lassen sich als Pathologien der Gemein-
schaft verstehen, als eine Infektion des politischen Krpers, des Body-
Politick.214 Der Analogie zwischen Staatskrper und Organismus, die
keineswegs neu ist und die sich bereits bei Platon und Hobbes auffinden
lsst, entspricht diejenige von sozialer Unordnung und Krankheit. Aus
dieser Analogie folgt die weitere Argumentation: der klassischen medizi-
nischen Idee des Gleichgewichts zufolge kann nur die Balance der Krfte
zueinander Heilung bringen.215
Demgem pldiert Shaftesbury fr eine Medizin, die auf die Selbst-
heilungskrfte des Organismus vertraut.

The Human Mind and Body are both of em naturally subject to Commotions:
and as there are strange Ferments in the Blood, which in many Bodys occasion
an extraordinary discharge; so in Reason too, there are heterogeneous Particles
which must be thrown off by Fermentation. Shoud Physicians endeavour
absolutely to allay those Ferments of the Body, and strike in the Humours
which discover themselves in such Eruptions, they might, instead of making a
cure, bid fair perhaps to raise a Plague, and turn a Spring-Ague or an Autumn-
Surfeit into an epidemical malignant Fever.216

Alle blutreichen Auswchse des Enthusiasmus sind demzufolge erst


durch eine verfehlte Behandlung entstanden: indem nicht auf die natrli-

212 Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Standard Edition.


Smtliche Werke, ausgewhlte Briefe und nachgelassene Schriften. In
englischer Sprache mit paralleler deutscher bersetzung. Hrsg. bers.
und kommentiert von Gerd Hemmerich und Wolfram Benda. Stuttgart-
Bad Canstatt: frommann-holzboog 1981-1993, Bd. I/1, S. 324.
213 Ebd., S. 328.
214 Ebd., S. 322.
215 Vgl. Susan Sontag: Krankheit als Metapher [1977]. bers. von Karin
Kersten und Caroline Neubaur. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch
Verlag 1981, S. 87-104.
216 Shaftesbury: Standard Edition (wie Anm. 212), Bd. I/1, S. 322.

105
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

che Heilung vertraut wurde, sondern eine gewaltsame Reinigung ver-


sucht wurde. Shaftesbury beschreibt den idealen Staat folglich als ein
Gleichgewicht miteinander ausbalancierter Krfte, in der keine einzelne
Kraft versucht, die anderen zu eliminieren. Dieses Ideal verwirklichte
sich fr Shaftesbury in der antiken Polis:

NOT only Visionarys and Enthusiasts of all kinds were tolerated, your Lord-
ship knows, by the Antients: but on the other side, Philosophy had as free a
course, and was permitted as a Ballance against Superstition. And whilst some
Sects, such as the Pythagorean and latter Platonick, joind in with the Supersti-
tion and Enthusiasm of the Times; the Epicurean, the Academick, and others,
were allowd to use all the Force of Wit and Raillery against it. And thus
matters were happily ballancd.217

Wit und Raillery, Witz und Spott sind also fr Shaftesbury die ein-
zigen sinnvollen Mittel gegen den Fanatismus. In seiner Forderung nach
good Humour218 spielt Shaftesbury die ganze Bedeutungsvielfalt des
Wortes Humour in der englischen Sprache zu Beginn des achtzehnten
Jahrhunderts aus: Saft, Laune, Gemtsverfassung, Stimmung,
Humor, Witz. Aber kein guter Humor knnte etwas gegen den En-
thusiasmus ausrichten, wenn nicht in diesem selbst das Potential der L-
cherlichkeit angelegt wre. Lcherlich ist der Enthusiasmus zunchst in
seiner uerlichkeit, als ausgebte Ttigkeit:

For the Bodys of the Prophets, in their State of Prophecy, being not in their
own power, but (as they say themselves) mere passive Organs, actuated by an
exterior Force, have nothing natural, or resembling real Life, in any of their
Sounds or Motions: so that how aukardly soever a Puppet-Show may imitate
other Actions, it must needs represent this Passion to the Life.219

Im Empfang seiner Prophezeiungen hnelt der Krper des Propheten


nicht nur einer leblosen Puppe; er verwandelt sich tatschlich, wie die
Propheten ber sich selbst sagen, in eine Marionette (Gottes), so dass je-
de noch so ungeschickte Imitation dem Enthusiasten nicht nur hneln
muss, sondern sogar eine wesentliche Eigenschaft desselbigen trifft.
Der Enthusiasmus ist also flschbar, nachahmbar: Er kann gespielt,
vorgetuscht, imitiert und in dieser Imitation verspottet werden. Wenn es
folglich echten und falschen (imitierten, vorgetuschten, fiktiven) En-
thusiasmus gibt, dann deswegen, weil das In-Gott-Sein, die Nhe des

217 Ebd., S. 328.


218 Ebd., S. 334.
219 Ebd., S. 340.

106
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Enthusiasten zu Gott enthousiasmus immer auch die Nhe zu einem


Phantom, einer Chimre, einem eingebildeten und phantasierten Gott
sein kann. Von Anfang an steht der Enthusiasmus bei Shaftesbury im Be-
reich der Tuschung und der Verstellung. Shaftesbury nennt die Tradi-
tion des Musenanrufs als Beispiel eines von vornherein nachahmbaren
und imitierbaren Enthusiasmus: IT has been an establishd Custom for
Poets, at the entrance of their Work, to adress themselves to some Muse:
and this Practice of the Antients has gaind so much Repute, that even in
our days we find it almost constantly imitated.220 Wenn aber der Enthu-
siasmus immer schon Reputation erworben hat und also die Berufung auf
gttliche Begeisterung das eigene Sprechen immer schon berzeugender
und wirksamer gemacht hat, dann ist der Musenanruf immer schon rheto-
risch, dann ist er auch bei den Alten immer schon potentiell Imitation
und Verstellung.
Der Enthusiasmus ist schon von seinem historischen Beginn an von
seiner Flschung und Imitation begleitet. Sodann wird es zu einer Aufga-
be fr den kritischen Blick des Philosophen, zwischen echtem und fal-
schem Enthusiasmus unterscheiden zu knnen.221 Shaftesbury geht es
freilich nicht nur um die Mglichkeit der Affektion und Vortuschung
eines nicht wirklich erlebten Enthusiasmus. Neben dem tuschenden En-
thusiasmus spricht Shaftesbury auch den getuschten Enthusiasmus an,
bei dem der Enthusiasmierte zwar eine reale Erfahrung der Nhe zu
Gott gemacht zu haben glaubt, diese aber tatschlich die Nhe zu einem
Phantom oder Gespenst, zu einem Produkt der Einbildung gewesen ist.
Sobald die Mglichkeit solcher Selbsttuschung in der Struktur des En-
thusiasmus angelegt ist, kann keine subjektive Erfahrung desselbigen
mehr sicher sein, echt zu sein. Der Enthusiasmierte ist auf eine nach-
trgliche Reflexion seiner Begeisterung angewiesen. So ist der Enthusiast
Theokles in Shaftesburys Briefroman The Moralists (1709) verunsichert
ber Natur und Herkunft seiner eigenen Verzckungen: Now, PHILO-
CLES, said he, (starting as out of a Dream) how has it been with me in my

220 Ebd., S. 308.


221 So vermerkt der Artikel ber Enthusiasterey in Zedlers Universal-Lexi-
kon: Man hat diesen Unterscheid von der Enthusiasterey zu mercken,
da sie manchmal etwas wrckliches ist, manchmahl aber nur auf ein
verstelltes Wesen hinausluffet. Man giebt allerhand sonderbare Dinge
vor, und will andre von deren Gttlichkeit berreden, da doch in der That
nur ein Betrug dahinter ist, und die Betrger es selber besser wissen
(Zedler: Grosses vollstndiges Universal-Lexikon [wie Anm. 75], Bd. 8,
Sp. 1286).

107
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Fit? Seemd it a sensible kind of Madness, like those Transports which


are permitted to our Poets? or was it downright Raving?222
Auf die Unterscheidung zwischen echter und falscher Begeiste-
rung zwischen vernnftigem Wahnsinn und vlligem Irrsinn be-
grndet Shaftesbury in diesem Sinne die Differenz zwischen Inspira-
tion und Enthusiasmus (bzw. zwischen Enthusiasmus und Fana-
tismus). THE only thing, my Lord, schreibt Shaftesbury,

I woud infer from all this, is, that ENTHUSIASM is wonderfully powerful and
extensive; that it is a matter of nice Judgment, and the hardest thing in the
world to know fully and distinctly; since even Atheism is not exempt from it.
[...] Nor can Divine Inspiration, by its outward Marks, be easily distinguishd
from it. For Inspiration is a real feeling of the Divine Presence, and Enthusiasm
a false one.223

Die Mglichkeit dieser Unterscheidung wird allerdings grundstzlich da-


durch verkompliziert, dass die Wirkung und Macht des Enthusiasmus fr
Shaftesbury gerade darin besteht, bei anderen Menschen Enthusiasmus
hervorzurufen. Neben dem spontanen Enthusiasmus gibt es einen En-
thusiasmus aus zweiter Hand there is a sort of Enthusiasm of se-
cond hand,224 schreibt Shaftesbury , welcher die Bedingung der Mg-
lichkeit der Massenbegeisterung bildet, die den Enthusiasmus zu einer
politischen Bedrohung macht. Enthusiasmus ist nicht nur von Anfang an
potentiell nur vorgetuscht und geheuchelt, sondern mglicherweise eine
sekundre Begeisterung, ausgelst durch die seinerseits vielleicht nur
vorgetuschte oder sekundre Begeisterung eines anderen.
Die entscheidende Einsicht Shaftesburys ist demnach, dass Enthu-
siasmus jederzeit mglicherweise vorgetuscht, eingebildet, geheuchelt
oder gespielt wird oder aber als sekundrer Enthusiasmus durch einen
falschen Enthusiasmus eines anderen ausgelst wird, dass diese Mg-
lichkeit aber zugleich die Bedingung der Mglichkeit des Enthusiasmus
berhaupt ausmacht, denn dessen Essenz ist seine Kraft, jede Empfin-
dung ebenso glaubhaft wie stark darzustellen und an andere zu vermitteln
und so jegliche Unterscheidung zwischen echt und falsch zu nivellie-
ren. Der Enthusiasmus in Shaftesburys Konzept ist hierin vergleichbar
der Einbildungskraft bei Kant oder Rousseau grundstzlich eine Kraft,
das Abwesende in die Wirksamkeit einer wie auch immer anwesenden
Anwesenheit zu erheben. Men, schreibt Shaftesbury, are wonderfully
happy in a Faculty of deceiving themselves, whenever they set heartily

222 Shaftesbury: Standard Edition (wie Anm. 212), Bd. II/1, S. 249.
223 Ebd., Bd. I/1, S. 372.
224 Ebd., S. 360.

108
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

about it: and a very small Foundation of any Passion will serve us, not
only to act it well, but even to work our-selves into it beyond our own
reach.225
Wenn diese Mglichkeit der Imitation und Sekundarisierung des
Enthusiasmus exakt die Bedingung seiner Mglichkeit berhaupt aus-
macht wenn sie in die Struktur seiner Wirkungsfhigkeit eingeschrie-
ben ist , dann muss es zwangslufig als unmglich erscheinen, zwischen
einem echten und einem falschen Gefhl gttlicher Prsenz zu unter-
scheiden. Die Unterscheidung zeigt sich in Shaftesburys Text als ebenso
notwendig wie unmglich. So schreibt Shaftesbury im Anschluss an die
Differenzierung zwischen Inspiration als echtem und Enthusiasmus
als falschem Gefhl:

But the Passion they raise is much alike. For when the Mind is taken up in Vi-
sion, and fixes its viewer either on any real Object, or mere Specter of Divinity;
when it sees, or thinks it sees any thing prodigious, and more than human; its
Horrour, Delight, Confusion, Fear, Admiration, or whatever Passion belongs to
it [...] will have something vast, immane, and (as Painters say) beyond Life. And
this is what gave occasion to the name of Fanaticism, as it was usd by the An-
tients in its original Sense, for an Apparition transporting the Mind.226

Der Enthusiasmus transportiert den Geist, er bewegt und bertrgt ihn;


er ist also in seiner falschen wie auch in seiner echten Form eine
mediale Kraft, die den Geist aus sich selbst herausbewegt und sowohl in
rezeptiver wie auch produktiver Hinsicht eine auerordentliche Kraft der
Mitteilung darstellt. So kann der Enthusiasmus der im 18. Jahrhundert
immer wieder fr seine unsociability kritisiert wurde fr Shaftesbury
zur Grundlage des sozialen Verhaltens berhaupt werden.227 Shaftesbury
greift demnach auf die Vorgabe Platons zurck, der im Dialog Ion die
enthusiastische Begeisterung als einen Zustand der Vermittlungsfhigkeit
charakterisiert, der gleich einem Magneten verschiedene rumlich
wie zeitlich getrennte Instanzen in eine Kommunikation miteinander
bringt.228 In diesem Sinne schreibt Shaftesbury:

225 Ebd., S. 310.


226 Ebd., S. 372.
227 Vgl. Lawrence E. Klein: Sociability, Solitude, and Enthusiasm. In: Hun-
tington Library Quarterly 60 (1997), S. 153-177, hier: S. 171f.
228 Platon: Smtliche Werke. bers. von Friedrich Schleiermacher. Auf der
Grundlage der Bearbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert
Plambck neu hrsg. von Ursula Wolf. Bd. 1-4. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1994, Bd. 1, S. 72 (Ion 533d).

109
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

So that Inspiration may be justly calld Divine ENTHUSIASM: For the Word it
self signifies Divine Presence, and was made use of by the Philosopher whom
the earliest Christian Fathers calld Divine, to express whatever was sublime in
human Passions. This was the spirit he allotted to Heroes, Statesmen, Poets,
Orators, Musicians, and even Philosophers themselves. Nor can we, of our
own accord, forbear ascribing to a noble Enthusiasm, whatever is greatly per-
formd by any of These.229

Indem er die groen Handlungen aller Helden, Staatsmnner, Poeten und


Knstler als Folge einer sensible Madness, eines vernnftigen Wahn-
sinns beschreibt, nimmt Shaftesbury einen traditionsreichen Topos ber
die Nhe herausragender Geistesleistungen zum Wahnsinn auf. Bereits in
den lange Zeit Aristoteles zugeschriebenen (und wohl in seiner Schule
zusammengestellten) Problemata Physica heit es: Warum erweisen
sich alle auergewhnlichen Menschen in Philosophie oder Dichtung
oder in den Knsten als Melancholiker; und zwar ein Teil von ihnen so
stark, da sie sogar von krankhaften Erscheinungen, die von der schwar-
zen Galle ausgehen, ergriffen werden [...]?230 Trotz aller Mglichkeit
der Verflschung des Enthusiasmus beharrt Shaftesbury damit auf der
Mglichkeit der gttlichen Prsenz im Enthusiasten, die ihn zu groen
Gedanken und Taten anspornt.

Kant ber Enthusiasmus als moralische Erhitzung

Kants Aussage, es sei niemals ohne Enthusiasmus in der Welt etwas


Groes ausgerichtet worden, ist ein nahezu wrtliches Zitat aus Shaftes-
burys Letter concerning Enthusiasm: hier heit es, die Problemata Physi-
ca paraphrasierend, man knne nicht umhin, alles, whatever is greatly
performd, dem Enthusiasmus zuzuschreiben.
In seiner Unterscheidung zwischen Enthusiasmus und Fanatismus
schliet Kants Versuch ersichtlich an Shaftesburys Text an. Die Bestim-
mung, der Enthusiast sei durch eine moralische Empfindung als durch
einen Grundsatz erhitzt, whrend der Fanatiker (oder Schwrmer)
einer vermeinten unmittelbaren Eingebung erlegen sei, folgt prinzipiell

229 Shaftesbury: Standard Edition (wie Anm. 212), Bd. I/1, S. 372.
230 Aristoteles: Werke in deutscher bersetzung (wie Anm. 32), Bd. 19, S.
250 (Problemata Physica, 953a). Vgl. zur ausfhrlichen Diskussion die-
ser Passage Fldnyi: Melancholie (wie Anm. 90), S. 14-58, sowie Wal-
ter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928]. 7. Aufl.
Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhr-
kamp Taschenbuch Wissenschaft. 225), S. 127f.

110
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

der Unterscheidung zwischen echtem und falschem Enthusiasmus bei


Shaftesbury. Der Schwrmer erleidet eine Einbildung, er ist verrckt,
der Enthusiast hingegen ist aufgrund einer moralischen Affektion begei-
stert. Anders als Shaftesbury differenziert Kant zwischen Fanatismus
(bzw. Schwrmerei) und Enthusiasmus nicht anhand der Unterschei-
dung zwischen falscher und echter Eingebung. Kant versucht viel-
mehr, eine jeweils verschiedene Quelle der Eingebung zu bestimmen,
welche die beiden Phnomene a priori differenziert.
In einer Funote zu den Beobachtungen ber das Gefhl des Schnen
und Erhabenen heit es demgem:

Der Fanatizism mu vom Enthusiasmus jederzeit unterschieden werden. Jener


glaubt eine unmittelbare und auerordentliche Gemeinschaft mit einer hheren
Natur zu fhlen, dieser bedeutet den Zustand des Gemts, da dasselbe durch
irgend einen Grundsatz ber den geziemenden Grad erhitzt worden, es sei nun
durch die Maxime der patriotischen Tugend, oder der Freundschaft, oder der
Religion, ohne da hiebei die Einbildung einer bernatrlichen Gemeinschaft
etwas zu schaffen hat.231

Der Fanatiker (oder Schwrmer) vermeint eine Gemeinschaft mit


einer hheren Natur zu fhlen, whrend das Gemt des Enthusiasten
nicht durch ein Gefhl, sondern durch einen Grundsatz erhitzt wird. Ob-
gleich Kant in den Beobachtungen ber das Gefhl des Schnen und Er-
habenen noch eine Vielzahl verschiedener Grundstze mit unterschied-
licher philosophischer Dignitt (Patriotismus, Freundschaft, Religion) als
Quellen des Enthusiasmus fr mglich hlt, prfiguriert die grundstzli-
che Unterscheidung zwischen Gefhl und Grundsatz deutlich die
sptere, fr die Polemik Von einem neuerdings erhobenen vornehmen
Ton entscheidende Differenz zwischen dem Hren auf die Stimme des
Gefhls und demjenigen auf die Stimme der Vernunft.
Wenn Kant schreibt, Enthusiasmus verlaufe ohne die Einbildung
einer bernatrlichen Gemeinschaft, dann heit dies nicht, dass der En-
thusiasmus generell ohne eine Affektion des Gemts durch die Einbil-
dungskraft bewirkt wrde. Im Gegenteil ist Enthusiasmus die Bezeich-
nung fr den Zustand einer vollstndig enthemmten und entgrenzten
Ttigkeit der Einbildungskraft. In der Kritik der Urteilskraft bestimmt
Kant den Enthusiasmus als Idee des Guten mit Affekt232 und verbindet
diese Bestimmung mit einer notwendigen Aktivierung des Affekts durch
die Einbildungskraft. So heit es weiter: Im Enthusiasm, als Affekt, ist

231 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 878 (Beobachtun-
gen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen, A 99).
232 Ebd., Bd. 5, S. 362 (KdU 29, B 121).

111
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

die Einbildungskraft zgellos.233 Die Zgellosigkeit der Einbildungs-


kraft im Enthusiasmus ergibt sich hier im Kontext der Diskussion des
Erhabenen freilich nicht dadurch, dass es ihr schwrmerisch gelnge,
etwas bersinnliches sinnlich zu erfassen, sondern dadurch, dass sie vor
jeder Reprsentation berhaupt zurckweicht und auf das Unreprsen-
tierbare die Idee des Guten zielt.234 Es sei, so fhrt Kant aus, ein
Irrtum anzunehmen, dass die Nichtdarstellbarkeit des moralischen Ge-
setzes im Bereich der Sinnlichkeit dieses

alles dessen beraubt, was sie den Sinnen empfehlen kann, sie alsdenn keine
andere als kalte, leblose Billigung und keine bewegende Kraft oder Rhrung
bei sich fhren wrde. Es ist gerade umgekehrt; denn da, wo die Sinne nichts
mehr vor sich sehen, und die unverkennliche und unauslschliche Idee der Sitt-
lichkeit dennoch brig bleibt, wrde es eher ntig sein, den Schwung einer un-
begrenzten Einbildungskraft zu migen, um ihn nicht bis zum Enthusiasm
steigen zu lassen, als aus Furcht vor Kraftlosigkeit dieser Ideen sie in Bildern
und kindischem Apparat Hlfe zu suchen.235

Enthusiasmus ist die paradoxe Reprsentation einer Idee, die brig


bleibt, nachdem die Sinne nichts mehr vor sich sehen und also alle Re-
prsentation an ihr Ende gekommen ist. Es handelt sich demnach um
einen Zustand, in dem das Vermgen der Reprsentation, die Einbil-
dungskraft, ber ihre eigenen Grenzen geht. Indem sie das Gemt durch
eine Idee affiziert, die schlechterdings keine sinnliche Gestalt annehmen
kann, und indem sie gerade aus diesem Verlust aller Sinnlichkeit einen
besonderen Schwung erhlt, um bewegende Kraft und Rhrung zu
entfalten, zeigt sich die Einbildungskraft hier als Mittel der Vernunft. Es
ist mithin also nichts anderes als der Schwung der Vernunft, der das
Gemt im Enthusiasmus bis an die Grenze des Wahnsinns fhrt. Wenn
Enthusiasmus fr Shaftesbury a sensible kind of Madness war, eine
vernnftige Art, wahnsinnig zu sein, dann wird sie bei Kant zum Wahn-
sinn der Vernunft, zu einem von der Vernunft ausgelsten Wahnsinn.
Dass der Enthusiasmus wie die Schwrmerei eine Nhe zur Geistes-
krankheit und zum Wahnsinn besitzt, stellt Kant mit aller Klarheit fest:

Wenn der Enthusiasm mit dem Wahnsinn, so ist die Schwrmerei mit dem
Wahnwitz zu vergleichen, wovon der letztere sich unter allen am wenigsten mit
dem Erhabenen vertrgt, weil er grblerisch lcherlich ist. Im Enthusiasm, als

233 Ebd., S. 366 (KdU 29, B 126).


234 Vgl. Fenves: A Peculiar Fate (wie Anm. 141), S. 263.
235 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 365f. (KdU 29, B
125).

112
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Affekt, ist die Einbildungskraft zgellos; in der Schwrmerei, als eingewurzel-


ter brtender Leidenschaft, regellos. Der erstere ist vorbergehender Zufall, der
den gesundesten Verstand bisweilen wohl betrifft; der zweite eine Krankheit,
die ihn zerrttet.236

Im Zustand der Begeisterung, durch seine unbegrenzte Einbildungskraft


mit bewegender Kraft und Rhrung durch die Idee des Guten affiziert,
hnelt der Enthusiast dem Wahnsinnigen, insofern auch seine Vorstellun-
gen die Grenzen des Sichtbaren weit hinter sich lassen und keine Rck-
sicht auf die apriorische Struktur des Verstandes mehr nehmen. Der En-
thusiasmus berschreitet alle Grenzen der Endlichkeit und fhrt zu einer
begeisterten Annherung an die Unendlichkeit der Vernunft. Der Enthu-
siast hrt die Befehle der Stimme der Vernunft in seinem Kopf, wie
Kant es in Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton beschreibt,
und erleidet folglich so etwas wie eine sittliche Schizophrenie.
Mit dem Konzept des Enthusiasmus geht Kants Theorie des Wahn-
sinns weit ber die von Rousseau bernommene kulturkritische Geste der
Totalisierung des Wahnsinns hinaus. Der Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes beschreibt, wie auch alle spteren Ausfhrungen Kants zu
diesem Thema, nicht allein die Unmglichkeit eines Zustands jenseits
der Verrcktheit in der brgerlichen Welt, sondern mit dem Enthusias-
mus auch eine Form des Wahnsinns, die den gesundesten Verstand bis-
weilen betrifft und ohne welchen niemals in der Welt etwas Groes
ausgerichtet worden ist. Der immer wieder als nchterner Rationalist
missverstandene Kant interpretiert den Enthusiasmus damit als einen Zu-
stand der Verstandeslosigkeit, der moralisch hchst erwnscht ist, weil er
durch eine Affizierung mit einer Idee der Vernunft ausgelst wird.
Insofern Enthusiasmus mit der Stimme der Vernunft eine fremde
Stimme im Kopf des Enthusiasmierten erklingen lsst, erffnet dieser
Zustand eine Alteritt, der sich gnzlich anders gestaltet als die kontrol-
lierte Alterisierung durch den sensus communis.237 Die Begeisterung er-
mglicht ein Zusammensein mit einem Anderen, das nicht ber die Ein-
sicht in die geteilte apriorische Struktur der Erfahrung verluft, sondern
ber eine enthusiastische Anteilnahme an dem gemeinschaftlichen
Wunsch, den Ideen der Vernunft Wirklichkeit zu verschaffen. In diesem
Sinn beschreibt Kant im Streit der Fakultten die politische Bedeutung
des Enthusiasmus. Die Erfahrung der Franzsischen Revolution, so fhrt

236 Ebd., S. 366 (KdU 29, B 126).


237 Vgl. Peter Fenves: Introduction: The Topicality of Tone. In: Raising the
Tone of Philosophy. Late Essays by Immanuel Kant, Transformative Cri-
tique by Jacques Derrida. Hrsg. von Peter Fenves. Baltimore, London:
The Johns Hopkins University Press 1999, S. 1-48, hier: S. 31.

113
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Kant hier aus, hat ihre wahre Bedeutung in der Reaktion der Zuschauer.
Der Enthusiasmus der Zuschauer in den Nachbarlndern Frankreichs
zeigt fr Kant die moralische Bedeutung der Revolution. Die Revolution
fhrt vor, dass Menschen den Lauf der Geschichte verndern knnen und
dass folglich eine Verbesserung der politischen Zustnde mglich ist.
Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen
haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern, schreibt Kant;

sie mag mit Elend und Greueltaten dermaen angefllt sein, da ein wohlden-
kender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmal unternehmend, glcklich aus-
fhren knnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschlie-
en wrde diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemtern aller Zu-
schauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilneh-
mung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren uerung
selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische An-
lage im Menschengeschlecht zur Ursache haben wird.238

In den Augen der deutschen Betrachter verwandelt sich die Revolution in


ein Schauspiel, aber daraus folgt keineswegs ihre Bedeutungslosigkeit,
sondern im Gegenteil gewinnt sie erst in diesem Akt berhaupt eine
Bedeutung. Ob die Revolution gelingt oder nicht, ob sie in Elend und
Greueltaten versinkt, wird gleichgltig, denn es kommt nur noch darauf
an, dass sie fr den Zuschauer zum Zeichen dafr wird, dass Menschen
Geschichte verndern knnen und so eine Verbesserung der Zustnde hin
zu einer Realisierung der Ideen der Vernunft bewirken knnen. Die
Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, ist
ausgelst durch die Vergegenwrtigung dieses Zeichens durch die erhitz-
te und unbegrenzte Einbildungskraft der Zuschauer. Indem diese durch
das Schauspiel der fernen Revolution mit bewegender Kraft und Rhrung
angesprochen werden, beweist sich ihre Begeisterung als die moralische
Anlage, gleichfalls zu versuchen, die Idee des Guten zu verwirklichen.
Es bleibt aber eine Verunsicherung durch die unbestreitbare Nhe
von Schwrmerei und Enthusiasmus. Obgleich beide in Kants Sche-
ma des Wahnsinns entgegengesetzte Bewertungen erhalten, sind sie sich
hnlich: Beide bezeichnen einen Zustand, in dem die Einbildungskraft
das Gemt mit einer Vorstellung affiziert, die ber alle Sinnlichkeit hin-
ausgeht. Wenn aber, um abermals die Begrifflichkeit aus Von einem
neuerdings erhobenen vornehmen Ton aufzugreifen, sowohl die Stimme
der Vernunft als auch die Stimme des Gefhls unter keinen Umstn-
den durch die Sinne erfassbar werden kann und sich beide einer Affek-

238 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 358 (Der Streit der
Fakultten, A 143f.).

114
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

tion durch die Einbildungskraft verdanken, wie kann dann mit philoso-
phisch strenger Sicherheit zwischen beiden unterschieden werden?
In der Kritik der Urteilskraft scheint diese Unterscheidung fr Kant
ein lsbares Problem darzustellen. Er fhrt hier, neben einigen recht pro-
blematischen Unterscheidungen wie Affekt Leidenschaft und vor-
bergehender Zufall eingewurzelte brtende Leidenschaft die Diffe-
renz zwischen positiver und negativer Darstellung an, die Schwrmerei
und Enthusiasmus unterscheidbar werden lassen soll. So schreibt Kant
ber den Modus der Vergegenwrtigung der Idee des Guten durch den
Enthusiasmus:

Diese reine, seelenerhebende, blo negative Darstellung der Sittlichkeit bringt


dagegen keine Gefahr der Schwrmerei, welche ein Wahn ist, ber alle Gren-
zen der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d.i. nach Grundstzen trumen (mit
Vernunft rasen) zu wollen; eben darum, weil die Darstellung bei jener blo ne-
gativ ist.239

Eine negative Darstellung ist in diesem Sinn eine solche, die keinen
Gegenstand darbietet, sondern allein die Unerreichbarkeit dieses Gegen-
standes. Es bleibt der Einbildungskraft berlassen, diesen in einem Akt
der enthusiastischen Entgrenzung dennoch vorzustellen. Die Vernichtung
der Sinnlichkeit regt, in einem erhabenen Moment, die Einbildungskraft
zu hchster Begeisterung und zur berschreitung aller Grenzen der Sinn-
lichkeit an. Aus diesem Grund betont Kant gleich an zwei Stellen seiner
Untersuchung des Erhabenen die besondere Erhabenheit des Bilderver-
bots.

Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das
Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder
dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist usw. Die-
ses Gebot allein kann den Enthusiasm erklren, den das jdische Volk in seiner
gesitteten Epoche fr seine Religion fhlte, wenn es sich mit andern Vlkern
verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflt.240

In seiner Begeisterung geht Kant so weit, den ersten Satz dieser Passage
einige Seiten der Kritik der Urteilskraft spter noch einmal variiert vor-
zubringen:

Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausge-
drckt worden, als in jener Aufschrift ber dem Tempel der Isis (der Mutter

239 Ebd., Bd. 5, S. 366 (KdU 29, B 125).


240 Ebd., S. 365 (KdU 29, B 124f.).

115
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Natur): Ich bin alles, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier
hat kein Sterblicher aufgedeckt.241

Ich bin das, was sich nicht darstellt, nicht darbietet; Du kannst mich nicht
sehen und wirst es nie knnen, sagt der erhabenste Gedanke, welcher
der Gttin Isis in den Mund gelegt wurde. Negative Darstellung fhrt
in eine Paradoxie, denn die Darstellung wird dazu gezwungen, sich selbst
zu negieren und zu widersprechen. Die Stimme der Vernunft wrde in
diesem Sinne nur dann dem Gesetz der negativen Darstellung gehor-
chen, wenn sie schweigen wrde oder allenfalls ihre Unhrbarkeit
verknden wrde. Der doppelte Schritt des Erhabenen, welcher der Ver-
nichtung der sinnlichen Darstellung eine Entgrenzung der Einbildungs-
kraft zur Darbietung der Ideen folgen lsst, muss demnach jederzeit po-
tenziert werden. Solange die Ideen der Vernunft in der sinnlichen Welt
nicht dargestellt werden knnen, muss jede enthusiastische Darbietung
der Einbildungskraft das Gesetz der Undarstellbarkeit zugleich aussagen
und bertreten und also instabil bleiben.242
Kant hat diese Problematik durchaus bedacht. Eine mgliche Lsung
bietet sich in Kants Theorie des symbolischen Anthropomorphismus,
wie sie in den Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik (1783)
formuliert wird. Der Kontext ist hier die Frage, wie sich Sprache auf das
beziehen lsst, das der Erkenntnis durch den menschlichen Verstand a

241 Ebd., S. 417 (KdU 49, B 194f. [Anmerkung]).


242 Es ergibt sich jederzeit die Mglichkeit und Gefahr, auch fr das Nega-
tive zu schwrmen, wie Schelling anmerkt zwar ohne expliziten kriti-
schen Bezug auf Kant, aber durchaus auf das Konzept der negativen
Darstellung in der Kritik der Urteilskraft beziehbar. Am blindesten,
schreibt Schelling 1806, schwrmen alle die, welche fr das rein Negati-
ve schwrmen. Alles wahrhaft Positive erfllt den Menschen und erfllt
ihn ganz; die fr ein Negatives schwrmen, sind nothwendig leer und
mssen den Gegenstand ihrer Beschftigung auer sich suchen. So ge-
wisse Schwrmer fr die Aufklrung. Was wollen sie denn? [...] Ueber-
haupt nichts Positives; nur wegschaffen wollen sie, z.B. Klster, Heili-
genbilder, den religisen Aberglauben. Wie aber, wenn nun die Klster
und alle Fratzen verschwunden sind [...]? Da stehen sie dann mig, und
es wre kein ander Mittel, als da ein Theil von ihnen selbst, dem gemei-
nen Besten sich aufopfernd, Mnche oder Heilige wrden [...], nur damit
wieder etwas wegzuschaffen wre (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling:
Darstellung des wahren Verhltnisses der Naturphilosophie zu der ver-
besserten Fichteschen Lehre [1806]. In: ders.: Schriften von 1806-1813.
Unvernd. reprograf. Nachdruck d. Ausg. Stuttgart u. Augsburg, Cotta,
1861. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 1-126,
hier: S. 45).

116
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

priori entzogen bleiben muss. Insofern das Verstehen von Sprache fr


Kant notwendigerwiese die Herstellung einer sinnlichen Vorstellung
durch die Einbildungskraft impliziert, ergibt sich hier ein fundamentales
Problem fr jede Metaphysik. Sprache ist per se anthropomorph, indem
sie fr die Sinne a priori unerreichbare Entitten notwendigerweise als
sinnlich erfahrbare Gestalten darstellt. Kants Lsungsversuch besteht
hier in der Unterscheidung zwischen dogmatischem und symbolischem
Anthropomorphismus:

Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil blo auf das
Verhltnis einschrnken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen
Begriff selbst auer aller Erkenntnis liegt [...]. Denn alsdenn eignen wir dem
hchsten Wesen keine von den Eigenschaften an sich selbst zu, durch die wir
uns Gegenstnde der Erfahrung denken, und vermeiden dadurch den dogmati-
schen Anthropomorphismus, wir legen sie aber dennoch dem Verhltnisse
desselben zur Welt bei, und erlauben uns einen symbolischen Anthropomor-
phism, der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht.243

Symbolisch ist in diesem Sinn fr Kant eine Sprache, die um die Grenzen
des eigenen Wissens wei und die deshalb nur in der Form der Analogie
spricht, ohne eine Aussage ber die Objekte des Sprechens an sich tref-
fen zu wollen. Das symbolische Zeichen verspricht eine Auflsung der
Paradoxie der negativen Darstellung, indem es das Objekt der Darstel-
lung darbietet und gleichzeitig darstellt, dass es nur eine analogische und
also anthropomorphe Darstellung des Objekts geben kann. Insofern der
symbolische Anthropomorphismus nur die Sprache betrifft und nicht
das Objekt selbst, geht es Kant hier um eine philosophische Sprache,
die ihre eigene Figuralitt jederzeit ausstellt und damit ihre eigene epi-
stemologische Unsicherheit vorfhrt. With this distinction, kommen-
tiert Cathy Caruth,

Kant rests the entire weight of the critical system the full rigor of negative
thinking upon the capacity for a certain kind of figuration. Or rather, upon the
capacity of criticism to know this figuration, that is, to distinguish between the
dogmatic and and symbolic anthropomorphism, or to define the symbol
rigorously and completly. [...] The symbol, that is, always remembers that it is,
only, a symbol. It knows, one could say, that it posits.244

243 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 232f.
244 Cathy Caruth: Empirical Truths and Critical Fictions. Locke, Words-
worth, Kant, Freud. Baltimore, London: The Johns Hopkins University
Press 1991, S. 75f.

117
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Das Problem der negativen Darstellung, so zeigt sich, ist fr Kant


weitaus mehr als nur ein spezielles Problem im Rahmen einer sthetik
des Erhabenen, sondern weitaus eher ein allgemeines Problem philoso-
phischer Darstellung.
Wenngleich Kant seine Beschreibung des symbolischen Anthropo-
morphismus erst zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Versuchs ver-
fasst hat und seine Ausfhrungen ber den Enthusiasmus in der Kritik
der Urteilskraft noch spter, sind entscheidende Elemente der Theorie
des Enthusiasmus und seiner Form der sprachlichen Darstellung hier be-
reits zu bemerken. Die Passage, die der Versuch dem Enthusiasmus wid-
met, fhrt diesen als eine Vergegenwrtigung eines anderen vor.

Wer durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr er-
hitzt wird, als es andere nach ihrem matten und fters unedlen Gefhl sich vor-
stellen knnen, ist in ihrer Vorstellung ein Phantast. Ich stelle den Aristides un-
ter Wucherer, den Epiktet unter Hofleute und den Johann Jacob Rousseau unter
die Doktoren der Sorbonne. Mich deucht, ich hre ein lautes Hohngelchter,
und hundert Stimmen rufen: Welche Phantasten! Dieser zweideutige Anschein
von Phantasterei, in an sich guten moralischen Empfindungen, ist der Enthu-
siasmus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Groes ausge-
richtet worden.245

Diese Beschreibung des Enthusiasmus wirkt ihrerseits begeistert und gibt


damit ein Beispiel fr ihre eigene Aussage. Das Vermgen des Enthu-
siasmus als Teilnehmung an den moralischen Handlungen anderer
wird hier in einer geradezu halluzinativen Sequenz (Ich stelle, ich h-
re ein lautes Hohngelchter) vorgefhrt. Wenn Kant im Schreiben den
Blick auf verstorbene (Epiktet) oder fernab weilende (Rousseau) Philo-
sophen wirft und sogar eine akustische Wahrnehmung dieser Szenerie
hat, dann fhrt das einen Akt der Einbildung chimrischer Elemente in
die sinnliche Wahrnehmung vor, wie sie Kant als Verrckung bezeich-
net hat. Indem Kants Text eine Reihe von literarischen Miniaturen evo-
ziert, versucht er zugleich, seinen Enthusiasmus an den Leser zu vermit-
teln und auch diesen zur Teilnehmung zu ermutigen.
Enthusiasmus wird hier somit nicht von einer tatschlichen Manife-
station einer Stimme der Vernunft ausgelst, sondern von der fiktiona-
len Evokation einer dramatischen Szenerie. Keine uerung einer ber-
sinnlichen Stimme im Menschen, sondern die Einbildungskraft ist es,
welche die moralische Bewegung des Enthusiasmus hier hervorbringt.
Nicht ohne Grund spricht Kant von einem zweideutigen Anschein von

245 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 25f.).

118
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Phantasterei im Enthusiasmus. Zweideutig ist dieser Anschein somit


nicht nur, weil die Masse der Menschen, die sich fr gesund hlt, den
Enthusiasten fr verrckt erklrt. Zweideutig ist dieser Anschein auch,
weil ein Anschein von Phantasterei jedem Enthusiasmus weiterhin inne-
wohnen muss, solange er als Auslser seiner bewegenden Kraft und Rh-
rung ein sinnlich erfassbares Zeichen, eine zumindest vorgestellte Mani-
festation des Willens und der Strke der Vernunft bentigt.
Die Zweideutigkeit des Enthusiasmus ist somit in seiner transzenden-
talen Struktur angelegt. Aufgrund der unberwindlichen Trennung zwi-
schen der Sphre der Sinne und derjenigen der Vernunft kann die enthu-
siasmierende Stimme der Vernunft nur als Phantasma und als Phantom
in Erscheinung treten. In diesem Sinn rumt Kant in der Polemik Von
einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton ein, dass es unmglich sei,
die Herkunft der Stimme der Vernunft zu ermitteln.

Die verschleierte Gttin, vor der wir beiderseits unsere Knie beugen, ist das
moralische Gesetz in uns, in seiner unverletzlichen Majestt. Wir vernehmen
zwar ihre Stimme, und verstehen auch gar wohl ihr Gebot; sind aber beim
Anhren in Zweifel, ob sie von dem Menschen, aus der Machtvollkommenheit
seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem anderen, dessen Wesen
ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch seine eigene Vernunft
spricht, herkomme.246

Wir hren die Stimme der Vernunft in uns, die wir der verschleierten
Gttin Isis zuschreiben. Diese Personifizierung ist aber der Ausdruck ei-
ner radikalen Unsicherheit, denn es ist unmglich zu bestimmen, wessen
Stimme tatschlich in unserem Kopf moralische Befehle verkndet. Um
verknden zu knnen, muss die Stimme diese Zweideutigkeit riskieren.
Entsprechend ist in Kants Texten kein Mangel an literarisierenden und
metaphorischen Personifizierungen des moralischen Gesetzes der
Schleier der Isis, die Stimme der Vernunft , welche der Logik der analo-
gischen Sprache folgen, die Kant bei den Neuplatonikern als Schwr-
merei anklagt. Entsprechend wird die Grenze zwischen Enthusiasmus
und Schwrmerei brchig und instabil, und niemand kann a priori zwi-
schen beiden unterscheiden.
Nur im Sinn der Unterscheidung Kants zwischen dogmatischem und
symbolischem Anthropomorphismus kann hier noch eine Differenz auf-
rechterhalten bleiben. Wenn der Schwrmer glaubt, mit einem hheren
Wesen zu kommunizieren oder eine sinnlich erfahrene Gemeinschaft zu

246 Ebd., Bd. 3, S. 395 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
423). Vgl. zu dieser Passage auch Fenves: Introduction: The Topicality of
Tone (wie Anm. 237), S. 31f.

119
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

erleben, muss sie einem dogmatischen Anthropomorphismus anheimfal-


len. Ein symbolischer Anthropomorphismus, welcher sich dagegen nur
die Sprache angeht und nicht das Objekt, wrde dagegen seiner eige-
nen Metaphorizitt und damit seiner phantastischen Struktur bewusst
bleiben und dies jederzeit auch vorfhren. Nicht zuletzt in diesem Ver-
such, einen dogmatischen Anthropomorphismus zu vermeiden, kann die
philosophische Bedeutung der durchgehenden Ironie und Selbstironie des
Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes gesehen werden.

Schreiben und Wahnsinn:


Die Sftelehre des Versuchs

Der Zusammenhang zwischen Schreiben und Wahnsinn wird im letzten


Absatz des Versuchs erneut aufgenommen. Hier spricht Kant, an den iro-
nischen Beginn des Textes anknpfend, von dem Wahnsinn des eigenen
Textes.247 Kant schreibt, dass ein Arzt gegen die Tobsucht eines gelehr-
ten Schreiers am ehesten katharktische Mittel, in verstrkter Dosis ge-
nommen, verwenden sollte. Ein solches Mittel ist etwa das Schreiben:

Denn da nach den Beobachtungen des Swifts ein schlecht Gedicht blo eine
Reinigung des Gehirns ist, durch welches viele schdliche Feuchtigkeiten, zur
Erleichterung des kranken Poeten, abgezogen werden, warum sollte eine elende
grblerische Schrift nicht auch dergleichen sein? In diesem Fall aber wre es
ratsam, der Natur einen anderen Weg der Reinigung anzuweisen, damit das
bel grndlich und in aller Stille abgefhrt werde, ohne das gemeine Wesen
dadurch zu beunruhigen.248

Der Versuch ber die Krankheiten des Kopfes enthllt in seinem letzten
Satz, dass er in erster Linie ein Versuch ist, den Kopf seines Verfassers
von den Krankheiten seines Kopfes zu reinigen. Es handelt sich nicht
zuletzt um einen Versuch ber die Krankheiten des Kantschen Kopfes,
ein Versuch ber den Wahnsinn ihres Autors.
Insofern Kant es unternimmt, seinen Wahn durch das Schreiben eines
Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes zu purgieren, zu reinigen und
zu heilen, mndet seine Theorie in eine Interpretation der antiken Sfte-
lehre. So schreibt Kant:

247 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Schwab: Wit, Satire, and Low Hu-
mor in Early Kant (wie Anm. 10), S. 140f.
248 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 901 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 30).

120
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Ich habe die Gebrechen der Erkenntniskraft Krankheiten des Kopfes genannt,
so wie man das Verderben des Willens eine Krankheit des Herzens nennet. Ich
habe auch nur auf die Erscheinungen derselben im Gemte acht gehabt, ohne
die Wurzel derselben aussphen zu wollen, die eigentlich wohl im Krper liegt
und zwar ihren Hauptsitz mehr in den Verdauungsteilen, als im Gehirne haben
mag, wie die beliebte Wochenschrift, die unter dem Namen des Arztes
allgemein bekannt ist, es im 150. 151. 152ten Stcke wahrscheinlich dartut.249

Die Behauptung Kants, die Wurzeln der Geisteskrankheiten lgen in


den Verdauungsteilen, greift auf eine lange medizinische Tradition zu-
rck. Schon fr Galen fhrte die Erkrankung des Hypochondriums, der
oberen Bauchgegend, nicht nur zu Verdauungsstrungen, sondern auch
zu seelischen Strungen, etwa der Melancholie.250 Dass diese Ansicht
noch im 18. Jahrhundert vertreten wurde, zeigt Kants Quelle. Bei jener
beliebten Wochenschrift, die unter dem Namen des Arztes allgemein
bekannt ist, handelt es sich um Johann August Unzers Der Arzt. Im
150., 151. und 152. Stck derselbigen wird das humoralpathologische
Argument entwickelt, da die Krankheiten des Gemths auf eine ent-
fernte Weise von dem Verderben der Verdauungskrfte herrhren knn-
ten.251 Die vornehmliche Praxis, die Unzer gegen die Gemtskrankhei-
ten anfhrt, ist die der Purgierung, der Reinigung, der Katharsis.
Katharsis bezeichnet in der aristotelischen Poetik die Wirkung der
Tragdie auf ihre Zuschauer. Die Tragdie ist, heit es in der ber-
setzung Fuhrmanns, [...] Nachahmung von Handelnden [...], die Jammer
und Schaudern [ ] hervorruft und hierdurch eine Reini-
gung [] von derartigen Erregungszustnden bewirkt.252 Der
Begriff der Katharsis meint im Kontext der antiken Sftelehre das
heilsame, durch katharktische Mittel befrderte, Ausscheiden von
schdlichen Stoffen und wurde in diesem Sinne schon bei Platon aus dem
Bereich der Medizin in den der Ethik bertragen.

249 Ebd., S. 900 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 30).
250 Vgl. Fldnyi: Melancholie (wie Anm. 90), S. 61; Schings: Melancholie
und Aufklrung (wie Anm. 10), S. 70f.
251 Johann August Unzer: Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift. Neu-
este von dem Verfasser verbesserte und viel vermehrte Ausgabe. Sechster
Theil [1761]. Hamburg, Lneburg, Leipzig: Gotthilf Christian Berth
1769, S. 583 (150. Stck). Zum medizinhistorischen Kontext und zur
Wirkung des Arztes vgl. Stefan Bilger: ble Verdauung und Unarten des
Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727-1799). Wrz-
burg: Knigshausen & Neumann 1990, bes. S. 47ff.
252 Aristoteles: Poetik (wie Anm. 56), S. 19.

121
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Kants Therapeutik des Wahnsinns bewegt sich damit durchweg in


den Bahnen literarsthetischer Kategorien. Das katharktische Mittel
gegen den philosophischen Wahnsinn ist das Schreiben, das Zeichen und
die Wirkung der Einbildungskraft. Die Einbildung, die den Akt des
Schreibens begleitet und von diesem hervorgebracht wird, besitzt einer-
seits eine potentiell gefhrliche Dimension, indem sie sich verselbstndi-
gen kann und zum Wahnsinn werden kann; andererseits jedoch ist sie
auch eine Form der Distanzierung sowohl zwischen den Menschen als
auch eine Distanzierung eines Menschen zu sich selbst. Sie entfernt den
Einzelnen aus der Isolation der unmittelbaren Sinnlichkeit und erlaubt es
ihm, sich die Gesellschaft antiker oder zeitgenssischer Philosophen vor-
zustellen und sich an ihnen zu messen. Der philosophische Text als das
materialisierte Ergebnis einer solchen Einbildung ist somit zugleich ein
potentiell heilbares katharktisches Mittel wie auch eine potentielle Ge-
fahr fr das gemeine Wesen.

II. 5 Velut aegri somnia: Der


Wahnsinn der Sprache (Kant, Swedenborg)

Swedenborg als Phantast


Die wundersame bereinkunft

Die zwei Jahre nach dem Erscheinen des Versuchs ber die Krankheiten
des Kopfes nchste grere Schrift Kants, die 1766 publizierten Trume
eines Geistersehers, erlutert durch Trume der Metaphysik lassen sich
als eine konsequente Weiterentwicklung der im Versuch angelegten The-
men verstehen.
Wie bereits der Versuch, sind auch die Trume eines Geistersehers
ein hybrider Text, dessen Gattung sich nur schwer benennen lsst. Nahe-
liegend wre es, von einer Polemik zu sprechen, denn weite Teile des
Textes widmen sich einer scharfen Auseinandersetzung mit Kants Zeit-
genossen Emanuel Swedenborg, dem Geisterseher. Was aber ist ein
Geisterseher? Es lebt zu Stockholm ein gewisser Herr Schwedenborg,
schreibt Kant,

ohne Amt oder Bedienung [...]. Seine ganze Beschftigung besteht darin, da
er, wie er selbst sagt, schon seit mehr als zwanzig Jahren mit Geistern und ab-
geschiedenen Seelen im genauesten Umgange stehet, von ihnen Nachrichten
aus der andern Welt einholet und ihnen dagegen welche aus der gegenwrtigen

122
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

erteilet, groe Bnde ber seine Entdeckungen abfat und bisweilen nach Lon-
don reiset, um die Ausgabe derselben zu besorgen.253

Die Behauptung Swedenborgs ist also, mit Geistern in Kommunikation


zu stehen. Kant paraphrasiert drei Anekdoten, in denen sich diese angeb-
liche Fhigkeit zeigt: drei Plots zu Geistererzhlungen, in denen Sweden-
borg jeweils ein Wissen unter Beweis stellt, das ihm von keinem leben-
digen Menschen konnte erteilt sein254 und das er folglich nur durch den
Kontakt mit Geistern, mit abgeschiedenen Seelen erworben haben
kann. Dass die Geschichten um Swedenborg an populre Gespensterge-
schichten erinnern, ist Kant nicht entgangen: Er spricht von Geisterer-
zhlungen,255 Erzhlungen256 oder Mrchen.257
Als Literatur sind Swedenborgs Berichte aber das Gegenteil von tat-
schlicher Erfahrung, sondern nur das, was man denkt und sagt, Be-
standteile eines kollektiven Halbwissens. Erzhlung bedeutet damit in
diesem Zusammenhang das Gercht, die fama: dasjenige, das berall
umherwandert, sich unkontrollierbar verbreitet und sich berall einzu-
schleichen vermag.258 Wiederum geht es darum, einer kontagisen Be-
drohung zu begegnen, die das gesamte Volk ergreifen knnte. Wie auch
im Falle der Schwrmerei ist es hier die unkontrollierte Phantasterei
der Einbildungskraft, die eine Ansteckung ganzer Massen mit ihrem
Wahnsinn auszulsen droht. Die Literatur die schlechte, die populre
Literatur zumal , die gemeine Erzhlung, ist nichts anderes als eine
Materialisierung der Phantasterei.
In den Bereich der Literatur verweist bereits das Motto der Abhand-
lung. Velut aegri somnia, vanae Finguntur species259 liest man auf der
Titelseite, mit dem knappen Hinweis auf Horaz als Autor. Die Sentenz
entstammt dem ersten Absatz der horazischen Ars Poetica, die mit einem
Angriff auf die gegen die Regeln des Mglichen gefertigte (und also
phantastische) Dichtung beginnt:

Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fgen und
Gliedmaen, von berallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden,
so da als Fisch von hlicher Schwrze endet das oben so reizende Weib:

253 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 966 (Trume eines
Geistersehers, A 84).
254 Ebd., S. 967 (Trume eines Geistersehers, A 86).
255 Ebd., S. 958 (Trume eines Geistersehers, A 69).
256 Ebd., S. 967 (Trume eines Geistersehers, A 86).
257 Ebd., S. 968 (Trume eines Geistersehers, A 89).
258 Vgl. ebd., S. 923 (Trume eines Geistersehers, A 4).
259 Ebd., S. 921.

123
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

knntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zulie, euch das Lachen
verbeien, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemlde wre ein Buch
ganz hnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Trume von Kranken, erdich-
tet [velut aegri somnia, vanae fingentur species], so da nicht Fu und nicht
Kopf derselben Gestalt zugehren.260

Horaz trgt keineswegs ein Pldoyer gegen die Freiheit der Dichter vor,
darzustellen, was sie nur wollen [quidlibet audendi].261 Vielmehr geht
es in der Ars Poetica um eine Begrenzung der Einbildungskraft auf die
Darstellung des Mglichen und Wahrscheinlichen.
Der Verweis auf Horaz ist in den Trumen eines Geistersehers nicht
ohne Bedeutung: Indem Kant seiner Schrift ein Zitat des lateinischen Au-
tors voranstellt, verdeutlicht er, dass es ihm nicht darum geht, die Litera-
tur oder die Einbildungskraft als solche zu verdammen und statt ihrer ein
reines Denken, eine reine Philosophie (der ratio) zu installieren. Le-
diglich die bersteigerte, unkontrollierte und chimrische Ausbung
der Einbildung soll kritisiert werden im vollen Wortsinn der Kritik: un-
terschieden werden von einem gerechtfertigten Gebrauch. Swedenborg
ist dabei das Paradigma des Phantastischen: ist dieser, schreibt Kant,
wenn man ihm selbst glauben darf, der Erzgeisterseher unter allen Gei-
stersehern [...], so ist er auch sicherlich der Erzphantast unter allen
Phantasten, man mag ihn nun aus der Beschreibung derer, welche ihn
kennen, oder aus seinen Schriften beurteilen.262 Wenn Swedenborg ein
Phantast ist, dann lsst sich sein gesamtes Denken und Schreiben, sei-
ne gesamte Geisterseherei, als Verrckung verstehen.
Die Erzhlungen Swedenborgs sind demnach Phantastereien, Pro-
dukte einer verrckten, ma- und regellosen Einbildungskraft. Die von
Horaz entlehnte und noch den Titel der Abhandlung ber Swedenborg
bestimmende Metapher fr diese Produkte ist die des Traums: Sweden-
borgs Erzhlungen, so Kant, sind Trumereien. Als solche sind sie
aber nicht einfach unwahr. Sie sind so tuschend, dass sie dem Tru-
menden als vollstndig real erscheinen. Wenn das Subjekt nach Kant kei-
nen unmittelbaren und unvermittelten Zugriff auf die Realitt hat, wenn
sich seine Beziehung zu den ueren Dingen und zu sich selbst vielmehr
ausschlielich im Medium der Vorstellung gestaltet und d.h., als eine
Synthese von Sinnlichkeit und Verstand durch die Einbildungskraft nach
Magabe der durch die Einbildungskraft hervorgebrachten reinen For-

260 Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. bers. von


Eckart Schfer. Stuttgart: Reclam 1972, S. 4f.
261 Ebd.
262 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 966 (Trume eines
Geistersehers, A 84).

124
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

men der Anschauung Raum und Zeit , dann beinhaltet seine Realitt im-
mer schon eingebildete, getrumte oder gar phantastische Elemente.
Es gibt fr den Menschen keine Mglichkeit, a priori zu wissen, ob er
trumt oder wacht, ob er reale Dinge sieht oder Trumereien.
Folglich heit es in den Prolegomena zu einer jeden knftigen Meta-
physik in aller Deutlichkeit:

Der Unterschied aber zwischen Wahrheit und Traum wird nicht durch die Be-
schaffenheit der Vorstellungen, die auf Gegenstnde bezogen werden, ausge-
macht, denn die sind in beiden einerlei, sondern durch die Verknpfung dersel-
ben nach denen Regeln, welche den Zusammenhang der Vorstellungen in dem
Begriffe eines Objekts bestimmen, und wie fern sie in einer Erfahrung beisam-
men stehen knnen oder nicht.263

Weil jede Wahrnehmung eines Objekts aufgrund der Diskursivitt des


menschlichen Verstandes eine Synthese aus verschiedenen einzelnen
Vorstellungen durch die Einbildungskraft sein muss, gleichen sich
chimrische und reale Erfahrungen in der aktuellen Empfindung. Ein-
zig a priori durch Vernunftschlsse (Regeln) ber die Zusammenf-
gung der Objekte oder a posteriori durch Erfahrungswerte ber die
Mglichkeit des Zusammentreffens verschiedener Objekte lsst sich
ein Urteil fllen. Der Denker ist unter diesen Umstnden angehalten, sich
fortlaufend zu fragen, ob er wacht oder trumt oder ob er in den Zwi-
schenzustand eines Schlummers gefallen ist, der ihn einen Traum fr
die Wahrheit halten lsst.
Insofern die Realitt wie der Traum nichts anderes als ein Produkt
der Einbildungskraft ist, kann man nicht einfach sagen, der Traum sei
unwahr oder falsch. In der Vorstellung des Trumenden hat der Traum
Realitt. Freilich ist die Trumerei nur fr den jeweils Trumenden real
sie ist seine Realitt. Die Anstrengung, zwischen Traum und Wachen zu
unterscheiden und zu trennen, soll eine gemeinsame Welt der Erfahrung
konstituieren, in der sich die Denkenden gegenseitig austauschen und
kritisieren knnen. Swedenborg wird also zum Objekt der Polemik
Kants, weil er verdchtig ist, sich dieser Anstrengung zu entziehen und
auf seiner privaten Wahrheit zu beharren. Bereits im Versuch ber die
Krankheiten des Kopfes fhrt Kant aus, dass die Opfer der Gebrechen
des Kopfes sich notwendig in einer isolierten Position innerhalb der
brgerlichen Gemeinschaft wiederfinden sofern es ihnen nicht ge-
lingt, diese als Schwrmer aufzuheben und einen Haufen um sich zu
bilden. In den Trumen eines Geistersehers schlielich findet Kant fr
diese Einsamkeit des Wahnsinnigen eine flschlicherweise Aristoteles

263 Ebd., Bd. 3, S. 154 (Prolegomena 13, A 65f.).

125
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

zugeschriebene Formulierung, die er offensichtlich so treffend findet,


dass er sie noch in seiner Anthropologie (1798) wiederholen wird:

Aristoteles sagt irgendwo: Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaft-
liche Welt, trumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne. Mich dnkt, man
sollte wohl den letzteren Satz umkehren und sagen knnen: wenn von verschie-
denen Menschen ein jeglicher seine eigene Welt hat, so ist zu vermuten, da sie
trumen.264

Wie der Schwrmer verstt der Trumer gegen alle Regeln des
Kantschen sensus communis: Er verlsst den Raum nachprfbarer Erfah-
rung und spricht ausschlielich subjektiv. In diesem Sinne spricht Kant
von den Privaterscheinungen265 Swedenborgs. Die Attribute, mit de-
nen Kant die Erzhlungen Swedenborgs belegt, lassen immer wieder das
gleiche Urteil anklingen: Trumerei, Phantasterei, Unsinn, Wahnsinn.
Mit dieser Diagnose knnte das Thema Swedenborg eigentlich bereits er-
ledigt sein. Seine gesammelten Werke acht Quartbnde voll Un-
sinn266 scheinen sich von vornherein eher als Objekt einer medizini-
schen denn als das einer philosophischen Untersuchung anzubieten. Da-
her, schreibt Kant, verdenke ich es dem Leser keineswegs, wenn er,
anstatt die Geisterseher vor Halbbrger der andern Welt anzusehen, sie
kurz und gut als Kandidaten des Hospitals abfertigt, und sich dadurch
allen weiteren Nachforschens berhebt.267
Doch so einfach macht Kant es sich offensichtlich nicht. Warum aber
hat sich Kant so ausfhrlich mit den Verrckungen des schwedischen
Autors auseinandergesetzt? Die Antwort, die Kant gibt, lautet: weil Swe-
denborgs wahnsinnige Visionen seiner eigenen Theorie von Gei-
stern268 auf eine fr Kant unangenehme Art und Weise nahekommt. In
den Schriften Swedenborgs, so Kant, findet sich

eine so wundersame bereinkunft mit demjenigen, was die feineste Ergrbe-


lung der Vernunft ber den hnlichen Gegenstand herausbringen kann, da der
Leser mir es verzeihen wird, wenn ich hier diejenige Seltenheit in den Spielen
der Einbildung finde, die so viel andere Sammler in denen Spielen der Natur
angetroffen haben, als wenn sie etwa im fleckichten Marmor die heilige Fami-

264 Ebd., S. 952 (Trume eines Geistersehers, A 58). Das Zitat stammt nicht
von Aristoteles, sondern von Heraklit (Fragment B 89).
265 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 981 (Trume eines
Geistersehers, A 113).
266 Ebd., S. 973 (Trume eines Geistersehers, A 98).
267 Ebd., S. 959 (Trume eines Geistersehers, A 72).
268 Ebd., S. 963 (Trume eines Geistersehers, A 79).

126
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

lie, oder, in Bildungen von Tropfstein, Mnche, Taufstein und Orgeln [...]; lau-
ter Dinge, die niemand sonsten sieht, als dessen Kopf schon vorher damit an-
gefllet ist.269

Indem er in Swedenborgs Erzhlungen die feineste Ergrbelung der


Vernunft und also seine eigene Philosophie in den Trumen des Gei-
stersehers die Trume der Metaphysik wiederfindet, scheint Kant zu je-
nen Phantasten zu gehren, welche dazu neigen, die Produkte der eige-
nen Phantasie chimrisch mit der ueren Wirklichkeit zu vermi-
schen. Nicht zufllig erinnert jemand, der in fleckichtem Marmor die
heilige Familie wiederzuerkennen vermag, an den wachenden Tru-
mer aus dem Versuch, der in einem Bettvorhang eine menschliche Ge-
stalt zu erkennen glaubt. Somit erscheint wiederum Kant als ein Phan-
tast, der in einer delirierenden Lektre noch die phantastischsten Schrif-
ten mit seinen Lehren bereinstimmend findet. Wie aber kommt Kant auf
diesen Eindruck der wundersamen bereinkunft?

Kants Geisterlehre Moralische Affektion als


Gothic Novel Die Kluft zwischen Moral und Physis

Die Trume eines Geistersehers beginnen, wie es sich fr eine strenge


philosophische Abhandlung gehrt, mit einer Klrung der zu verwenden-
den Begriffe. Hier sieht Kant Handlungsbedarf: Ich wei also nicht, ob
es Geister gebe, ja, was noch mehr ist, ich wei nicht einmal was das
Wort Geist bedeutet.270 Seine sptere Unterscheidung zwischen synthe-
tischen und analytischen Urteilen vorwegnehmend, fragt Kant demge-
m zunchst einmal (analytisch) nach dem im Begriff des Geistes be-
griffenen Inhalt, ohne daraus schon (synthetisch) eine Aussage ber die
Mglichkeit der realen Existenz des bezeichneten Dings getroffen zu ha-
ben.
Was also bedeutet das Wort Geist? Der eigentlichen Wortbedeu-
tung gem kann Geist, in Anlehnung an das franzsische esprit, eine
kognitive Befhigung meinen. Sodann kann es aber auch jeden Men-
schen bezeichnen, insofern dieser nicht nur ein krperliches, sondern
auch ein geistiges Wesen ist. In diesem Sinn wre es allerdings kaum un-
gewhnlich, einen Geist zu erblicken, urteilt Kant. So ist es denn also
keine Wundergabe, Geister zu sehen; denn wer Menschen sieht, der sieht
Wesen, die Vernunft haben.271

269 Ebd., S. 973 (Trume eines Geistersehers, A 97f.).


270 Ebd., S. 926 (Trume eines Geistersehers, A 9).
271 Ebd., S. 925 (Trume eines Geistersehers, A 8).

127
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Es muss also eine zustzliche Bestimmung zu Wesen mit Vernunft


hinzutreten. Kant nennt als notwendige weitere Bedingung die Immate-
rialitt. Als Geist knnen demnach jegliches einfache und imma-
terielle Wesen bezeichnet werden, wenn sie Vernunft haben.272 Im
Gegensatz dazu mssten einfache Substanzen [...], deren Zusammen-
setzung ein undurchdringliches und ausgedehntes Ganzes gibt, [...] mate-
rielle Einheiten, ihr Ganzes aber Materie heien.273 Sodann wird man
zwar nicht mehr sagen knnen, dass der Mensch ein Geist sei, wohl aber,
fr Kant eine notwendige Folgerung, dass der Mensch Geist habe. Als
diesen bewertet er seine eigene Seele.274
Wenn aber die menschliche Seele ein Geist ist, dann gibt es
nicht nur Geister immaterielle, vernnftige Wesen , sondern es folgt
auch, dass die Geister Krfte entfalten knnen und Einfluss nehmen
knnen: sowohl aufeinander als auch auf die materielle Welt. Kant ent-
faltet diesen Gedanken in einem knappen Exkurs im ersten Teil der Tru-
me eines Geistersehers, einem Versuch [...], der [...] etwas auer mei-
nem Wege liegt.275 Erwartungsgem kommt Kant hier umgehend auf
Fragen der Moral zu sprechen, denn in diesem Bereich sieht Kant man
erinnere sich an den Abschnitt ber den Enthusiasmus im Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes naheliegenderweise die Notwendigkeit des
Bezugs auf andere begrndet, der sich nicht auf materielle (sinnliche)
Einflsse reduzieren lassen kann. So schreibt Kant:

Wenn wir uere Dinge auf unsere Bedrfnis [sic] beziehen, so knnen wir
dieses nicht tun, ohne uns zugleich durch eine gewisse Empfindung gebunden
und eingeschrnkt zu fhlen, die uns merken lt, da in uns gleichsam ein
fremder Wille wirksam sei, uns unser eigen Belieben die Bedingung von ue-
rer Beistimmung ntig habe. Eine geheime Macht ntiget uns, unsere Absicht
zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkr zu richten, ob dieses
gleich fters ungern geschieht, und der eigenntzigen Neigung stark widerstrei-
tet, und der Punkt, wohin die Richtungslinien unserer Triebe zusammenlaufen,
ist also nicht blo in uns, sondern es sind noch Krfte, die uns bewegen, in dem
Wollen anderer auer uns. Daher entspringen die sittlichen Antriebe, die uns oft
wider den Dank des Eigennutzes fortreien [...].276

Kant gibt hier eine dramatisierte Variante seiner Theorie des Alterisie-
rung. Es ist fr Kant nicht nur nicht ungewhnlich, sondern unvermeid-

272 Ebd., S. 928 (Trume eines Geistersehers, A 12f.).


273 Ebd. (Trume eines Geistersehers, A 13).
274 Vgl. ebd., S. 934 (Trume eines Geistersehers, A 25).
275 Ebd., S. 942 (Trume eines Geistersehers, A 40).
276 Ebd., S. 943 (Trume eines Geistersehers, A 42).

128
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

lich, dass jedes menschliche Wesen (wir) in sich die Wirksamkeit ei-
nes gleichsam [...] fremden Willens versprt. Wie fremd ist allerdings
ein gleichsam fremder Wille? Mit dieser zugleich offenen und vagen
Formulierung scheint sich Kant in dieser Passage nicht entscheiden zu
knnen, ob er ber die Macht der Vernunft (und also ber das Modell des
Enthusiasmus) oder ber die sinnliche Affektion durch Sympathie (und
also das Modell der Schwrmerei) spricht. Es ist jedoch Kants philoso-
phischer Strenge zuzurechnen, dass er die problematische Differenzie-
rung zwischen Enthusiasmus und Schwrmerei hier zurcknimmt und
beide in einer allgemeinen Theorie der Geister behandelt. Der Enthu-
siasmus erscheint hier wortwrtlich als Begeisterung, als der Eingriff ei-
nes Geistes, von dem nicht einmal Formen und Konturen bekannt sind
und der folglich nur als geheime Macht bezeichnet werden kann.
Moralphilosophie ist alsdann nichts weiter als eine Fortsetzung der
Gothic Novel mit anderen Mitteln (und umgekehrt).277 Shaftesbury und
Horace Walpole finden sich damit in einer berraschenden Nhe wieder,
die vor Kant niemand wahrgenommen zu haben scheint. An diesem
Punkt wird die beunruhigende hnlichkeit, die Kant zwischen seinen
eigenen berlegungen und den Phantastereien Swedenborgs wahrge-
nommen hat, erkennbar: Sowohl Kant als auch Swedenborg gehen von
der Existenz einer unsichtbaren, immateriellen und moralischen
Welt neben der sichtbaren und materiellen Welt aus, und beide sehen den
Menschen prinzipiell als eine Person an, die in beiden Welten zugleich
lebt. Dadurch sehen wir uns, folgert Kant, in den geheimsten Beweg-
grnden abhngig von der Regel des allgemeinen Willens, und es ent-
springt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Ein-
heit und systematische Verfassung nach blo geistigen Gesetzen.278
Seiner allgemeinen Geringschtzung der Philosophie des moral sense
gem betont Kant ausdrcklich, dass seine Theorie des Geistes nicht
mit dieser zu verwechseln sei. So urteilt er: Will man diese in uns emp-
fundene Ntigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allge-
meinen Willen das sittliche Gefhl nennen, so redet man davon nur als
von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ur-
sachen derselben auszumachen.279 Wer aber nur von einer Erschei-

277 Zur Beziehung zwischen Kants Theorie des Geistes und Kleists Das
Bettelweib von Locarno vgl. etwa Thomas Dutoit: Ghost Stories, the Sub-
lime and Fantastic Thirds in Kant and Kleist. In: Colloquia Germanica 27
(1994), S. 225-254.
278 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 943 (Trume eines
Geistersehers, A 42).
279 Ebd., S. 943f. (Trume eines Geistersehers, A 42f.).

129
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

nung redet, ohne die Ursachen zu kennen, der trumt und dichtet, der
schreibt Literatur und keine Philosophie.
Die entscheidende Frage ist fr Kant nun, ob der wissenschaftliche
Standard, den der von ihm bewunderte Newton in die Physik einfhrte,
in der Metaphysik jemals erreicht werden kann:

So nannte Newton das sichere Gesetz der Bestrebungen aller Materie, sich ein-
ander zu nhern, die Gravitation derselben [...]. Gleichwohl trug er keine Be-
denken, diese Gravitation als eine wahre Wirkung einer allgemeinen Ttigkeit
der Materie ineinander zu behandeln, und gab ihr daher den Namen der Anzie-
hung. Sollte es nicht mglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe in
den denkenden Naturen [...] gleichfalls als die Folge einer wahrhaft ttigen
Kraft [...] vorzustellen [...]?280

Kants Metaphorik erinnert hier an die Vorgaben Newtons.281 Dennoch


beantwortet Kant seine Frage nach der bertragbarkeit der Newtonschen
Strenge auf den Bereich der Metaphysik (und also der Sitten) schlielich
negativ mit der Begrndung, dass gerade der Reiz dieser bertra-
gung misstrauisch stimmen msse. Eine Welt, in der sich die Anziehun-
gen und Zurckstoungen der Seelen zueinander auf klare Gesetze
bringen lassen, wre zu sehr eine ideale Welt, eine Traumwelt, als dass
der Philosoph mit ihr zufrieden sein knnte:

Wenn man diesen Gedanken so viel Scheinbarkeit zugesteht als erforderlich


ist, um die Mhe zu verdienen, sie an ihren Folgen zu messen, so wird man
vielleicht durch den Reiz derselben unvermerkt in einige Parteilichkeit gegen
sie verflochten werden. Denn es scheinen in diesem Falle die Unregelmig-
keiten mehrenteils zu verschwinden, die sonsten bei dem Widerspruch der mo-

280 Ebd., S. 944 (Trume eines Geistersehers, A 43).


281 Wenn Kant in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Him-
mels (1755) im Anschluss an Newtons Dualismus von Attraktion und Re-
pulsion (Anziehung und Abstoung) ausdrcklich keine anderen Krfte
als die Anziehungs- und Zurckstoungskraft zur Entwicklung der gro-
en Ordnung der Natur (ebd., S. 242 [Allgemeine Naturgeschichte, A
XLVIf.]) anerkennen will, so spricht er in den Trumen eines Geisterse-
hers in Analogie dazu von einem Streit zweier Krfte im menschlichen
Gemt: nmlich der Eigenheit, die alles auf sich beziehet, und der Ge-
meinntzigkeit, dadurch das Gemt gegen andere auer sich getrieben
und gezogen wird (ebd., S. 942 [Trume eines Geistersehers, A 40]).
Vgl. zu Kants Verhltnis zu Newtons Physik Caruth: Empirical Truths
and Critical Fictions (wie Anm. 244), S. 60-64.

130
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

ralischen und physischen Verhltnisse hier auf der Erde so befremdlich in die
Augen fallen.282

Zwischen den moralischen und den physischen Verhltnissen ffnet


sich fr Kant ein Widerspruch, eine Kluft. Der Mensch ist zugleich ein
sinnliches (materielles) und ein unsinnliches (vernnftiges) Wesen, und
der bergang zwischen beiden Ebenen ist nicht unproblematisch: Es be-
darf einer bersetzung, eines Sprungs, der scheitern kann und als Wi-
derspruch verstanden werden muss. Die Kluft zwischen Moral und Phy-
sis oder zwischen Geist und Krper entspricht mit anderen Worten
derjenigen zwischen Freiheit und Sinnlichkeit: zwischen der Freiheit des
Willens und den Gesetzen der Natur. Die Doppelung von Moral und
Physis, Geist und Krper kann als eine frhe Form der Differenz zwi-
schen noumenalen und phnomenalen Vorstellungen verstanden werden.
Man kann in diesem Widerspruch der moralischen und physischen Ver-
hltnisse eine mildere Form der Kluft wiedererkennen, die Kant 1790
im Vorwort der Kritik der Urteilskraft mit apodiktischer Strenge
zwischen der Welt der Sinnlichkeit und der der Vernunft und also zwi-
schen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Ver-
nunft zur Sprache bringt. Das Gebiet des Naturbegriffs, unter der ei-
nen, und das des Freiheitsbegriffs, unter der anderen Gesetzgebung,
schreibt Kant hier, sind gegen allen wechselseitigen Einflu, den sie fr
sich (ein jedes nach seinen Grundgesetzen) auf einander haben knnten,
durch die groe Kluft, welche das bersinnliche von den Erscheinungen
trennt, gnzlich abgesondert.283

Der Wahnsinn der Sprache

Die Differenz zwischen der geistigen und der physischen Existenz ist
mithin so sehr sie an platonische Dualismen von Leib und Seele erin-
nern mag eine frhe Version der fr Kants gesamtes Werk entscheiden-
den Erkenntnis ber die Endlichkeit. In der Kritik der reinen Vernunft
wird Kant die Endlichkeit als die Unfhigkeit des menschlichen Verstan-
des zur unmittelbaren Anschauung seiner Objekte beschreiben. Der Ver-
stand ist darauf angewiesen, die von der Sinnlichkeit gegebenen Daten zu
synthetisieren und zu analysieren, um erkennen zu knnen.284

282 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 944 (Trume eines
Geistersehers, A 44).
283 Ebd., Bd. 4, S. 270 (KdU, B LIII, A LI).
284 Vgl. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (wie Anm. 102),
S. 30.

131
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Die Endlichkeit des menschlichen Intellekts uert sich in den Tru-


men eines Geistersehers darin, dass verschiedene geistige Wesen nicht
unmittelbar miteinander kommunizieren knnen, sondern die Vermitt-
lung ber ihre physische Existenz bentigen. In dieser Kluft zwischen
beiden Sphren ffnet sich ein Raum fr den Widerspruch zwischen
moralischen Gedanken und ihrer physischen Realisierung, zwischen Ab-
sicht und Verwirklichung man knnte sagen: zwischen Theorie und
Praxis. Wenn es Geister gibt, fhrt Kant aus, dann knnen sie mit dem
ihnen zugewiesenen Krper und mit anderen Geistern nur dann kommu-
nizieren, indem sie eine Kluft berwinden, die jede physische uerung
in einen Widerspruch zu ihrer moralischen Intention setzen kann. Die
Kluft ermglicht Missverstndnisse ebenso wie Tuschung und Ver-
stellung, mit anderen Worten: Kunst, Sprache und Rhetorik. Alle Mo-
ralitt der Handlungen, schreibt Kant,

kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollstndige Wirkung in dem
leiblichen Leben der Menschen haben, wohl aber in der Geisterwelt nach pneu-
matischen Gesetzen. Die wahre Absichten, die geheime Beweggrnde vieler
aus Ohnmacht fruchtlosen Bestrebungen, der Sieg ber sich selbst, oder auch
bisweilen die verborgene Tcke bei scheinbarlich guten Handlungen, sind meh-
renteils vor den physischen Erfolg in dem krperlichen Zustande verloren, sie
wrden aber auf solche Weise in der immateriellen Welt als fruchtbare Grnde
angesehen werden mssen [...].285

Tcke, Tuschung, Verstellung: Jene Phnomene, die Kant zu Beginn


des Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes als charakteristisch fr die
brgerliche Verfassung beschreibt und die sich in der Anthropologie
als erlaubter moralischer Schein finden, erscheinen hier als transzen-
dental notwendiger moralischer Schein. Nachdem er auf eine etwas
vorkritische Art und Weise dargelegt hat, dass der Mensch zugleich ein
Bewohner der sichtbaren und unsichtbaren Welt sei und deshalb in
zwei verschiedene Personen zerfalle, wobei die Vorstellungen, der ei-
nen, ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen, keine begleitenden Ideen
von denen der anderen Welt sind, und daher, was ich als Geist denke,
von mir als Mensch nicht erinnert wird,286 steuert Kant demnach zielsi-
cher die Frage der Bedingung der Mglichkeit der Vermittlung zwischen
beiden Welten und also die Frage des Zeichens und der Sprache an.
Diese Ungleichartigkeit der geistigen Vorstellungen und derer, die
zum leiblichen Leben des Menschen gehren, schreibt Kant,

285 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 944f. (Trume ei-
nes Geistersehers, A 44f.).
286 Ebd., S. 947 (Trume eines Geistersehers, A 49f.).

132
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

darf indessen nicht als eine so groe Hindernis angesehen werden, da sie alle
Mglichkeit aufhebe, sich bisweilen der Einflsse von Seiten der Geisterwelt so
gar in diesem Leben bewut zu werden. Denn sie knnen in das persnliche
Bewutsein des Menschen zwar nicht unmittelbar, aber doch so bergehen, da
sie nach dem Gesetz der vergesellschafteten Begriffe diejenige Bilder rege ma-
chen, die mit ihnen verwandt sein, und analogische Vorstellungen unserer Sin-
ne erwecken, die wohl nicht der geistige Begriff selber, aber doch deren Sym-
bolen sind.287

Die unsichtbare Welt der Geister wirkt nur mittelbar auf die sichtbare
Welt der Menschen. Als Instanz dieser Vermittlung wirken die verge-
sellschafteten Begriffe, die im Bewusstsein der leiblichen Menschen
Bilder rege machen, die mit denen der geistigen verwandt sind und
analogische Vorstellungen unserer Sinne erwecken. Statt der unzu-
gnglichen geistigen Begriffe selber kann der leibliche Mensch allein
deren Symbole haben, ihre Bezeichnungen, die immerhin eine analogi-
sche und also aufgrund von hnlichkeiten konstruierte Vorstellung er-
wecken. Folglich ist es die Sprache, welche die Geisterwelt mit der
leiblichen Welt verbindet. Diese untersteht Kant zufolge dem Gesetz
der vergesellschafteten Begriffe: Ihre Zeichen sind zwar sinnlicher und
also leiblicher Natur, aber sie erwecken Vorstellungen, die analog sind
zu den geistigen Begriffen, auf die sie verweisen. Abgeschiedene See-
len und reine Geister, folgert Kant,

knnen zwar niemals unsern ueren Sinnen gegenwrtig sein, noch sonst mit
der Materie in Gemeinschaft stehen, aber wohl auf den Geist des Menschen,
der mit ihnen in einer groen Republik gehrt, wirken, sich nach dem Gesetze
seiner Phantasei in verwandte Bilder einkleiden, und die Apparenz der ihnen
gemen Gegenstnde als auer ihm erregen.288

Gleich, ob es um den Kontakt zu toten (abgeschiedenen Seelen) oder


lebenden (reine Geister) anderen geht: Es gibt keine immaterielle, rein
geistige Kommunikation, jede Wirkung eines Geistes auf einen anderen
kann nur ber sprachliche Zeichen geschehen. Die sprachlichen Symbole
gehren eindeutig nicht zur immateriellen Welt, sie verdanken ihre Exi-
stenz der Notwendigkeit eines endlichen Wesens, auf die immaterielle
Welt nur verweisend Bezug nehmen zu knnen. Dieser Bezug geschieht
dadurch, dass Vorstellungen einer Sphre Vorstellungen der anderen er-
wecken, die sich nach dem Gesetze der Phantasei in verwandte Bilder
einkleiden knnen.

287 Ebd., S. 948 (Trume eines Geistersehers, A 50f.).


288 Ebd., S. 950 (Trume eines Geistersehers, A 56f.).

133
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Als das Gesetz der Phantasei kann unschwer das Gesetz der Asso-
ziation erkannt werden. Vergesellschaftete Begriffe sind assoziierte
Begriffe; Begriffe, die durch das Vermgen der Assoziation entstanden
sind.289 Die assoziierten Symbole vergesellschaften die leibliche und die
geistige Natur des Menschen miteinander und erlauben eine begeistern-
de, enthusiasmierende Einwirkung der Vernunft auf leibliche Menschen.
Nur als Symbol, als Zeichen, knnen geistige Vorstellungen auf leibliche
Wesen, es die Menschen sind, einwirken und sie fr diese empfnglich
machen. Nur die sprachlichen Zeichen erlauben es den geistigen We-
sen, sich ber den Umweg ihrer leiblichen Existenz gegenseitig zu affi-
zieren.
Insofern die menschlichen Doppelnaturen zwischen Physis und Mo-
ral nur durch sprachliche Zeichen eine Erinnerung an ihre geistige Natur
haben knnen, sind diese nicht nur vergesellschaftete Begriffe, sondern
zugleich vergesellschaftende Begriffe: Sie stellen die Mglichkeit einer
Vergesellschaftung zwischen mehreren Individuen her. Das Vermgen
der Assoziation, welches Kant hier als Vergesellschaftung eindeutscht,
assoziiert nicht nur Zeichen miteinander, sondern schafft kraft dieses Ak-
tes die Mglichkeit, dass verschiedene Wesen sich gegenseitig auf einer
geistigen Ebene begegnen, auch wenn sie nur auf leiblicher Ebene in
Kontakt treten knnen. Wenn aber smtliche Einflsse von Seiten der
Geisterwelt nur durch Symbole evoziert werden knnen, dann kann
auch die Beziehung zwischen geistiger und leiblicher Existenz innerhalb
eines Menschen nur durch eine Evokation analogischer Vorstellungen
geschehen. Die Frage, ob das Ich seine eigenen sprachlichen uerungen
beherrschen kann, ist somit nicht nur fr die Thematik der gesell-
schaftlichen Interaktion von Relevanz. Insofern Kant in den Trumen
eines Geistersehers die moralische Einwirkung des geistigen auf das
krperliche Ich als Resultat einer sprachlichen Handlung versteht,290 steht
hier ebenso der gesamte Raum der praktischen Vernunft zur Diskussion.

289 Ernst Mller sieht die vergesellschafteten Begriffe dagegen in der Tra-
dition der notiones communes, der angeborenen Begriffe der Scholas-
tik (vgl. Ernst Mller: sthetische Religiositt und Kunstreligion. In den
Philosophien von der Aufklrung bis zum Ausgang des deutschen Idea-
lismus. Berlin: Akademie 2004, S. 131). Die vergesellschafteten Be-
griffe sind demgegenber aber gerade nicht gemeinsam (commun),
denn in der Kluft zwischen moralischer und physischer Welt sieht
Kant den Ursprung fr alle Formen von Missverstndnissen und Tu-
schungen aller Art.
290 Wenngleich Kant in seinen spteren Texten von dem platonischen Dua-
lismus von Moral und Physis abrckt, beharrt er, wie auch immer im-
plizit, darauf, die Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft als eine

134
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

Wie in der fr Kant bedeutsamen Tradition des englischen Empiris-


mus ist die Befhigung zur Assoziation hier das zentrale Vermgen des
Menschen, das seinen Verstand berhaupt als menschlichen Verstand
charakterisiert. Bereits in den frhen Trumen eines Geistersehers frei-
lich unternimmt Kant es, die Bedeutung der Assoziation grundstzlich
neu zu bestimmen. Sie verbindet nicht mehr, wie noch fr Hume, einzel-
ne Bewusstseinsinhalte miteinander, sondern sie erweckt im leiblichen
Bewusstsein die Erinnerung an eine geistige Existenz. Wie fr seine phi-
losophischen Vorgnger ist fr Kant das Vermgen der Assoziation, der
vergesellschafteten Begriffe, identisch mit dem Vermgen der Dar-
stellung, der Einbildungskraft. Im Gegensatz zur ihm vorausliegenden
poetologischen Tradition beruht die Wirkung der Einbildungskraft fr
Kant nicht auf visuellen Effekten, sondern auf sprachlichen. Wie Kant
weiter ausfhrt, erweckt die Einbildungskraft Assoziationen zwischen
dem krperlichen und dem geistigen Bewusstsein eines Menschen und
ermglicht so eine Darstellung vernnftiger Inhalte in einem krperli-
chen Kleid:

Die Mglichkeit hievon knnen wir einiger maen dadurch falich machen,
wenn wir betrachten, wie unsere hhere Vernunftbegriffe, welche sich den gei-
stigen ziemlich nhern, gewhnlicher maen gleichsam ein krperliches Kleid
annehmen, um sich in Klarheit zu setzen. Daher die moralische Eigenschaften
der Gottheit unter den Vorstellungen des Zorns, der Eifersucht, der Barmher-
zigkeit, der Rache u.d.g. vorgestellt werden; daher personifizieren Dichter die
Tugenden, Laster oder andere Eigenschaften der Natur, doch so, da die wahre
Idee des Verstandes hindurchscheint [...].291

Indem die moralische Eigenschaft einer Gottheit als die Vorstellung


eines menschliches Gefhls wie Zorns, Eifersucht oder Barmherzigkeit
veranschaulicht wird, kann ein hherer Vernunftbegriff [...] gleichsam
ein krperliches Kleid annehmen und so Sichtbarkeit und Anschaulich-
keit erlangen. Insofern Kant die symbolische Darstellung des geistigen
Inhalts explizit als dessen Kleid benennt, wird deutlich, dass er das

sprachliche Handlung zu verstehen. So lsst sich zeigen, dass der katego-


rische Imperativ nach dem Modell des Versprechens des sprachlichen
Vorausgriffs auf eine kommende Handlung operiert. Vgl. Werner Ha-
macher: Das Versprechen der Auslegung. Zum hermeneutischen Impera-
tiv bei Kant und Nietzsche. In: ders.: Entferntes Verstehen. Studien zu
Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1998 (edition suhrkamp. 2026), S. 49-112, hier: S. 68.
291 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), S. 948 (Trume eines Gei-
stersehers, A 51).

135
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Symbol nach dem Paradigma der Metapher begreift. Diese wird, im Zu-
sammenhang mit der Frage ihrer Angemessenheit, bereits in Aristoteles
Rhetorik mit der Metapher des Kleides beschrieben.292 Kants Aussage,
die Einflsse aus der Geisterwelt wrden nach dem Gesetz der verge-
sellschafteten Begriffe [...] analogische Vorstellungen im Bewusstsein
der krperlichen Menschen erwecken, verweist darauf, dass Kant die
Verwandlung des geistigen Inhalts in eine krperliche Form als einen
metaphorisierenden Prozess denkt.
Die nach der Analogie gebildete Metapher gilt in der aristoteli-
schen Rhetorik und in der folgenden rhetorischen Tradition als die gelun-
genste Form der Metapher.293 Ausdrcklich weist Kant darauf hin, dass
die bildliche Darstellung moralischer Eigenschaften in der Verkleidung
als menschliche Gefhle wesentlich die Praxis des Dichters ausmacht.
Das verbildlichende Potential der Metapher bringt fr Kant die Mglich-
keit hervor, Geister mit Geistern sprechen zu lassen.
Zwar wird das metaphorische Sprechen hier einen platonischen to-
pos anzitierend explizit nur dem Dichter zugesprochen, derjenigen
Person also, die seiner Einbildungskraft freien Lauf lassen kann, ohne in
bereinstimmung mit der Wahrheit sprechen zu mssen. Ausdrcklich
wird das bildliche Sprechen, das Einkleiden des Gedankens in ein
Bild, auch in der spteren Logik (1800) nur den ersten Philosophen
zugeordnet und damit zu einer archaischen, naiven Praxis erklrt, die
das Denken lngst berwunden hat:

brigens kleideten die ersten Philosophen alles in Bilder ein. Denn Poesie, die
nichts anderes ist, als eine Einkleidung der Gedanken in Bilder, ist lter als die
Prose. Man mute sich daher anfangs selbst bei Dingen, die lediglich Objekte
der reinen Vernunft sind, der Bildersprache und poetischen Schreibart bedie-
nen.294

Indem die Metapher aber das Paradigma des Zeichens und somit der
Sprache berhaupt darstellt, ist nicht nur das Verhltnis zwischen dem

292 Vgl. Aristoteles: Rhetorik. bers. von Franz G. Sieveke. 5. Aufl. Mn-
chen: Fink 1995 (UTB. 159), S. 171 (1405a): Man mu aber sowohl die
Epitheta als auch die Metaphern so auswhlen, da sie zueinander pas-
sen. [...] Man mu aber darauf achten, da wenn dem Jngling ein Pur-
purkleid pat, was sich dann in gleicher Weise fr den Greis schickt;
denn nicht das gleiche Kleid pat ihm. Vgl. zur Metapher des Kleids fr
Sprache: Wolfram Groddeck: Reden ber Rhetorik. Zu einer Stilistik des
Lesens. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 1995 (Nexus. 7), S. 14f.
293 Vgl. ebd., S. 191 (1411a).
294 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 451 (Logik, A 31).

136
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

geistigen und dem leiblichen Leben, sondern auch noch jedes philoso-
phische Wissen ber dieses Verhltnis auf analogische Vorstellungen
und also auf metaphorische Sprache angewiesen. Dies zeigt sich insbe-
sondere daran, dass die oben zitierte Passage nicht nur die Wirkung
analogischer Vorstellungen beschreibt, sondern diese auch selbst ver-
wendet. Indem Kant die Wirkung der geistigen Begriffe durch diejeni-
ge der ihnen nahen Vernunftbegriffe erklrt, beschreibt er die Wirkung
der Analogie durch eine Analogie, die Wirkung der Metapher durch eine
Metapher. Nicht ohne Zufall erweisen sich bei nherer Betrachtung smt-
liche Schlsselbegriffe der zitierten Passage Kleid, Klarheit, hin-
durchscheinen als kaum vermeidbare Metaphern der philosophischen
Sprache.
Die philosophische Zuverlssigkeit der Aussage, es gbe analogische
Vorstellungen zwischen der Sphre des Geistes und der des Krpers,
basiert demnach auf nichts anderem als einer Analogie derjenigen zwi-
schen Vernunftbegriffen und geistigen Begriffen. Wenn man aber,
wie Kant ausdrcklich schreibt, von einem Widerspruch zwischen der
geistigen und der krperlichen Sphre ausgehen muss, dann kann die
epistemologische Sicherheit der metaphorischen Analogien nicht allzu
hoch eingeschtzt werden. Der Widerspruch zwischen der moralischen
und der physischen Welt trennt alle hheren Vernunftbegriffe unwi-
derruflich von der unsinnlichen Welt der Vernunft ab. Wenn Kant be-
hauptet, sie wrden sich den geistigen Begriffen ziemlich nhern,
beweist die Metaphorik noch dieser Aussage das Gegenteil dessen, was
Kant sagt. Die Vernunftbegriffe sind, ebenso wie die ganze philoso-
phische Sprache Kants, keine Begriffe des Geistes, sondern solche des
krperlichen Menschen.
Die pure Mglichkeit von Metaphorik, von Ironie, Verstellung, kurz:
von Rhetorik in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit, verunklart die Transpa-
renz der Sprache und damit die Beziehung zwischen Geist und Kr-
per. Unter der Bedingung eines Widerspruchs zwischen der geistigen
und der krperlichen Welt kann kein sprechendes leibliches Wesen si-
cher sein, ob es einen Geist zum Ausdruck bringt, ob es etwas anderes
als das vermeintlich Intendierte sagt oder ob es nur sinnlose Silben stam-
melt. Die auf den ersten Blick unproblematischen analogischen ber-
tragungen Kants erweisen sich so als ungewisse Sprnge ber einen un-
berschaubar breiten Graben. Der Widerspruch zwischen beiden Welten
ermglicht es, dass, wie Kant schreibt, sowohl wahre Absichten, ge-
heime Beweggrnde als auch verborgene Tcke295 verschleiert, un-
sichtbar gemacht, ver- und entstellt und noch fr das eigene Ich uner-

295 Ebd., Bd. 1, S. 944 (Trume eines Geistersehers, A 44).

137
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

kennbar werden. Kants Rhetorik der Transparenz (hindurchscheinen)


entgegen wird der geistige Inhalt im krperlichen Kleid nicht nur
sichtbar, sondern im gleichen Moment verdeckt und unsichtbar. Weder
bei seinen eigenen Worten noch bei denen eines Gegenbers kann das
Ich jemals sicher sein, ob in ihnen ein Geist hindurchscheint oder ver-
stellt wird.
Dieses Problem wirkt sich nicht nur auf die Mglichkeiten der Be-
ziehung eines Ich zu anderen Ichs aus, sondern auch auf die Mglichkeit
der Selbsterkenntnis des Ich. Unter der Bedingung eines Widerspruchs
zwischen der moralischen und der physischen Existenz innerhalb des
Menschen ist auch jede Selbsterkenntnis und Selbstreflexion des
menschlichen Verstandes auf seine Diskursivitt verwiesen. Wenn aber
der Geist sich nur auf der Umwegigkeit ber seinen Leib erkennen
kann, ist die Mglichkeit eines jederzeitigen Verkennens die Bedingung
der Mglichkeit dieses Erkennens.
Man kann diese Doppelbdigkeit in Kants Werk am ehesten anhand
des Begriffs der Assoziation beschreiben. Diese wird in den frhen Tru-
men eines Geistersehers in der Form der Einwirkung der geistigen
Sphre auf die physische nach dem Gesetz der vergesellschafteten Be-
griffe als grundlegendes Medium des menschlichen Erkennens ber-
haupt beschrieben wird und spielt als Synthesis der Reproduktion in
der Einbildung296 noch in der Konzeption der Transzendentalen De-
duktion der Kritik der reinen Vernunft eine entscheidende Rolle. Nun ist
das Prinzip der Assoziation bereits bei den Locke und Hume, an deren
Einschtzung der Bedeutung der Assoziation fr mentale Prozesse insge-
samt Kant anknpft, doppelgesichtig. Einerseits ist die Assoziation das
grundlegende Verfahren des Verstandes, indem sie Vorstellungen (ideas)
aneinander bindet und so fr Bewusstseinsakte (Erinnern oder Urteilen)
berhaupt erst zugnglich macht; andererseits kann sie diese Leistung
nur dadurch vollbringen, dass sie dem Verstand abwesende Vorstellun-
gen als anwesend re-prsentiert und ihn so dazu verleitet, potentiell den
Kontakt zur Wirklichkeit zu verlieren und sich in einer Welt eingebil-
deter Chimren zu verirren.297
In seiner Anthropologie beschreibt Kant die Wirkung der Assoziation
unter der temporalen Kategorie der Beschleunigung. Indem sie zu einer
Vorstellung in hchster Geschwindigkeit andere Vorstellungen assozi-
iert, ermglicht sie es dem Verstand, mehrere Vorstellungen zugleich
prsent zu haben und sie in Relation zueinander zu setzen. Insofern die-

296 Ebd., Bd. 2, S. 163f. (KrV, A 100f.).


297 Zu dieser Doppelgesichtigkeit der Assoziation vgl. Eckhard Lobsien:
Kunst der Assoziation. Phnomenologie eines sthetischen Grundbegriffs
vor und nach der Romantik. Mnchen: Fink 1999, bes. S. 53-56.

138
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

se belebende Wirkung jedoch jedem bewussten Denken vorausgehen


muss, kann es von diesem weder kontrolliert noch gelenkt werden. Jeder
Sinn, jede Synthese zu einer Erkenntnis ist erst das nachrangige Ergebnis
einer Verstandesoperation, die einerseits nur durch die Assoziation gelin-
gen, andererseits aber von eben dieser verhindert werden kann. Das Ver-
mgen der Assoziation ist notwendig zugleich dasjenige der Dissozia-
tion. Indem die Assoziation immer noch eine andere Vorstellung hinzu-
rufen und ihre Geschwindigkeit steigern kann, kann es dem Verstand
leicht unmglich werden, einen Sinn in der Folge der eigenen Vorstellun-
gen zu erkennen. Das Gesetz der Assoziation, schreibt Kant in der An-
thropologie,

ist: empirische Vorstellungen, die nach einander so oft folgten, bewirken eine
Angewohnheit im Gemt, wenn die eine erzeugt wird, die andere auch ent-
stehen zu lassen. [...] Diese Nachbarschaft geht fters sehr weit, und die Einbil-
dungskraft geht vom Hundertsten aufs Tausendste oft so schnell, da es scheint,
man habe gewisse Zwischenglieder in der Kette der Vorstellungen gar ber-
sprungen, obgleich man sich ihrer nur nicht bewut geworden ist, so da man
sich selbst fters fragen mu: wo war ich? von wo war ich in meinem Gesprch
ausgegangen, und wie bin ich zu diesem Endpunkte gelangt?298

Der Geschwindigkeit und Sprunghaftigkeit seiner eigenen Assoziationen


berlassen, verliert das Ich sich buchstblich selbst und kann sich nur-
mehr zerstreut fragen, wohin es durch eine unkontrollierbare Kraft seines
eigenen Verstandes gefhrt wurde. Der Zusammenhang des inneren
Sinns dissoziiert sich zur vlligen Sinnlosigkeit. Wie Hegel in seiner En-
zyklopdie bissig bemerken wird, sind die Gesetze der Assoziation allein
schon durch die unendliche Vielfalt ihrer Kombinationsmglichkeiten
nur ein anderer Name fr die vollstndige Gesetzlosigkeit.299
Indem Kant in den Trumen eines Geistersehers explizit die sprach-
liche Assoziation als mediales Grundprinzip der Kommunikation zwi-

298 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 477f. (Anthro-
pologie 28, B 82f., A 81f.).
299 Vgl. Hegel: Werke (wie Anm. 86), Bd. 10, S. 262f. (Enzyklopdie der
philosophischen Wissenschaften 455): Die sogenannten Gesetze der
Ideenassoziation haben besonders in der mit dem Verfall der Philosophie
gleichzeitigen Blte der empirischen Psychologie ein groes Interesse ge-
habt. Frs erste sind es keine Ideen, welche assoziiert werden. Frs ande-
re sind diese Beziehungsweisen keine Gesetze, eben darum schon, weil
so viele Gesetze ber dieselbe Sache sind, wodurch Willkr und Zufllig-
keit, das Gegenteil eines Gesetzes, vielmehr statthat; es ist zufllig, ob
das Verknpfende ein Bildliches oder eine Verstandeskategorie, Gleich-
heit und Ungleichheit, Grund und Folge usf. ist.

139
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

schen verschiedenen Geistern (und der Relation eines Geistes zu sich)


beschreibt, importiert er unweigerlich die gesamte epistemologische Un-
zuverlssigkeit, die das Konzept der Assoziation mitbringt, in den
menschlichen Verstand. Diese wird sichtbar in der Schwierigkeit, die Se-
mantik der eigenen Sprache zu kontrollieren. Insofern jedes Wissen
und noch das Wissen eines Ich ber sich selbst aus vergesellschafteten
Begriffen besteht, das Ich aber den Vorgang der Vergesellschaftung we-
der kontrollieren noch auch nur verstehen kann, ist es vollkommen ab-
hngig von einer Macht, die ihn so schnell vom Hundertsten aufs Tau-
sendste fhren kann, dass er vergisst, wie er zu der erreichten Vorstel-
lung kommen konnte. Die Ununterscheidbarkeit zwischen eigentlicher
und figurativer Sprache steht in den Trumen eines Geistersehers fr das
allgemeinere Problem des Subjekts, den Wirklichkeitsgehalt seiner Vor-
stellungen zu beherrschen.
Der Widerspruch zwischen Geist und Krper, zwischen Moral und
Physis erffnet die jederzeitige Mglichkeit von Tuschung, Selbsttu-
schung, Halluzination oder Wahn. Da mein Wille meinen Arm be-
wegt, ist mir nicht verstndlicher, als wenn jemand sagte, da derselbe
auch den Mond in seinem Kreise zurckhalten knnte,300 schreibt Kant.
Beide Urteile dass der Wille den Arm des Krpers bewegt und dass er
den Mond zum Stillstand zwingt sind prinzipiell nicht verstndlich,
weil sie Aussagen ber die Verbindung der geistigen und der physischen
Welt machen, die aufgrund der Kluft zwischen beiden Sphren jeder
epistemologischen Sicherheit entbehren. Beide Urteile knnten im Ver-
stand damit gleichberechtigt entstehen und als vergesellschaftete Be-
griffe assoziiert werden, und nur die allgemeine doxa vermag festzule-
gen, dass der Wille einen Arm bewegen kann, nicht aber den Mond. Wer
glauben mag, er knne den Mond in seinem Kreise zurckhalten, mag
als verrckt gelten, aber seine Aussage hat keine geringere Wahrheit als
das allgemein anerkannte Urteil, man knne ber seine Arme verfgen.
Die doxa mag so die Mglichkeiten der Assoziation einschrnken, indem
sie die Anhnger von nicht anerkannten Assoziationen fr verrckt er-
klrt, aber ihre Urteile beruhen nichtsdestotrotz auf dem gleichen Prinzip
wie diese.
Die im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes und in den Tru-
men eines Geistersehers beschriebene semiotische Grundstruktur des
Wahnsinns die Verwechslung eines Zeichens mit dem Bezeichneten
ebenso wie die Verwechslung einer phantastischen Vorstellung mit der
ueren Realitt findet somit in der Unmglichkeit, die Beziehung
zwischen geistigen und verkrperten Begriffen zu grundieren, die Be-

300 Ebd., Bd. 1, S. 986 (Trume eines Geistersehers, A 121).

140
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

dingung ihrer Mglichkeit. Insofern der Sprechende bereits im Moment


des Sprechens, und prziser schon in dem Moment des notwendig be-
grifflichen Denkens, nicht mehr ber das Gesprochene verfgt, muss es
jederzeit mglich sein, dass es wie eine fremde Macht auf ihn wirkt und
ihn in seinen Bann schlgt.
Die geheime Macht, die Kant in den Trumen eines Geistersehers
anspricht, ist insofern nichts anderes als die dem Ich entfremdete eigene
Sprache, die folglich zugleich Fremd- und Selbstaffektion wird. Die
Sprache entfremdet sich vom Sprechenden und erscheint so stets als eine
andere Sprache, als die Sprache eines anderen.301 Noch in der bereits zi-
tierten Passage aus der Polemik Von einem neuerdings erhobenen vor-
nehmen Ton, in der Kant die Unmglichkeit ausspricht, die fremde Stim-
me in seinem Kopf einem Sprecher zuzuordnen, findet sich eine Spur
dieser Entfremdung. Die fremde Macht im Ich, die im Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes noch Einbildungskraft hie, wird in den
Trumen eines Geistersehers als die geheime und also nicht als ein
menschliches Vermgen zu nennende Macht beschrieben, die es ist. Die
bereits zitierte Passage, in der Kant von dem fremden Willen spricht,
der in uns wirksam sei, wird nunmehr nachvollziehbar:

Wenn wir uere Dinge auf unsere Bedrfnis beziehen, so knnen wir dieses
nicht tun, ohne uns zugleich durch eine gewisse Empfindung gebunden und
eingeschrnkt zu fhlen, die uns merken lt, da in uns gleichsam ein fremder
Wille wirksam sei, uns unser eigen Belieben die Bedingung von uerer Bei-
stimmung ntig habe. Eine geheime Macht ntiget uns, unsere Absicht zugleich
auf anderer Wohl oder nach fremder Willkr zu richten [...].302

Metapher und Hypotypose Verrckung


der Grenze zwischen Philosophie und Literatur

Wenngleich die Einsicht ber die Unbeherrschbarkeit des Sprechens fr


den Sprechenden in dieser Deutlichkeit vor allem in den erwhnten fr-
hen Texten Kants formuliert wird und zumindest in der Kritik der reinen
Vernunft der es nur auf die Frage nach der Mglichkeit von Wissen
berhaupt ankommt keine Rolle mehr zu spielen scheint, wird sie den-
noch an keiner Stelle revidiert. Im vielzitierten 59 der Kritik der Ur-
teilskraft kommt Kant vielmehr auf das problematische Verhltnis der

301 Zur ethischen und hermeneutischen Bedeutung dieser Enteignung vgl.


Hamacher: Das Versprechen der Auslegung (wie Anm. 290), S. 70.
302 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 943 (Trume eines
Geistersehers, A 42).

141
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

philosophischen Sprache zu bertragenen Rede zurck. Kant bestimmt


hier das Prinzip der Verbindung der Begriffe mit einer Anschauung (und
also das grundlegende mentale Prinzip der Vorstellung) als Hypotypose.
Als weitere Erklrung fgt Kant in einer Klammer dem Begriff die Syno-
nyme Darstellung, subiectio sub adspectum303 hinzu und bestimmt die
Hypotypose damit durch Termini aus der rhetorischen Tradition. Als
subiectio sub adspectum andere Namen sind enargeia oder evidentia
wird bei Cicero und Quintilian eine Gedankenfigur beschrieben, welche
das Dargestellte so lebhaft vorzufhren vermag, dass es dem Zuhrer vor
Augen gestellt erscheint und er es sinnlich wahrzunehmen vermeint.304
Kant denkt den Prozess der Verbindung von Begriff und Anschauung so-
mit nach dem rhetorischen Modell der vorgetuschten Visualisierung
sprachlicher Zeichen.
Kant unterscheidet im weiteren zwischen schematischen und symbo-
lischen Hypotyposen. Diese Differenz verspricht die Mglichkeit, die
epistemologische Verunsicherung durch die figurative Substanz der
Sprache zu beherrschen. Whrend in der schematischen Hypotypose ei-
nem Begriffe, den der Verstand fasst, die korrespondierende Anschauung
a priori gegeben wird,305 ist die symbolische Hypotypose eine indirek-
te Darstellung,306 denn in ihr wird einem Begriffe, den nur die Ver-
nunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein
kann, eine solche untergelegt.307 Die Wirksamkeit analogischer bertra-
gungen scheint damit auf den eng umgrenzten Bezirk derjenigen Begriffe
limitierbar zu sein, denen keine Anschauung angemessen sein kann.
Wie Kant weiter ausfhrt, spielen symbolische Hypotyposen allerdings
auch in vermeintlich nchternen und streng argumentativen Diskursen ei-
ne bedeutende Rolle, was vor allem dann bedenklich erscheint, wenn sie
nicht als solche erkannt werden. Kant fhrt aus, dass noch so scheinbar
unbedenkliche philosophische Begriffe wie Grund (Sttze, Basis), ab-
hngen (von oben gehalten werden), woraus flieen (statt folgen), Sub-
stanz (wie Locke sich ausdrckt: der Trger der Akzidenzen) nichts

303 Ebd., Bd. 4, S. 459 (KdU 59, B 254, A 252).


304 Vgl. Rdiger Campe: Vor Augen stellen. ber den Rahmen rhetorischer
Bildgebung. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literatur-
wissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neumann. Stuttgart, Weimar: Metzler
1997 (Germanistische Symposien-Berichtsbnde. 18), S. 194-207; Ro-
dolphe Gasch: The Idea of Form. Rethinking Kants Aesthetics. Stan-
ford, Ca.: Stanford University Press 2003, S. 207f.
305 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 459 (KdU 59, B
255, A 251).
306 Ebd., S. 460 (KdU 59, B 256, A 252).
307 Ebd., S. 459 (KdU 59, B 255, A 251).

142
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

weiter als symbolische Hypotyposen, und Ausdrcke fr Begriffe nicht


vermittelst einer direkten Anschauung, sondern nur nach einer Analogie
mit derselben308 seien und mithin also: Metaphern. Wenn man bedenkt,
dass auch die zentrale Kategorie, mit der Kant die schematische von der
symbolischen Hypotypose abgrenzen mchte unterlegen offen-
sichtlich selbst metaphorisch ist, erscheint diese zentrale Differenz des
59 vollkommen instabil.309 Auch die Unterscheidung zwischen schemati-
schen und symbolischen Hypotyposen wird weder die Klarheit der
philosophischen Sprache retten knnen noch die Mglichkeit ausschlie-
en knnen, dass menschliche Einbildungskraft das Zeichen eines Dings
mit dem Ding selbst verwechselt.
In den Trumen eines Geistersehers folgert Kant aus dieser Einsicht
einen radikalen Skeptizismus. Erst aus diesem Zusammenhang heraus er-
klrt sich das volle Gewicht der erkennbar von Humes Enquiry concer-
ning Human Understanding inspirierten Schlusspassage der Trume, in
der Kant das Problem der Kausalitt aufgreift und als ein Beispiel fr ein
vermeintliches Wissen ber die unsichtbare Welt nennt:

Ich wei wohl: da das Denken und Wollen meinen Krper bewege, aber ich
kann diese Erscheinung als eine einfache Erfahrung, niemals durch Zergliede-
rung auf eine andere bringen und sie daher wohl erkennen, aber nicht einsehen.
Da mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verstndlicher, als wenn je-
mand sagte, da derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurckhalten
knnte; der Unterschied ist nur dieser: da ich jenes erfahre, dieses aber nie-
mals in meine Sinne gekommen ist. [...] Alle solche Urteile, wie diejenige von
der Art, wie meine Seele meinen Krper bewegt, oder mit andern Wesen ihrer
Art jetzt oder knftig in Verhltnis steht, knnen niemals etwas mehr als Er-
dichtungen sein, und zwar bei weitem nicht einmal von demjenigen Werte, als
die in der Naturwissenschaft, welche man Hypothesen nennt [...].310

Wenn Kant von einer hnlichkeit zwischen Moralphilosophie und Go-


thic Novel bzw. Geistererzhlung ausgegangen war, dann erklrt
die These eines nur durch die Einbildungskraft berbrckbaren Wider-
spruchs zwischen der unsinnlichen und der sinnlichen Welt diese hn-
lichkeit gar zu einer Identitt: Nicht nur die Literatur, sondern auch die
Philosophie kann nicht anders als zu dichten. Kants Abhandlung ber
Trume eines Geistersehers spricht diese These nicht nur aus, sondern
fhrt sie auch fr den aufmerksamen Leser nicht bersehbar vor: Der

308 Ebd., S. 460 (KdU 59, B 257, A 253f.).


309 Vgl. de Man: Epistemologie der Metapher (wie Anm. 94), S. 433.
310 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 986 (Trume eines
Geistersehers, A 121ff.; Hervorhebung von mir, O. K.).

143
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Text spielt durchgehend mit seiner Literarizitt. Zwischenberschriften


wie Ein Vorbericht der sehr wenig vor die Ausfhrung verspricht,
Ein Fragment der geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Gei-
sterwelt zu erffnen, Eine Erzhlung, deren Wahrheit der beliebigen
Erkundigung des Lesers empfohlen wird und Ekstatische Reise eines
Schwrmers durch die Geisterwelt verweisen eher in die Sphre des Ro-
mans als in die der philosophischen Untersuchung. Ein vergleichbares
Spiel mit ironischen Kapitelberschriften bietet etwa Henry Fieldings
Tom Jones (1749), ein von Kant bekanntlich beraus hochgeschtzter
Roman.311
Jede Aussage ber die Beziehung eines Geistes zu seinem eigenen
Krper oder ber die Beziehung verschiedener Geister untereinander
(wie meine Seele meinen Krper bewegt, oder mit andern Wesen ihrer
Art jetzt oder knftig in Verhltnis steht) ist demnach eine Erdich-
tung. Eine Philosophie, die diese Fragen untersuchen will, kann nicht
umhin, Fiktion zu werden und Trumereien hervorzubringen. In seiner
Rezension zu Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch-
heit (1785) fragt Kant,

ob nicht der poetische Geist, der den Ausdruck belebt, auch zuweilen in die
Philosophie des Vf. eingedrungen; ob nicht hier und da Synonymen fr Erkl-
rungen und Allegorien fr Wahrheiten gelten; ob nicht, statt nachbarlicher
bergnge aus dem Gebiete der philosophischen in den Bezirk der poetischen
Sprache, zuweilen die Grenzen und Besitzungen von beiden vllig verrckt
sein; und ob an manchen Orten das Gewebe von khnen Metaphern, poetischen
Bildern, mythologischen Anspielungen nicht eher dazu diene, den Krper der
Gedanken wie unter einer Vertgade zu verstecken, als ihn wie unter einem
durchscheinenden Gewande angenehm hervorschimmern zu lassen.312

Wiederum ist hier das Stilideal des philosophischen Denkens und Schrei-
bens das Durchscheinen der Wahrheit aus ihrem sprachlichen Ge-
wand. Aber auch in dieser Passage ist Kants Kritik der Rhetorik durch
und durch rhetorisch, ist seine Ablehnung der metaphorischen Sprache in
einer vollkommen metaphorischen Sprache (durchscheinen, hervor-
schimmern) vorgetragen. Kant war es, der zuerst erkannt hat, dass die
Grenzen und Besitzungen zwischen der philosophischen und der
poetischen Sprache vllig verrckt sind. Es mag wie ein sprachli-

311 Vgl. Manfred Khn: Kant. Eine Biographie. bers. von Martin Pfeiffer.
Mnchen: Beck 2003, S. 159.
312 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 799f. (Rez. zu Jo-
hann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit, A 154).

144
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

cher Lapsus erscheinen, dass Kant davon spricht, die Grenzen zwischen
Poesie und Philosophie seien verrckt worden, aber wenn man sich an
seine Ausfhrungen aus dem Versuch ber die Krankheiten des Kopfes
und in den Trumen eines Geistersehers erinnert, wird man die aueror-
dentliche Przision dieser Formulierung anerkennen mssen. Verrckt zu
sein bedeutet fr Kant genau der Zustand, in dem das Ich nicht mehr
sicher sein kann, ber seine eigene Sprache zu verfgen (und also philo-
sophisch sprechend, den Sinn seines Sprechens zu kontrollieren). Jeder-
zeit muss es vielmehr damit rechnen, dass seine Vorstellungen nichts an-
deres sind als irregulre Produkte einer wilden und unkontrollierbaren
(und deshalb poetischen) Einbildungskraft. Die Trume eines Geister-
sehers beschreiben diesen Zustand als die Verfassung des Ich berhaupt.
Damit stellt sich die Frage, wie Kant noch eine Abgrenzung gegen-
ber den Schwrmereien, dem Unsinn und Wahnsinn Sweden-
borgs vollziehen kann. Wie kann er Swedenborg vorwerfen, lediglich
Privaterscheinungen zu beschreiben, wenn jede metaphysische Unter-
suchung nur eine Erdichtung sein kann?
Die Kritik Kants an Swedenborg zielt bei genauem Hinsehen nicht
einfach auf den literarischen Charakter seiner Erzhlungen. Vielmehr
zielt Kants Argument darauf, dass Swedenborg zwar grundlegende An-
nahmen seiner eigenen Moralphilosophie teilt, aber den fr Kant ent-
scheidenden Widerspruch zwischen der unsichtbaren und der sichtba-
ren Welt zwischen Moral und Physis, zwischen Freiheit und Natur
zumindest fr seine eigene Person negiert. So schreibt Kant:

Alle Menschen stehen seiner Aussage nach in gleich inniger Verbindung mit
der Geisterwelt; nur sie empfinden es nicht, und der Unterschied zwischen ihm
und den andern besteht nur darin, da sein Innerstes aufgetan ist, von welchem
Geschenk er jederzeit mit Ehrerbietigkeit redet [...]. Er unterscheidet daher an
dem Menschen das uere und innere Gedchtnis. Jenes hat er als eine Person,
die zu der sichtbaren Welt gehrt, dieses aber kraft seines Zusammenhanges
mit der Geisterwelt. Darauf grndet sich auch der Unterschied des ueren und
inneren Menschen, und sein eigener Vorzug besteht darin, da er schon in die-
sem Leben als eine Person sich in der Gesellschaft der Geister sieht, und von
ihnen auch als eine solche erkannt wird.313

Swedenborg ist damit dem Reiz der Vorstellung einer Harmonie


zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt erlegen, der Kant in einige
Parteilichkeit gegen sie versetzt hat. Schlimmer noch: Swedenborg be-
merkt die Kluft zwischen beiden Welten durchaus wie knnte er sonst
erklren, dass nicht jeder Mensch ber seine Fhigkeiten verfgt? , aber

313 Ebd., Bd. 1, S. 975f. (Trume eines Geistersehers, A 101f.).

145
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

er reklamiert fr seine eigene Person die Ausnahme, dass ihm allein


sein Innerstes aufgetan sei und nur er als menschliches Wesen einen
direkten Kontakt zu seiner bersinnlichen Seite gewonnen habe. In Wirk-
lichkeit jedoch, so Kant, sind Swedenborgs Erzhlungen eine fortlau-
fende Projektion des inneren Sinnes in den ueren, der Einbildungs-
kraft in die hier nicht sinnliche, sondern vernnftige Anschauung.
Die Gegenwart der Geister, schreibt Kant, trifft zwar nur seinen in-
nern Sinn. Dieses erregt ihm aber die Apparenz derselben als auer ihm,
und zwar unter einer menschlichen Figur. Die Geistersprache ist eine un-
mittelbare Mitteilung der Ideen, sie ist aber jederzeit mit der Apparenz
derjenigen Sprache verbunden, die er sonst spricht, und wird vorgestellt
als auer ihm.314 Und sofern Swedenborg tatschlich Kontakt zu Gei-
stern hat, folgert Kant, verleitet er diese zu dem gleichen Mechanismus
der Projektion:

Ein Geist liest in eines anderen Geistes Gedchtnis die Vorstellungen, die die-
ser darin mit Klarheit enthlt. So sehen die Geister in Schwedenbergen seine
Vorstellungen, die er von dieser Welt hat, mit so klarem Anschauen, da sie
sich dabei selbst hintergehen und sich fters einbilden, sie sehen unmittelbar
die Sachen, welches doch unmglich ist, denn kein reiner Geist hat die min-
deste Empfindung von der krperlichen Welt [...].315

Kant kritisiert demnach an Swedenborg nicht etwa einen Mangel an Ver-


nunft, sondern scheinbar gerade im Gegenteil einen Mangel an Ein-
sicht in die Grenzen der Vernunft. Was Kant an den Erzhlungen Swe-
denborgs auszusetzen hat, ist demnach nicht ihre Fiktionalitt als solche,
sondern ihre Leugnung der Unberbrckbarkeit zwischen Geisterwelt
und materieller Welt sowie ihre Harmonisierung des Widerspruchs zwi-
schen beiden Welten. So wie die Trume Swedenborgs jederzeit die
eigentlichen Trume der Metaphysik sind, so ist sein Wahnsinn ein
Wahnsinn der Vernunft das Verlangen grenzenloser, unendlicher Er-
kenntnis der Vernunft durch ein unmittelbares Anschauen.316
Wenn die Mglichkeit des Wahnsinns und diejenige aller Formen
des Irrtums, der Tuschung oder der Verstellung , wie aus dem Versuch
ber die Krankheiten des Kopfes hervorgeht, aus der prinzipiellen Ange-
wiesenheit des menschlichen Verstandes auf die Einwirkung der Einbil-
dungskraft hervorgeht, dann ist es das ironische Schicksal Swedenborgs,
seiner Einbildung umso grndlicher zum Opfer zu fallen, indem er ihr je-
de Mitwirkung an seinen Anschauungen abstreitet (und statt dessen ein

314 Ebd., S. 976 (Trume eines Geistersehers, A 103).


315 Ebd.
316 Ebd., S. 978 (Trume eines Geistersehers, A 106).

146
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

unmittelbares Anschauen seiner Vernunft behauptet). Der Irrtum, die


Tuschung oder der Wahnsinn Swedenborgs liegt darin, die Mglichkeit
des Wahnsinns negieren zu wollen.
Wenn Moralphilosophie fr Kant eine Affinitt zur Gothic Novel be-
sitzt, so lehnt er Swedenborg ab, weil dieser sie als eine Idylle betreibt
in dem Sinne, in dem Roland Barthes eine Kommunikation, die zwei
Partner vor jedem (im kybernetischen Sinn des Terminus) Gerusch ge-
schtzt in Verbindung bringt, und die untereinander durch eine einfache
Bestimmung wie durch einen Draht verbunden sind,317 idyllisch nennt.
Die Erzhlungen und Mrchen Swedenborgs betreiben eine falsche
Harmonisierung des eigentlichen Problems der Moralphilosophie, des
bergangs zwischen der Welt der Freiheit und der der Erscheinungen.318
Dass Swedenborgs Beschreibung der Geisterwelt nichts als eine Pro-
jektion seiner Einbildungskraft ist, kann Kant demnach nachweisen, in-
dem er darauf hinweist, dass die Geisterwelt rumlich gestaltet ist
was sie nicht sein drfte , und zwar nach dem Modell des locus amoe-
nus aus der idyllischen Literatur: Er [Swedenborg] redet also von Gr-
ten, weitlufigen Gegenden, Wohnpltzen, Galerien und Arkaden der
Geister, die er mit eigenen Augen in dem klresten Lichte she.319

Der trumende Metaphysiker

Getreu dem Motto aus Horaz Ars Poetica sind die Trume eines Gei-
stersehers demnach zugleich eine bung in angewandter Literaturkritik
wie auch ein Entwurf von Kants eigenem literarischen Knnen. Kants
Kritik an Swedenborgs Geistererzhlungen verfolgt so ein doppeltes
Ziel: Zum einen geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen die
Metaphysik den Status einer Wissenschaft erwerben kann, so wie es der
Physik unter der Anleitung Newtons fr Kant gelungen ist. Zum anderen
geht es um die Frage nach der Mglichkeit der Abwehr populren Aber-

317 Roland Barthes: S/Z [1970]. bers. von Jrgen Hoch. 3. Aufl. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1998 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 687),
S. 133.
318 In diesem Sinn beschreibt Liliane Weissberg sie auch als Bildungsro-
man, den Kant ablehnen mu, weil sich die Hirngespinste der Ein-
bildung in ihm zu verfhrerisch zeigt (Liliane Weissberg: Catarcticon
und der schne Wahn. Kants Trume eines Geistersehers, erlutert durch
Trume der Metaphysik. In: Poetica. Zeitschrift fr Sprach- und Litera-
turwissenschaft 17 [1985], S. 96-116, hier: S. 103f.).
319 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 979 (Trume eines
Geistersehers, A 108).

147
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

glaubens und den damit zusammenhngenden, gerade in der Mitte des


18. Jahrhunderts verbreiteten Formen des offenen Irrationalismus. Beide
Ziele hngen denkbar eng zusammen, ihr Verhltnis zueinander gestaltet
sich allerdings, wie Kants Ausfhrungen zeigen, nicht unproblematisch.
Kant sieht nun die Zeit gekommen, in der die Metaphysik aufhrt zu
trumen, und in der die Metaphysiker beginnen, einen gemeinsamen
Wachzustand zu erreichen. Wenn er sich die zeitgenssischen Luftbau-
meister der Metaphysik betrachte, schreibt Kant,

denjenigen etwa, welcher die Ordnung der Dinge, so wie sie von Wolffen aus
wenig Bauzeug der Erfahrung aber mehr erschlichenen Begriffen gezimmert,
oder die, so von Crusius durch die magische Kraft einiger Sprche vom Denkli-
chen und Undenklichen aus nichts hervorgebracht worden, [...] so werden wir
uns bei dem Widerspruche ihrer Visionen gedulden, bis diese Herren ausgetru-
met haben.320

Unter welchen Bedingungen aber ist es mglich, dass die Philosophen


einmal, so Gott will, [...] eine gemeinschaftliche Welt bewohnen321
knnen? Sie mssen, so die Antwort der Trume, beginnen, ber ihre ei-
gene Ttigkeit und ber die Grenzen ihres Vermgens nachzudenken.
In so ferne, lsst Kant bereits hier die Kritik der reinen Vernunft an-
klingen, ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der
menschlichen Vernunft.322 Das gemeinsame Wachen der Philosophen
ist von vornherein an die Anerkennung der Limitierung der eigenen Ver-
nunft gebunden. Ein wachsamer Metaphysiker zu sein bedeutet demnach:
die Kluft zwischen der moralischen und der sinnlichen, zwischen
der unsichtbaren und der sichtbaren Welt zu erkennen. Wenn also Wach-
sein bedeutet, die notwendige Rolle der Einbildungskraft (bzw. der Phan-
tasie) fr die Vermittlung zwischen beiden Welten zu bemerken, dann
wird das Wissen ber die stetige Einwirkung des Nichtwachseins zur
notwendigen Bedingung des Wachseins. Unausweichlich erscheint es als
die einzig mgliche Einsicht des Wachenden, niemals sicher sein zu kn-
nen, wach zu sein.
Wenn zudem unter den Bedingungen der Trennung zwischen mora-
lischer und physischer Welt die Einbildungskraft und ihre Zeichen,
die Sprache das einzige Mittel ist, ber das sich die einzelnen Philoso-
phen nicht nur mit ihrer eigenen vernnftigen Persnlichkeit, sondern
auch untereinander austauschen knnen, dann muss gerade der Zustand
des gemeinsamen Wachens jederzeit auch ein Zustand des Tru-

320 Ebd., S. 952 (Trume eines Geistersehers, A 57f.).


321 Ebd. (Trume eines Geistersehers, A 58f.).
322 Ebd., S. 983 (Trume eines Geistersehers, A 115).

148
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)

mens sein. Die Wirksamkeit der Einbildungskraft als Kraft der Vermitt-
lung zwischen dem Geisterreich und dem der sichtbaren Welt zeigt
sich jederzeit in den Phnomenen des Wahnsinns, der sympathetischen
Vergemeinschaftung. Kant lehnt bestimmte Phnomene des kollektiven
Wahns als Aberglaube ab und muss dennoch ihre Wirkung anerken-
nen. So schreibt er:

Denn es ist zu allen Zeiten so gewesen und wird auch wohl knftighin so blei-
ben, da gewisse widersinnige Dinge, selbst bei Vernnftigen Eingang finden,
blo darum, weil allgemein davon gesprochen wird. Dahin gehren die Sympa-
thie, die Wnschelrute, die Ahndungen, die Wirkung der Einbildungskraft
schwangerer Frauen, die Einflsse der Mondwechsel auf Tiere und Pflanzen
u.d.g.323

So zhlt Kant die Sympathie zwar ebenso wie die vorgebliche schdli-
che Einwirkung der Einbildungskraft auf schwangere Frauen zu den wi-
dersinnigen Dingen, die ein Vernnftiger kaum glauben sollte. Im
gleichen Absatz zeigt sich jedoch, dass seine eigene Theorie der Einwir-
kung der Sprache auf Menschen grundlegend auf das Modell der sym-
pathetischen Einbildungskraft aufgebaut ist. Indem Kant den aufge-
zhlten Phnomenen ihren unmittelbar bernatrlichen Charakter
abspricht, erklrt er sie zu Produkten einer ausschweifenden und wil-
den Einbildungskraft was sie keinesfalls harmloser und weniger be-
drohlich macht.
In den Trumen eines Geistersehers zeigt sich demnach die gleiche
Paradoxie wie im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes. Die Bedin-
gung der Mglichkeit von Vergemeinschaftung das Vermgen der Mit-
teilung und Teilhabe: die Einbildungskraft bringt zugleich diejenigen
Pathologien hervor, die (als Trume dem Wachen) der Vergemein-
schaftung entgegenwirken: Tuschung, Verstellung, Wahnsinn. Wenn
die wie auch immer eingebildete Beeinflussung des anderen durch
das gesprochene Wort sich demnach aus der Struktur der Einbildungs-
kraft (und der Sprache) erklrt, dann ist es nur konsequent, wenn Kant
vor den wahnsinnstrchtigen Gefahren seines eigenen Textes warnt. So
bricht er seine Diskussion der Swedenborgschen Schilderungen des
Geisterreichs mit einer Bemerkung ab, die an die ironischen Gesten
des Versuchs erinnert:

Ich bin es mde, die wilden Hirngespinste des rgsten Schwrmers unter allen
zu kopieren, oder solche bis zu seinen Beschreibungen vom Zustande nach dem
Tode fortzusetzen. Ich habe auch noch andere Bedenklichkeiten. Denn ob

323 Ebd., S. 969 (Trume eines Geistersehers, A 90f.).

149
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

gleich ein Natursammler unter den prparierten Stcken tierischer Zeugungen


nicht nur solche, die in natrlicher Form gebildet sein, sondern auch Migebur-
ten in seinem Schranke aufstellt, so mu er doch behutsam sein, sie nicht jeder-
mann und nicht gar zu deutlich sehen zu lassen. Denn es knnten unter den
Vorwitzigen leichtlich schwangere Personen sein, bei denen es einen schlim-
men Eindruck machen drfte. Und da unter meinen Lesern einige in Ansehung
der idealen Empfngnis eben sowohl in andern Umstnden sein mgen, so wr-
de es mir leid tun, wenn sie sich hier etwa woran sollten versehen haben.324

Die Trume eines Geistersehers enthalten nicht nur das Bekenntnis ihres
Autors, in den Schriften des Geistersehers eine beunruhigende hn-
lichkeit zu den eigenen berlegungen vorgefunden zu haben, sondern sie
sind zugleich basierend auf ihrer Theorie der Einbildung eine stetige
Gefhrdung, ihre Leser gleichfalls in Geisterseher zu verwandeln.

324 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 981 (Trume eines
Geistersehers, A 112).

150
III. Z W I S C H E N E N T H U S I A S M U S U N D
M E S M E R I S M U S : L I T E R A T U R , D E R A N D E R E
W A H N S I N N (E.T.A. H O F F M A N N )
Warum denke ich schlafend und
wachend so oft an den Wahnsinn?
(E.T.A. Hoffmann: Tagebcher, 06. Januar
1811)

Jeder, der mit einiger Phantasie begabt, soll,


wie es in irgendeinem lebensklugheitsschweren
Buche geschrieben steht, an einer Verrcktheit
leiden, die immer steigt und schwindet wie Flut
und Ebbe.
(E.T.A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla)

III. 1 Wahnsinn und Ironie


(Friedrich Schlegel)

Potenzierte Reflexion

Das vielzitierte 116. Athenumsfragment von Friedrich Schlegel stellt


der romantischen Poesie die Aufgabe, sich jederzeit selbst zu bespie-
geln. Sie soll, schreibt Schlegel,

gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeit-
alters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten
und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Fl-
geln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer
wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfa-
chen.1

1 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst


Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. [Bis-
her:] Bd. 1-14, Bd. 16-23. Paderborn u. a.: Schningh, Zrich: Thomas
1958-1995, Bd. 2, S. 182f. (Athenums-Fragmente, Nr. 116).

151
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

In nuce enthalten diese Stze zentrale Gedanken der Literaturtheorie


Schlegels. Literatur wird hier, allen Vorurteilen des zwanzigsten Jahr-
hunderts der Romantik gegenber zum Trotz, wenn auch nicht als Wis-
sen, so doch als eine Suche nach Wissen bestimmt. Sie versucht, die
umgebende Welt wie ein Spiegel darzustellen und abzubilden, doch
zugleich und am meisten kann sie sich selbst einen Spiegel vorhalten,
den Lichtstrahl auf sich selbst zurckwerfen (reflektieren) und ein
Wissen ber sich selbst erhalten. Romantische Literatur ist nicht nur ein-
fach Poesie, sondern stets zugleich ein Wissen ber Poesie. Wenn die
Literatur sich aber der Forderung gegenbersieht, ber sich selbst zu wis-
sen, dann kann dieses Wissen nicht mehr als ein schlicht poetologisches
Wissen bezeichnet werden. Denn sie wei nicht etwas ber sich, sondern
muss, will sie sich wirklich selbst spiegeln, wissen, was es heit, ber
sich selbst zu wissen. Sie kann nicht nur sich selbst darstellen, sondern
sie muss zugleich darstellen, was es bedeutet, sich selbst darzustellen.
Es reichte nicht aus, wrde sie nur ein poetologisches Wissen ber
literarische Techniken und Stile besitzen. Ihre Aufgabe ist bedeutsamer
und universeller und nicht ohne Grund nennt Schlegel die romantische
Literatur im zitierten Fragment eine progressive Universalpoesie. In
diesem Sinn bemerkt Blanchot, bei der Forderung nach selbstreflexiver
Poesie handle es sich nicht mehr um Poetologie, um nebenschliches
Wissen: es geht um das Herzstck der Poesie, das Wissen ist, es geht um
ihr Wesen, Suche und Selbstsuche zu sein.2
Schlegels Vergleich dieser Selbstreflexion mit einem sich spiegeln-
den Spiegel weist zugleich darauf hin, dass die Suche der Literatur nach
sich selbst nie zu einem Ende kommen kann. Der Versuch, ber sich
selbst zu wissen, bleibt notwendig eine Aufgabe, ein Projekt. Die Unab-
schliebarkeit der selbstbetrachtenden Ttigkeit liegt in der Logik der
Reflexion begrndet. Weil die Reflexion das Selbst in einen reflektie-
renden und einen reflektierten Teil aufteilt, entgeht ihr in der Beobach-
tung notwendig derjenige Teil, der reflektiert und deswegen nicht reflek-
tiert wird. In diesem Sinn spricht Schlegel davon, dass die romantische
Literatur zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden [...]
schweben kann, denn sie steht vor der unmglichen Aufgabe, beides zu-
gleich in den Blick zu bekommen. Die Reflexion kann das eigene
Selbst nicht darstellen, weil sie es notwendig transformiert und ver-
vielfltigt. Nur eine weitere Reflexion kann versuchen, beide Teile zu
beobachten, aber auch diese bringt eine erneute Spaltung des zu beobach-
tenden Objekts hervor.

2 Maurice Blanchot: Das Athenum [1969]. In: Romantik. Literatur und Phi-
losophie. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987
(edition suhrkamp. 1395), S. 107-120, hier: S. 110.

152
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Ebenso wie ein gespiegelter Spiegel sich in einer endlosen Reihe


vervielfltigt, muss sich die Reflexion immer wieder potenzieren und
kann sich selbst dennoch niemals einholen. Die Aufgabe, das eigene
Selbst darzustellen, erweist sich als unendlich, denn sobald sie ihr Ziel zu
erreichen versucht, rckt sie es in die Ferne. Selbstreflexion ist damit zu-
gleich eine unendliche wie eine unmgliche Aufgabe, denn sie bringt
notwendig die Erkenntnis hervor, das eigene Selbst nicht gefunden zu
haben. Statt des eigenen Spiegelbildes macht die Selbstreflexion damit
eine unendliche Reihe sich spiegelnder Facetten sichtbar. Das Ergebnis
der Selbstreflexion ist, dass sich das Selbst der Reflexion entzieht. Das
Selbst wird im Zuge der Selbstreflexion dunkel und unerreichbar. Im Ge-
folge der kritischen Philosophie Kants ist Schlegels Transzendentalpoe-
sie in diesem Sinn stets auf der Suche nach den Grenzen des eigenen
Wissens und des Wissbaren berhaupt.
Man wird Schlegels Ausfhrungen ber die Ironie in diesem Kontext
einer allgemeinen Frage nach der Mglichkeit literarischer Selbstrefle-
xion und Selbstreferenz verstehen mssen. Ironie ist der Name Schlegels
fr die sprachliche Figur, die das Wissen eines Ich ber seine Unfhig-
keit bezeichnet, seine eigene Sprache beherrschen und kontrollieren zu
knnen. Insofern Schlegel im Gefolge Fichtes die Beziehung eines Ich zu
sich selbst als einen sprachlichen Akt versteht, hat diese Unfhigkeit
schwerwiegende Folgen fr die Konzeption des Ich. Ironie bezeichnet
nicht zuletzt das Wissen eines Ich um die Unerreichbarkeit des Selbst fr
jede Selbstreflexion.

Ironie und Positionslosigkeit

Bekanntlich verzichtet Schlegel auf jede Definition der Ironie, denn ihr
Wesen wird fr ihn gerade dadurch bestimmt, durch nichts bestimmt wer-
den zu knnen. Schlegel geht ber die traditionelle Bestimmung der Iro-
nie als rhetorischer Trope A sagen und B meinen hinaus, indem er
Ironie als eine Eigenschaft von Sprache und des Verhltnisses von Spra-
che zum Sprechenden versteht. Zuallererst ist Ironie fr Schlegel nichts,
was ein Subjekt bewusst, als stilistisches Mittel, einsetzt, um sich zu
verstellen. Die Sokratische Ironie, schreibt Schlegel in den Kriti-
schen Fragmenten, ist die einzige durchaus unwillkrliche, und doch
durchaus besonnene Verstellung.3 Ironie wird so zu einem universalen

3 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.


160 (Kritische Fragmente, Nr. 108).

153
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Prinzip;4 sie ist nicht mehr an die Intention eines Autors gebunden, son-
dern ein Merkmal von Sprache berhaupt.
Gleichzeitig bezeichnet es eine Beziehung eines Ich zu sich selbst.
Sie ist die freieste aller Lizenzen, fhrt Schlegel im gleichen Fragment
fort, denn durch sie setzt man sich ber sich selbst weg.5 Diese Be-
hauptung lsst sich mit der traditionellen Perspektive auf die Ironie ver-
einbaren, nach welcher der Ironiker sich verstellt, eine Maske trgt der-
jenige also ist, der nicht sein wahres Ich zeigt, sondern ein erfundenes.
Schlegel denkt Ironie nicht als ein willkrliches Medium der Verstellung,
sondern eher als ein Prinzip der Beziehung zu sich selbst. Indem der Iro-
niker sich ber sich selbst hinwegsetzt, erschafft er ein zweites Ich und
verdoppelt sich dadurch. Es handelt sich jedoch dabei weder um einen
Prozess, den der Ironiker bewusst ausfhrt, noch um einen, den er wie
auch immer kontrolliert. Der Ironiker ist nur derjenige, der um die Ironie
wei, der sie als solche anerkennt.
Schlegel rumt ein, dass die Ironie ein Rtsel ist und bleiben muss:
Es ist gleich unmglich sie zu erknsteln, und sie zu verraten. Wer sie
nicht hat, dem bleibt sie auch nach dem offensten Gestndnis ein Rt-
sel.6 Ein Rtsel ist die Ironie vor allem deshalb, weil sie die Unterschei-
dung zwischen Scherz und Ernst untergrbt: In ihr soll alles Scherz und
alles Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt.7 Ironie ist
damit nicht, wie es die klassische rhetorische Theorie der Ironie an-
nimmt, einfach das Gegenteil von Ernst. Wenn in ihr alles Scherz und al-
les Ernst sein soll, fhrt sie vielmehr eine Ununterscheidbarkeit zwischen
Scherz und Ernst herbei: Jeder Ernst wird durch die Ironie scherzhaft und
jeder Scherz ernst.8
Etwas ironisch zu sagen, bedeutet demgem, in der Form eines not-
wendigen und jederzeitigen Widerspruchs der Sprache zu sich selbst zu
sprechen, die jeden Scherz auch als Ernst und jeden Ernst auch als
Scherz erscheinen lassen kann. Ironie ist die Form des Paradoxen,9
heit es im 48. Kritischen Fragment. Entsprechend umschreibt Schlegel

4 Beda Allemann: Ironie und Dichtung [1956]. 2. Aufl. Pfullingen: Neske


1969, S. 56.
5 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.
160 (Kritische Fragmente, Nr. 108).
6 Ebd.
7 Ebd.
8 Vgl. David Martyn: Fichtes romantischer Ernst. In: Sprachen der Ironie
Sprachen des Ernstes. Hrsg. von Karl Heinz Bohrer. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2000 (edition suhrkamp. 2083), S. 76-90, hier: S. 80.
9 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.
153 (Kritische Fragmente, Nr. 48).

154
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

das Wesen der Ironie mit einer ganzen Reihe variierender Wortpaarun-
gen, die allesamt widersprchlich sind und im Fall des gleichzeitigen
Auftretens zu Paradoxien fhren mssen. In der Rede ber die Mytholo-
gie spricht Schlegel von einem wunderbaren ewigen Wechsel von En-
thusiasmus und Ironie, in einem Athenums-Fragment wiederum in Be-
griffen Fichtes von einem steten Wechsel von Selbstschpfung und
Selbstvernichtung.10 Insofern sich die Ironie nicht durch die Intention
eines Sprechenden beherrschen lsst, kann sie auch nicht auf eine dezi-
diert ironische Sprechweise begrenzt werden. Solange die Mglichkeit
von Ironie niemals ausgeschlossen werden kann, muss jede ernsthafte
Aussage damit rechnen, durch die ihr immer schon eigene Ironie gestrt
und in puren Scherz berfhrt zu werden. Statt einer Umkehrung der Po-
sitionen hebt sie die Gewissheit einer Position berhaupt auf.11
Ironie ist in Schlegels Konzept wesentlich die Bezeichnung fr eine
der Sprache eigene Macht, sich dem Willen desjenigen zu widersetzen,
der mit ihr operieren will. Sie kann, wie Schlegel in ber die Unver-
stndlichkeit schreibt, in einer ganzen Reihe von Fllen wild werden:

Wenn man ohne Ironie von der Ironie redet, wie es soeben der Fall war; wenn
man mit Ironie von der Ironie redet, ohne zu merken, da man sich zu eben der
Zeit in einer andren viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder
aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch ber die Unver-
stndlichkeit zu sein scheint; wenn die Ironie Manier wird, und so den Dichter
gleichsam ironiert; wenn man Ironie zu einem berflssigen Taschenbuche ver-
sprochen hat, ohne seinen Vorrat vorher zu berschlagen und nun wider Wille
Ironie machen mu [...]; wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr
regieren lt.12

Die Ironie ist so dasjenige an der Sprache, das sich gar nicht mehr re-
gieren lt, dasjenige, was a priori nicht der Kontrolle eines sprechen-
den Subjekts unterworfen ist. Ironische Sprache ist eine Sprache, die von
keinem Sprechenden beherrscht und reguliert wird. Die Ironie entwickelt
ein Eigenleben, sie tritt auf, wo man sie nicht vermutet und selbst dort,

10 Ebd., S. 172 (Athenums-Fragmente, Nr. 51).


11 In diesem Sinn schreibt Hans-Jost Frey przise: Ironie ist nicht etwas, das
dem Ernst gegenbersteht, sondern Ironie bedeutet, da der Ernst immer
schon unterhhlt ist. Ironie ist deshalb nicht eine Gegenposition zum Ernst,
sondern sie ist Positionslosigkeit als Auerkraftsetzung jeglicher Position
(Hans-Jost Frey: ber das Spiel. In: ders.: Der unendliche Text. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1990, S. 263-294, hier: S. 273).
12 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.
369 (ber die Unverstndlichkeit).

155
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

wo der Dichter sie explizit nicht haben will (Wenn man ohne Ironie
von der Ironie redet). Sodann aber ist jede Sprache potentiell ironisch,
wird jeder Ernst potentiell von einem Scherz infiziert und umgekehrt je-
der Scherz von einem Ernst.
Insofern Ironie die Form des Paradoxen ist, wie Schlegel schreibt,
bezeichnet sie denjenigen Punkt, an dem die Logik jeder sprachlichen
Aussage zur vollstndigen Unlogik wird. Es fllt schwer, sich hier nicht
an Novalis Monolog (1798) zu erinnern, in welchem behauptet wird,
dass die Sprache sich blos um sich selbst bekmmert, weshalb es ein
lcherlicher Irrthum sei, da die Leute meinen sie sprchen um der
Dinge willen.13 Wenn die Sprache sich nur um sich selbst bekmmert,
liegt es allein in ihrer Macht und nicht in derjenigen eines Sprechers ,
zu bestimmen, was sie sagt und was nicht. Es ist eigentlich, schreibt
Novalis,

um das Sprechen und Schreiben eine nrrische Sache; das rechte Gesprch ist
ein bloes Wortspiel. [...] Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Ge-
heimni, da wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlich-
sten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten
sprechen, so lt ihn die launige Sprache das lcherlichste und verkehrteste
Zeug sagen.14

Das Bewusstsein dieser Eigenmchtigkeit der Sprache, das paradoxe


Bewusstsein einer endgltigen Unerreichbarkeit allen Bewusstseins ist
es, welches Friedrich Schlegel als Ironie begreift. Schreiben erweist
sich als Werk der Rede, dieses Werk aber bedeutet Entwerkung (dsu-
vrement), kommentiert Blanchot. Poetisch reden ist die Mglichkeits-
bedingung einer intransitiven Sprache, deren Aufgabe nicht im Sagen der
Dinge (im Aufgehen in dem Bedeuteten), sondern im (sich) Sagen, in
dem man sich sagen lt, ohne allerdings aus sich selbst den neuen Ge-
genstand dieser gegenstandslosen Rede zu machen.15
Sprechen, um zu sprechen, wie Novalis schreibt; sich sagen las-
sen, wie Blanchot formuliert: Hier wie dort geht es um die Erfahrung,
dass Sprache sich nicht beherrschen lsst, nicht in einer Funktion (des
Bezeichnens) verschwindet, sondern im Augenblick des Sprechens etwas
stets Unvorhersehbares und Unkontrollierbares geschehen lsst.

13 Novalis: Werke, Tagebcher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg.


von Hans-Joachim Mhl und Richard Samuel. Bd. 1-3. Mnchen, Wien:
Hanser 1978, Bd. 2, S. 438 (Monolog).
14 Ebd.
15 Blanchot: Das Athenum (wie Anm. 2), S. 116.

156
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Ironie ist in diesem Sinn das Wissen des Ich, dass es seine eigene
Sprache nicht beherrschen kann und das lcherlichste und verkehrteste
Zeug sagen muss, sobald es dies versucht. Damit ist sie ein transzenden-
talpoetisches Wissen ber die Grenzen des sprachlich Sagbaren und
Wissbaren par excellence. Demnach wre es ein Irrtum, zu behaupten,
die Ironie sei fr Schlegel ein medialer Bestandteil in der reflexiven Dia-
lektik des Ich.16 Wenn Schlegel jede Beziehung des Ich zu sich selbst
sprachlich denkt und wenn Ironie die Bezeichnung fr die Unfhigkeit
des Ich ist, ber seine eigene Sprache zu verfgen, dann ist Ironie kein
Element und kein Medium im Prozess der Reflexion, sondern vielmehr
die sprachliche Vorbedingung fr dessen notwendiges Scheitern.
Ironie ist dasjenige, was jede sichere Aussage ber sich selbst verhin-
dert, indem sie es schlagartig als das verkehrteste Zeug erscheinen lassen
kann. Sie bringt jeden Versuch, das eigene Selbst zu verstehen, notwen-
dig zum Scheitern, denn sie zeigt, dass das Ich noch nicht einmal die
Sprache verstehen kann, in der es diesen Versuch unternimmt. Unter die-
sen Bedingungen muss sich jede Beziehung des Ich zu sich selbst im-
mer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln
vervielfachen. Andererseits aber ist diese Distanzierung des Ich zu sich
selbst als ein Produkt der Ironie zu verstehen, insofern sie es dem Spre-
cher ermglicht, von seinen eigenen sprachlichen uerungen berrascht
zu werden oder sie unverstndlich zu finden und ihn so dazu bringt, sich
selbst zu einem kognitiven Objekt zu machen. Diese berraschung anti-
zipierend, verdoppelt sich der Sprechende gewissermaen, indem er Be-
obachtender und Beobachteter zugleich zu sein versucht. In einer spten
Vorlesung ber die Philosophie der Sprache und des Wortes bemerkt

16 Vgl. Manfred Frank: Allegorie, Witz, Fragment, Ironie. Friedrich Schlegel


und die Idee des zerrissenen Selbst. In: Allegorie und Melancholie. Hrsg.
von Willem van Reijen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (edition suhr-
kamp. 1704), S. 124-146. Mit Recht wendet de Man ein, die Reduzierung
der Ironie to a dialectic of the self as a reflexive structure sei eine
Methode, in welcher die Ironie can be in a sense defused (Paul de Man:
The Concept of Irony [1977]. In: ders.: Aesthetic Ideology. Hrsg. von An-
drzej Warminski. Minneapolis, London: University of Minnesota Press
1996 [Theory and History of Literature. 65], S. 163-184, hier: S. 169). Ein
Fehler wre es freilich andererseits anzunehmen, Schlegel wrde Ironie als
stilistisches Mittel, als literarische Technik konzipieren, wie es immer ge-
schieht (vgl. etwa Morton Gurewitch: The Comedy of Romantic Irony.
Lanham, New York, Oxford: University Press of America 2002, S. 59-84).

157
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Schlegel, Ironie sei nichts andres, als dieses Erstaunen des denkenden
Geistes ber sich selbst.17
Indem Ironie die Beherrschbarkeit von Sprache durch etwaige Inten-
tionen des Sprechers negiert, ist sie die Eigenschaft von Sprache, die eine
Selbstreflexion des Ich ermglicht. Indem sie den Abschluss dieser Re-
flexion zugleich ins Unendliche hinausschiebt, verunmglicht sie diese
jedoch im gleichen Augenblick. Ironie ist damit nicht ein Beispiel fr
Schlegels allgemeine Theorie der Reflexion, sie ist vielmehr deren Figur
selbst, indem sie die Reflexion zugleich provoziert und verhindert.

Die Unerreichbarkeit des Bewusstseins fr das Selbst


Die Verkehrtheit und Verrcktheit der Poesie

Die Bedeutung der Reflexion fr Schlegel ist freilich nur vor dem Hinter-
grund seiner geschichtsphilosophischen Grundthesen zu verstehen, wie
sie bereits in seinem frhen Text ber das Studium der Griechischen
Poesie entfaltet werden. Der Unterschied zwischen Antike und Moderne
wird hier beschrieben als der Gegensatz zwischen natrlicher und
knstlicher Bildung.18
Schlegel bersetzt diese Differenz in die Unterscheidung zwischen
Zusammenhang und Zerstckelung: Whrend die Antike durch einen na-
trlich gegebenen Zusammenhang von Ich und Welt geprgt war, ist die
Moderne durch die Emanzipation des Verstandes geprgt, der beginnt,
die Dinge analytisch zu trennen, zu unterscheiden und zu kritisieren.
Poesie ist somit jeweils das Organ, in dem eine mentale Disposition
man ist versucht, zu sagen: ein Geist zum Erscheinen kommt. Die
Unterscheidung zwischen den leitenden Krften einer Epoche in der
Antike der natrliche Trieb, in der Moderne der Verstand begrndet die
unterschiedliche Art der historischen Entwicklung und Genese der jewei-
ligen Poesie. Indem Schlegel den Unterschied zwischen Antike und
Moderne als den zwischen Natur und Kunst beschreibt, muss er der
Antike jede Mglichkeit einer historischen Entwicklung absprechen.
Wenn das Wesen der antiken Kunst durch die Natur geprgt war, dann

17 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 12, S.


353 (Philosophie der Sprache und des Wortes). Vgl. Ernst Behler: Ironie
und literarische Moderne. Paderborn u.a.: Schningh 1997, S. 108.
18 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 1, S.
230 (ber das Studium der Griechischen Poesie). Vgl. hierzu und zum
Folgenden Peter Szondi: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie.
Mit einem Anhang ber Ludwig Tieck. In: Euphorion. Zeitschrift fr Lite-
raturgeschichte 48 (1954), S. 397-411, hier: S. 398f.

158
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

ist das Modell ihrer Genese der Organismus: Wie eine Pflanze wchst
sie, entwickelt und vollendet sich, und muss schlielich verblhen. So
schreibt Schlegel:

Wenn der gesammte zusammengesetzte menschliche Trieb nicht allein das be-
wegende sondern auch lenkende Prinzip der Bildung, wenn die Bildung natr-
lich und nicht knstlich [...] ist; so entwickeln, wachsen, und vollenden sich alle
Bestandteile der strebenden Kraft, der sich bildenden Menschheit gleichmig,
bis die Fortschreitung den Augenblick erreicht hat, wo die Flle nicht mehr
steigen kann, ohne die Harmonie des Ganzen zu trennen und zu zerstren.19

Mit dem Auftreten des Verstandes schlielich ndert sich die Szenerie:
Die Ganzheit zerbricht, gleichzeitig wird eine offene Entwicklung mg-
lich. Der isolierende Verstand, schreibt Schlegel, fngt damit an, da
er das Ganze der Natur trennt und vereinzelt.20 In einer spteren Notiz
heit es bndig: Classisch = fix, s[yn]th[etisch]. Progressiv = bewegt,
anal[ytisch].21 Weil ihre Einheit nicht mehr natrlich, sondern knstlich
ist, hat allein die moderne Kunst Geschichte und Entwicklung und darf
so progressiv, fortschreitend, genannt werden.
Wenn die moderne (oder progressive) Kunst eine Einheit besitzt,
kann diese nicht mehr durch die Natur vorgegeben werden, sondern sie
muss durch den Verstand hergestellt werden. Der Verstand muss also
durch eine erneute analytische Operation, durch eine Rckwendung auf
sich selbst, die Einheit herzustellen suchen, die er selbst durch sein ana-
lytisches Wesen zerstrt hat. In diesem Sinne fordert Schlegel eine
Transzendentalpoesie, welche in jeder ihrer Darstellungen sich selbst
mit darstellen, und berall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein22
soll.
Im Fragment ber die progressive Universalpoesie heit es ent-
sprechend, die romantische Poesie knne am meisten zwischen dem
Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen
Interesse auf den Flgeln der poetischen Reflexion in der Mitte schwe-
ben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen

19 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 1, S.


287 (ber das Studium der Griechischen Poesie).
20 Ebd., S. 245 (ber das Studium der Griechischen Poesie).
21 Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797-1801. Literary Notebooks.
Hrsg. von Hans Eichner. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1980,
S. 109 (Nr. 953).
22 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.
203 (Athenums-Fragmente, Nr. 238).

159
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Reihe von Spiegeln vervielfachen.23 Der Verstand des modernen Men-


schen kann, ebenso wie die Geschichte der progressiven Poesie, niemals
stillstehen. Indem er sich selbst reflektiert, versucht er, die Einheit von
Ich und Welt wiederzufinden, die sein Verstand vernichtet hat.
Insofern aber der Akt der Reflexion eine Einheit herzustellen ver-
sucht, die er (wie ein Spiegel) eigentlich abbilden msste, kann er den
Gegenstand seiner Darstellung niemals erreichen. Der Verstand kann
sein Denken reflexiv zum Objekt seines Denkens machen, aber dadurch,
dass der Verstand sich im Akt der Reflexion verdoppeln muss, kann er
sich niemals selbst bewusst werden. Die Reflexion verpasst sich notwen-
dig selbst. Der Prozess der Reflexion verstrickt sich somit in die Parado-
xie des nicht auf intellektueller Selbstanschauung beruhenden Selbstbe-
wusstseins, die bereits Fichte in seinem Versuch einer neuen Darstellung
der Wissenschaftslehre (1797) anschaulich vorfhrt:

Du bist deiner dir bewusst, sagst du; du unterscheidest sonach nothwendig


dein denkendes Ich von dem im Denken desselben gedachten Ich. Aber damit
du dies knnest, muss abermals das Denkende in jenem Denken Object eines
hheren Denkens seyn, um Object des Bewusstseyns seyn zu knnen; und du
erhltst zugleich ein neues Subject, welches dessen, das vorhin das Selbstbe-
wusstseyn war, sich wieder bewusst sey.24

Das Selbstbewusstsein bringt unweigerlich mit jedem Akt der Bewusst-


werdung ein neues Ich und ein neues Selbst hervor, auf das es sich dann
reflexiv beziehen kann. Sein eigenes Selbst aber ist ihm strukturell im-
mer um einen Augenblick zu spt kommend unerreichbar. Die Synthese
der Reflexion kann nicht dauerhaft gelingen, und ein weiterer Anlauf der
Reaktion muss versuchen, auf einer hheren Ebene eine Einheit herbei-
zufhren.
Hieraus ergibt sich eine unendliche Bewegung, eine schlechte Un-
endlichkeit, die entweder das Selbstbewusstsein oder das Selbstbewusst-
sein notwendig verpassen muss. Die bloe Reflexion [...], folgert
Schelling mit einiger Strenge, ist eine Geisteskrankheit des Menschen,
noch dazu, wo sie sich in Herrschaft ber den ganzen Menschen setzt,
diejenige, welche sein hheres Daseyn im Keim, sein geistiges Leben,
welches nur aus seiner Identitt hervorgeht, in der Wurzel tdtet.25

23 Ebd., S. 182f. (Athenums-Fragmente, Nr. 116).


24 Johann Gottlieb Fichte: Smmtliche Werke. Bd. 1-11. Hrsg. von Immanuel
Hermann Fichte. Berlin: de Gruyter 1971, Bd. 1, S. 526 (Versuch einer
neuen Darstellung der Wissenschaftslehre).
25 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur
als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft [1797]. In: ders.: Schrif-

160
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Fichte versucht, dieser Geisteskrankheit zu entkommen, indem er


das Spiegeln gegen das Sehen ersetzt. So kann man in einer Kollegsnach-
schrift lesen:

Denn nach 1 ist Bewutseyn ein sich selbst IDEALITER setzen: EIN SEHEN, und
zwar EIN SICH sehen. In dieser Bemerkung liegt der Grund aller Irrthmer ande-
rer philosophischer Systeme, selbst des Kantischen. Sie betrachten das ICH als
einen SPIEGEL, in welchem ein Bild sich abspiegelt, nun aber sieht bey ihnen
der Spiegel nicht selbst, es wird daher ein 2ter SPIEGEL fr jenen SPIEGEL erfor-
dert u.s.f. Dadurch aber wird das Anschauen nicht erklrt, sondern nur ein AB-
SPIEGELN. Das Ich in der Wiss=Lehre hingegen ist kein Spiegel, sondern ein
Auge; es ist ein sich ABSPIEGELNDER SPIEGEL, ist Bild von sich; durch sein eige-
nes sehen wird das Auge (die INTELLIGENZ) sich selbst zum Bilde.26

Der scheiternde Versuch, das Spiegeln selbst abzuspiegeln, bringt


nicht nur einen 2ten Spiegel, sondern immer weitere, zustzliche Spie-
gel und Spiegelungen hervor. Nur wenn das Ich nicht mehr abspiegelt,
sondern sieht, und zwar sein eigenes Sehen sieht, kann die Unendlichkeit
der Reflexion durch die Anschauung beendet werden. Schlegel folgt
Fichte jedoch nicht in dieser Suche nach einem Ausweg aus der Refle-
xion; indem er schreibt, die romantische Poesie solle ihre Reflexion
immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln
vervielfachen, wird die von Fichte gefrchtete und von Schelling Gei-
steskrankheit genannte Endlosigkeit der Spiegelungen zum Prinzip je-
des Selbstbezugs und zur poetologischen Maxime erklrt.
Szondi beschreibt die notwendige Potenzierung der Reflexion als ei-
nen sich selbst entsubstantialisierenden, sich selbst entleerenden Prozess,
in welchem die Scheinhaftigkeit der Welt und des eigenen Seins27 zu-

ten von 1794-1798. Unvernd. reprograf. Nachdruck d. Ausg. Stuttgart u.


Augsburg, Cotta, 1856 u. 1857. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell-
schaft 1980, S. 333-398, hier: S. 337. Vgl. Winfried Menninghaus: Unend-
liche Verdopplung. Die frhromantische Grundlegung der Kunsttheorie im
Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S.
55.
26 Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der bayerischen Akademie der
Wissenschaften. Hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Stuttgart-
Bad Canstatt: Frommann 1978, Bd. 4/2, S. 48f. (Kollegsnachschriften
1796-1804). Vgl. David E. Wellbery: The Specular Moment. Goethes Ear-
ly Lyric and the Beginnings of Romanticism. Stanford: Stanford University
Press 1996, S. 60.
27 Szondi: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie (wie Anm. 18), S.
402. Im Zusammenhang lautet das Zitat: Indem aber das Subjekt sich ge-
genstndlich wird, gewinnt es Distanz zu sich selbst, schaut sich und der

161
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

nimmt. Aber noch die Unterscheidung zwischen scheinhaft und real


kann nur durch ein reflexives Urteil erreicht werden und wird so von der
Unendlichkeit des reflexiven Prozesses verunmglicht. Ist nicht alle Re-
flection und alle Bildung nichts als Potenzirung?,28 bringt Schlegel des-
halb die notwendige Potenzierung und Selbstpotenzierung jedes Refle-
xionsaktes zum Ausdruck. Wie Walter Benjamin in seinem Buch ber
den Begriff der Kunstkritik bemerkt, zeigt sich im Umgang mit der un-
endlichen Potenzierung der Reflexion eine Differenz zwischen dem Mo-
dell Fichtes und der Aneignung dieses Modells durch Schlegel. Fichte
ist berall bestrebt, die Unendlichkeit der Aktion des Ich aus dem Be-
reich der theoretischen Philosophie auszuschlieen und in das der prakti-
schen zu verweisen, whrend die Romantiker sie gerade fr die theoreti-
sche und damit fr ihre ganze Philosophie berhaupt [...] konstitutiv zu
machen suchen.29
Es ergibt sich aus dem bisher Gesagten eine doppelte und paradoxe
Konsequenz. Einerseits muss Schlegel zufolge in der Moderne jeder Text
und jedes Kunstwerk ber sich selbst reflektieren, um Einheit und Ganz-
heit erreichen zu knnen. Andererseits ist es, wiederum fr jeden Text,
jedes Kunstwerk und jedes Selbst unmglich, ber sich selbst zu reflek-
tieren, weil der sich potenzierende reflexive Akt das eigene Selbst nie-
mals erreichen kann. Selbstreflexivitt ist damit notwendig und unmg-
lich zugleich sie ist ebenso streng gefordert wie unerreichbar. Mit
Schlegel msste man also sagen: Weil Literatur es nicht vermag, sich
selbst reflektierend darzustellen, kann und muss sie diese Unerreichbar-
keit der Reflexion darstellen. Es ergibt sich eine sozusagen negative
Selbstreflexion, die ber die Unerreichbarkeit des Selbst fr die Refle-
xion reflektiert. Diese Form negativer Reflexion bezeichnet Schlegel als
Ironie.
Ironie ist so eine Form der Reflexion, die antizipierend wei, dass sie
nicht nur zu keinem dauerhaften Abschluss kommen kann, weil sie sich

Welt zu und hebt in dieser Synopsis die Spaltung, welche die Reflexion
hervorrief, wieder auf. Freilich ist die Welt in dieser Synthese nur noch als
Schein da, und die innere Spaltung, die das Sich-zum-Objekt-Werden be-
deutet, kann aufgehoben werden nur in einer zweiten Reflexion. Da diese
in gleicher Weise nicht aufgeht, wird der Proze, als ein immer wieder
Potenzieren der Reflexion, fortgefhrt. Die Scheinhaftigkeit der Welt und
des eigenen Seins nimmt zu, die Reflexion wird immer leerer.
28 Schlegel: Literarische Notizen (wie Anm. 21), S. 42 (Nr. 205).
29 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik
[1919]. Hrsg. von Hermann Schweppenhuser. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1973 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 4), S. 17f. Vgl. Men-
ninghaus: Unendliche Verdopplung (wie Anm. 25), S. 36-38.

162
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

selbst niemals erreichen kann. Sie verbindet sich fr Schlegel daher kon-
sequent mit dem Begriff der Unendlichkeit. Eine Notiz Schlegels verbin-
det diese mit der wahren Ironie: Bei der wahren Ironie mu nicht
blo Streben nach Unendlichkeit, sondern Besitz von Unendlichkeit mit
mikrologischer Grndlichkeit in Phi[losophie] und P[oesie] verbunden,
da sein.30 Man muss kein grndlicher Kenner der Analytik des Erhabe-
nen in der Kritik der Urteilskraft sein, um zu bemerken, dass mikrologi-
sche Grndlichkeit sich mit dem Besitz von Unendlichkeit nur
schwerlich vertrgt. Ironie ist die Bewegung einer unendlichen Refle-
xion, und die Reflexion ber Ironie kann deshalb auf das Unendliche ver-
weisen. Ironie ist gleichsam die d[er] Unendlichkeit, d[er] Uni-
versalitt, vom Sinn frs Weltall,31 schreibt Schlegel in den Philosophi-
schen Fragmenten.
Ironie, schreibt Schlegel an anderer Stelle, ist klares Bewutsein
der ewigen Agilitt, des unendlich vollen Chaos.32 Ironie ist das Be-
wusstsein eines Chaos, welches das Selbst ist. Es ist also das Bewusst-
sein eines chaotischen Selbst und somit ebenso das Bewusstsein des
Chaos wie auch das Chaos des Bewusstseins. Wie Avital Ronell hervor-
hebt, ist Ironie damit trotz ihres unendlichen Charakters und tatschlich
gerade deswegen ein Bewusstsein menschlicher Endlichkeit.33
Wie vor ihm dasjenige Kants kreist Schlegels Schreiben somit um
den Gedanken der Endlichkeit. Ironie zeigt diese auf sowohl im Bereich
der theoretischen Philosophie in der Frage der Mglichkeit der Er-
kenntnis wie auch in dem der praktischen Philosophie in der Frage
der Mglichkeit einer Beziehung zum anderen. Ironie ist somit das Be-
wusstsein, dass die eigene Sprache sowohl in der Erkenntnis eines Ge-
genstandes wie auch in der Mitteilung einem anderen gegenber unzu-
reichend bleiben muss.
Darber hinaus und hierin treffen sich die beiden zuvor genannten
Sphren ist Ironie die Einsicht des Ich in die Unmglichkeit, ber sich
selbst eine valide Aussage treffen zu knnen. Insofern Schlegel im Ge-
folge Fichtes das Selbstbewusstsein als das Ergebnis eines sprachlichen

30 Schlegel: Literarische Notizen (wie Anm. 21), S. 68 (Nr. 500).


31 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 18, S.
128.
32 Ebd., S. 263 (Ideen, Nr. 69).
33 In Schlegels work there exists an unlimited rule of the limit, which per-
mits him to point to the infinite basing his claims on a repeated inscription
of finitude. (Avital Ronell: Stupidity. Urbana, Chicago: University of Illi-
nois Press 2002, 151).

163
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Aktes des thetischen Urteils Ich bin34 denkt, bedeutet der Macht-
verlust des Subjekts ber seine eigene Sprache notwendig die Uner-
reichbarkeit des eigenen Selbst fr das Bewusstsein.35 Das Bewusstsein
der Ironie wei von einem Nichtbewusstsein: absolute irony is a cons-
ciousness of a non-consciousness, a reflection on madness from the insi-
de of madness itself,36 bemerkt Paul de Man. Wenn wahnsinnig zu sein
bedeutet, nicht zu wissen, was die eigene Sprache sagt, dann kann kein
Subjekt a priori sicher sein, nicht wahnsinnig zu sein, denn dieses Nicht-
wissen gehrt zu den Bedingungen der Mglichkeit des Sprechens ber-
haupt. Wenn jedes Sprechen als ein Sagen lassen bestimmt werden
muss, dann ist jeder Sprecher, in dem Moment, in dem er spricht, poten-
tiell wahnsinnig.
Wie aber stellt sich Schlegel das Auftreten der Ironie in einem litera-
rischen Text vor? Diese Frage kann am ehesten mit einem Verweis auf
seine Behandlung der Komdie beantwortet werden. In einer vielzitierten
Bestimmung bezeichnet Schlegel die Ironie als permanente Parekba-
se37 und damit mit dem Namen eines wichtigen Elements der antiken
Komdie. Die Parekbasis, bemerkt Schlegel in seiner Vorlesung ber
Die griechische Literatur (1803/1804) mit Blick auf die antike Komdie,
war eine gnzliche Unterbrechung und Aufhebung des Stckes, in
welcher, wie in diesem, die grte Zgellosigkeit herrschte und dem
Volk von dem bis an die uerste Grenze des Proszeniums heraustreten-
den Chor die grten Grobheiten gesagt wurden. Von diesem Heraustre-
ten () kommt auch der Name.38
Schlegel betont jedoch ausdrcklich, dass die antike Komdie trotz
der grten Zgellosigkeit ihrer Form, keinesfalls ohne Einheit sei:

34 Fichte: Smmtliche Werke (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 116 (Grundlage der
gesammten Wissenschaftslehre). Vgl. de Man: The Concept of Irony (wie
Anm. 16), S. 174f.
35 Wer im Gegensatz dazu behauptet, der Nachvollzug ironischer Konkre-
tion bringe nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern noch das Aktuali-
sierungsmoment reflexiver Verkehrung als solches in den Blick, hat von
der Struktur der Ironie bei Schlegel leider nur wenig begriffen (Andreas
Barth: Inverse Verkehrung der Reflexion. Ironische Textverfahren bei
Friedrich Schlegel und Novalis. Heidelberg: Winter 2000, S. 158).
36 Paul de Man: The Rhetoric of Temporality [1969]. In: ders.: Blindness and
Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Second Edition,
Revised. Minneapolis: University of Minnesota Press 1983 (Theory and
History of Literature. 7), S. 187-228, hier: S. 216.
37 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 18, S.
85.
38 Ebd., Bd. 11, S. 88 (Die griechische Literatur).

164
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Eben diese Regellosigkeit, Formlosigkeit, Wildheit und absolute Willkrlich-


keit der Handlung ist die schnste und beste Form der Komdie. [...] Die Form-
losigkeit ist nur scheinbar, die Unform selbst ist hier die hchste Kunst und be-
zeichnet das echte Wesen der Gattung, die nur der gesetzlosesten Willkr und
der unbegrenztesten Freiheit entsprang.39

Die alte Komdie ist damit die Manifestation einer absoluten Freiheit des
Verstandes, der hier ohne Rcksicht auf dasjenige, was als schicklich
oder anstndig galt,40 ohne Rcksicht auf vermeintlich sichere Wahrhei-
ten oder auch nur auf bereinstimmung mit sich selbst frei erfinden
konnte. So schreibt Schlegel, in der Komdie msse eine unendliche
Flle des Witzes dargestellt werden.41 Insofern das einzige Gesetz der
antiken Komdie die Gesetzlosigkeit ist und ihre einzige Form die Form-
losigkeit, ist sie fr Schlegel ganz durch und durch Poesie des
Witzes.42 Der Witz gilt in diesem Zusammenhang wie generell im 18.
Jahrhundert als das Organ des Verstandes, das Zusammenhnge und
hnlichkeiten hervorbringt und also (im Sinne der rhetorischen inventio)
die eigentlichen Mittel des Verstandes zuallererst erfindet.43
Das Unendliche des Witzes aber, schreibt Schlegel, liegt in der
hchsten Freiheit und Gesetzlosigkeit, in der unumschrnkten Willkr-
lichkeit, Ungebundenheit der Phantasie und Flle der Erfindung.44 Un-
endlichkeit verweist hier auf das Potential des Witzes, jede Be-
schrnktheit zu berwinden. Er befindet sich in einer ebenso stetigen wie
ziel- und regellosen Bewegung, die es ihm erlaubt, eine neue Anord-
nung und Kombination45 hervorzubringen, ohne von Vorgaben auch
und vor allem nicht von den eigenen beschrnkt zu sein. Insofern er
von allen Gesetzen und Banden frei gegeben wird, kann der Witz in
diesem Sinne gttlich46 genannt werden. Die unendliche Freiheit des
Witzes zu immer neuer Erfindung und Kombination ist die eines Gottes
wenn auch die eines Gottes, der nicht die Freiheit hat, sein Werk jemals
abschlieen und in Ruhe betrachten zu knnen.
Die Parekbase ist demzufolge die Unterbrechung eines Diskurses; ei-
ne Unterbrechung durch eine vllige Willkr, die sich die Freiheit

39 Ebd., S. 89.
40 Vgl. ebd., S. 90.
41 Ebd., S. 92.
42 Ebd., S. 93.
43 Vgl. Kap. II. 3.
44 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 11, S.
92 (Die griechische Literatur).
45 Ebd.
46 Ebd., S. 92f.

165
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

nimmt, alle Regeln der Form zu missachten. Schlegels Bestimmung der


Ironie als permanenter Parekbase formuliert eine Paradoxie, denn eine
permanente Unterbrechung kann kaum noch eine Unterbrechung genannt
werden.47 Ironie ist eine permanente Unterbrechung des eigenen Spre-
chers durch das Bewusstsein des Sprechenden, seine Sprache nicht kon-
trollieren zu knnen.
Der Zusammenhang zwischen dem Verlust der Kontrolle ber die
Sprache und dem Wahnsinn wird in Schlegels Rede ber die Mythologie
explizit angesprochen. Schlegel versteht die Mythologie der Antike hier
vor allem als eine Kraft des Zusammenhangs und der Synthese. Auf-
grund ihrer mythologischen Struktur war die Kunst der Antike ein Gan-
zes: Alle Gedichte des Altertums schlieen sich eines an das andre, bis
sich aus immer grern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles
greift in einander, und berall ist ein und derselbe Geist nur anders aus-
gedrckt.48 Die hchste Ordnung der antiken Kunst, so Schlegel, ist
die des Chaos,49 einer unbersichtlichen und unverstndlichen Vielfalt.
Erst aus der Perspektive des nachtrglichen Betrachters lsst sich in die-
ser Vielfalt berall ein und derselbe Geist nur anders ausgedrckt wie-
dererkennen. Das Verhltnis zwischen Geist und Ausdruck in der antiken
Kunst ist somit allegorisch, da die Allegorie der rhetorische Terminus fr
das anders Ausdrcken ist. Das Auftreten des Verstandes destruiert
demgegenber jeden Zusammenhang und beendet so auch das Chaos der
antiken Poesie. Ein neuer Zusammenhang der einzelnen Ideen unterein-
ander findet sich schlielich in der romantischen Literatur verwirklicht:

Da finde ich nun eine groe hnlichkeit mit jenem groen Witz der romanti-
schen Poesie, der nicht in einzelnen Einfllen, sondern in der Konstruktion des
Ganzen sich zeigt, und den unser Freund uns schon so oft an den Werken des
Cervantes und des Shakespeare entwickelt hat. Ja diese knstlich geordnete
Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprchen, dieser wunderbare
ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie [...] scheinen mir schon selbst ei-
ne indirekte Mythologie zu sein.50

Der Hinweis auf die Autoren Cervantes und Shakespeare die bei Schle-
gel immer wieder als Beispiele literarischer Ironie genannt werden
macht deutlich, dass Schlegel nichts anderes als das ironische Bewusst-
sein als neue Mythologie beschreibt.

47 Vgl. de Man: The Concept of Irony (wie Anm. 16), S. 179.


48 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.
313 (Rede ber die Mythologie).
49 Ebd.
50 Ebd., S. 318f. (Rede ber die Mythologie).

166
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Die kaum anders als wiederum ironisch zu nennende Pointe der


Rede ber die Mythologie luft darauf hinaus, dass durch die Reflexion,
dadurch, dass der Verstand sich selbst niemals bewusst werden kann,
eine neue Form jener Unwissenheit und Verstandeslosigkeit erreicht wer-
den kann, die fr die antike Dichtung von grundlegender Bedeutung war.
In seiner hchsten Entwicklung kann der Verstand so das Verkehrte und
Verrckte oder auch das Einfltige und Dumme wiederkehren lassen:

Weder dieser Witz noch eine Mythologie knnen bestehen ohne ein erstes Ur-
sprngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflslich ist, was nach
allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern lt, wo der
naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrckten oder des Einfltigen
und Dummen durchschimmern lt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den
Gang und Gesetze der vernnftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wie-
der in die schne Verwirrung der Phantasie, in das ursprngliche Chaos der
menschlichen Natur zu versetzen, fr das ich kein schneres Symbol bis jetzt
kenne, als das bunte Gewimmel der alten Gtter.51

Die romantische Kunst ist so eine Rckkehr zum Wahnsinn der alten
Kunst, welche die Gesetze der vernnftig denkenden Vernunft auer
Kraft zu setzen wusste. Entsprechend geht es hier nicht einfach um die
Mglichkeit, Genie oder Inspiration zu simulieren und so einen kalku-
lierten Wahnsinn als Selbststilisierung des romantischen Schriftstellers
zu inszenieren.52 Diese Perspektive ist schon deswegen irrig, weil Schle-
gel, wie bereits ausgefhrt, an der Problematik der Ironie die Frage von
Poetologie im engeren Sinne wohl am wenigsten interessiert. Vor allem
aber ist der Wahnsinn, den Schlegel hier umschreibt, nicht einfach als
das Gegenteil der ratio oder des Verstandes zu verstehen. Insofern der

51 Ebd., S. 311f.
52 Vgl. etwa Wolfgang Lange: Der kalkulierte Wahnsinn. Innenansichten
sthetischer Moderne. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag
1992, S. 80f. Auf produktionssthetischer Ebene, schreibt Lange, ist
der Wahnsinn kein Schicksal oder ein Verhngnis, sondern Effekt eines
Kalkuls, der freiwillige Verzicht eines Intellektbesitzers auf seinen Besitz:
Intellektualabwesenheit als Ziel Wahnsinn als Methode (Ebd., S. 17).
Dazu lsst sich mit Langes eigenen Worten feststellen: Zwar ist das einst
gngige Vorurteil, wonach Genies sich stets am Rande des Wahnsinns
bewegen, immer noch gelufig, in der Regel aber neigt man dort, wo die
Kontamination von Kunst durch Wahnsinn sich als Problem stellt, im Be-
reich der Wissenschaft also, eher dazu, hier von einem Spiel mit dem
Wahnsinn zu sprechen, von einer Simulation ohne weitreichende Konse-
quenz (Ebd., S. 11). In die Tradition dieser Entschrfung des Wahnsinns
reiht sich Lange ohne Umstnde ein.

167
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Wahnsinn der antiken Poesie schlichtweg das ursprngliche Chaos der


menschlichen Natur darstellt, spricht diese eine Sprache vor jeder Se-
mantik und vor jedem Sinn. Ihre Sprache restitutiert eine originre Diffe-
renzlosigkeit, einen ursprnglichen Unsinn, in der die Phantasie ohne
jede Rcksicht auf Verstndigung und Sinn neue Gewimmel hervor-
bringen und sich in eine schne Verwirrung strzen kann.
Der poetische Wahnsinn ist fr Schlegel keine mania, keine enthusia-
stische Begeisterung und auch keine poetische Halluzination, sondern
das Taumeln eines sinnlosen und eben darum ursprnglichen, weil er-
finderischen Sprechens. Eine vernnftig denkende Vernunft ist dem-
nach eine solche, die ihren eigenen Ursprung im Unsinn und Wahnsinn
vergessen hat. Es geht hier demzufolge nicht um die Selbststilisierung als
wahnsinniges Genie in polemischer Absetzung zur Vernunft, sondern
um das Erreichen jener Unvernunft, die der Trennung zwischen Vernunft
und Wahnsinn vorausgeht.
Ironie ist fr Schlegel in diesem Sinn der Name fr einen anderen
Wahnsinn als derjenige, den die Psychologie seiner Zeit als Unvernunft
und Unverstand beschreibt. Whrend dieser stets in der binren Logik
von Verstand und Unverstand, Sinn und Wahnsinn konstituiert wird, geht
der andere Wahnsinn der Poesie diesen Unterscheidungen grundstzlich
voraus. In ihrer unumschrnkten Willkrlichkeit kennt die Sprache die-
ses Wahnsinns keine Grenzen und keine Gesetze. Aus diskursiven Re-
geln abzuleiten ist sie demzufolge nicht einmal ex negativo, aus deren
Negation heraus. Der Zwang zur stetigen Negation diskursiver Vorgaben
wrde jede Ungebundenheit der Phantasie und Flle der Erfindung
augenblicklich unterbinden.
Wie Ironie fr Schlegel nicht nur das Umschlagen von Ernst in
Scherz ist, sondern die Aufhebung der Mglichkeit, zwischen beiden zu
unterscheiden, ist der Wahnsinn der Poesie fr ihn die Aufhebung der
Unterscheidbarkeit zwischen Vernunft und Unvernunft. Wie die Iro-
nie nicht dem Ernst entgegengesetzt ist, sondern vielmehr die Unter-
scheidbarkeit zwischen Ernst und Unernst destabilisiert, ist auch der
Wahnsinn der ironischen Poesie nicht einfach das Gegenteil einer Ver-
nunft oder eines Verstandes, sondern przise das jederzeit mgliche
Auftauchen einer Unvernunft in der Vernunft und eines Unverstandes im
Verstand und also die jederzeitige Bedrohung ihrer Unterscheidung.
Das Verkehrte und Verrckte am Anfang aller Poesie, das fr
Schlegel den Gang und Gesetze der vernnftig denkenden Vernunft auf-
zuheben vermochte, entspricht demnach przise dem, was Foucault in
seiner Histoire de la folie als draison (Unvernunft) im Gegensatz zur
folie (Wahnsinn) bezeichnet. Whrend folie fr Foucault seit dem Zeit-
alter der Klassik gleichzeitig zur ausgeschlossenen Gegenseite der

168
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Vernunft und zu ihrem diskursiven Objekt (des medizinischen Wissens)


wird, beschreibt er draison als dasjenige, was sich dem Instrumentarium
und dem Denken der Vernunft schon deshalb entziehen muss, weil es ihr
vorausgeht und jederzeit in ihr ausbrechen kann. Ist die Zeit des Wahn-
sinns die einer Geschichte, einer temporalen Entwicklung und Narration
(etwa die einer Krankengeschichte), so ist die Zeit der Unvernunft die
Gegenzeit, welche die Zeit der Vernunft jederzeit durch eine andere Zeit
unterbrechen kann:

In der Ungleichheit zwischen dem Bewutsein der Unvernunft (draison) und


dem Bewutsein des Wahnsinns (folie) hat man am Ende dieses achtzehnten
Jahrhunderts den Ausgangspunkt einer entscheidenden Bewegung: der Bewe-
gung, durch die die Erfahrung der Unvernunft mit Hlderlin, Nerval und Nietz-
sche nicht aufhren wird, immer tiefer hinunter zu den Wurzeln der Zeit zu
steigen wodurch die Unvernunft die Gegenzeit (le contretemps) der Welt par
excellence wird die Kenntnis des Wahnsinns dagegen wird versuchen, ihn im-
mer genauer in die Entwicklungsrichtung der Natur und der Geschichte einzu-
fgen.53

Auch fr Foucault ist es die hier wie so oft durch die drei Namen Hl-
derlin, Nerval und Nietzsche reprsentierte Literatur, welche die
Unvernunft als Gegenzeit, als Strung, als Unterbrechung, als Einbruch
eines anderen erfahrbar machen kann. Sie unterbricht die austarierten
Differenzen, welche die Vernunft zwischen sich und dem Wahnsinn ge-
zogen hat, und bricht unzeitig in die scheinbar sichere Erfahrung einer
kontinuierlichen Geschichte ein. Von hier aus wird klar, dass es die Un-
vernunft ist, die es fr Foucault vermag, jene einfache Trennung von
Tag und Dunkelheit, zwischen Schatten und Licht, zwischen Traum und
Wachsein54 aufzuheben und einen erneuten Zugang zu jenem ebenso
asemantischen wie monotonen Gemurmel55 zu verschaffen, das aller
Sprache vorausgeht.
Wie Schlegel den Wahnsinn der antiken Poesie, so denkt Foucault
die draison wesentlich als ein Verhltnis des Sprechenden zur Sprache:

53 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns


im Zeitalter der Vernunft [1961]. bers. von Ulrich Kppen. 12. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 39), S. 370. bersetzung modifiziert. Vgl. zu dieser Passage, vor al-
lem zum Begriff contretemps, ausfhrlicher Andreas Gelhard: Unvernunft,
Un-wahrheit, Unzeit: Foucault, Blanchot und die Geschichte des Wahn-
sinns. In: Internationale Zeitschrift fr Philosophie (2000), H. 1, S. 48-62,
hier: S. 57f.
54 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (wie Anm. 53), S. 15.
55 Ebd., S. 12.

169
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Wer murmelt, ohne etwas Artikuliertes sagen zu wollen, der lsst


Sprache eher geschehen, als dass er sie spricht. Er ist nicht der Urheber
seiner Sprache; er kann weder zur Verantwortung fr das Gesprochene
gezogen werden noch je glauben, dass Sprache seinen Intentionen ge-
horcht. Wer dagegen Sprache instrumentell nutzen will, muss jederzeit,
zu jeder Unzeit, damit rechnen, dass sie ihm nicht gehorcht, dass sie ihn
strt und aus der Kontinuitt seiner Erfahrung herauswirft. Die Erfahrung
der Unvernunft strt die vermeintlich sicheren Differenzen und verwan-
delt Sprache wieder in ein unterschiedsloses Gemurmel.
Foucault bezeichnet diese Erfahrung des unzeitigen Machtverlusts
ber das scheinbar beherrschte Medium Sprache mit dem Ausdruck ds-
uvrement Entwerkung, Abwesenheit eines Werkes und also mit
einer Kategorie, die Blanchot auch in Auseinandersetzung mit Schlegels
Literaturtheorie entwickelt hat.56 Foucaults Gegenbersetzung von Un-
vernunft, Wahnsinn und einer diskursiv reglementierenden Vernunft
bleibt jedoch hinter der Radikalitt zurck, mit der Schlegel in der Rede
ber die Mythologie davon ausgeht, dass das vernnftige Denken der
Vernunft gerade am Punkt ihrer hchsten Strenge in das Verkehrte und
Verrckte umschlagen msse. Hier setzt auch Derridas Kritik an Fou-
caults Geschichte des Wahnsinns an und zeigt auf, inwiefern gerade in
der von Foucault als paradigmatisch fr eine ausgrenzende Behand-
lung des Wahnsinns behandelten Philosophie Descartes notwendig ein
Bewusstsein des eigenen Wahnsinns am Werk sein muss.57

I I I . 2 D i e I r o n i e w a hn si n n i g e r K u n st
( D e r E i n si e d l e r S e r ap i o n )

Mit der Erzhlung ber den Einsiedler Serapion erffnet Hoffmann die
Erzhlungssammlung Die Serapionsbrder. Programmatisch ist die Er-
zhlung ber den Wahnsinnigen Serapion nicht nur der Beginn und

56 Vgl. Michel Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes [1964].


In: ders.: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Daniel Defert und Franois
Ewald. bers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann
Kocyba. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft. 1675), S. 175-185, hier: S. 182; Foucault: Wahnsinn und Ge-
sellschaft (wie Anm. 53), S. 12; Gelhard: Unvernunft, Un-wahrheit, Unzeit
(wie Anm. 53), S. 51f.
57 Vgl. Jacques Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns [1964].
In: ders.: Die Schrift und die Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7.
Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wis-
senschaft. 177), S. 53-101, hier: S. 85f.

170
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Auftakt der Erzhlungssammlung. Die von Cyprian erzhlte Geschichte


ber seine Begegnung mit einem Anachoreten aus der alten Zeit des
Christentums,58 der sich fr den antiken Mrtyrer Serapion hlt, inspi-
riert die versammelten Freunde sogleich, jene wunderliche Person nicht
nur zum Namenspatron der Versammlung, sondern auch seine Ver-
rcktheit zum Prinzip poetischer Produktion zu erklren. Hoffmanns Er-
zhlung Der Einsiedler Serapion ist damit als ein literarischer Akt ge-
kennzeichnet, der von der Bedingung der Mglichkeit literarischer Akte
handelt. Vor dem Hintergrund von Schlegels Forderung nach einer
Transzendentalpoesie, welche in jeder ihrer Darstellungen sich selbst
mit darstellen, und berall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein59
sollte, wird hier die Reflexion auf die Mglichkeit des Erzhlens erzhlt.
Diese ist so jederzeit eine Reflexion auf sich selbst als Reflexion und
somit eine Reflexion auf die Mglichkeit der Reflexion berhaupt.

Das serapiontische Prinzip und


Kants Bestimmung der Zeit

Sowohl die Diskussion der Serapionsbrder als auch die Ausfhrungen


Serapions zielen in diesem Sinn auf das allgemeine Verhltnis des Ein-
siedlers zur Realitt. Zwar bezieht sich Lothar in seiner Bewunderung
von Serapions Geistesverwirrung ausdrcklich auf das literarische Talent
des eigenwilligen Einsiedlers. Serapions Wahnsinn bezeugt fr den
Serapionsbruder Lothar etwa den Geist des wahren Dichters,60 aus
dem er entstammt. Sein Unvermgen ist nur das Zeichen fr ein eigentli-
ches Vermgen, und umgekehrt entstammen seine Vermgen einem Un-
vermgen.

Jeder prfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verknden un-
ternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden. Wenigstens strebe jeder recht
ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen
mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er
sich recht entzndet davon fhlt, die Darstellung ins uere Leben <zu> tra-
gen.61

58 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden.


Hrsg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M.: Deut-
scher Klassiker Verlag 1985-2004, Bd. 4, S. 24 (Der Einsiedler Serapion).
59 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.
203 (Athenums-Fragmente, Nr. 238).
60 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S. 67.
61 Ebd., S. 69.

171
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Als die entscheidenden Begriffe des serapiontischen Prinzips knnen


die des Schauens und des (im Innern) Aufgehens genannt werden.
Serapion gilt als poetisches Vorbild, insofern er wirklich das geschaut
hat, was er verkndet, und insofern er das Bild, das ihm im Innern aufge-
gangen, erfassen konnte und sich davon entznden konnte. Serapions
Unvermgen, zwischen realen und irrealen Vorstellungen zu unter-
scheiden, leitet sich demnach aus dem poetischen Vermgen her, irrea-
le Bilder in allen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten hervorzu-
bringen. Seine Sprache verwandelt sich in ein Bild und wird dadurch be-
fhigt, mit der primr visuell gedachten Realitt verwechselt zu wer-
den. Serapions besondere Begabung liegt demnach, so formuliert es der
Serapionsbruder Lothar, in seiner Sehergabe.62
Was ist aber mit Sehen und Schauen in diesem Zusammenhang ge-
meint? Offenbar geht es nicht um eine passive Aufnahme der empiri-
schen Wirklichkeit. Serapion wird vielmehr dafr gerhmt, dass er gleich
einem antiken Seher einen Zugang zu einer Wirklichkeit finden kann, die
gewhnlichen Mitmenschen versperrt bleiben muss. Es geht den Sera-
pionsbrdern also nicht um ein Sehen im Sinne eines Gebrauchs der opti-
schen Sinnesorgane, sondern eher um die Formung des Gesehenen durch
die Macht der Einbildungskraft. An Kants Definition des Verrckten
als Trumer im Wachen63 anschlieend, ruft Lothar aus: Dein Leben,
lieber Anachoret, war ein steter Traum.64
Nicht ohne Berechtigung werden die Ausfhrungen der Serapions-
bruderschaft gelegentlich als das Postulat der absoluten Autonomie der
produktiven Einbildungskraft65 beschrieben. Wenn die Serapionsbrder
fordern, der Dichter msse wirklich schauen, was er darstellt (Jeder
prfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verknden unter-
nommen), geht es darum, mit anderen Augen als den leiblichen zu se-
hen.66 In diesem Sinn bezieht sich auch Hoffmanns Serapionsbruder Lo-

62 Ebd.
63 Immanuel Kant: Werke in sechs Bnden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Bd. 1, S. 894 (Ver-
such ber die Krankheiten des Kopfes, A 22).
64 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S. 68.
65 Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imagina-
tionslehre als Prinzip seiner Erzhlkunst. Tbingen: Niemeyer 1971 (Stu-
dien zur deutschen Literatur. 24), S. 18; vgl. Norbert Miller: Ansichten
vom Wunderbaren. ber deutsche und europische Romantik. In: Kleist-
Jahrbuch 1 (1980), S. 107-148, hier: S. 130f.
66 So wird Theodors Erzhlung Die Fermate bescheinigt, sie sei nicht im ei-
gentlichsten Sinn [...] serapiontisch zu nennen, da er Bild und Gestalten die

172
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

thar auf die Tradition des poeta vates, des Kraft einer Vision sehenden
Dichtertheologen: gewi ist es, da man oft an der wirklichen Existenz
der Dichter eben so sehr zweifeln mchte als an der Existenz verzckter
Seher welche die Wunder eines hheren Reichs verknden!67
Wie aber ist es mglich, dass die Einbildungskraft beginnt, statt der
leiblichen Augen mit geistigen zu schauen? In Der Einsiedler Sera-
pion belehrt der phantasierende Eremit Serapion den verblfften Erzhler
Cyprian, dass dieser Vorgang alles andere als ungewhnlich sei. Cyprian
meint, den Einsiedler von seinem Wahn, ein antiker Mrtyrer zu sein,
kurieren zu mssen, und versorgt sich fr dieses Unternehmen mit jedem
greifbaren psychiatrischem Wissen (Ich las den Pinel den Reil alle
mglichen Bcher ber den Wahnsinn).68 Trotzdem Cyprian also mit
den neuesten Erkenntnissen der zeitgenssischen Psychiatrie gerstet
ist,69 hat sein Angriff auf die fixe Idee Serapions wenig Erfolg. Dieser
erteilt ihm vielmehr eine Belehrung in Transzendentalphilosophie.
Serapion behauptet, jede Wahrnehmung sei ein Akt der produktiven
Einbildungskraft, weshalb es keine objektive Realitt geben knne, an-
hand der sich eine fixe Idee als solche bezeichnen lsst. Gegen den
Einwand, er knne unmglich der Mrtyrer Serapion sein, denn dieser
sei vor vielen hundert Jahren70 gestorben, fhrt der Einsiedler aus, dass
die Zeit als ein Produkt der Einbildungskraft zu denken sei: Frs erste
ist die Zeit ein eben so relativer Begriff wie die Zahl und ich knnte Ih-
nen sagen, da, wie ich den Begriff der Zeit in mir trage, es kaum drei
Stunden oder wie Sie sonst den Lauf der Zeit bezeichnen wollen, her
sind, als mich der Kaiser Dezius hinrichten lie.71 Der Vorwurf, er bil-
de sich nur ein, die Ausgeburten seiner eigenen Phantasie im uern

er beschrieben, wohl auch mit leiblichen Augen geschaut (Hoffmann:


Smtliche Werke in sechs Bnden [wie Anm. 58], Bd. 4, S. 92).
67 Ebd., S. 67.
68 Ebd., S. 27 (Der Einsiedler Serapion).
69 Der Begriff der fixen Idee ist bei Reil entlehnt, der mit diesem Begriff
eine Fixierung der Assoziationskette auf ein Objekt beschreibt, welches
dann krankhaft in allen Zusammenhngen auftaucht. Vgl. Johann Christian
Reil: Rhapsodieen ber die Anwendung der psychischen Curmethode auf
Geisteszerrttungen. Dem Herrn Prediger Wagnitz zugeeignet. Halle: In
der Curtschen Buchhandlung 1803, S. 316; Vgl. dazu Theodore Ziolkow-
ski: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen
[1990]. bers. von Lothar Mller. Mnchen: Deutscher Taschenbuch Ver-
lag 1994, S. 262-268.
70 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S. 28
(Der Einsiedler Serapion).
71 Ebd., S. 31.

173
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Leben wirklich vor sich zu sehen, erscheint ihm demgem als eine
der spitzfndigsten Albernheiten die es geben kann.72
Die Ausfhrungen Serapions sind zwar viel zitiert worden, kaum je
aber in den philosophischen Kontext gerckt worden.73 Man kann das
mit dem Vorurteil erklren, das Hoffmann als einen philosophisch desin-
teressierten Autoren ausweist.74 Nur so konnte bersehen werden, dass
die Diskussion ber Serapions Wahnsinn in nuce wesentliche zeitgens-
sische Positionen der philosophischen Debatte ber die erkenntnistheore-
tische Rolle der Einbildungskraft wiedergibt.
Dass die Wahrnehmungen nicht von den Sinnesorganen ausgehen, ist
eine wesentliche These der Kantschen Epistemologie. Kant zufolge ist
keine Wahrnehmung einer ueren Realitt mglich ohne die nicht ein-
fach passive (sondern notwendig zugleich aktive und passive) Leistung
der Einbildungskraft, welche die Zeit als eine reine Form der sinnlichen
Anschauung75 hervorbringt. Zeit ist, mit anderen Worten, nichts, was
ein Subjekt in der ueren Realitt vorfinden oder wahrnehmen knnte,
sondern sie ist umgekehrt die vom Erkenntnisvermgen des Subjekts her-
vorgebrachte Bedingung der Mglichkeit aller Wahrnehmung ber-
haupt.76
Indem sie mehrere verschiedene Vorstellungen in eine Folge bringt
sie ordnet, verknpft oder allgemein in Verhltnisse bringt , bewirkt
die Einbildungskraft eine Affektion des Subjekts durch sich selbst, die
zuallererst eine Fremdaffektion ermglicht.77 Durch die synthesis a priori
der Einbildungskraft werden die zunchst zusammenhangslosen Eindr-
cke in eine Sukzession und damit in die Ordnung der Erfahrbarkeit ge-

72 Ebd., S. 33.
73 Vgl. allenfalls den eher kursorischen Hinweis auf einen Zusammenhang
mit Kants Kategorienlehre bei Allen Thiher: Revels in Madness. Insanity in
Medicine and Literature. Ann Arbor: The University of Michigan Press
1999, S. 192.
74 Hoffmann hat Kants Vorlesungen wahrscheinlich nie besucht. An den Ge-
schicken dieser Philosophie hat er kaum Anteil genommen (Rdiger Sa-
franski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten [1984].
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 40). H. war,
von der Begabung wie von der juristischen Schulung her, ein auerordent-
lich scharfsinniger Kopf, fachphilosophisch aber wenig interessiert. Wh-
rend seines Studiums in Knigsberg scheint er Kant [...] geradezu aus dem
Weg gegangen zu sein (Gerhard R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart:
Metzler 1988 [Sammlung Metzler. 243], S. 119).
75 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 2, S. 79 (KrV 47, A 31).
76 Vgl. ebd., S. 78 (KrV B 46, A 30).
77 Vgl. ebd., S. 149 (KrV B 152f.).

174
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

bracht; erst dadurch werden komplexere Verstandesoperationen aller Art


mglich. Zeit und mit ihr die gesamte sinnlich erfahrbare Realitt ist
somit nach Kant nicht ohne die Einwirkung der transzendentalen Einbil-
dungskraft denkbar.78 Wenn sowohl Raum als auch Zeit als Produkte der
Einbildungskraft gedacht werden mssen, so folgt daraus (nach Kant) je-
doch keineswegs, dass sie nicht real sind und dass der Mensch notwendig
in einer irrealen Welt der Einbildungen und Phantasmen lebt. Im Ge-
genteil ist es die transzendentale Synthesis, die das menschliche Erken-
nen ffnet fr eine sinnliche Affektion von auen.79
Der Entschluss des Grafen P**, fortan den Namen Serapion zu tra-
gen, lsst sich im Kontext der epistemologischen Neubewertung der Ein-
bildungskraft in Kants erster Kritik als eine Unabhngigkeitserklrung
dieses Vermgens verstehen. Fr Serapion ist die Unterscheidung zwi-
schen einer (subjektiv) eingebildeten und einer (objektiv) realen Welt
sinnlos, weil es in seiner Sicht allein der Geist und sein Organ, die
Phantasie ist, der die sinnlichen Eindrcke zu einer Realitt ver-
bindet. Das Reale ist immer schon phantastisch, es ist immer schon
vom Geist geformt und belebt.

Ja was hrt was sieht, was fhlt in uns? vielleicht die toten Maschinen, die
wir Auge Ohr Hand etc. nennen und nicht der Geist? [...] Ist es nun also der
Geist allein, der die Begebenheiten vor uns erfat, so hat sich das auch wirklich
begeben, was er dafr anerkennt.80

Der Geist Serapions ist nicht nur der Sinn, in dem die anderen Sinne
zusammenkommen; er bestimmt sich emphatisch geradezu als spiritus
creator im biblischen Sinn als dasjenige Element, das den einzelnen
Sinnen berhaupt erst Leben zuweist und sie so erst zu Sinnen werden
lsst. Wahrnehmen und Erkennen im Sinne Serapions ist stets Schp-
fung, Erfindung und Kreation. Indem er es ist, der seine eigenen Sinne
belebt und der sie hren, sehen und fhlen lsst, ruht der Geist Se-
rapions gleichsam in sich und geniet den Kontakt zu seiner Auenwelt
in dem Glauben, sie sei gleichsam sein eigenes Geschpf.
Der Geist Serapions ist autark und unabhngig von anderen Gei-
stern und ihrer Sicht auf die Dinge. Wenn jeder Geist also der Schpfer
seiner eigenen Welt ist, kann es in der Tat nur eine der spitzfndigsten

78 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 315 (Ueber eine Entdeckung BA 33).


79 Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [1929].
Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 6. Aufl. Frankfurt am Main:
Klostermann 1998, S. 138f.
80 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S. 34
(Der Einsiedler Serapion).

175
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Albernheiten sein, Serapion vorzuhalten, er verwechsle seine Einbildun-


gen mit der ueren Realitt. Aus Serapions Konzept des sensorium com-
mune folgt die notwendige Nichtbereinstimmung der gemeinsamen
Realitten je verschiedener Geister; er ist sozusagen ein sensus dis-
communis. Serapions Wahn entspricht exakt der Strung des sensus com-
munis, der Strung der Alteritt, als welche Kant die Verrcktheit und
die Schwrmerei beschreibt.81
Gleich den Schwrmern Kants lebt Serapion in einer eingebildeten
und wahnhaften Gemeinschaft, die sich aus der Perspektive der anderen
als eine radikale Isolierung darstellt. Die tiefe Einsamkeit,82 die Sera-
pion sich zuschreibt, grndet dementsprechend nicht einfach in seinem
einsiedlerischem Leben, sondern in dieser vermgenstheoretischen
Konstellation. Entsprechend erwhnt Serapion andere Menschen gleich-
sam nur als Requisiten seiner phantastischen Welt, in der Form anderer
antiker Personen etwa (Mein Freund Ambrosius von Camaldoli).83
Serapions Geist herrscht zumindest in seiner Vorstellung sou-
vern ber die eigene Gestalt wie auch ber die der ihm erscheinenden
Menschen (Dann und wann erscheinen mir Leute,84 formuliert Sera-
pion). Serapion lebt demnach vielleicht nicht in der gleichen Welt wie
die Bewohner der Stadt B***, aber dafr lebt er in seiner Phantasie in
einer Gemeinschaft mit zahlreichen Geistern. So berichtet Serapion:

Tglich erhalte ich Besuche von den merkwrdigsten Mnnern der verschie-
densten Art. Gestern war Ariost bei mir, dem bald darauf Dante und Petrarch
folgten, heute Abends erwarte ich den wackern Kirchenlehrer Evagrus und
gedenke, so wie gestern ber Poesie, heute ber die neuesten Angelegenheiten
der Kirche zu sprechen.85

Wenngleich die Argumentation Serapions auf den ersten Blick an trans-


zendentalphilosophische berlegungen anzuschlieen scheint, so wei-
chen sie hier entschieden von ihnen ab. Aus Kants Formulierung einer
strikten Subjektivitt der Formen des inneren Sinns, Raum und Zeit,
folgt keine Legitimation einer privaten, individual-subjektiven Welt-
sicht. Die verschiedenen im Verstand zusammenwirkenden Vermgen
werden fr Kant bei einem Akt der Wahrnehmung durch den sensus

81 Vgl. Kap. II. 3.


82 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S. 34
(Der Einsiedler Serapion).
83 Ebd., S. 24.
84 Ebd., S. 30 (Hervorhebung von mir, O. K.).
85 Ebd., S. 33 (Der Einsiedler Serapion).

176
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

communis logicus86 zur bereinstimmung gezwungen.87 Insofern kann


Kant von einer objektiven Vorstellung der Sinne und von objektiven
Empfindungen (mit der grnen Farbe der Wiese88 als Beispiel) spre-
chen, ohne die Mglichkeit einer Konkordanz der Vorstellungen mit den
noumenalen Dingen annehmen zu mssen.
Solcherart knnte man Serapion vielleicht als einen schlechten Leser
Kants beschreiben, weil er aus der Genese von Zeit und Raum aus der
produktiven Einbildungskraft und also aus ihrer Subjektivitt zugleich
eine Unabhngigkeit von einer objektiven Auenwelt ableitet.

Enthusiasmus als Vermgen der Darstellung


Eine Poetik des Wahnsinns?

Serapion verkrpert in gewisser Weise die von Kant in verschiedenen


Zusammenhngen beschriebene Doppelgesichtigkeit der Einbildungs-
kraft sie ist einerseits das Vermgen, das Zeit hervorbringt und das so
zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand vermittelt; andererseits ist
es aber auch das Vermgen, das sich strukturell der Kontrolle jeder Sub-
jektivitt entzieht, das Unsinn, Irrsinn und Wahnsinn hervorbringt, indem
es ebenso zwanghaft wie sprunghaft Vorstellungen miteinander assozi-
iert.
Hoffmann beschreibt die Wirkung der Einbildungskraft auf das ein-
bildende Subjekt mit dem Vokabular eines alchemistischen Experiments.
Eine feurige Fantasie89 entzndet das innere Bild, so dass es sich in ei-
ne Darstellung verwandelt, die ins uere Leben getragen werden
kann. Hoffmann spricht von einer magischen Gewalt, die von der
Sprache Serapions ausgeht:

Serapion erzhlte jetzt eine Novelle, angelegt, durchgefhrt, wie sie nur der
geistreichste, mit der feurigsten Phantasie begabte Dichter anlegen, durchfhren
kann. Alle Gestalten traten mit einer plastischen Rundung, mit einem glhen-

86 Zur Unterscheidung zwischen sensus communis logicus und sensus com-


munis aestheticus vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 5,
S. 391 (KdU 40, B 160, A 158).
87 Vgl. Gilles Deleuze: Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Ver-
mgen [1963]. bers. von Mira Kller. Berlin: Merve 1990, S. 55-60.
88 Alle Zitate entstammen 3 der Kritik der Urteilskraft (Kant: Werke in
sechs Bnden [wie Anm. 63], Bd. 5, S. 282f. [KdU 3, BA 9]; Hervorhe-
bungen von mir, O. K.).
89 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S. 25
(Der Einsiedler Serapion).

177
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

den Leben hervor, da man, fortgerissen, bestrickt von magischer Gewalt wie
im Traum daran glauben mute, da Serapion alles selbst wirklich von seinem
Berge erschaut.90

Cyprians Formulierung, er sei fortgerissen worden und habe von ma-


gischer Gewalt bestrickt etwas sehen knnen, was nicht mit sinnlicher
Wahrnehmung zu sehen war, lsst sich als eine Paraphrase von klassi-
schen Beschreibungen des Enthusiasmus verstehen.
Im Anschluss an Platons Ion, in dem ber den Rhapsoden gesagt
wird, seine begeisterte Seele sei bei den Gegenstnden, von denen
sie spricht, sie mgen nun in Ithaka sein oder in Troja,91 beinhaltet das
Konzept des Enthusiasmus noch in der Diskussion des 18. Jahrhunderts
wesentlich eine berschreitung der Grenzen der sinnlichen Wahrneh-
mung durch eine ungezgelte Einbildungskraft. Entsprechend beschreibt
Sulzers Allgemeine Theorie der schnen Knste die Begeisterung als
einen exaltierten Geisteszustand, in dem das Subjekt unfhig wird, das
wrklich vorhandene von dem blos eingebildeten92 zu unterscheiden.
Enthusiasmus ist in diesem Sinn nicht erst fr Hoffmann ein ursprng-
liches Vermgen der Darstellung. Sie bezeichnet einen Zustand, in dem
der Begeisterte seine Sprache mit einem Sinn erfllt sieht, der ihr die
Evidenz des tatschlich Gesehenen verleiht. Im Enthusiasmus als Ver-
mgen der Verwandlung eines Textes begegnen sich Kants Theorie der
Verrckung und Hoffmanns Bestimmung des idealen Poeten.93

90 Ebd., S. 34.
91 Sokrates: Wenn du die Verse schn vortrgst und deine Zuschauer am
meisten hinreit [...]: bist du dann bei vlligem Bewutsein, oder gertst du
auer dich und glaubt deine begeisterte Seele, bei den Gegenstnden zu
sein, von welchen du sprichst, sie mgen nun in Ithaka sein oder in Troja
oder wo sonst sich das Gedicht aufhlt? / Ion: Welchen deutlichen Beweis
hast du mir aufgestellt, Sokrates! (Platon: Smtliche Werke. bers. von
Friedrich Schleiermacher. Auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter
F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plambck neu hrsg. von Ursula Wolf. Bd.
1-4. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, Bd. 1, S. 74 [Ion 535b-c]).
92 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schnen Knste. 2., unver-
nderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1792. Mit einer Einleitung von
Giorgio Tonelli. Bd. 1-4. Hildesheim, Zrich, New York: Olms 1994, Bd.
1, S. 350.
93 Dass die Verwandlung von gelesenen Buchstaben in gesehene Bilder ein
zentrales Element der Poetologie Hoffmanns ist, hat vor allem Friedrich
Kittler dargelegt. Vgl. zu diesem Komplex insgesamt Friedrich A. Kittler:
Aufschreibesysteme 1800 1900. 3., vollst. berarb. Aufl. Mnchen: Fink
1995, S. 138-158, sowie Friedrich Kittler: Die Laterna magica der Litera-
tur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien. In: Athenum. Jahrbuch

178
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Es ist nun die Frage zu stellen, was diese Beobachtungen ber den
Zusammenhang von Literatur und Wahnsinn fr die Dichtungstheorie
der Serapionsbrder besagen, wie sie im Anschluss an Cyprians Erzh-
lung formuliert wird. Wenn es im serapiontischen Prinzip darum geht,
dem dichterischen Vermgen eines Wahnsinnigen nachzueifern, dann
knnte man folgern, Hoffmanns Dichtungslehre sei nichts anderes als ei-
ne Poetik des Wahnsinns. Nicht wenige Kommentatoren sind zu diesem
Urteil gekommen. Als poetisches Vermgen gilt der Wahnsinn den Se-
rapionsbrdern,94 kann man lesen. Statuiert Lothar (und durch seinen
Mund: Hoffmann) den Wahnsinn als poetische Kraft und das serapionti-
sche Prinzip als eine Poetik des Wahnsinns?

fr Romantik 4 (1994), S. 219-237. Der Verdienst der Arbeiten Kittlers ist,


systematisch auf die Rolle des Medienwechsels zwischen Schrift und Bild
in Hoffmanns Texten hingewiesen zu haben. Meine Untersuchung versucht
demgegenber jedoch, die Probleme und Aporien dieses Medienwechsels
in den Blick zu bekommen, die bei Kittler weitgehend ausgespart bleiben.
Der bergang vom Wort zum Bild kann nicht einfach als gelingend vo-
rausgesetzt werden, denn in diesem bergang (der stets das Feld der Ein-
bildungskraft, der Einbildung, des Phantasmas ist), geschieht Wahnsinn
und Wahnwitz.
94 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Li-
teratur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1-2. 2., durchges. Aufl.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, Bd. 2, S. 9. Auf eine
vergleichbare Art beschreibt Eva Horn das serapiontische Prinzip als tex-
tuelles Prinzip, das auf eine (wahnsinnsnahe) Halluzination zielt. Vgl. Eva
Horn: Die Versuchung des heiligen Serapion. Wirklichkeitsbegriff und
Wahnsinn bei E.T.A. Hoffmann. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Lite-
raturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 214-228, hier: S.
221f. Andere Arbeiten leisten kaum mehr als eine paraphrasierende Lek-
tre von Der Sandmann und Der Magnetiseur. Vgl. Karin Preu: The Que-
stion of Madness in the Works of E.T.A. Hoffmann and Mary Shelley.
With Particular Reference to Frankenstein and Der Sandmann. Frankfurt
am Main: Lang 2003, bes. S. 27-97. Wenig hilfreich erscheint auch der An-
satz Meike Hillens, die Thematik des Wahnsinns in einer Funktionsanalyse
gesellschaftlicher Systeme einzugliedern. Vgl. Meike Hillen: Die Patholo-
gie der Literatur. Zur wechselseitigen Beobachtung von Medizin und Lite-
ratur. Frankfurt am Main: Lang 2003 (Bochumer Schriften zur deutschen
Literatur. 61). Ein Missverstndnis der Geschichte um den Einsiedler Se-
rapion liegt auch darin, das serapiontische Prinzip vom Wahnsinn Sera-
pions ablsen zu wollen und das Prinzip des Schauens als naiven Rea-
lismus zu deuten, wie Hartmut Steinecke es vorfhrt. Vgl. Hartmut Stein-
ecke: Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frank-
furt am Main, Leipzig: Insel 2004, S. 367.

179
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Wenn das serapiontische Prinzip als eine Poetik des Enthusias-


mus95 zu begreifen wre, hiee das, dass sie die Hervorbringung von Li-
teratur als das Ergebnis eines Prozesses beschriebe, der keiner Regel und
keiner Technik folgt. Dies ist der Vorwurf, den Sokrates in Platons Dia-
log Ion gegen den Rhapsoden erhebt: Wenn dieser nur ber die Werke
Homers sprechen kann und nicht auch ber die anderer Autoren, dann
deswegen, weil die Grundlage seines Sprechens die Begeisterung (der
Enthusiasmus) ist. Fr Sokrates ist damit deutlich, dass der Rhapsode
durch Kunst und Wissenschaft ber den Homeros zu reden unverm-
gend96 ist. Wenn seine Fhigkeit aber auf dem entrckten Zustand des
Enthusiasmus beruht und nicht auf einer tchne, auf keiner Technik und
keinem Wissen, dann ist sie singulr: nicht unter eine allgemeine Regel
zu subsumieren.97 Die Denk- und CombinationsKraft des Enthusias-
mus ist derart beschaffen, da gerade der, der sich keiner solchen Kraft
in sich bewut ist, ber manches Werk des menschlichen Verstandes,
ber die unerwartete[n] Verbindungen und Combinationen, die khne[n]
Schle und Wendungen desselben staunt98 notiert Schelling 1792 in
seinen Aufzeichnungen ber Dichter, Propheten, Dichterbegeisterung,
Enthusiasmus, Theopneustie, und gttliche Einwirkung auf Menschen
berhaupt. Die Ergebnisse der enthusiastischen Combinationen gelten
als jederzeit khn und berraschend fr den Kombinierenden und sind
deshalb methodisch unberechenbar und singulr.
Singularitt in diesem Sinn schliet jedoch notwendigerweise jede
Festschreibung praktischer Regeln aus. Wenn eine Poetik, wie zumindest
ein Handbuch literarischer Fachbegriffe es behauptet, die Lehre von
der Dichtkunst im Sinne wissenschaftlicher Beschftigung mit deren We-

95 Uwe Japp: Das serapiontische Prinzip. In: E.T.A. Hoffmann. Hrsg. von
Heinz Ludwig Arnold. Mnchen: edition text + kritik 1992 (Text + Kritik.
Sonderband), S. 63-75, hier: S. 63.
96 Platon: Smtliche Werke (wie Anm. 91), Bd. 1, S. 70 (Ion 532c).
97 Vgl. Peter Fenves: The Scale of Enthusiasm. In: Huntington Library Quar-
terly 60 (1997), S. 117-152, hier: S. 117f.
98 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: ber Dichter, Propheten, Dichterbe-
geisterung, Enthusiasmus, Theopneustie, und gttliche Einwirkung auf
Menschen berhaupt nach Platon [Studienheft Nr. 28, 1792]. In: Franz,
Michael: Schellings Tbinger Platon-Studien. Gttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1996 (Neue Studien zur Philosophie. 11), S. 283-305, hier: S.
288. Vgl. Orrin F. Summerell: Perspektiven der Schwrmerei um 1800.
Anmerkungen zu einer Selbstinterpretation Schellings. In: Platonismus im
Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philoso-
phie. Hrsg. von Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell. Mnchen,
Leipzig: Saur 2003, S. 139-173, hier: S. 146f.

180
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

sen, Formen und Ausdrucksmitteln99 sein soll, dann kann eine Poetik
des Wahnsinns kaum etwas anderes als sein als eine Poetik, die die voll-
stndige Unmglichkeit jeder Poetik, jedes sicheren Wissens ber die
Entstehung von Literatur also, behauptete. Eine Poetik des Wahnsinns
wre ein Oxymoron. Das serapiontische Prinzip, so kann man folgern,
kann nur dann eine Poetik des Wahnsinns entfalten, wenn es sich bei
dieser nicht mehr um etwas handelt, das in irgendeiner Weise Poetik
Lehre von der Produktion von Literatur genannt werden kann.
Dieser Widerspruch ist nur einer von mehreren, die aus der zentralen
Paradoxie der Serapionsgeschichte der strukturelle Umschlag eines Un-
vermgens in ein Vermgen folgen. Nachdem Cyprian von seiner Be-
gegnung mit dem Einsiedler berichtet hat und Lothar festgestellt hat, dass
just an diesem Tag der Namenstag Serapions zu feiern sei (Heute ist Se-
rapionstag!100), zgert er nicht, den eingebildeten Mrtyrer zum
Schutzpatron101 der Versammlung der Freunde zu ernennen. Wenn die
Serapionsbrder ausgerechnet den scheinbar verrckten Einsiedler Se-
rapion zu ihrem Schutzpatron erklren, dann grnden sie eine Ge-
meinschaft im Namen genau der Singularitt, die der Wahnsinn nach
Kant ist. Die Gemeinschaft der Serapionsbrder ist eine Gemeinschaft im
Namen der vollstndigen Vereinzelung und Singularisierung; eine Ge-
meinschaft im Geiste der Nichtgemeinschaft.

Zwei Perspektiven auf den Wahnsinn


Die enthusiastische Theorie des Wahns

Es stellt sich die Frage, ob und wie der Zusammenhang zwischen Wahn-
sinn und Ironie, wie ihn bereits Schlegel andeutet, in Hoffmanns Texten
entwickelt wird. Es kann deshalb im Folgenden nicht darum gehen, sich
zu fragen, ob Hoffmann den Wahnsinn idealisiert oder verklrt102
hat oder nicht. Vielmehr soll versucht werden, ein bestimmtes Bild des
Wahnsinns zu beschreiben, das Hoffmanns Texte zugleich suggerieren
und ironisch brechen. Es gibt in Hoffmanns Texten immer zwei Perspek-
tiven auf den Wahnsinn, welche in einer ironischen Widersprchlichkeit
zueinander stehen.

99 Otto F. Best: Handbuch literarischer Grundbegriffe. Definitionen und


Beispiele. berarb. und erw. Ausgabe. Frankfurt am Main: Fischer Ta-
schenbuch Verlag 1994, S. 410.
100 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
67.
101 Ebd., S. 69.
102 Vgl. Hillen: Die Pathologie der Literatur (wie Anm. 94), S. 231f.

181
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Die erste Bedeutung des Wahnsinns bei Hoffmann ist das Bild des
Wahnsinns, wie es etwa der Selbstbeschreibung Serapions zu entnehmen
ist. Der Wahnsinnige ist demnach derjenige, der in einer anderen Welt
als die gewhnlichen Menschen lebt, weil ihm seine Phantasie Sphren
erschliet, die diesen fr immer verschlossen bleiben mssen. Diese erste
Perspektive auf den Wahnsinn entspricht damit der emphatischen
Knstler-Thematik und dem Diskurs des Enthusiasmus in Hoffmanns
Erzhlungen.103
Die Einsamkeit des enthusiastischen Knstlers ist diesem Diskurs zu-
folge das Ergebnis seiner Begabung, die gewhnliche Realitt zu trans-
zendieren, in die tiefste Tiefe104 zu schauen im Gegensatz zum
gewhnlichen Menschen, der oft genug nicht weiter zu schauen ver-
mag, als eben seine Nase reicht.105 Diese Einsamkeit folgt aus der Unf-
higkeit des normalen Menschen, die begeisterten Einsichten des
Wahnsinnigen zu teilen.106 Doch freilich, wie sollte ein Kind der Welt,

103 Vgl. Franz Loquai: Knstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt
am Main u.a.: Lang 1984 (Helicon. 4), S. 100: Alle zentralen Knstler-
gestalten Hoffmanns sind entweder von Melancholie oder Wahnsinn be-
fallen. [...] Im Unterschied zu den Normalbrgern ist bei allen diesen Fi-
guren, seien sie genuine Knstler oder Menschen mit Sinn fr die Poesie
[...], ein gesellschaftlicher Auenseiterstatus von entscheidender Bedeu-
tung. Die Knstler sehen sich auf Grund ihrer marginalen Stellung um
die Verbindlichkeit der Kunst gebracht, wohingegen die Philister mit ge-
knsteltem Verhalten den Verlust brgerlicher Integration nicht riskie-
ren. Allerdings ist zu bedauern, dass diese Analyse der Beziehung des
Knstlers zur Gesellschaft (wie viele andere Analysen auch) gnz-
lich die Perspektive der Knstlerfiguren einnimmt und ignoriert, dass die-
se in Hoffmanns Erzhlungen stets in ihrer ironischen Limitation darge-
stellt. Vgl. Karl Ludwig Schneider: Knstlerliebe und Philistertum im
Werk E.T.A. Hoffmanns [1967]. In: Die deutsche Romantik. Poetik, For-
men und Motive. Hrsg. von Hans Steffen. 4. Aufl. Gttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1989, S. 200-218; Altrud Dumont: Interimistisches
Provisorium Methodischer Wahnsinn: Das Interessante. Theorie und
narrative Praxis bei Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann. Stuttgart:
Heinz 1995, S. 180.
104 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
25 (Der Einsiedler Serapion).
105 Ebd., S. 28 (Der Einsiedler Serapion).
106 So schreibt Jean Paul in der Vorrede zu Quintus Fixlein: Der Held, das
Genie und jeder Mensch mit einem groen Entschlu oder auch nur ei-
ner perennierenden Leidenschaft (und wr es die, den grten Folianten
zu schreiben), alle diese bauen sich mit ihrer inneren Welt gegen die Kl-
te und Glut der uern ein, wie der Wahnsinnige im schimmern Sinn: je-

182
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

trgt es auch den besten Willen dazu in sich, den Gott geweihten Ana-
choreten begreifen knnen in seinem Tun und Treiben!,107 erklrt Sera-
pion das Unverstndnis Cyprians.
Der sprechende Hund Berganza aus Hoffmanns Nachricht von den
neuesten Schicksalen des Hundes Berganza beschreibt den Wahnsinni-
gen in diesem Sinn als eine Person, die gescholten wird, weil sie ei-
ne groe heiligen Idee verfolgt und durch diese das uere und tote
Leben durch die Kraft seines Inneren entzndet und belebt:

In gewissem Sinn ist jeder nur irgend exzentrische Kopf wahnsinnig und
scheint es desto mehr zu sein, je eifriger er sich bemht, das uere matte tote
Leben durch seine inneren glhenden Erscheinungen zu entznden. Jeden, der
einer groen heiligen Idee, die nur der hheren gttlichen Natur eigen, Glck,
Wohlstand, ja selbst das Leben opfert, schilt gewi der, dessen hchste Bem-
hungen im Leben sich endlich dahin konzentrieren, besser zu essen und zu trin-
ken, und keine Schulden zu haben, wahnsinnig, und er erhebt ihn vielleicht, in-
dem er ihn zu schelten glaubt, da er als ein hchst verstndiger Mensch jeder
Gemeinschaft mit ihm entsagt. So sprach oft mein Herr und Freund Johannes
Kreisler.108

Wahnsinn in dieser ersten Perspektive ist das Gegenkonzept zu jeder


konomie der Vermgen: Er steht ein fr eine totale Verausgabung der
eigenen Krfte, aber ebenso auch fr einen Abbruch jeder Gemein-
schaft und also der Befhigung des kommunikativen Austauschs mit
gewhnlichen Menschen. Der in diesem Sinn als wahnsinnig Be-
zeichnete ist derjenige, der von den hchst verstndigen Menschen
verachtet wird, aber diese Verachtung erhebt ihn zugleich, denn die
hchste Verstndigkeit der normalen Menschen ist eigentlich eine
vollstndige Verstandeslosigkeit und insofern der eigentliche Wahn-
sinn.
Wahnsinnig und verstndig (mit Verstand ausgestattet: gesund)
knnen so zu austauschbaren Bezeichnungen werden: Der Wahnsinnige
wird so genannt, weil er als exzentrischer Kopf ber zu viel Verstand

de fixe Idee, die jedes Genie und jeden Enthusiasten wenigstens perio-
disch regiert, scheidet den Menschen erhaben von Tisch und Bett der Er-
de (Jean Paul: Smtliche Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Abteilung I:
Bd. 1-6. Abteilung II: Bd. 1-4. Frankfurt am Main: Zweitausendeins
1996, Abt. I, Bd. 4, S. 10f.).
107 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
34 (Der Einsiedler Serapion).
108 Ebd., Bd. 2/1, S. 125 (Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hun-
des Berganza).

183
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

verfgt, um das tote Leben derjenigen zu leben, die ihn so nennen.109


Der Wahnsinnige wird von der Gemeinschaft ausgegrenzt und stigmati-
siert, aber darin sieht er nichts anderes als den Wahnsinn der anderen.
Der erste Diskurs des Wahnsinns in Hoffmanns Texten entspricht
damit dem, was Susan Sontag als die romantische Metaphorisierung
des Wahnsinns bezeichnet hat. Sontag interpretiert die Figur des Wahn-
sinns in den Texten dieser Zeit als Metapher fr eine Art von Exil,110
fr eine Ausgrenzung des Betroffenen aus der Masse, die dessen Exklusi-
vitt begrndet. In Hoffmanns Texten bezieht sich diese Herausgehoben-
heit vor allem auf eine besondere Befhigung zur Ausrichtung nach
Ideen, zu welcher der Mensch der Masse nicht fhig scheint.111
Wahnsinn erscheint in dieser Perspektive nicht als Gegensatz zum
Verstand, sondern geradezu als ein Element desselben. Die Basis des
Verstandes selbst also ist der Wahnsinn, behauptet Schelling in seinen
Stuttgarter Privatvorlesungen bndig. Die weitere Ausfhrung dieses Ge-
dankens zielt, in einer berbietung des Kantschen Diskurses ber den
Enthusiasmus, auf den gttlichen Wahnsinn der Begeisterung, der
zuallererst eine Belebung des Verstandes verspricht:

Daher der Wahnsinn ein nothwendiges Element, das aber nur nicht zum Vor-
schein kommen, nur nicht aktualisiert werden soll. Was wir Verstand nennen,
wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als ein
geregelter Wahnsinn. [...] Die Menschen, die keinen Wahnsinn in sich haben,
sind die Menschen von leerem, unfruchtbarem Verstand. Daher der umgekehrte
Spruch: nullum magnum ingenium sine quadam dementia; daher der gttliche
Wahnsinn, von dem Plato, von dem die Dichter sprechen. Nmlich, wenn die-
ser Wahnsinn durch Einflu der Seele beherrscht ist, dann ist er ein wahrhaft
gttlicher Wahnsinn, dann der Grund der Begeisterung, der Wirksamkeit ber-
haupt.112

109 Vgl. Shoshana Felman: Writing and Madness (Literature, Philosophy,


Psychoanalysis). bers. von Martha Noel Evans und Shoshana Felman.
Ithaca, NY.: Cornell University Press 1987, S. 83.
110 Susan Sontag: Krankheit als Metapher [1977]. bers. von Karin Kersten
und Caroline Neubaur. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag
1981, S. 43.
111 Vgl. Georg Wellenberger: Der Unernst des Unendlichen. Die Poetologie
der Romantik und ihre Umsetzung durch E.T.A. Hoffmann. Marburg:
Hitzeroth 1986 (Marburger Studien zur Literatur. 3), S. 196.
112 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen
[1810]. In: ders.: Schriften von 1806-1813. Unvernd. reprograf. Nach-
druck d. Ausg. Stuttgart u. Augsburg, Cotta, 1861. Darmstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 361-428, hier: S. 410. Vgl. zu die-

184
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Die erste Bedeutung des Wahnsinns bei Hoffmann bezeichnet so eine


Gruppe von Figuren, die sich als anders begreifen, insofern sie die Din-
ge nicht instrumentell nach Vor- und Nachteil abwgen, sondern sie
vermittels ihrer feurigen Einbildungskraft in Bezug auf eine groe
heilige Idee setzen. Die Phantasie ist das Vermgen der Ideale, und da-
rum auch das einzig schaffende und zeugende im Menschen,113 heit es
entsprechend emphatisch in der Psychologie (1817) des Schelling-Sch-
lers Carl August Eschenmayer. Die Personen, die ihr Leben nach einem
Ideal ausrichten und sich von ihrer Phantasie leiten lassen, nennt Hoff-
mann, in bereinstimmung mit der philosophischen Tradition, Enthusia-
sten.
Im Vergleich mit Kant verschiebt sich bei Hoffmann die Quelle des
Enthusiasmus. Whrend es fr Kant die Idee des Guten und also die
Moral war, welche die Einbildungskraft zur enthusiastischen berschrei-
tung ihrer Grenzen bewegen kann, ist es fr Hoffmanns Figuren die
Kunst als dasjenige Medium, in dem sich das Individuum seine eigene
Welt erfinden kann. Kunst wird damit zur Schau einer hheren
Welt,114 und die Quelle der Begeisterung folglich: die Begeisterung. En-
thusiasmus wird fr Hoffmann selbstbegrndend, indem es durch die
Aussicht auf eine Schpfung der gesamten Welt im Lichte einer groen
heiligen Idee und also durch sich selbst ausgelst wird. Es kann unter
diesen Umstnden nicht verwundern, dass sich die Verstndigungspro-
bleme zwischen den Enthusiasten und den Nicht-Enthusiasten in Hoff-
manns Figurengefge verschrfen. Dem enthusiastischen Knstler wird
die Grundspannung zwischen Ideal und Wirklichkeit [...] ganz beson-
ders akut.115 So liest man in Don Juan: Nur der Dichter versteht den
Dichter; nur ein romantisches Gemt kann eingehen in das Romantische;
nur der poetisch exaltierte Geist [...] das verstehen, was der Geweihte in
der Begeisterung ausspricht.116

ser Passage Lszl Fldnyi: Melancholie [1984]. bers. von Nora Tahy.
2., erw. Aufl. Berlin: Matthes & Seitz 2004, S. 288f.
113 Carl August Eschenmayer: Psychologie [1817]. Hrsg. von Peter Krum-
me. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1982, S. 261. Jedes Prin-
zip der Vernunft wre todt und ungebraucht, unsere ganze Kategorienta-
fel und unser Fundamentalwesen wre ein lebloses Fachwerk, wenn es
nicht durch den lebendigen Hauch der Phantasie begeistet, und das Prin-
zip zum Ideal der Konstruction erhoben wrde (ebd.).
114 Otto Nipperdey: Wahnsinnsfiguren bei E.T.A. Hoffmann. Diss. Kln
1957, S. 150.
115 Ebd., S. 149.
116 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 2/1, S.
92 (Don Juan).

185
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Die mesmeristische Theorie des Wahns

Es zeigt sich freilich, dass bereits in der Diskussion der Serapionsbr-


der wesentliche Transformationen an dem vorgenommen werden, was
Wahnsinn in Hoffmanns Texten heit. Zwar scheint Cyprians Erzh-
lung ber Serapions Dichtertalent die Befhigung von dessen Phan-
tasie anzuerkennen, aus sich heraus eine ganze Welt hervorzubringen.
Aber gerade die Erzhlung des Vorgangs, dass die von Serapions Phanta-
sie hervorgebrachten und geuerten Gestalten in Cyprians Phantasie
mit einem glhenden Leben hervortreten, lsst sich kaum mit den Aus-
sagen des Einsiedlers ber die unabhngige und souverne Macht der
Einbildungskraft vereinen.
Aus der Erzhlung folgt ein eklatanter Widerspruch zu Serapions ei-
genen Annahmen ber die Natur seiner Einbildungskraft. Wenn Cyprian
besttigt, dass er durch Serapions Erzhlung bestrickt von magischer
Gewalt wurde und ihm die Gestalten aus dieser Rede wie im
Traum als real erschienen seien, dann fhrt er zwar die Kraft der Einbil-
dungskraft vor, Dinge als sinnlich erfahrbar erscheinen zu lassen, die
nicht sinnlich anwesend sind. Im gleichen Zug jedoch negiert diese
Schilderung die von Serapion behauptete Unabhngigkeit des schpfen-
den Geistes von anderen Geistern. Wenn Cyprian durch die Erzh-
lung Serapions Dinge und Gestalten zu sehen vermeint, die er mit
seinen Sinnesorganen nicht zu sehen vermocht htte, dann steht seine
Einbildungskraft unter dem Bann der feurigsten Phantasie Serapions.
Cyprians Erzhlung dementiert folglich Serapions Aussagen, gerade
durch die persuasive Gewalt von Serapions Sprache.
Die Vorstellung einer autonomen Einbildungskraft erhlt in dem
Rahmengesprch der Serapionsbrder weitere Korrekturen. In dem Ge-
sprch, das der Verkndung des serapiontischen Prinzips vorausgeht,
wird die Fremdbestimmtheit der Phantasmen Serapions festgestellt. Die
Rede des Serapionsbruders Lothar hebt die Rolle der Auenwelt als
initialisierende und beeinflussende Macht fr die Einbildungskraft her-
vor:

Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als da irgendein


feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizitt geraubt hatte, von der ei-
gentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist. Es gibt eine innere Welt, und die
geistige Kraft, sie in voller Klarheit [...] zu schauen, aber es ist unser irrdisches
Erbteil, da eben die Auenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt,
der jene Kraft in Bewegung setzt. Die innern Erscheinungen gehen auf in dem
Kreise, den die ueren um uns bilden und den der Geist nur zu berfliegen
vermag in dunklen geheimnisvollen Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bil-
de gestalten. Aber du, o mein Einsiedler! statuiertest keine Auenwelt, du sahst

186
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

den versteckten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft; und wenn
du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptetest, da es nur der Geist sei, der sehe,
hre, fhle, der Tat und Begebenheit fasse, und da also auch sich wirklich das
begeben, was er dafr anerkenne, so vergaest du, da die Auenwelt den in
den Krper gebannten Geist zu jenen Funktionen der Wahrnehmung zwingt
nach Willkr.117

Ist Serapion wahnsinnig, weil er die Auenwelt durch die Kreationen sei-
ner eigenen Phantasie ersetzt hat, oder liegt sein Wahnsinn gerade im
Gegenteil darin, dass er verga, wie die Auenwelt noch in seine
scheinbar innersten Gedanken eingreift? Die Ausfhrungen Lothars bil-
den ein Gegenmodell zu dem, was Serapion ber die Unabhngigkeit sei-
nes Geistes von der Materialitt der sinnlichen Wahrnehmung ausge-
sagt hat. Der Geist erscheint hier nicht mehr als der Souvern ber ei-
ne ohne ihn vollstndig leblose Welt, sondern vielmehr als eine Kraft,
die nicht unabhngig ist von einer anderen Kraft (des Auen), die wie
ein Hebel aus sein Inneres einwirkt und ihn zu den Funktionen der
Wahrnehmung gar nach Willkr zwingen kann. Die Metapher des
Hebels suggeriert, dass jene Kraft den Geist gleichsam zu einem
Teil einer Mechanik werden lsst, die auf bestimmte Einwirkungen eben-
so willenlos wie wiederholbar bestimmte Reaktionen folgen lsst.
Man knnte vermuten, dass Lothars Replik auf Serapions Betonung
der Phantasie fr die Beziehung des Geistes zu seiner Auenwelt eine
dramatisierte Variante eines Kantischen Arguments darstellt, welches die
Bedeutung der Einbildungskraft fr die Herstellung einer konsistenten
Erfahrung durchaus anerkennt, aber zugleich auf der notwendigen Rol-
le einer Auenwelt beharrt, die jeden Prozess der Erfahrung an-
stt.118 Wenn Lothar dem Geist die Aufgabe zuweist, den durch die
ueren Erscheinungen ausgelsten Kreis (in dem die innern Er-
scheinungen aufgehen) zu berfliegen [...] in dunklen geheimnisvol-
len Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten, erinnert die-
se Skizze an Kants Formulierung, die Synthesis als eine Wirkung der
Einbildungskraft sei eine blinde, obgleich unentbehrliche Funktion der
Seele.119 Trotz dieser Analogien ergibt Lothars Beschreibung der Ttig-

117 Ebd., Bd. 4, S. 68.


118 Vgl. Gtz Mller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse. Anno-
tationen zu Adam Bernd, Karl Philipp Moritz und Jean Paul. In: ders.:
Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufstze. Hrsg. von Wolfgang Rie-
del. Wrzburg: Knigshausen & Neumann 1996, S. 140-164, hier: S. 164
(Funote 81).
119 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 2, S. 117 (KrV A 78, B
103).

187
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

keit des Geistes letztendlich ein vllig anderes Bild als das der Trans-
zendentalen Synthesis bei Kant. Lothars Feststellung zielt nicht auf die
von Kant unter dem Begriff der Endlichkeit beschriebene Abhngigkeit
des menschlichen Erkennens von einer ihm vorgngigen Welt, sondern
beschreibt vielmehr eine aktive Einwirkung der Auenwelt auf das In-
nere des Geistes (den versteckten Hebel).
Lothars Beschreibung ergibt damit ein Bild des Wahnsinns, das kon-
trr ist zu dem von Serapion gezeichneten: eine zweite Bedeutung des
Wahnsinns in Hoffmanns Texten. Wahnsinn ist hier nicht mehr die Be-
zeichnung fr einen enthusiasmierten Geist, der unbeirrt eine groe
heilige Idee verfolgt, sondern gerade im Gegenteil der Name fr die
Abhngigkeit des Geistes von einem Auen. Whrend die erste Perspek-
tive auf den Wahnsinn in Hoffmanns Erzhlungen einen Diskurs des En-
thusiasmus hervorbringt, zeigt sich die zweite Perspektive in einem Dis-
kurs des Mesmerismus.
Diese nach ihrem Vordenker Franz Anton Mesmer benannte medizi-
nisch-philosophische Lehre faszinierte gegen Ende des 18. und Beginn
des 19. Jahrhunderts vor allem durch zwei Elemente. Zum einen insze-
nierte der therapeutische Rapport ein neues Modell von Intersubjektivi-
tt, indem er eine Einwirkung einer Psyche auf eine andere ohne eine an-
dere Vermittlung als den Blick des Magnetiseurs zu ermglichen schien.
Zum anderen gab es zahlreiche Spekulationen, inwiefern der somnabu-
le Zustand des mesmerisierten Patienten einen Zugang zur sonst uner-
reichbaren noumenalen Realitt erffnen knne.120 Beide Elemente kom-
men fr den Naturphilosophen Johann Wilhelm Ritter darin zusammen,
dass der magnetisierte Mensch durch den Verlust seiner eigenen Willens-
kraft die Anwesenheit eines Willens der Natur erfahren kann. Im
Schlaf, schreibt Ritter, sinkt der Mensch in den allgemeinen Organis-
mus zurck. Hier ist sein Wille unmittelbar der der Natur, und umge-

120 Vgl. zur Entwicklung und zur Rezeptionsgeschichte des Mesmerismus


Robert Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklrung in
Frankreich. bers. von Martin Blankenburg. Mnchen, Wien: Hanser
1983, bes. S. 51ff.; zur Rezeption insbesondere in Deutschland vgl. Ha-
rald Neumeyer: Magnetische Flle um 1800. Experimenten-Schriften-
Kultur zur Produktion eines Unbewuten. In: Literarische Experimental-
kulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Hrsg. von
Marcus Krause und Nicolas Pethes. Wrzburg: Knigshausen & Neu-
mann 2005 (Schriften zur Kulturpoetik. 4), S. 251-285; vgl. auch Uwe
Henrik Peters: Somnabulismus und andere Nachtseiten der menschlichen
Natur. In: Kleist-Jahrbuch (1990), S. 135-152, hier: S. 148.

188
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

kehrt. Beide sind jetzt eins.121 Entsprechend gilt auch der knstliche
Schlaf der Somnabulen als ein Mittel, eine Einheit mit der Natur herzu-
stellen, die bewusst nicht zu erreichen ist: Im tierischen Magnetismus
kommt man aus dem Gebiete der Willkr heraus, und ganz herber in
das der Unwillkr, oder dem, wo der organische Krper sich wieder als
anorganischer verhlt, doch aber so beider Geheimnisse veroffenbart.122
Gegen diese Vorstellung eines Aufgehens des eigenen Willens in demje-
nigen der Natur beschreibt Hoffmann bereits in dem Fantasiestck Der
Magnetiseur die Beziehung zwischen Magnetiseur und Magnetisiertem
wesentlich als eine Machtbeziehung. Der Magnetiseur erscheint hier als
der Knig der Geister.123
In der Diskussion der Serapionsbrder ber den Mesmerismus ver-
lagert sich dagegen der Schwerpunkt des Interesses von der Analyse von
Machtbeziehungen zu dem Zusammenhang von Mesmerismus und Spra-
che. Der Serapionsbruder Theodor erzhlt, auf welche Weise er in
den Magnetismus hineingeriet.124 Diese Erzhlung beschftigt sich mit
der Frage, inwiefern die Magnetisierten im somnabulen Schlaf eine
Hellsicht erreichen knnen. Die kognitiven Fhigkeiten des Somnabu-

121 Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Phy-
sikers. Ein Taschenbuch fr Freunde der Natur [1810]. Hrsg. von Steffen
und Birgit Dietzsch. Leipzig, Weimar: Kiepenheuer 1984, S. 205.
122 Ebd., S. 205f.
123 Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 2/1, S.
213 (Der Magnetiseur). Vgl. Gtz Mller: Modelle der Literarisierung
des Mesmerismus. Mesmers Versuche, das Unbekannte zu erklren. In:
Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Hrsg. von Gereon Wolters.
Konstanz: Universittsverlag Konstanz 1988 (Konstanzer Bibliothek.
12), S. 71-86, hier: S. 73-76; Margarete Kohlenbach: Ansichten von der
Nachtseite der Romantik. Zur Bedeutung des animalischen Magnetismus
bei E.T.A. Hoffmann. In: Die deutsche literarische Romantik und die
Wissenschaften. Hrsg. von Nicholas Saul. Mnchen: Iudicium 1991, S.
209-233; Jrgen Barkhoff: Die Literarisierung des Mesmerismus bei
E.T.A. Hoffmann. Ein Heilkonzept zwischen Naturphilosophie, Technik
und sthetik. In: sthetik und Naturerfahrung. Hrsg. von Jrg Zimmer-
mann. Stuttgart-Bad Canstatt: frommann-holzboog 1996 (exempla
aesthetica. 1), S. 269-283; Ingrid Kollak: Literatur und Hypnose. Der
Mesmerismus und sein Einflu auf die Literatur des 19. Jahrhunderts.
Frankfurt am Main, New York: Campus 1997, S. 148f.; Odila Triebel:
Staatsgespenster. Fiktionen des Politischen bei E.T.A. Hoffmann. Kln,
Weimar, Wien: Bhlau 2003 (Literatur und Leben. 60), S. 72-82; Neu-
meyer: Magnetische Flle um 1800 (wie Anm. 119), S. 276-281.
124 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
320.

189
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

len werden hier als eine auerordentliche Fhigkeit zur intellektuellen


Selbstanschauung beschrieben: Der Magnetiseur berichtete den wibe-
gierigen Anwesenden, dass die somnabule Dame in den fnften Grad, in
den Zustand der von der uern Sinnenwelt unabhngigen Selbstan-
schauung bergehe.125
Die anschlieende Beschreibung der Magnetisierung macht klar, dass
Magnetismus fr Hoffmann vor allem als eine Form des Redens von In-
teresse ist. Da die Sprache die einzige Mglichkeit des Somnabulen ist,
seinen Zustand zu vermitteln, ist Magnetismus wesentlich eine Alterisie-
rung der Rede. Der Willensverlust des Magnetisierten entspricht dem
Verlust der Mglichkeit, Rede intentional und bewusst zu gebrauchen:
Die Sprache des Somnabulen ist von vornherein ironisch. Insofern das
Sprechen der Somnabulen ein Sprechen ohne Intention und Inhalt, ohne
Ausdrucks oder Mitteilung ist, stellt es den experimentellen Versuch dar,
jenen Anfang aller Poesie zu erreichen, den Schlegel darin sah, den
Gang und Gesetze der vernnftig denkenden Vernunft aufzuheben.126
Die Sprache der Somnabulen ist, wie Theodors Erzhlung vorfhrt, eine
Sprache des Wahnsinns: Sie besteht aus mystischen Worten und sonder-
baren Redensarten und also aus leeren Signifikanten:

Die somnabule Dame fing abermals an zu reden, aber mit ganz verndertem
seltsam und wie ich gestehen mu, ber die Maen wohlklingendem Organ. Sie
sprach indessen in solch mystischen Worten und sonderbaren Redensarten,
da ich gar keinen Sinn herausfinden konnte, der Magnetiseur versicherte in-
dessen, sie sage die herrlichsten, tiefsten, lehrreichsten Dinge ber ihren Ma-
gen. Das mute ich nun freilich glauben. Von dem Magen abgekommen, wie
wiederum der Magnetiseur erklrte, nahm sie noch einen hhern Schwung. Zu-
weilen war es mir, als kmen ganze Stze vor, die ich irgendwo gelesen. Etwa
in Novalis Fragmenten oder in Schellings Weltseele.127

Es entspricht den geschlechtsdifferenzierenden Koordinaten der Zeit,


dass es eine somnabule Dame ist, die hier mit einem ber die Maen
wohlklingendem Organ den Unsinn ausspricht, als welchen der Mesme-
rismus Sprache berhaupt erkennbar werden lsst. Bereits Kant bemerkt
in seiner Anthropologie, dass der Unsinnigkeit (amentia) als dem Un-
vermgen, seine Vorstellungen auch nur in den zur Mglichkeit der Er-
fahrung ntigen Zusammenhang zu bringen, [...] in den Tollhusern [...]

125 Ebd., S. 323.


126 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, S.
311f. (Rede ber die Mythologie).
127 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
323.

190
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

das weibliche Geschlecht, seiner Schwatzhaftigkeit halber, [...] am mei-


sten unterworfen128 sei.
Wenn der Weiblichkeit das sinnlose Aneinanderreihen leerer Signifi-
kanten zugeordnet wird, dann der Mnnlichkeit in der Gestalt des Ma-
gnetiseurs der hermeneutische Zugriff, der die mystischen Worte
nicht ohne eine gewisse Gewalt mit einem Sinn versieht und erklrt,
was sie eigentlich sagen. Was in den Fallgeschichten des Mesmerismus
zumeist als die Machtbeziehung zwischen einer gefhlsbetonten und re-
zeptiven Somnabulen einerseits und einem willensstarken und aktiven
Magnetiseur dargestellt wird,129 erscheint hier als eine sprachliche Rela-
tion. Das Konzept des Mesmerismus bei Hoffmann entwirft ein Modell
der Sprache, das der Beschreibung der Ironie bei Schlegel hnelt: Hier
wie dort ist Sprechen etwas, das einem Sprechenden geschieht, ohne dass
er es kontrollierte.
Indem Lothar darauf verweist, dass die Auenwelt Serapions in
den Krper gebannten Geist zu seinen Vorstellungen nach Willkr
zwingt, interpretiert er seinen Wahnsinn als das Ergebnis einer Mesme-
risierung. Das enthusiastische Genie wird erkannt als eine Parallelfigur
der somnabulen Dame, deren Sprache gar keinen Sinn ergeben mag.
Der Unterschied zwischen den beiden Modellen des Wahnsinns in Hoff-
manns Texten liegt vor allem in der verschiedenen Rolle, die sie dem
wahnsinnigen Ich zuschreiben. Ist der Enthusiast Hoffmanns buch-
stblich ein Zauberer der Sprache, der es bewirken kann, dass seine Wor-
te wie Bilder erscheinen, verliert das Sprechen des Mesmerisierten jeden
Sinn und wird leeres Gestammel. Dadurch ndert sich auch die Stabilitt
des Ich, welche doch in einem sprachlichen Akt erst hergestellt wird. Ist
das Ich im Modell des Enthusiasmus schlichtweg vorgegeben, wird es im
Modell des Mesmerismus erst als das Ergebnis eines Dramas erkennbar.

128 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 6, S. 530 (Anthropolo-
gie, BA 144). George Steiner zufolge ist diese Assoziation von Schwatz-
haftigkeit, Wahnsinn und Weiblichkeit Bestandteil einer uralten Topik.
In allen uns bekannten Kulturen behaupten Mnner, Frauen seien ge-
schwtzig und verschwendeten Wrter wie die Wahnsinnigen (George
Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des bersetzens. Zweite
Ausgabe [1992]. bers. von Monika Plessner. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 2004, S. 39).
129 So heit es in Eschenmayers Psychologie: Der magnetische Rapport ist
am strksten zwischen dem ungleichen Geschlecht. Da es offenbar hier
von dem geistigen Verhltni des Willens zur Gefhlseinheit und von
dem organischen Verhltni der Energie zur Receptivitt ausgeht, so
wird der Mann immer am strksten auf das weibliche Geschlecht wirken
(Eschenmayer: Psychologie [wie Anm. 113], S. 236).

191
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

In diesem Drama fungiert das Ich nicht als handelnde Figur (und auch
nicht als Autor), sondern ist allenfalls die Summe aller Handlungen.

Ironie und die Grundstruktur


der Hoffmannschen Erzhlung

Die zweite Perspektive auf den Wahnsinn ist im Unterschied zur ersteren
nicht mehr psychologisch zu nennen, denn sie fhrt die Phantasmen
des Wahns nicht mehr auf ein produzierendes Ich130 zurck, sondern
begreift das Ich allenfalls noch als eine leere Bhne, als bloes Me-
dium der Darstellung.131 Serapions romantische Hymne auf die Unab-
hngigkeit des schaffenden Geistes ist in dieser Perspektive nichts an-
deres als das Vergessen einer vlligen Abhngigkeit desselben von
einer Auenwelt, die den in den Krper gebannten Geist zu jenen
Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkr.
Whrend Serapion den Geist als eine reine aktive Kraft beschreibt,
ist er in Lothars Darstellung nur scheinbar aktiv und eigentlich voll-
kommen passiv und gelenkt. Sein aktives Potential erschpft sich darin,
dunkle geheimnisvolle Ahnungen hervorzubringen, er ist weitaus eher
das Organ einer vollstndigen Rezeptivitt und Passivitt. Die Einbil-
dungskraft, die im Modell Serapions noch das oberste Vermgen eines
sich selbst und seine Welt frei erschaffenden Geistes war, wird damit zu
einer Art von Doppelagent im Bewusstsein zu einer Macht, die nicht
nur schwer zu kontrollieren und zu bndigen ist, sondern von der noch
nicht einmal gesagt werden kann, in wessen Dienst sie steht.
In Hoffmanns Texten werden demnach zwei verschiedene Diskurse
ber den Wahnsinn ausgetragen. Zum einen ist Wahnsinn die Bezeich-
nung fr eine berschreitung der Erfahrung, die darauf zielt, das uere
matte, tote Leben durch [...] innere glhende Erscheinungen zu entzn-
den (Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza).

130 Friedrich A. Kittler: Das Phantom unseres Ichs und die Literaturpsy-
chologie: E.T.A. Hoffmann Freud Lacan. In: Urszenen. Literaturwis-
senschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. von Friedrich A.
Kittler und Horst Turk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 139-166,
hier: S. 143.
131 Insofern ist Friedrich Kittlers These zu widersprechen, Hoffmanns gan-
zes Werk sttze die psychologische Perspektive auf den Wahnsinn,
die diesen ausschlielich als das Ergebnis einer unbewuten Einwirkung
des Ich auf sich selbst deutet (Ebd., S. 142). Kittlers lacanesque Lektre
von Der Sandmann zeigt bereits, dass diese Perspektive in Hoffmanns
Texten nicht die einzige ist.

192
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Whrend die Philister die zu solcher Transzendenz befhigten Men-


schen als wahnsinnig bezeichnen, kann dieses Wort fr jene zu einer
Auszeichnung werden, denn sie nehmen es als einen Beleg dafr, dass
sich ihre Erfahrungswelt von der eines gewhnlichen Menschen unter-
scheidet, dessen hchste Bemhungen im Leben sich endlich dahin
konzentrieren, besser zu essen und zu trinken und keine Schulden zu ha-
ben. Zum anderen bezeichnet Wahnsinn die Anflligkeit des Geistes
fr einen abrupten Einbruch des versteckten Hebels der Auenwelt
in die innere Welt, die umso grer ist, je mehr dieser Hebel verges-
sen wird.
Wenn es nun zutrifft, dass sich in Hoffmanns Texten Ironie und
Wahnsinn verbnden, dass Hoffmann sowohl eine strukturelle Identitt
von Ironie und Wahnsinn beschreibt als auch bestimmte Vorstellungen
dessen, was Wahnsinn ist, ironisiert, wenn dies zutrifft, dann wird es
kaum mglich sein, diese Verbindung mit einer rein thematischen Analy-
se nachvollziehen zu knnen. Allein schon aufgrund ihrer temporalen
Struktur hat die Ironie eine Komplizitt mit der Narration. Die Erzh-
lung, die eine oder mehrere berraschende Wendungen nehmen oder mit
einem offenen, mehrdeutigen Ende abbrechen kann, ermglicht bei-
spielsweise durch einen Widerspruch zwischen dem Wissen der
handelnden Figuren und dem des Erzhlers eine strukturelle Ironie.
Wie aber wird Ironie in einer Narration strukturell wirksam? Eine
narrative Ironie ergibt sich in Hoffmanns Geschichten wesentlich da-
durch, dass die Protagonisten als Agenten eben der Reflexion und der
Synthese auftreten, deren Unerreichbarkeit und Unmglichkeit Ironie
nach Schlegel insgesamt vorfhrt. Entsprechend sind Hoffmanns Akteure
stets auf der Suche nach Aufklrung, nach der Lsung eines Geheimnis-
ses und nach der Klrung der eigenen Identitt. Die Synthese wird dabei,
wie die Geschichte um den Einsiedler Serapion vorfhrt, als ein Medien-
wechsel erzhlbar: Die Vielzahl der Worte verwandeln sich in die Klar-
heit des geschauten Bildes. Das Bild ist jedoch, in der Geschichte Se-
rapions wie in weiteren Erzhlungen Hoffmanns, von ambivalentem
Wert: Whrend der Enthusiast glaubt, in ihm die Auflsung und Auf-
klrung aller Rtsel und seiner Identitt gefunden zu haben, zeigt sich die
Ironie der Hoffmannschen Erzhlungen darin, die Struktur der Tu-
schung, Irrung und Selbsttuschung aufzuzeigen, die das Bild als Phan-
tasma und Wahn erkennbar machen. Die Sprache des Mesmerismus als
Negativfolie derjenigen des Enthusiasmus ist es, welche die erreichte
Synthese und das gewonnene Bild sogleich als eine Verstrickung in
Phantasmen erkennbar werden lsst.
Die allgemeine Struktur der Erzhlungen Hoffmanns ergibt sich
durch das Auftauchen eines Geheimnisses und dem folgenden Versuch

193
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

seiner Auflsung. Hoffmanns Figuren sammeln Informationen und beob-


achten Einzelheiten, um sich ein Bild der Dinge zu machen. Wie Sera-
pion darauf insistiert, dass es nur sein Geist ist, der seiner sinnlichen
Wahrnehmung einen Sinn gibt, so sind auch sie jederzeit damit beschf-
tigt, Daten in einen Sinn zu verwandeln.
In der Erzhlung Doge und Dogaresse tritt in der Akademie der
Knste zu Berlin pltzlich ein Fremder in Erscheinung und belehrt
zwei der edlen Malerkunst gar holde Freunde ber das Bild Kolbes,
vor dem sie gerade stehen, durch einen kunsttheoretischen Kommentar:

Es ist ein eignes Geheimnis, da in dem Gemt des Knstlers oft ein Bild auf-
geht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare krperlose im leeren Luftraum trei-
bende Nebel, eben in dem Gemte des Knstlers erst sich zum Leben zu for-
men und ihre Heimat zu finden scheinen. Und pltzlich verknpft sich das Bild
mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zukunft, und stellt nur dar, was
wirklich geschah oder geschehen wird.132

Der Knstler ist somit derjenige, dem ein Bild aufgeht. Die Wendung
des aufgehenden Bildes, die sich bei Hoffmann immer wieder findet, ver-
weist darauf, dass die Begabung des Knstlers darin liegt, dass sich ihm
pltzlich eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft
darstellt, die er in einem Bild sichtbar werden lassen kann. Kunst ist nicht
ein feststehendes Werk, sondern stets ein Prozess, die Genese einer
Synthese.133 Obgleich Doge und Dogaresse um ein tatschliches Bild
kreist, spricht der Fremde hier von einem mentalen Bild, welches der
Knstler auch in einer anderen Form als im Medium der edlen Mal-
kunst darstellen kann. Wie bei Serapion ist diese Synthese belebend: so
wie die von Serapion erzhlten Figuren mit einem glhenden Leben
hervor treten, scheinen die im Bild erscheinenden Gestalten, zuvor un-
kennbare krperlose, im leeren Luftraum treibende Nebel, eben in dem
Gemte des Knstlers erst sich zum Leben zu formen.
Entscheidend ist, dass der Knstler in der Beschreibung des Frem-
den keineswegs der Souvern ber den knstlerischen Prozess ist, der in
ihm abluft. Wenn das Gemt des Knstlers derjenige Ort ist, an dem
zuvor unkennbare krperlose Nebel ihre Heimat zu finden scheinen,
dann ist in dieser Formulierung keine Aktivitt des Knstlers erkennen.
Sein Inneres wird zu dem Ort, an dem fremde Krfte auftreten und sich

132 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
430f. (Doge und Dogaresse).
133 Vgl. zum aufgehenden Bild Edgar Pankow: Medienwechsel. Zur Kon-
stellation von Literatur und Malerei in einigen Arbeiten E.T.A. Hoff-
manns. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 10 (2002), S. 42-57, hier: S. 46f.

194
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

eine Heimat suchen. Das Bild geht oft in dem Gemt des Knst-
lers auf, wobei der Knstler eher als das Medium dieses Geschehens er-
scheint denn als sein Gestalter. Hoffmann erzhlt seine Kunsttheorie als
eine Schauergeschichte, in der der Knstler das Opfer eines magnetisie-
renden Eingriffs ist, der keinen jemals erkennbaren Urheber hat.
Wenn die Ausgangssituation vieler Erzhlungen Hoffmanns darin
besteht, dass die jeweilige Hauptfigur nach der Auflsung eines Rtsels
suchen muss, dann befindet sie sich strukturell in der gleichen Lage wie
der Knstler, von dem der Fremde in Doge und Dogaresse spricht,
denn ihm wird aus zuvor unkennbaren krperlosen Gestalten ein Bild
aufgehen, er wird eine Synthese von einzelnen Daten zu einem vollstn-
digen Bild vollbringen. Sodann erbrigt sich, in Hoffmanns Texten ei-
gens Knstlererzhlungen ausmachen zu wollen, wie es immer noch oft
geschieht. Jede Erzhlung Hoffmanns ist eine Knstlergeschichte. Frei-
lich wre es schon falsch, zu behaupten, die Haupt- und Knstlerfigur
wrde die Synthese vollbringen und er wrde danach streben, sich ein
Bild aufgehen zu lassen. Wie das Zitat aus Doge und Dogaresse nahe-
legt, wird man nicht von einer aktiven und kontrollierten Suche nach der
Erkenntnis des Ganzen ausgehen knnen. Die Erzhlungen Hoffmanns
fhren immer wieder vor, dass ihre Hauptpersonen von einem berra-
schenden und berwltigenden Sinn eher angezogen und verzaubert wer-
den, als dass sie ihn kontrollieren und konstruieren.

I I I . 3 D as f r e m d e G e si c h t i m S p i e g e l
( D a s d e H au s )

Die Irritation: das Rtsel des den Hauses

Die Grundstruktur einer Hoffmannschen Schauergeschichte und ihre


strukturelle Beziehung zum Wahnsinn lsst sich nachvollziehen in der
Erzhlung Das de Haus, die bisher nur wenig Beachtung gefunden
hat.134 Die Geschichte beginnt damit, dass der Erzhler Theodor von ei-

134 Es existieren nur wenige ausfhrlichere Untersuchungen von Das de


Haus. Die Studie Kanzogs (Klaus Kanzog: Berlin-Code, Kommunikation
und Erzhlstruktur. Zu E.T.A. Hoffmanns Das de Haus und zum Ty-
pus Berlinische Geschichte. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 95
[1976], Sonderheft: E.T.A. Hoffmann, S. 42-63) ist vor allem an den An-
spielungen auf den Handlungsort Berlin interessiert. Kursorisch geht Jan-
en (Brunhilde Janen: Spuk und Wahnsinn. Zur Genese und Charakteri-
stik phantastischer Literatur in der Romantik, aufgezeigt an den Nacht-
stcken von E.T.A. Hoffmann. Frankfurt am Main, Bern, New York:

195
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ner Unterbrechung seiner alltglichen Erfahrung berichtet: Schon oft


war ich die Allee durchwandelt, als mir eines Tages pltzlich ein Haus
ins Auge fiel, das auf ganz wunderliche seltsame Weise von allen bri-
gen abstach.135 Auffllig ist das seltsame und wunderliche Haus,
welches die Kontinuitt der Erfahrung (oft war ich) irritiert und strt,
zunchst aufgrund seines schlechten Zustands: Denkt euch, wie solch
ein Haus zwischen mit geschmackvollem Luxus ausstaffierten Privatge-
buden sich ausnehmen mu. [...] Ein unbewohntes Haus in dieser Ge-
gend der Stadt!136 Immer wieder bleibt Theodor vor dem rtselhaften
Objekt stehen, das gerade deswegen seine Phantasie anregt, weil es
nichts zu sehen gibt. Er wird umso tiefer in den Bann des Hauses gezo-
gen, als er eines Tages schlielich eine Beobachtung macht, die noch
geheimnisvoller wirkt.

So geschah es, da ich eines Tages, als ich wie gewhnlich zur Mittagsstunde
in der Allee lustwandelte, meinen Blick auf die verhngten Fenster des den
Hauses richtete. Da bemerkte ich, da die Gardine an dem letzten Fenster dicht
neben dem Konditorladen sich zu bewegen begann. [...] Ich ri meinen Opern-

Lang 1986, bes. S. 125-147) auf Das de Haus ein, allerdings bleibt am
Ende ihrer Analyse kaum mehr als der Eindruck umfassender Ratlosig-
keit, welche der Erzhlung selbst angerechnet wird (ebd., S. 146f.). Eine
hnliche Ratlosigkeit beherrscht auch die Anmerkungen Auhubers zu
Das de Haus (Friedhelm Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel.
E.T.A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin. Opladen: Westdeutscher
Verlag 1986, S. 75-80, hier: S. 79). Max Milner analysiert nicht die ge-
samte Erzhlung, zu einzelnen Sequenzen gelingen ihm aber interessante
Beobachtungen (Max Milner: Phantastik und Familienroman in Das de
Haus. In: Dimensionen des Phantastischen. Studien zu E.T.A. Hoffmann.
Hrsg. von Jean-Marie Paul. St. Ingbert: Rhrig Universittsverlag 1998
[Saarbrcker Beitrge zur Literaturwissenschaft. 61], S. 213-225). Wenig
mehr als eine Handlungsparaphrase bietet Ricarda Schmidt: Der Dichter
als Fledermaus bei der Schau des Wunderbaren. Die Poetologie des rech-
ten dichterischen Sehens in Hoffmanns Der Sandmann und Das de
Haus. In: Mutual Exchanges. Sheffield-Mnster Colloquium I. Hrsg.
von R. J. Kavanagh. Frankfurt am Main u.a.: Lang 1999, S. 180-192.
Claudia Lieb unternimmt eine semiotische Lektre des Textes, die aller-
dings fr die Thematik des Wahnsinns und deren Zusammenhang zur
Textstruktur wenig ergiebig ist. Vgl. Claudia Lieb: Und hinter tausend
Glsern keine Welt. Raum, Krper und Schrift in E.T.A. Hoffmanns Das
de Haus. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 10 (2002), S. 58-75.
135 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
166 (Das de Haus).
136 Ebd.

196
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

gucker heraus und gewahrte nun deutlich die blendend weie, schn geformte
Hand eines Frauenzimmers, an deren kleinem Finger ein Brillant mit unge-
whnlichem Feuer funkelte, ein reiches Band blitzte an dem in ppiger Schn-
heit gerndeten Arm. Die Hand setzte eine hohe seltsam geformte Krystallfla-
sche hin auf die Fensterbank und verschwand hinter dem Vorhange. Erstarrt
blieb ich stehen, ein sonderbar bnglich wonniges Gefhl durchstrmte mit
elektrischer Wrme mein Inneres, unverwandt blickte ich herauf nach dem ver-
hngnisvollen Fenster, und wohl mag ein sehnsuchtsvoller Seufzer meiner
Brust entflohen sein.137

Mit dem bergang von einer aktiven Handlung (lustwandeln) zu der


eines Zustands der vlligen Handlungsunfhigkeit (Erstarrt blieb ich
stehen) markiert Hoffmann diese Passage als Beschreibung eines Ein-
tritts in einen Zustand der Versenkung und Verzauberung, der Theodor
aus der sozialen Zeit herausreit und in seine eigene Welt befrdert. Wie
die Erscheinung des Hauses in seiner Umgebung, so wirkt die Erschei-
nung der Hand innerhalb dieses Hauses wunderlich oder seltsam.
In der Beobachtung durch das Fenster werden verschiedene Details
vermerkt, die scheinbar allein durch ihr unerwartetes Erscheinen in die-
sem Kontext die Aufmerksamkeit Theodors auf sich zu ziehen vermgen
(eine blendend weie, schn geformte Hand, ein Brillant mit unge-
whnlichem Feuer, ein reiches Band, ein in ppiger Schnheit ge-
rndeter Arm, eine seltsam geformte Krystallflasche). Die Details
sprechen die Sprache konventioneller Symbolik: So verweist die blen-
dend weie, schn geformte Hand auf Weiblichkeit und Reinheit, der
Brillant mit ungewhnlichem Feuer auf Reichtum und hohe Abstam-
mung, als Metapher fr das weibliche Auge mglicherweise auch auf
emotionale Intensitt (Der Diamant ist der Reflex innerer Glut!,138
wird Theodor spter ausrufen). Die Faszination Theodors an dem den
Haus begrndet sich offensichtlich dadurch, dass diese unzusammenhn-
genden Details ein erotisches Geheimnis zu verbergen scheinen.
Die Beobachtung des den Hauses hlt fr Theodor (und den Le-
ser) etwas bereit, was man in der Terminologie Barthes einen herme-
neutischen Code nennen knnte: die Einfhrung eines Rtsels, das seine
Auflsung im weiteren Fortgang des Textes erwarten lsst.139 Hoffmanns

137 Ebd., S. 168f.


138 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
174 (Das de Haus).
139 Vgl. Roland Barthes: S/Z [1970]. bers. von Jrgen Hoch. 3. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 687), S. 23. Ich verstehe Code hier und im Folgenden im Sinne
Barthes nicht als ein Element einer abgeschlossenen Struktur der Er-

197
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Akteur Theodor befindet sich zunchst in der gleichen Situation wie der
Leser seiner Geschichte, wenn er versucht, hinter die Geheimnisse des
Hauses zu kommen und die Bedeutung der verborgenen Zusammenhn-
ge zu erkennen. Die hermeneutische Aktivitt verdoppelt sich, denn
Hoffmann bietet dem Leser an, sich stets zu fragen, inwiefern die Per-
spektive Theodors von dessen Wnschen gelenkt oder durch die Beein-
flussung uerer Krfte gesteuert wird. Der Leser liest in Das de Haus
die Geschichte eines Lesers nicht ohne Grund wird Theodor zu Beginn
der Geschichte durch seine alte Neigung charakterisiert, sich an je-
dem ausgehngten Kupferstich, an jedem Anschlagzettel zu ergtzen.140
Der Leser der Geschichte Hoffmanns wird so zu einem Leser in Potenz,
er liest etwas darber, was ein Leser tut. Ob ein Leser jedoch jemand ist,
der etwas tut, ob Lesen eine Aktivitt oder aber der Raum einer Beein-
flussung ist, kann allerdings in der Passage, in der Theodor das Haus be-
obachtet, fraglich erscheinen. Theodor wird gleichermaen von dem Ge-
sehenen angezogen und bezaubert, wie er andererseits auch durch die
Aktivitt seiner eigenen Phantasie selbst erst dasjenige hervorbringt, was
ihn verzaubert. Unter diesem Gesichtspunkt knnen die verschiedenen
Beobachtungen durch das Fenster des den Hauses auch als wiede-
rum in der Terminologie Roland Barthes Seme verstanden werden: als
Verweise auf ein psychologisches Signifikat.141 Es geht demnach nicht
einfach darum, ein Rtsel zu lsen und es dadurch in die Ordnung des
Sinns zu berfhren. Der Leser von Das de Haus sieht die sich als Rt-

zhlung, sondern als ein Teil seiner Strukturation, als eine bedeutungs-
stiftende Einheit, die sich niemals zur Vollstndigkeit einer Bedeutung
oder Struktur wird zusammenfgen lassen. So schreibt Barthes: Es soll
ganz bewut nicht versucht werden, den Code und die fnf Codes unter-
einander zu strukturieren, damit die Multivalenz des Textes, seine partiel-
le Umkehrbarkeit Aufnahme findet. Es geht in der Tat nicht darum, eine
Struktur deutlich zu machen, sondern, so weit es geht, eine Strukturation
zu produzieren. [...] Was hier Code genannt wird, ist also keine Liste,
kein Paradigma, das es, gleich wie, zu rekonstruieren glte. Der Code ist
eine Perspektive aus Zitaten, eine Luftspiegelung von Strukturen (Ebd.,
S. 25).
140 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
165 (Das de Haus).
141 Barthes: S/Z (wie Anm. 139), S. 22. Der Unterscheidung zwischen dem
hermeneutischen Code und den Semen entspricht somit der frheren
Unterscheidung Barthes zwischen Funktionen und Indizien. Vgl. Ro-
land Barthes: Einfhrung in die strukturale Analyse von Erzhlungen
[1966]. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. bers. von Dieter Hor-
nig. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp. 1441), S.
102-143, hier: S. 111f.

198
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

sel darstellenden Phnomene aus der Perspektive der Hauptfigur Theodor


und kann an keiner Stelle sicher sein, eine objektive Realitt vorgefhrt
zu bekommen.

Hoffmanns Akteur als Geisterseher:


die Asynchronitt der Enthusiasmus

Zwar kann auch Theodor sich eine vernnftige Erklrung fr den Zu-
stand des Hauses vorstellen, aber diese Erklrung besitzt keine Anzie-
hung, keinen Reiz, und sie wrde dem Objekt jede Attraktion nehmen.
Seine Einbildungskraft zieht es vor, trotz der Mglichkeit einer einfa-
chen Erklrung nach einer Erklrung zu suchen, die nicht so sehr ver-
tieft als vielmehr verstrickt genannt werden msste.

So dacht ich, und doch wei ich selbst nicht wie es kam, da bei dem den
Hause vorberschreitend ich jedesmal wie festgebannt stehen bleiben und mich
in ganz verwunderliche Gedanken nicht sowohl vertiefen, als verstricken mu-
te. Ihr wit es ja alle, ihr wackern Kumpane meines frhlichen Jugendlebens,
ihr wit es ja alle, wie ich mich von jeher als Geisterseher gebehrdete und wie
mir nur einer wunderbaren Welt seltsame Erscheinungen ins Leben treten
wollten, die ihr mit derbem Verstande wegzuleugnen wutet!142

Die bei der Suche nach dem Grund der exzeptionellen Erscheinung ent-
stehenden Assoziationsketten fhren buchstblich zu einem Festbannen
des assoziierenden Subjekts: Es bleibt stehen, gert aus dem gemein-
samen Takt und Rhythmus, whrend Menschen mit derbem Verstand
das Wunderbare schlicht wegzuleugnen wissen und so an dem Haus
vorbergehen knnen. Theodor geht nicht mehr im Rhythmus der Mas-
se und geht schlielich berhaupt nicht mehr, sondern bleibt wie fest-
gebannt stehen, um ohne Unterlass auf das Objekt der Faszination zu
starren. Indem Theodors Erfahrung im Gegensatz zu dem eine konti-
nuierliche Erfahrung suggerierenden Vorberschreiten der anderen
Menschen nicht fortschreitet, deutet sich zugleich ein Macht- und
Kontrollverlust des betrachtenden Subjekts an: Es ist wie festgebannt
und verstrickt sich in ganz wunderliche Gedanken. Der Wahnsinn,
um den es hier von Anfang an geht, ist so eine Asynchronitt, eine St-
rung in der Gemeinsamkeit der Zeit. Theodors Selbstbezeichnung als
Geisterseher versieht sein Aus-dem-Takt-fallen mit einem kulturellen

142 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
166f.

199
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Code, indem es zugleich auf Kants Trume eines Geistersehers und auf
Schillers fragmentarischen Roman Der Geisterseher anspielt.
Theodors Modus der Erfahrung ist keine wogende Kontinuitt,
sondern eine betrachtende Versenkung ins Objekt, eine Versenkung, die
Hoffmann allerdings von Beginn an als pathologisch und obsessiv cha-
rakterisiert und damit deutlich von der Topik des philosophischen Stau-
nens absetzt. Theodor ist von dem seltsamen Objekt derart gebannt,
dass er buchstblich nicht mehr an ihm vorbergehen kann, sondern es
fixieren muss:

War es mglich in der auf- und abwogenden Masse stehen zu bleiben? In


dem Augenblick fiel mir die Bank ins Auge, die fr den Lustwandler in der
Allee in der Richtung des den Hauses [...] angebracht war. Schnell sprang ich
in die Allee, und mich ber die Lehne der Bank wegbeugend, konnt ich nun
ungestrt nach dem verhngnisvollen Fenster schauen.143

Hoffmann beschreibt die Erfahrung der Vereinzelung und prziser: die


Singularisierung der Erfahrung , die Theodor erfhrt, buchstblich als
dessen Stehenbleiben und Zurckschauen. Die Masse wird dagegen
durch ihre auf- und abwogende Bewegung beschrieben und dadurch
mit der Bewegung des Meers assoziiert. Damit verbinden sich zwei Attri-
bute: Zum einen das einer schlechthin unberschaubaren Menschenmen-
ge, zum anderen das einer starken Kraft (der Strmung), die so gewaltig
ist, dass Theodor sich fragen muss, ob er ihr berhaupt widerstehen kann
(War es mglich [...] stehenzubleiben?). Die Handlung der Erzhlung
wird dadurch vorangetrieben, dass der Erzhler Theodor, der von der An-
nahme einer wunderbaren (oder poetischen) Erklrung fr die Erschei-
nung des Hauses ausgeht, beginnt, Nachforschungen anzustellen, indem
er das Haus beobachtet und verschiedene Figuren (den Grafen P., den
Konditor, den Hausverwalter) ber das Haus und seine Geschichte be-
fragt. Je nach den sich ergebenden Informationen sieht sich Theodor hin-
und herbewegt zwischen seinem Wunsch, dem Geheimnis des Hauses
nher zu kommen, und der Furcht, dass es kein Geheimnis zu entdecken
gibt. Als Theodor eines Tages wieder einmal vor dem Haus steht, be-
merkt er unvermutet einen Mann neben sich. Der Graf P. quittiert
Theodors Bericht ber das Haus, indem er ironisch lchelnd erwidert,
dass das Haus nichts anders enthalte, als die Zuckerbckerei des Kondi-
tors, dessen prachtvoll eingerichteter Laden dicht anstie.144 Nach die-
ser prosaischen Aufklrung145, die vorlufig alle Geheimnisse um das

143 Ebd., S. 176 (Das de Haus).


144 Ebd., S. 167f.
145 Ebd., S. 168.

200
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Haus zunichte macht, fragt sich Theodor zum ersten Mal, ob die von der
Erscheinung des Hauses hervorgerufenen Phantasien ihn mglicherweise
in die Nhe des Wahnsinns gebracht haben: Dann dachte ich wieder:
Bist du nicht ein recht wahnsinniger Tor [...], schelten deine Freunde
dich nicht mit Recht einen berspannten Geisterseher?146
Was also bedeutet Wahnsinn in Das de Haus? Wahnsinn tritt in
Hoffmanns Erzhlung in seiner allgemeinsten Form als die Benennung
einer Sensibilitt auf, einer Disposition fr eine Erfahrung, welche die
gewhnlichen Grenzen der Erfahrung berschreitet. Wenn aber nur be-
stimmte Menschen zu dieser Belebung ihrer Wahrnehmung befhigt sind
und ihre Wahrnehmungen fr die Allgemeinheit unzugnglich bleiben,
werden die gewhnlichen Brger diesen Menschen unweigerlich mit
Misstrauen begegnen. Euch wird nun, sagt der Enthusiast in Das
Sanctus zum Kapellmeister, alles einmal gleich zur Oper und daher
kommt es denn auch, da die vernnftigen Leute, die die Musik behan-
deln wie einen starken Schnaps, den man nur dann und wann in kleinen
Portionen geniet zur Magenstrkung, Euch manchmal fr toll halten.147
Es ist demnach mglich, in der Thematisierung des Wahnsinns in diesen
Erzhlungen das Modell des Enthusiasmus wiederzufinden.
Das de Haus, so knnte man sagen, erzhlt die Geschichte einer
Phantasie, die ganz im Sinne des serapiontischen Prinzips beginnt,
mit geistigen statt mit leiblichen Augen zu schauen. Zugleich ist es aber
auch die Geschichte eines sich steigernden Wahnsinns, denn Theodor be-
ginnt, die Wirklichkeit durch Produkte seiner Einbildungskraft zu er-
setzen. Meine Fantasie war im Arbeiten,148 sagt Theodor ber seine
Bemhungen, sich der ertrumten Frau anzunhern. Der Kranke nimmt
entweder gar nichts von dem wahr, was um ihn herum vorgeht, oder er
nimmt die usseren Gegenstnde falsch war, und unterscheidet sie nicht
genau von den Phantomen, die seine Phantasie ausheckt,149 heit es in
Reils Rhapsodieen ber die Anwendung der psychischen Curmethode auf
Geisteszerrttungen (1803), jenem Buch, in dem Theodor sich selbst
wieder fand:

War es Absicht oder Zufall, da einer der Freunde, welcher Arzneikunde stu-
dierte, bei einem Besuch Reils Buch ber Geisteszerrttungen zurcklie. Ich
fing an zu lesen, das Werk zog mich unwiderstehlich an, aber wie ward mir, als

146 Ebd.
147 Ebd., S. 148f. (Das Sanctus).
148 Ebd., S. 174 (Das de Haus).
149 Reil: Rhapsodieen ber die Anwendung der psychischen Curmethode
(wie Anm. 69), S. 65.

201
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ich in allem, was ber fixen Wahnsinn gesagt wird, mich selbst wieder
fand!150

Der Verdacht, wahnsinnig zu sein, wird somit nicht einfach ausgespro-


chen, sondern gleichzeitig vorgefhrt indem Theodor sich in Reils
Buch wieder findet und damit in der Lektre genau die Neigung zu fi-
xen Ideen vorfhrt, die er an sich festzustellen meint. Ironischerweise
also ist Theodors Einsicht, wahnsinnig zu sein, selbst ein Produkt dieses
Wahnsinns.

Wahnsinn und Synthese: das Bild

Wenn man erkennt, dass die narrative Struktur der Erzhlung nicht unab-
hngig ist von den Vorstellungen ihrer Hauptfigur; wenn mit anderen
Worten die Erzhlung so entschieden die Perspektive ihrer Figur ein-
nimmt, dass Phantasma und Realitt fr den Leser ununterscheidbar
werden mssen und Freuds Einsicht, da es im Unbewuten ein Rea-
littszeichen nicht gibt, so da man die Wahrheit und die mit Affekt be-
setzte Fiktion nicht unterscheiden kann,151 folglich auch fr die Erzh-
lungen Hoffmanns gelten muss , dann wird es mglich und ntig, durch
die Beschreibung der textuellen Organisation die Art und Weise des
Wahnsinns Theodors nher zu erkennen. Es wird zu fragen sein, wie
Theodors Einbildungskraft die verschiedenen Vorstellungen zu einer
Realitt kombiniert.
Ich kenne jemanden, dem jene Sehergabe, von der wir sprechen,
ganz vorzglich eigen scheint,152 sagt Hoffmanns Protagonist Franz in
der Rahmenhandlung der Erzhlung.

Daher kommt es, da er oft unbekannten Menschen, die irgend etwas ver-
wunderliches in Gang, Kleidung, Ton, Blick haben, Tagelang nachluft, da er
ber eine Begebenheit, ber eine Tat, leicht hin erzhlt, keiner Beachtung wert
und von niemanden beachtet, tiefsinnig wird, da er antipodische Dinge zusam-

150 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
181 (Das de Haus).
151 Sigmund Freud: Aus den Anfngen der Psychoanalyse. Briefe an Will-
helm Flie, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1950, S. 187 (Brief an Wilhelm
Flie, 21. 09. 1897).
152 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
164 (Das de Haus).

202
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

men stellt und Beziehungen heraus fantasiert, an die niemand denkt. Lelio rief
laut: Halt, halt, das ist ja unser Theodor [...].153

Wenn die Freunde Franz und Lelio dem Erzhler von Das de Haus,
Theodor, eine Sehergabe zuschreiben, dann aufgrund seiner spezifi-
schen Gabe zur Assoziation. Die derart begabte Person stellt Bezie-
hungen zwischen Vorstellungen (Dingen) ebenso wie zwischen
oft unbekannten Menschen her, die berraschend und unerwartbar
sind. Und tatschlich fhrt die Erzhlung immer wieder das Vermgen
Theodors vor, Dinge und Personen zu assoziieren. Die Wirkung des
den Hauses mitten in der Stadt wird entsprechend als Genese einer
Assoziierung oder vielmehr einer ganzen Kette von Assoziationen darge-
stellt.
Diese Assoziationsketten werden dadurch in Gang gesetzt, dass
Theodor versucht, durch einzelne Beobachtungen vor dem Haus ein voll-
stndiges Bild von der rtselhaften Bewohnerin zu erhalten. Theodor be-
gibt sich zum Konditor, um dort weitere Indizien eines Geheimnisses zu
erfahren. Die Aussagen des Konditors dienen smtlich als Indizien zur
Lsung eines Rtsels: In dem den Gebude soll es der allgemeinen
Sage zufolge hlich spuken;154 der Konditor habe von dort oft selt-
same Klagelaute155 gehrt und auch einen sonderbaren Gesang, der
mit der Stimme eines alten Weibes fremdlndische Tne (Mir war so,
als wrden franzsische Worte gesungen156) angestimmt habe. Geheim-
nisumwittert wirkt zudem die sonderbare Gestalt157 des Hausverwal-
ters, der den Laden des Konditors in dem Augenblick betritt, in dem der
Konditor von seinen Beobachtungen berichtet.
Der gesamte Raum der Erzhlung ist durchwoben von Gerchten, die
kaum ein stimmiges Bild von den Vorgngen in dem Haus ergeben. In
den Vordergrund gert so der Akt des Erzhlens, dessen Objekt das
Erzhlte in dem Nebel desjenigen verschwindet, ber das kein sicheres
Wissen verfgbar ist. Es gibt nicht nur die Instanz des fiktiven Erzhlers
Theodor und nicht nur das, was er von dem wiedergibt, was andere Fi-
guren berichten. Mein Bruder, sagt etwa der Konditor ber den eigen-
artigen Hausverwalter, ging ihm einmal zu Leibe wegen des wunderli-
chen Getns zur Nachtzeit, da sprach er aber sehr gelassen: Ja! die
Leute sagen alle, es spuke im Haus, glauben Sie es aber nicht, es tut nicht

153 Ebd.
154 Ebd., S. 170.
155 Ebd.
156 Ebd., S. 171.
157 Ebd.

203
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

wahr sein.158 Die Sprache des Gerchts stellt sich zwischen die Haupt-
figur und den Ort des Geheimnisses. Das Gercht scheint ohne Ursprung
zu sein, ohne die Mglichkeit, seine Herkunft aufzufinden; es ist voller
Irritationen, Widersprche, neuer Rtsel.159
Theodors Ziel ist es, aus diesen disparaten Sprachfetzen ein kohren-
tes Bild von den Vorgngen im Haus und den dort handelnden Figuren
zu formen; insofern ist er ebenso ein Schreibender wie ein Lesender (wie
jeder Lesende). Nachdem er den Laden des Konditors verlassen hat, be-
ginnt seine Phantasie, die gesammelten Daten zu verbinden, um eine
Vorstellung (ein Bild) des verborgenen Zusammenhangs zu erstellen.
Theodor verwandelt die sprachlichen Aussagen in den Zusammenhang
einer bildlichen Vision: Auf der Ebene des Phantasmatischen verschwin-
det das Zeichen zugunsten eines Sinns. Dieser ist ein Phantasma in genau
dem Sinn, wie Aristoteles das phantasma in seiner Untersuchung De me-
moria et reminiscentia definiert: als das Vorstellungsbild160 eines ver-
gangenen Sinneseindrucks, der so lebhaft und krftig wirken kann, dass
er mit einem gegenwrtigen sinnlichen Eindruck verwechselt werden
kann.161 Bei Hoffmann entwickelt das Phantasma schlielich eine Macht,
die das Konzept des Phantasmas im psychoanalytischen Diskurs antizi-
piert: Es wird zur stetigen Einwirkung einer nicht-gegenwrtigen, phan-
tastischen Kraft der Einbildung in die Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Da die Anwesenheit des Sinns sich mit der Vorstellung erotischer Er-
fllung verbindet, handelt es sich bei dem Phantasma notwendig um das
Bild einer attraktiven (buchstblich: anziehenden) Frau.162 Der Motor

158 Ebd., S. 173.


159 Vgl. zur Logik des Gerchts Avital Ronell: Street-Talk. In: dies.: Finitu-
des Score. Essays for the End of the Millennium. Lincoln, London: Uni-
versity of Nebraska Press 1994, S. 83-103, hier: S. 95.
160 So die bersetzung von Eugen Dnt. Vgl. Aristoteles: ber Gedchtnis
und Erinnerung. In: ders.: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva
naturalia). bers. und hrsg. von Eugen Dnt. Stuttgart: Reclam 1997, S.
87-100, hier: S. 91 (450b).
161 Vgl. Renate Lachmann: Erzhlte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und
Semantik phantastischer Texte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002
(Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 1578), S. 49f.
162 Die Bedeutung des Bildes der Geliebten fr die Handlungsstruktur der
Hoffmannschen Erzhlungen hat Peter von Matt herausgestellt (vgl.
Matt: Die Augen der Automaten [wie Anm. 65], bes. S. 38-75). Von Matt
beharrt darauf, die Grundstruktur der Hoffmannschen Texte mit einer
Theorie von der Genese des Kunstwerks und also einer Theorie der In-
spiration (vgl. ebd., S. 1-37) zu identifizieren. Man kann jedoch skeptisch
sein gegenber von Matts These, im Zentrum der Struktur der Hoffmann-
schen Narration stehe eine grundstzlich gelingende Selbsterkenntnis des

204
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

und Antrieb der Einbildungskraft ist hier das Begehren, die erotische At-
traktion.163

Mute ich denn nicht die Erzhlung von dem seltsamen, schauerlichen
Gesange mit dem Erscheinen des schnen Arms am Fenster in Verbindung set-
zen? Der Arm sa nicht, konnte nicht sitzen an dem Leibe eines alten ver-
schrumpften Weibes, der Gesang nach des Konditors Beschreibung nicht aus
der Kehle des jungen blhenden Mdchens kommen. Doch fr das Merk-
zeichen des Arms entschieden, konnt ich leicht mich selbst berreden, da
vielleicht nur eine akustische Tuschung die Stimme alt und gellend klingen
lassen, und da eben so vielleicht nur des, vom Graulichen befangenen,
Konditors trgliches Ohr die Tne so vernommen.164

Das Aufgehen eines Bildes geschieht durch eine ganze Reihe von
Assoziationen, die sich als metonymische Verschiebungen die Zusam-
menstellung antipodischer Dinge beschreiben lassen. Der Arm wird
zum Merkzeichen, das auf ein junges blhendes Mdchen verweist,
woraus Theodor konsequent folgert, dass der Konditor die Stimme einer

Hauptprotagonisten (Ebd., S. 62), die nur als Devianz die Mglichkeit


des Scheiterns in einem falschen Knstlertum (Ebd., S. 69) kenne.
Diese beiden Punkte sind, wie sich zeigt, keineswegs unabhngig vonei-
nander. Erst von Matts Entscheidung, die hoffmannschen Erzhlungen
als die Entwicklung einer Imaginationslehre zu lesen, erlaubt es, in den
Texten zwischen richtigem und falschem Knstlertum zu unter-
scheiden. Diese Mglichkeit verliert sich jedoch dann, wenn man wie
es in Kap. III. 2. versucht wurde die transzendentalphilosophische Be-
deutung der hoffmannschen Rede von der Einbildungskraft herausarbeitet
und daraus ableitet, dass Hoffmanns Texte Einbildungskraft immer im
Zusammenhang mit dem Problemfeld Phantasma Identifikation Ich-
Genese Intersubjektivitt thematisieren und die Knstler-Thematik
hier nur insofern von gesteigertem Interesse ist, als die Knstlerfiguren
durch eine besonders starke Einbildungskraft charakterisiert sind. Es
geht, mit anderen Worten, in Hoffmanns Texten nicht um die Ent-
wicklung einer Kunsttheorie und nicht um die Unterscheidung zwischen
echten und falschen Knstlern, sondern um den allgemeinen Zusam-
menhang zwischen der Sphre des Phantastischen und der des Ich.
163 Vgl. zur Verknpfung der Einbildungskraft mit dem erotischen Begehren
David E. Wellbery: Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbil-
dungskraft im Bildungsroman (Wieland, Goethe, Novalis). In: Das Ende.
Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer War-
ning. Mnchen: Fink 1996 (Poetik und Hermeneutik. 16), S. 600-639,
hier: S. 602f.
164 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
171f. (Das de Haus).

205
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

alten Frau nur durch eine akustische Tuschung vernommen haben konn-
te. In einem weiterem Schritt beginnt Hoffmanns Protagonist, ein Bild zu
phantasieren, das aus zwei Personen besteht. Durch die metonymische
Zuordnung der disparaten Vorstellungen zu zwei Figuren ergibt sich die
Szene eines Dramas. Statt der unzusammenhngenden Worte erhlt Hoff-
manns Hauptfigur die Deutlichkeit und Evidenz, die das 18. Jahrhundert
nur dem sichtbaren Bild zubilligt.

Nun dacht ich an den Rauch, den seltsamen Geruch, an die wunderlich ge-
formte Krystallflasche, die ich sah, und bald stand das Bild eines herrlichen,
aber in verderblichen Zauberdingen befangenen Geschpfs mir lebendig vor
Augen. Der Alte wurde mir zum fatalen Hexenmeister, zum verdammten Zau-
berkerl, der vielleicht ganz unabhngig von der Grflich Sschen Familie ge-
worden, nun auf seine eigne Hand in dem verdeten Hause Unheilbringendes
Wesen trieb.165

Indem er einerseits ein herrliches, aber in verderblichen Zauberdingen


befangenes Geschpf, andererseits einen fatalen Hexenmeister phan-
tasiert, kann er zugleich sich selbst die Rolle zuschreiben, die junge Frau
aus den Fngen der alten retten zu mssen.

Die temporale Struktur des Bildes: der Traum

Im Mittelpunkt der Obsession Theodors steht ein Bild: das Bild eines
herrlichen, aber in verderblichen Zauberdingen befangenen Geschpfs.
Der Begriff des Bildes wenn man denn von einem Begriff reden mag
ist mehrdeutig. Ein Bild kann hier sowohl ein Phnomen sein, eine
wunderliche Einzelheit, wie auch berblick auf den Zusammenhang der
Dinge untereinander.
Wenn Theodor das Bild jener buchstblich bezaubernden jungen
Frau vor Augen steht, handelt es sich dabei einerseits um ein Detail, eine
Einzelheit, die er im Fenster des Hauses sieht und die ihre Gestalt freilich
bereits seiner Phantasie verdankt. Andererseits handelt es sich dabei um
das von ihm ersehnte Bild, das alle Rtsel in einem zentralen Sinn auf-
lst: der jungen, schnen Frau, die im Haus gefangengehalten wird und
die auf den Retter (Theodor) wartet. Theodors Phantasie bringt einen Ro-
man hervor: ein Geschichte, die ihn selbst als Helden einer Befreiung
sieht. Hoffmanns Text formuliert eine Poetik der Lektre, derzufolge das
Lesen eines Textes in die Ganzheit eines geschauten Bildes berfhrt

165 Ebd., S. 172.

206
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

werden soll, und ironisiert diese Poetik zugleich, indem er mit Theodor
die Verirrungen und den Wahn eines paradigmatischen Lesers vorfhrt.
Im Prozess der Einbildungen und Phantasmen ist das Bild damit an
zwei Stellen wirksam. Zum einen ist es das Ergebnis einer Synthese, die
verschiedene Einzelvorstellung zu einer Ganzheit der Ganzheit eines
temporren Verlaufs oder derjenige einer imaginierten Person verbin-
det, zum anderen ist es auch eine einzelne Vorstellung, die als Partikel
der Realitt (und nicht als Ergebnis einer Syntheseleistung) aufgenom-
men wird. Hoffmanns Protagonist Theodor ist so jederzeit potentiell zu-
gleich der Produzent und das Opfer seiner eigenen Phantasmen. Durch
die Einwirkung des phantasmatischen Bildes verfllt Theodor dem
Wahnsinn, aber die Notwendigkeit dieses Bildes entspringt der Struktur
von Erfahrung berhaupt. Wenn es die produktive Einbildungskraft ist,
welche die Kontinuitt der Erfahrung herstellt indem sie ein inneres
Bild pltzlich [...] mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zu-
kunft verknpft, dann ermglicht sie zugleich einen wahnhaften Riss in
der Zeit durch fixe Ideen und das Herausfallen des einzelnen aus der
kollektiven Zeit.
Nicht nur fr Serapion, sondern fr alle Protagonisten der Erzhlun-
gen Hoffmanns gilt, dass ihre Zeit immer ein Produkt ihrer Einbildungs-
kraft ist und insofern jederzeit eine Zeit des Traums, der Trumerei, des
Phantasmas und letztlich des Wahnsinns werden kann. Eine Verbindung
des Wahnsinns mit der durch die Einbildungskraft gebildeten Zeit deu-
tet Kant im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes an, wenn er ber
die Mglichkeit des gestrten Erinnerungsvermgens spricht. Denn
dieses, schreibt Kant hier, tuschet den Elenden, der damit angefoch-
ten ist, durch eine chimrische Vorstellung wer wei was vor eines vor-
maligen Zustandes, der wirklich niemals gewesen ist.166 Wenn aber jede
Erinnerung als eine Reproduktion durch die Einbildungskraft nicht nur
ein eingebildetes Bild (ein Phantasma) darstellt, sondern notwendig po-
tentiell auch phantastisch ist (und also einen Zustand vorstellt, der
wirklich niemals gewesen ist), dann muss jeder Akt der Assoziation a
priori die Mglichkeit mit sich fhren, irregulr, irrefhrend, verfl-
schend und wahnsinnig zu sein.167
Dadurch, dass sich eine assoziierte Vorstellung einer aktuellen Vor-
stellung beigesellt, wird die kontinuierlich verlaufende Zeit durch dis-
kontinuierliche Elemente Erinnerungen, Vorahnungen, Phantasmen
und Wiederholungen aller Art gestrt. In dieser Strung der Zeit treffen
sich bei Hoffmann Narratologie und Wahnsinn. Immer wieder sucht ein

166 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 1, S. 897 (Versuch
ber die Krankheiten des Kopfes, A 26).
167 Vgl. Kapitel I. 5.

207
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Bild die Protagonisten heim und verwandelt ihre Gegenwart in eine


Ahnung des Kommenden oder in ein Phantom des Vergangenen.
Die Erscheinung eines Bildes, und damit die temporale Struktur von
Das de Haus und anderen Erzhlungen Hoffmanns, folgt so nicht der
Chronologie einer kausalen Ordnung und sei es die kausale Ordnung
einer Narration: erst A, dann folgt B , sondern der Logik des Traums. In
diesem Sinne notiert Gotthilf Heinrich Schubert in der von Hoffmann in-
tensiv studierten Symbolik des Traums (1814), jene Abbreviaturen- und
Hieroglyphensprache des Traums sei nicht nur unendlich viel aus-
drucksvoller als unsre gewhnliche Wortsprache, sondern auch der
Ausgedehntheit in die Zeit viel minder unterworfen.168 Der Traum, so
Schubert, macht das Nacheinander der Zeit zu einer Gleichzeitigkeit des
Raumes. Whrend im realen Erleben Dinge durch die Ordnung der An-
schauungsform Zeit zur sukzessiven Ordnung eines Nacheinander ge-
zwungen werden, kann der Traum die Wirkung vor der Ursache zeigen
oder beide zugleich. Indem er das Nacheinander des zeitlichen Verlaufs
in die Gleichzeitigkeit eines Bildes bringt, stellt er assoziative Bezge
und Verbindungen her, die sonst keine Sichtbarkeit gewinnen knnten.
Sobald sie nur die Sprache des Traums spricht, gelingt es der Seele Schu-
bert zufolge, Combinationen in derselben zu machen, auf die wir im
Wachen freilich nicht kmen; sie knpft das Morgen geschickt ans Ge-
stern, das Schicksal ganzer Jahre an die Vergangenheit an.169
Die temporale Sukzession wird in der Geschichte folglich vor allem
durch repetetive und unterbrechende Momente gestrt. Charakteristisch
ist etwa der Satz, mit dem Theodor seine erste Begegnung mit dem
den Haus schildert: Schon oft war ich die Allee durchwandelt, als
mir eines Tages pltzlich ein Haus ins Auge fiel.170 Die Einschiebungen
des pltzlich sah ich... strukturieren den Texten und markieren den
Einbruch eines Phantasmas in die gewhnliche Welt (Pltzlich bemer-

168 Gotthilf Heinrich Schubert: Die Symbolik des Traumes. Faksimiledruck


nach der Ausgabe von 1814. Mit einem Nachwort von Gerhard Sauder.
Heidelberg: Lambert Schneider 1968, S. 2. Siehe auch Ritter: Fragmente
aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (wie Anm. 121), S. 204: Das
Merkwrdigste im tierischen Magnetismus ist die Anschauung der Zeit.
Folge ist hier Nebeneinander. Im Erwachen wird das Nebeneinander wie-
der Folge. Vgl. Helmut Pfotenhauer: Bild, Bildung, Einbildung. Zur vi-
suellen Phantastik in E.T.A. Hoffmanns Kater Murr. In: E.T.A. Hoff-
mann-Jahrbuch 3 (1995), S. 48-69, hier: S. 61f.
169 Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 168), S. 3.
170 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
166 (Das de Haus).

208
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

ke ich171; Jenes Grausen, das mich pltzlich ergriffen172; wie pltz-


lich durch uere Berhrung geweckt173; Ja selbst whrend der Arbeit
[...] durchfuhr mich oft pltzlich, ohne weitern Anla, jener Gedanke, wie
ein elektrischer Blitz174; war es oft, als durchfhren pltzlich mein In-
neres spitzige glhende Dolche175).
Nachdem die Strung damit eingetreten ist und das Bild des be-
gehrten Mdchens in Theodors Gemt einmal eine Heimat gefunden
hat, wird es jederzeit mglich, dass die Kontinuitt der sozialen Zeit
(der Masse) unterbrochen wird durch den immer wieder wiederholten
Einbruch einer anderen Zeit. Dies zeigt die Kombination des unterbre-
chenden pltzlich mit dem iterativen oft zur paradoxen Formel oft pltz-
lich. Der Einbruch des phantasmatischen Bildes in die Kontinuitt des
inneres Sinns, dies pltzliche Hineinspringen fremder Bilder in unsere
Ideenreihe,176 geschieht immer wieder, aber nie so kontinuierlich, dass
es seine Pltzlichkeit verlieren wrde, sondern stets unvorhersagbar und
unberechenbar. Die traumartige Temporalitt des Bildes und mit ihm
die der Erzhlung Das de Haus lsst sich als oft pltzlich benennen.
Hoffmanns Erzhlungen, wenngleich sie niemals das Vorhandensein
von etwas vorfhren oder prsentieren knnen, das auerhalb der Zeit
stnde, widersprechen so der apodiktischen Gewiheit, mit der Kant in
der Transzendentalen sthetik feststellt, die Zeit habe nur Eine Dimen-
sion: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nach einander (so
wie verschiedene Rume nicht nach einander, sondern zugleich sind).177
In den Erzhlungen Hoffmanns vollzieht sich entgegen dieser Gewissheit
ein Bruch und Riss in der vorgeblich sicheren Kontinuitt der einen Zeit.
Kein Moment einer Erzhlung knnte je auerhalb der (narrativen) Zeit
sein; aber durch Gleichzeitigkeiten, Wiederholungen, Umkehrungen und
Brche ergibt sich die Suggestion einer anderen, verrckten Zeit, die
neben und vor der einen, kontinuierlichen Zeit existiert.178 Dieser Ein-

171 Ebd., S. 167.


172 Ebd., S. 178.
173 Ebd., S. 180.
174 Ebd.
175 Ebd., S. 183.
176 Ebd., S. 184.
177 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 2, S. 79 (KrV, B 47, A
31).
178 Es lsst sich allerdings die These vertreten, dass sich im Prozess der Zeit-
bestimmung und also der Konstitution der Zeit, wie er in der Kritik der
Urteilskraft beschrieben wird, ein Riss in der Struktur der Vorstellung
zeigt. Da das Vorstellungsvermgen Kant zufolge die Einheit der Vor-
stellung allein durch die Konstitution eines Zugleichseins herstellen kann,

209
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

bruch und Riss einer anderen Zeit in die kontinuierliche Zeit verbindet
sich in Hoffmanns Erzhlungen immer wieder mit der Herstellung des
Bildes, der Synthese im Gemt der Akteure. Der Riss, mit dem die
Synthese in die Kontinuitt der Erfahrung einbricht, ist zugleich ein Em-
blem dafr, dass das synthetisierende Ich ber den Prozess der Synthe-
se keinerlei Kontrolle ausben kann. Im Gegenteil ist es dem Riss voll-
stndig ausgeliefert, insofern es seine Einheit und Ganzheit zuallererst
diesem prrationalen und disruptiven Akt verdankt.

Ein dmonisches Spiel: das Verhltnis der Figuren

Es bleibt die Frage, in welchem Verhltnis das synthetische Bild zu


dem synthetisierenden Ich steht. Ist die junge Frau im Bild das Ge-
schpf der narzisstischen Phantasie Theodors oder das Element einer
Verzauberung durch eine andere Figur? (Diese Ambivalenz entspricht er-
neut der Spannung zwischen Enthusiasmus und Mesmerismus.) Im-
mer wieder geschieht ein pltzlicher Einbruch des Unerwarteten, und
Theodor beginnt sich zu fragen, ob ein mesmeristischer Eingriff gegen
ihn vorliegt. Ein Bekannter Theodors spricht den Verdacht aus:

Wie wenn dies pltzliche Hineinspringen fremder Bilder in unsere Ideenreihe,


die uns gleich mit besonderer Kraft zu ergreifen pflegen, eben durch ein frem-
des psychisches Prinzip veranlat wrde? Wie wenn es dem fremden Geiste un-
ter gewissen Umstnden mglich wre, den magnetischen Rapport auch ohne
Vorbereitung so herbei zu fhren, da wir uns willenlos ihm fgen mten?179

Das eigentliche Rtsel der Geschichte liegt keineswegs im den Haus,


sondern in der Beziehung zwischen Theodor und den Bewohnern des
Hauses, besonders zu der jungen Frau, die er im Fenster sieht. Ist seine
augenblickliche Faszination fr das Bild der jungen Frau, die Vision, die

ist es dazu gezwungen, sich in einen Regress der Vorstellung zu begeben


und sich durch die Quantitt der zu synthetisierenden Vorstellungen
selbst Gewalt anzutun (Ebd., Bd. 5, S. 346 [KdU 27, B 100]). Im
Prozess der Zeitkonstitution ergibt sich damit ein konstitutiver Riss in der
Zeit und im Vorstellungsvermgen selbst. Vgl. Werner Hamacher: Ex
tempore. Zeit als Vorstellung bei Kant. In: Politik der Vorstellung. Thea-
ter und Theorie. Hrsg. von Joachim Gerstmeier und Nikolaus Mller-
Schll. [o.O.:] Theater der Zeit 2006 (Recherchen. 36), S. 68-94, hier: S.
82-84.
179 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
184 (Das de Haus).

210
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

ihn verzaubert, blo Theodors Einbildung, oder handelt es sich um einen


magnetischen Eingriff in seine Psyche durch eine fremde Figur? In
Hoffmanns Erzhlung stehen beide Erklrungen nebeneinander; es bleibt
letztendlich dem Leser berlassen, sich fr eine Lsung zu entscheiden.
Hoffmanns Protagonist Theodor spricht am Ende der Erzhlung aus,
dass die Beziehungen zwischen ihm und den anderen Figuren das eigent-
liche Rtsel der Geschichte ausmachen. Es handele sich, so Theodor, um
geheime Verhltnisse und mystische Wechselwirkungen:

Eben so, wie der Arzt glaubte, fr mich nichts hinzufgen zu drfen, eben so
halte ich es fr ganz unntz, mich nun noch darber etwa zu verbreiten, in wel-
chem geheimen Verhltnis Angelika, Edmonde, ich und der alte Kammerdiener
standen, und wie mystische Wechselwirkungen ein dmonisches Spiel trie-
ben.180

Von hier aus gesehen erscheint die gesamte Geschichte als eine Ver-
flechtung wechselseitiger Beeinflussungen und Manipulationen. Wie
Neil Hertz schreibt, ist das Zusammenhandeln jedes beliebigen Figuren-
paares bei Hoffmann nicht so sehr als ein Ausdruck sinnvoller Zeichen
[...] dargestellt [...], sondern vielmehr als ein stets Hin- und Herflieen
starker Energien.181 Dass Theodor das weitere Fragen nach der Art die-
ser Relationen fr unntz erachtet, ndert nichts daran, dass in ihnen
der Schlssel zur Erzhlung liegt.
In seinem Aufsatz ber Das Unheimliche behandelt Freud auch die
energetischen Beziehungen zwischen den Akteuren Hoffmanns. Er be-
handelt diese Phnomene das Auftreten von Personen, die wegen ihrer
gleichen Erscheinung fr identisch gehalten werden mssen, oder die
Steigerung dieses Verhltnisses durch berspringen seelischer Vorgnge

180 Ebd., S. 198.


181 Neil Hertz: Freud und der Sandmann [1979]. In: ders.: Das Ende des We-
ges. Die Psychoanalyse und das Erhabene. bers. von Isabella Knig.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (edition suhrkamp. 1939), S. 127-
156, hier: S. 142 (Hervorhebung von mir, O. K.). Natrlich ist dieses
Hin- und Herflieen starker Energien auch innerhalb eines Charakters
wirksam: Als Verinnerlichung des anderen. In der Aufmerksamkeit auf
diese Energien und Krfte liegt auch die Affinitt zwischen den Texten
Hoffmanns und Freuds. Was frher ein einziger Geist war, schreibt
Davidson ber Freud, wird in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem geg-
nerische Krfte miteinander wettstreiten, einander betrgen, Informatio-
nen zurckhalten und Strategien entwerfen (Donald Davidson: Parado-
xien der Irrationalitt [1982]. In: ders.: Probleme der Rationalitt. bers.
von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 285-315,
hier: S. 289).

211
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

von einer dieser Person auf die andere182 als Varianten des Doppel-
gngermotivs, und, auf der Ebene der psychologischen Systematik, als
Ich-Strungen. Als solche betrachtet, knnen diese Phnomene als Ich-
Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung183 beschrieben werden.

Spiegel und Phantasma

Die Struktur der Ich-Verdopplung und Ich-Verkennung wird in Hoff-


manns Erzhlung in aller Deutlichkeit thematisiert, und zwar durch die
wiederholte Aufnahme des Spiegelmotivs. Ist es in der ersten Szene noch
ein Operngucker, der Theodors Blick auf die junge Frau vermittelt, so
ist es ab der zweiten ausfhrlicheren Szene vor dem Haus ein Spiegel.
Davon berzeugt, dass das Haus ein Geheimnis birgt, geht Theodor
immer wieder die Strae entlang und starrt auf das verdete Gebude.
Wenig erstaunlich ist nun, dass er im Fenster des den Hauses nichts
anderes erkennen kann als das Bild aus seiner Vision.

Der Diamant funkelt mir entgegen. [...] Ja! Sie war es, das anmutige, holdse-
lige Mdchen, Zug fr Zug! Nur schien ihr Blick ungewi. Nicht nach mir,
wie es vorhin schien, blickte sie, vielmehr hatten die Augen etwas todstarres,
und die Tuschung eines lebhaft gemalten Bildes wre mglich gewesen, htten
sich nicht Arm und Hand zuweilen bewegt.184

Um nicht zu sehr aufzufallen, setzt sich Theodor auf eine Bank vor dem
Haus und kann, ber die Lehne der Bank hinwegbeugend, [...] ungestrt
nach dem verhngnisvollen Fenster schauen.185 Unvermutet wird ihm
der Kauf eines Spiegels angeboten, und dieses optische Instrument wird
seine Obsession noch deutlich steigern:

Ganz versunken in den Anblick des verwunderlichen Wesens am Fenster, das


mein Innerstes so seltsam aufregte, hatte ich nicht die qukende Stimme des ita-
lienischen Tabuletkrmers gehrt [...]. [...] Mit den Worten Auch hier hab ich
noch schne Sachen! zog er den untern Schub seines Kastens heraus und hielt
mir einen kleinen runden Taschenspiegel [...] seitwrts vor. Ich erblickte das

182 Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. In: ders.: Gesammelte Werke.
Chronologisch geordnet. Hrsg. von Anna Freud u.a. Bd. 1-18. Frankfurt
am Main: S. Fischer 1940-1968, Bd. 12, S. 227-268, hier: S. 246.
183 Ebd.
184 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
176 (Das de Haus).
185 Ebd.

212
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

de Haus hinter mir, das Fenster und in den schrfsten deutlichsten Zgen die
holde Engelsgestalt meiner Vision. [...] Doch, indem ich nun lnger und ln-
ger das Gesicht im Fenster anblickte, wurd ich von einem seltsamen, unbe-
schreiblichen Gefhl, das ich beinahe waches Trumen nennen mchte, befan-
gen. Mir war es, als lhme eine Art Starrsucht nicht sowohl mein ganzes Regen
und Bewegen als vielmehr nur meinen Blick, den ich nun niemals mehr wrde
abwenden knnen von dem Spiegel.186

Die Szene beschreibt den Umsturz von einer eingangs beschriebenen


Aktivitt des Sehens zur vollstndigen Passivitt des Gebanntseins
und des Gesehen-werdens.187 Machtlos ist Hoffmanns Protagonist einer
Starrsucht im buchstblichen Sinn verfallen, die ihn dazu zwingt, seine
Augen auf das Fenster gerichtet zu halten. In diesem Vorgang der Ver-
zauberung verndern sich die Zuschreibungen von tot und lebendig:
Whrend anfangs noch die Augen des anmutigen, holdseligen Md-
chens [...] etwas todstarres hatten, ist es im weiteren Verlauf der Szene
der Blick Theodors, welcher durch eine Art Starrsucht gelhmt
wird.
Es bleibt freilich die von Theodor angedeutete Unsicherheit, ob sich
diese neuerliche Vision der begehrten Frau nicht blo der Tuschung ei-
nes lebhaft gemalten Bildes verdankt. Ein neben Theodor auf der Bank
sitzender Mann zeigt sich jedenfalls wenig berrascht, dass der junge
Mann im Fenster eine lebende Frau zu erblicken vermeint: Nun das ist
doch eine wunderliche Tuschung [...]. Ei, ei, mein Herr, wohl habe ich
mit unbewaffnetem Auge das hbsche Gesicht dort im Fenster gesehen,
aber es war ja ein, wie es mir schien, recht gut und lebendig in l gemal-
tes Portrait.188
Theodors wilde Einbildungskraft, so suggeriert der Text, lsst ihn
das einmal phantasierte Bild nicht nur immer wieder erblicken, sondern
fhrt auch zu dessen halluzinativer Belebung. Theodor schliet sich die-
ser Deutung an und kommt zu der berzeugung, da der Alte Recht
hatte, und da nur in mir selbst das tolle Gaukelspiel aufgegangen.189
Trotz dieser Einsicht ist die Macht und die Faszination des den
Hauses im weiteren Fortgang der Handlung nicht nur ungebrochen, son-
dern im Gegenteil gesteigert. Theodor wird nunmehr auch dann von dem
Bild der jungen Frau berfallen, wenn er nicht rumlich in der Nhe des
Hauses ist. Der Gedanke an sie sucht ihn heim wie die unkennbaren Ne-

186 Ebd., S. 177.


187 Vgl. Lieb: Und hinter tausend Glsern keine Welt (wie Anm. 134), S. 70.
188 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
179 (Das de Haus).
189 Ebd.

213
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

bel das Gemt des Knstlers in Doge und Dogaresse. Das Medium
dieser Heimsuchung ist dabei wiederum der Spiegel:

Den kleinen Taschenspiegel, der mir so tuschend das anmutige Bildnis re-
flektiert, hatte ich zum prosaischen Hausbedarf bestimmt. Ich pflegte mir vor
demselben meine Halsbinde fest zu knpfen. So geschah es, da er mir, als ich
einst dies wichtige Geschft abtun wollte, blind schien, und ich ihn nach be-
kannter Methode anhauchte, um ihn dann hell zu polieren. Alle meine Pulse
stockten, mein Innerstes bebte vor wonnigem Grauen! ja so mu ich das
Gefhl nennen, das mich bermannte, als ich, sowie mein Hauch den Spiegel
berlief, im blulichen Nebel das holde Antlitz sah, das mich mit jenem weh-
mtigen, das Herz durchbohrenden Blick anschaute!190

Die geliebte Frau, so suggeriert die Passage, kann jederzeit das Geschpf
von Theodors Phantasie sein. Wie in einer Parodie auf den gttlichen
Schpfungsakt ist es der Hauch seines Geistes, der das Spiegelbild zum
Leben erweckt, so dass es beginnt, seinen Schpfer mit jenem wehmti-
gen [...] Blick anzuschauen. Wenn Theodor meint, vom anderen ange-
schaut zu werden, tatschlich aber nur die Reflexion seines eigenen
Blickes wahrnimmt, dann ist der andere mglicherweise nichts anderes
als eine Projektion, eine tuschende Spiegelung, ein Phantasma.
Jener wehmtige, das Herz durchbohrende Blick der geliebten Frau
ist mglicherweise die in das Bild projizierte Wehmut Theodors, genhrt
von dem Wissen, nicht das Objekt, sondern nur ein Phantasma anzu-
schauen. Der Spiegel, kommentiert Max Milner, unterstreicht in er-
schreckender Weise den narzitischen Aspekt einer Liebe, welche den
Mangel, der jedem Begehren des Anderen anhaftet, nicht zu ertragen ver-
mag und die reale Welt auslscht, um die Allmacht eines in bertriebener
Weise Erfllung gewhrenden Imaginren an deren Stelle zu setzen.191
Diese Analyse bleibt unbefriedigend, weil sie zu entschieden die ra-
tionalistische Perspektive jenes nchternen Mannes einnimmt, der ne-
ben Theodor auf der Bank sitzt und sich ber dessen Phantastereien wun-
dert. In der Beziehung zwischen Theodor und dem Bild im Spiegel nichts
weiter sehen zu wollen als die Darstellung eines narzisstischen Phantas-
mas, hiee, um es mit Freud zu formulieren, hinter den Wahngebilden
in rationalistischer berlegenheit den nchternen Sachverhalt erken-
nen192 zu wollen.

190 Ebd., S. 180.


191 Milner: Phantastik und Familienroman in Das de Haus (wie Anm. 134),
S. 215.
192 Freud: Das Unheimliche (wie Anm. 182), S. 242.

214
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Die rationalistische Erklrung, die Vision der jungen Frau als das
Phantasma eines allmchtigen Subjekts zu verstehen, setzt eine Identi-
tt und Macht des Ich voraus, die in Hoffmanns Geschichte an keiner
Stelle behauptet wird. Das Ich wird in der Erzhlung nicht als das Zen-
trum einer phantasierten Struktur gesetzt, sondern erweist sich vielmehr
selbst als das Ergebnis eines Phantasmas. Insofern Theodors Blick in den
Spiegel nicht das eigene Selbst sichtbar werden lsst, sondern ein ande-
res, gehorcht er der Logik der sich verfehlenden Selbstreflexion, die
Schlegel als Struktur der Ironie beschrieben hat. Der Blick in den Spiegel
reflektiert nicht das eigene Selbst, sondern zeigt nur ein (fremdes) Ob-
jekt. Das reflektierte Gesicht tritt als das Gesicht des anderen hervor.
Hoffmann fhrt, mit anderen Worten, in der Geschichte des den Hau-
ses die Vorgngigkeit des Bildes vor dem bildenden Ich und die Vor-
gngigkeit des Prozesses der Reflexion vor dem reflektierenden Ich vor.
Insofern das reflektierende Ich seine eigene Identitt erst dem Ergebnis
eines reflexiven Aktes verdankt, den es weder antizipieren noch beherr-
schen kann, bleibt diese Identitt unverstndlich und fragil.
Indem er feststellt, dass das begehrte Mdchen sein eigenes Spiegel-
bild ist, erkennt Theodor, dass sein eigenes Ich phantasmatischer Natur
ist. Das Ich ist eine phantastische Vorstellung eines Ich. Es entspringt da-
mit, wie das Bild des begehrten Mdchens, einer projizierten Ver-
setzung, das von einer Zeit in die andere springt. Diese Erkenntnis ist im
Freudschen Sinne unheimlich, insofern sie eine Grenze zwischen dem
Ich und dem anderen innerhalb der Grenzen des Ich markiert. Das eige-
ne Ich wird alteriert, entfremdet.
Die junge Frau ist somit Theodor sie ist ein Objekt seiner Phanta-
sie; ihr Bild existiert als sein Phantasma. Das Bild, von dem sich
Theodor die Erfahrung von Ganzheit, Zusammenhang und Sinn ver-
spricht, ist demnach eine Projektion des eigenen Ich. Eine solche ist sie
im doppelten Sinne des Genitivs, denn sie entstammt nicht nur dem Ich
Theodors, sondern sie wirkt zugleich, durch einen Akt der Identifikation,
auf dieses zurck. Dadurch, dass er ein Bild der begehrten Frau phanta-
siert, findet Theodor zugleich seine eigene Identitt als derjenige, der be-
gehrt; als derjenige, der die gefangene Frau aus dem Haus rettet etc. Die
Phantasie entwickelt ein Drama, in dem sie dem Ich und der begehrten
Frau ihre Rollen und damit ihre Identitt zuweist.
Der Spiegel ist damit in Hoffmanns Erzhlung das Medium einer
narzisstischen Ich-Fiktion und Ich-Phantasmierung und zugleich das
Medium des Zerbrechens und der Dekonstitution dieses Ich, indem es
das Ich als anderes vorfhrt. Das zeigt sich deutlich in dem Moment, in
dem Theodor dem phantasierten Mdchen zum ersten Mal real begeg-
net. Wissen Sie wohl, da sich die Geheimnisse unseres den Hauses

215
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

zu enthllen anfangen?,193 wird er von dem Grafen P. auf einer Art


Ball (in zahlreicher Gesellschaft194) angesprochen. Und tatschlich
wird Theodor wenige Augenblicke spter der Frau aus seiner Vision be-
gegnen und in ihr sein Spiegelbild wiedererkennen:

Ganz vertieft in Gedanken an die Geheimnisse, die mir der Graf entwickeln
wollte, hatte ich einer jungen Dame den Arm geboten und war mechanisch der
in steifem Zeremoniell sehr langsam daherschreitenden Reihe gefolgt. Ich fhre
meine Dame zu dem offnen Platz, der sich uns darbietet, schaue sie nun erst
recht an und erblicke mein Spiegelbild in den getreusten Zgen, so da gar
keine Tuschung mglich ist.195

Ich erblicke mein Spiegelbild: Die Sentenz ist doppelt lesbar; sie bein-
haltet eine quivokation.196 Sie bedeutet einerseits (elliptisch), ich er-
blicke das Bild der Frau, das ich in meinem Spiegel gesehen habe, die
Frau aus meinen Trumen, andererseits (literal), ich erblicke mein
Spiegelbild, das Bild, das ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue,
mich selbst. Eine Szene der Selbstaffektion: Zwar ist es klar, dass seine
Phantasie das Bild der jungen Frau geschaffen hat, doch erscheint
Theodor in der gesamten Szene vollkommen passiv. Hoffmann akzen-
tuiert diesen Umstand, indem er hervorhebt, Theodor sei der sehr lang-
sam daherschreitenden Reihe [...] mechanisch [...] gefolgt. Hoffmanns
Akteur verwandelt sich hier endgltig in eine jener Figurationen des Au-
tomatischen und Mechanischen, an denen sein Werk reich ist. Natrlich
spielt Hoffmann hier, wie auch bereits in einer Phrase aus der Szene vor
dem Fenster (ein sonderbar bnglich wonniges Gefhl durchstrmte mit
elektrischer Wrme mein Inneres197) wiederum auf den Mesmerismus
an, des kulturellen Paradigmas fr psychische Fernbeeinflussung.
Die Begegnung mit der begehrten Frau wird als die Geschichte einer
Identifikation erzhlt, in dem Sinne, in dem Lacan diese als eine beim
Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelste Verwandlung198

193 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
190 (Das de Haus).
194 Ebd.
195 Ebd.
196 Vgl. Barthes: S/Z (wie Anm. 139), S. 145f.
197 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
169 (Das de Haus).
198 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie
uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht fr den 16.
Internationalen Kongre fr Psychoanalyse in Zrich am 17. Juli 1949.
In: ders.: Schriften I. Ausgewhlt und hrsg. von Norbert Haas. bers. von

216
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

bestimmt. Mehr als hundert Jahre, bevor Lacan seine Theorie des Spie-
gelstadiums formuliert, fhrt Hoffmanns Das de Haus die Genese eines
imaginren Ich in der Beziehung zwischen Theodor und seinem Spiegel-
bild vor.199 Auch wenn es zunchst so wirken mag, als wrde die Ge-
schichte von nichts anderem erzhlen als von einem jener hoffmannesken
romantischen Phantasten, der an einem Begehren nach einer ertrumten
Frau scheitern und sich dann in einer Traumwelt verliert,200 zeigt sich in
der symbolischen Dramatik der Beziehungen zwischen den Figuren eine
Erkenntnis ber das Phantasmatische und das Imaginre, das Theodors
Ich ausmacht.
Wenn man in diesem Sinne die Begegnung der Hoffmannschen
Hauptfigur mit ihrem Spiegelbild als die Geburt eines imaginren Ich
versteht, kann dies zugleich helfen, die temporale (Un-)Struktur des
Pltzlichen, Brchigen, Zuflligen und also Unzeitigen in der Geschichte
zu erklren. Die Geschichte des Balls (der zahlreichen Gesellschaft)
nimmt diese diskontinuierlichen Momente in nuce wieder auf: Theodor
sieht das Bild der jungen Edmonde von Z. in seiner traumartigen Vision
(die er im Fenster des den Hauses wiedererkennt), bevor er ihr auf
dem Ball das erste Mal tatschlich begegnet. Die Versptung der Be-
gegnung gegenber dem ersten Sehen wird hier dramaturgisch verstrkt,
indem Theodor Edmonde erst erkennt, nachdem er ihr bereits den Arm
geboten hat und scheinbar vollstndig willenlos gefolgt war. Diese Dis-
kontinuitten knnen nunmehr auf den Vorgang zurckgefhrt werden,
in dem das Subjekt Theodor sein eigenes Ich erst in dem Umgang mit
seinem Spiegelbild erfindet und phantasiert.
Die Kohrenz des Ich ist demnach die Folge einer heterogenen Be-
ziehung eines Subjekts zu seiner Vorstellung von dem anderen und
damit zugleich zu seiner Vorstellung von seinem Ich wie auch die Fol-

Rodolphe Gasch, Norbert Haas, Klaus Laermann und Peter Stehlin. Ol-
ten, Freiburg i. Br.: Walter 1973, S. 61-70, hier: S. 64. Eine trgerische
Selbstidentifikation mit dem Ideal-Ich, formuliert Friedrich Kittler, er-
setzt das Subjekt durch denjenigen Anblick, den das Begehren des Ande-
ren zum Objekt hat. [...] Als Objekt des Begehrens der Anderen [...] ent-
steht also die imaginre Einheit Ich (Kittler: Das Phantom unseres
Ichs und die Literaturpsychologie [wie Anm. 130], S. 152f.)
199 Vgl. dagegen Lieb: Und hinter tausend Glsern keine Welt (wie Anm.
134), S. 69.
200 Vgl. James M. McGlathery: Madness in German Romanticism. In: The-
matics Reconsidered. Essays in Honor of Horst S. Daemmrich. Hrsg. von
Frank Trommler. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1995 (Internationale For-
schungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. 9),
S. 187-199, hier: S. 196.

217
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ge einer Unzeitigkeit: Es stellt den Zusammenhang erst phantasmatisch


her, der sein eigenes Ich sein wird. Jede Kontinuitt des Ich beruht auf
einer ursprnglichen Diskontinuitt.
Wenn Hoffmanns Akteur Theodor wahnsinnig wird, dann deswegen,
weil sich ihm die Prozesse seiner Phantasierung eines Ich dramatisch
vergegenwrtigen, so dass er zugleich ber das Phantasma eines Ich
verfgt und die reale Dissoziation desselbigen beobachten muss. Ich bin
das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein
unerklrlich Rtsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!,201 bringt der Er-
zhler der Elixiere des Teufels diese Verwirrung der eigenen Identitt
zum Ausdruck.

Eine Auflsung des Phantasmas?

Die Begegnung Theodors mit seinem Spiegelbild spiegelt selbst die rest-
liche Handlung der Erzhlung, insbesondere die Dynamik der Beziehun-
gen zwischen den Figuren. Die Bilder, die Theodor von der Figur der
Edmonde/Edwine wie auch von ihrer mutmalichen Mutter, der Grfin
Angelika von Z. entwickelt, knnen ebenso wie die daraus hervorge-
henden energetischen Einflsse auf seine Psyche als Folgen jener ur-
sprnglichen Ich-Spaltung, Ich-Teilung und Ich-Verdopplung beschrie-
ben werden, die zuallererst die Genese eines Ich ermglicht. Wenn man
die Handlung der Erzhlung rekapituliert, mag man versucht sein, der Fi-
gur der Mutter (der im Haus gefangenen, wahnsinnigen alten Frau) die
Rolle jenes Anderen zuzuschreiben, dessen Begehren Theodor wirklich
begehrt und welche die eigentliche Figur hinter dem Phantasma der
jungen Frau ist. Der Text legt diese Perspektive insofern nahe, als er in
der Szene des zweiten Eindringens Theodors in das Haus vorfhrt, wie
das Phantasma des Mdchens in die Gestalt der alten, wahnsinnigen Frau
bergeht.

Rasend vor drstendem Liebesverlangen strzte ich auf die Tr; sie wich mei-
nem Druck [...]. Starkduftendes Rucherwerk wallte in blauen Nebelwolken auf
mich zu. Willkommen willkommen, ser Brutigam die Stunde ist da, die
Hochzeit nah! So rief laut und lauter die Stimme eines Weibes, und eben so
wenig, als ich wei, wie ich pltzlich in den Saal kam, eben so wenig vermag
ich zu sagen, wie es sich begab, da pltzlich aus dem Nebel eine hohe jugend-
liche Gestalt in reichen Kleidern hervorleuchtete. Mit dem wiederholten gellen-
den Ruf: Willkommen, ser Brutigam, trat sie mit ausgebreiteten Armen

201 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 2/2, S.
73 (Elixiere des Teufels).

218
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

mir entgegen und ein gelbes, von Alter und Wahnsinn grlich verzerrtes
Antlitz starrte mir in die Augen. Von tiefem Entsetzen durchbebt wankte ich
zurck; wie durch den glhenden, durchbohrenden Blick der Klapperschlange
fest gezaubert, konnte ich mein Auge nicht abwenden von dem grulichen alten
Weibe [...].202

Wieder und wieder die gleichen Oppositionen: der bergang von einer
mnnlich codierten Aktivitt (Eindringen in das Haus, Durchbrechen
der Tr in drstendem Liebesverlangen) zu einer weiblich codierten
Passivitt (festgezaubert sein, angestarrt werden). Pltzlich, auerhalb
jeder kontinuierlicher Kausalitt, befindet sich Theodor im Saal, und
ebenso pltzlich tritt ihm die Gestalt der begehrten Gestalt entgegen.
Wie in der Szene, in der Theodor die Hand der Frau im Fenster des Hau-
ses sieht, tritt die begehrte Gestalt aus einem undurchsichtigen Nebel her-
vor. Sowohl die blauen Nebelwolken als auch das starkduftende Ru-
cherwerk verweisen indem sie die Nhe von Rauch und Rausch be-
merken lassen auf das Halluzinatorische der Szene.203
Kaum ist die begehrte Gestalt der jungen Frau erschienen, ver-
wandelt sie sich hier jedoch in die gefrchtete Gestalt eines grulichen
alten Weibes, wie der Leser spter erfhrt, die Grfin Angelika von
Z.. Einen Moment spter geschieht die gleiche Verwandlung noch ein-
mal in die andere Richtung, und Theodor meint, hinter der Maske des
alten und hsslichen Gesichts die Zge des begehrten Mdchens er-
kennen zu knnen: Sie trat nher auf mich zu, da war es mir, als sei das
scheuliche Gesicht nur eine Maske von dnnem Flor, durch den die
Zge jenes holden Spiegelbildes durchblickten.204 Gleich einem Vexier-
bild scheinen sich beide Gesichter fr einen Moment ineinander zu ver-
schrnken, und Theodor scheint, in der Gestalt vor ihm beide Gesichter
zugleich erkennen zu knnen. Sptestens in dieser Szene lst sich also
die anfngliche Charakterisierung Theodors ein, nach welcher er antipo-
dische Dinge zusammenstellt.
Es mag naheliegend erscheinen, aus dieser Szene zu schlieen, die
Gestalt der alten Frau sei die Wahrheit der jungen, und der bergang von
der schnen Figur zur hsslichen sei das Auftauchen Theodors aus dem

202 Ebd., Bd. 3, S. 188f. (Das de Haus).


203 Die Bedeutung des Rauschs in Hoffmanns uvre muss nicht betont wer-
den. Zu Hoffmanns mglichem Opiumkonsum und Alkoholismus vgl.
Alexander Kupfer: Gttliche Gifte. Kleine Kulturgeschichte des Rau-
sches seit dem Garten Eden. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 136-
147.
204 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
189 (Das de Haus).

219
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

phantasmatischen Nebel in die Realitt des Hauses. Diese Deutung kann


sich jedoch nur auf die Wahrnehmung Theodors berufen, nach welcher
das Gesicht der alten Frau die Maske von dnnem Flor sei, hinter der
das Gesicht der jungen hindurch durchblicke. Die Codierung von
Maske/wahrem Gesicht, Oberflche/Tiefe kann jedoch nicht ga-
rantieren, nicht ihrerseits nur einem Phantasma des beobachtenden Sub-
jekts entsprungen zu sein; ihre epistemologische Zuverlssigkeit beruht
auf nichts anderem als der Logik des Schon-Gelesenen, des Gemein-
platzes.205 Nicht eine Psychologie ist es, die Hoffmanns Texte bilden,
sondern eher eine allgemeine Phantasmologie, eine Lehre von der Macht
und der Funktion des Phantastischen.
Die Gestalt beider Figuren knnen dann als Theodors Phantasmen
des Anderen verstanden werden. Einzig im Falle der jungen Frau ergibt
sich (in der Szene der Begegnung auf dem Ball) ein Konflikt zwischen
dem Phantasma des Anderen und einem realen Anderen. Die erste rea-
le Begegnung mit der begehrten Frau wird fr Theodor zu einer buch-
stblichen Enttuschung und, umgekehrt, erst durch diese Enttu-
schung als eine reale Begegnung markiert. Der Augenblick, in dem
Theodor Edmonde/Edwine als sein Spiegelbild erkennt, scheint derjenige
zu sein, in dem er die Differenz ihrer Erscheinung zu seinem Phantasma
wahrnehmen kann und sich folglich zumindest temporr aus dem Bann
seines Phantasmas lsen kann. Die Abwesenheit der phantasmatischen
Liebesszene wird hier markiert, indem Theodor hervorhebt, es habe sich
nicht der leiseste Anklang jener verderblichen wahnsinnigen Liebes-
wut206 in ihm geregt.
Kein Wunder also, dass Theodor etwas verblfft ist und beginnt,
die begehrte Frau anders wahrzunehmen:

Ich verstummte. Nur der Engelsblick, den die holdseligen Augen des Md-
chens mir zuwarfen, half mir wieder auf. Ihr wit, wie man bei derlei Gelegen-
heit die geistigen Fhlhrner ausstrecken und leise, leise tasten mu, bis man
die Stelle findet, wo der angegebene Ton wieder klingt. So macht ich es und
fand bald, da ich ein zartes, holdes, aber in irgendeinem psychischen berreiz
verkrnkeltes Wesen neben mir hatte.207

Ist die unmittelbare Reaktion Theodors (Ich verstumme) buchstblich


als Ausdruck einer Krise des Phantasmatischen und auch des Erzhlens

205 Vgl. Heiko Christians: ber den Schmerz. Eine Untersuchung von Ge-
meinpltzen. Berlin: Akademie 1999, bes. S. 72-111.
206 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
190 (Das de Haus).
207 Ebd., S. 191.

220
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

ber das Phantasmatische lesbar, so wird diese Krise sogleich beendet,


indem ihm die holdseligen Augen der jungen Frau eine Metonymie,
die das zentrale Element des gespiegelten Blicks aus dem Phantasma er-
neut aufnimmt wieder aufhelfen. Ein zartes, holdes, aber in irgend-
einem psychischen berreiz verkrnkeltes Wesen: wiederum eine dop-
pelt lesbare, quivoke Wendung. Einerseits kann sie so gelesen werden,
dass Theodor ein neues, nicht mehr phantasmatisches Bild der jungen
Frau entwirft und in ihr dabei eine neurotische, vielleicht sogar unheimli-
che Seite entdeckt. Andererseits bedienen gerade diese Elemente (psy-
chischer berreiz, verkrnkelt) den Code des Geheimnisvollen, der
psychischen Fernbeeinflussung etc., der Theodors Phantasma der jungen
Frau von Anfang an durchzogen hat. Der Leser kann demzufolge erstens
zu dem Schluss kommen, dass Theodor, trotzdem er nun der realen
Frau begegnet ist, abermals beginnt, ein phantasmatisches Drama um sie
zu entwerfen. Zweitens kann die Situation so verstanden werden, dass
Theodor zumindest beginnt, die begehrte Frau nunmehr als etwas an-
deres als seine Andere wahrzunehmen. Diese Frage bleibt in Hoffmanns
Text offen, weil es sich bei diesem ersten real markierten Auftritt der
Figur der Edmonde/Edwine zugleich um ihren letzten handelt.

Identifikation und Wiederholungszwang

Man kann erkennen, dass die Darstellung von Theodors Wahnsinn in


Das de Haus beide Modelle des Wahnsinns, wie sie zuvor fr Hoff-
manns Texte insgesamt beschrieben wurden, vereinigt. Das Modell des
Enthusiasmus in welchem Wahnsinn die Bezeichnung fr ein Subjekt
ist, das sich seine Welt nach Magabe einer Idee synthetisiert und das
ironisierende Modell des Mesmerismus nach dem Wahnsinn die pas-
sive Exaltation eines Subjekts benennt, dem die Brche ebenso wie die
Zusammenhnge in seiner Erfahrung als Eingriffe eines Auen erschei-
nen kommen hier zusammen.
Das de Haus, so knnte man sagen, ist eine Erzhlung ber die
Macht des Imaginren. Indem sein Handeln immer ein Lesen und Schrei-
ben bleibt er vollzieht den Versuch einer Synthese, entwickelt Phantas-
men etc. , handelt Hoffmanns Akteur Theodor zugleich als ein Stellver-
treter des Lesers und auch als Stellvertreter und mgliches Objekt einer
Identifikation der Hoffmannschen Erzhlung. Wenn die Zirkulation hyp-
notischer und halluzinogener Energien als ein Vorgang des Erzhlens,
des Lesens und des Schreibens dargestellt wird, dann zirkulieren diese
Energien nicht nur zwischen Hoffmanns Protagonisten, sondern poten-
tiell auch zwischen dem Text und dem Leser.

221
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Hoffmanns Geschichte berichtet jedoch nicht nur ber die Macht des
Imaginren, sondern sie zeigt auch dessen Struktur auf und also: seine
Zeit. Einerseits wird vorgefhrt, inwiefern die Kontinuitt der Zeit und
nach Kant ist das Subjekt nichts anderes als diese208 imaginr, d.h. in
einem diskontinuierlichen Akt der Einbildung geschaffen ist. Anderer-
seits ist es die Bedingung der Mglichkeit dieser imaginren Zeitgebung,
dass das Phantasma, sobald es existiert, keiner Macht des Subjekts unter-
steht und jederzeit in seiner Erfahrung auftauchen und diese unterbrechen
kann.
Eine Warnung vor der Macht des Phantastischen spricht in aller
Deutlichkeit die Anekdote aus Theodors Jugend aus, die einzige Mit-
teilung, die der Text ber die Vergangenheit seines Akteurs liefert.

Mit Beschmung mu ich euch bekennen, da mir jenes Ammenmrchen ein-


fiel, womit mich in frher Kindheit meine Wartfrau augenblicklich zu Bette
trieb, wenn ich mich etwa gelsten lie, Abends vor dem groen Spiegel in
meines Vaters Zimmer stehen zu bleiben und hinein zu gucken. Sie sagte
nehmlich, wenn Kinder Nachts in den Spiegel blickten, gucke ein fremdes, gar-
stiges Gesicht heraus, und der Kinder Augen blieben dann erstarrt stehen. Mir
war das ganz entsetzlich graulich, aber in vollem Grausen konnt ich doch oft
nicht unterlassen, wenigstens nach dem Spiegel hin zu blinzeln, weil ich neu-
gierig war auf das fremde Gesicht. Einmal glaubt ich ein paar grliche gl-
hende Augen aus dem Spiegel frchterlich herausfunkeln zu sehen, ich schrie
auf und strzte dann ohnmchtig nieder. [...] noch jetzt ist es mir, als htten
jene Augen mich wirklich angefunkelt.209

Das Drama der Identifikation Theodors mit der in seinem Spiegel auftau-
chenden Gestalt erhlt hier ihre Urszene. Zunchst hat die Geschichte aus
Theodors Kindheit die Funktion, seine Person nher zu charakterisie-
ren, die Kohrenz eines psychologischen Zusammenhangs zu suggerie-
ren: Theodor ist derjenige, der schon in seiner Jugend dazu geneigt war,
ein Trumer im Wachen zu sein, Gespenster zu sehen etc.
Insofern die Szene aus Theodors Kindheit freilich eine spezifische
Form des Phantasierens, die Identifikation, behandelt, stellt sie zugleich
ein Drama der Adoleszenz dar. Wenn der Spiegel, vor dem Theodor ger-
ne stehenbleibt, gerade der groe Spiegel in seines Vaters Zimmer
ist, dann ist es die dipale Identifikation mit seinem Vater, welche die
Wartfrau verbieten will. Das Ammenmrchen soll die Rume des

208 Vgl. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (wie Anm. 79), S.
191f.
209 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
177f. (Das de Haus).

222
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Imaginren verschlieen und die Kinder in einen traumlosen Schlaf


schicken. Indem das Kind nun aber erst recht neugierig war auf das
fremde Gesicht und dieses auch tatschlich anstatt seines Spiegelbilds
erscheinen sieht, wird das Phantastische hier gerade durch das Mrchen
der Amme erffnet. Das Ammenmrchen von Theodors Wartfrau
gleicht den Gespenstergeschichten der einfltigen Kindermdchen, vor
denen Lockes Essay Concerning Human Understanding warnt, weil sie
in der Einbildungskraft des Kindes die Dunkelheit mit der Existenz von
Kobolden und Gespenstern assoziieren knnten.210
Das Phantastische ist kontagis: Es befllt noch und gerade das-
jenige, was es limitieren oder abschaffen will. In dieser Paradoxie zeigt
sich, dass die Kindheitsanekdote nicht so sehr die dipale Identifikation
des Heranwachsenden behandelt als vielmehr die Kraft des Imaginren.
Indem Theodor in der Erinnerung an die Szene aus seiner Kindheit die
Realitt des fremden Gesichts evident erscheint (noch jetzt ist es
mir), zeigt sich das Imaginre als souvern gegenber der Zeit. Gleich
den Gespenstern, von denen es spricht, durchbricht es jede Kontinuitt
durch die Wiederkehr des scheinbar Vergangenen und Toten.
Die Wahrnehmung dieses Effekts ist es, der fr Freud das Unheim-
liche bezeichnet. Im seelisch Unterbewuten, schreibt Freud,

lt sich nmlich die Herrschaft eines von den Triebregungen ausgehenden


Wiederholungszwanges erkennen, der wahrscheinlich von der innersten Natur
der Triebe selbst abhngt, stark genug ist, sich ber das Lustprinzip hinauszu-
setzen [...]. Wir sind durch alle vorstehenden Errterungen darauf vorbereitet,
da dasjenige als unheimlich versprt werden wird, was an diesen inneren Wie-
derholungszwang mahnen kann.211

210 John Locke: An Essay Concerning Human Understanding [1690]. Edited


by Peter H. Nidditch. Oxford: Clarendon Press 1975, S. 398 (Book II,
Chapter XXXIII, 10). Zum Topos des Ammenmrchens, welcher in
der Folge zahllose autobiographische Berichte wie pdagogische Entwr-
fe bevlkert, vgl. Stefan Goldmann: Topos und Erinnerung. Rahmenbe-
dingungen der Autobiographie. In: Der ganze Mensch. Anthropologie
und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hrsg. von
Hans-Jrgen Schings. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994 (Germanistische
Symposien Berichtsbnde. 15), S. 660-675, hier: S. 667; Terry Castle:
Geisterhafte Politik. Der Glaube an Erscheinungen und die romantische
Imagination. In: Nach der Aufklrung? Beitrge zum Diskurs der Kultur-
wissenschaften. Hrsg. von Wolfgang Klein und Waltraud Naumann-Be-
yer. Berlin: Akademie 1995, S. 67-93, hier: S. 82f.
211 Freud: Das Unheimliche (wie Anm. 182), S. 251.

223
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Insbesondere das Phnomen des Doppelgngertums kann, wie das Mo-


ment der Wiederholung des Gleichartigen,212 auf einen im Unbewussten
wirksamen Wiederholungszwang zurckgefhrt werden. Freud be-
schreibt die Wirkung des Wiederholungszwangs ausfhrlicher in dem ein
Jahr nach dem Aufsatz ber das Unheimliche erschienenen Jenseits
des Lustprinzips. Er geht hier von dem Problem aus, dass bestimmte un-
bewusste Vorgnge auch vom Psychoanalytiker nicht bewusst gemacht
werden knnen. Indem das Ich eine Situation als gegenwrtiges Erleb-
nis wiederholt, statt sie als ein Stck der Vergangenheit zu erin-
nern,213 unterluft ihm ein fundamentaler Zurechnungsfehler: Es erkennt
das Verdrngte nicht als einen Teil seiner eigenen Geschichte und ist ge-
rade deshalb gezwungen, es immer wieder neu zu erleben.214 Unheimlich
ist, wie Freud hervorhebt, dasjenige, das an diesen Wiederholungszwang
mahnt, also nicht der Zwang an sich, sondern erst das Bewutwerden
des Vorgangs.215
Eine derartig unheimliche Wahrnehmung des Wiederholungs-
zwangs stellt Das de Haus dar. Diese Wiederholungsstruktur ist, nicht
nur in diesem Text, so ausgeprgt, dass schlielich auch der Leser sich
einer andauernden Wiederkehr des Gleichen ausgesetzt sieht.216 Die
ausgeprgten strukturellen und motivischen hnlichkeiten und Gleichar-
tigkeiten nicht nur innerhalb einer Geschichte, sondern auch zwischen
mehreren verschiedenen Geschichten Hoffmanns, knnen somit dadurch
erklrt werden, dass hier die Wiederholung selbst zum Strukturelement
und Thema des Erzhlens wird. Hoffmanns Akteur Theodor wird nicht
nur immer wieder auf die gleiche Art und Weise in den Bann seiner
Phantasmen gezogen; zudem erkennt er auch, dass die Struktur dieser
Phantasmen auch schon in seiner Kindheit vorzufinden war und dass die

212 Ebd., S. 249.


213 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips [1920]. In: ders.: Gesammelte
Werke (wie Anm. 182), Bd. 13, S. 1-69, hier: S. 16.
214 Vgl. Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psy-
choanalyse. bers. von Emma Moersch. 14. Aufl. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1998 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 7), S. 627f.
215 Hertz: Freud und der Sandmann (wie Anm. 181), S. 132.
216 Dass die Wiederholung sowohl auf der strukturellen (Handlungs-)Ebene
wie auch auf der Ebene der sprachlichen Form in Hoffmanns Texten von
unermesslicher Bedeutung ist, ist bereits beobachtet worden. Dennoch
konnte diese Einsicht bisher kaum fr die Lektre der Erzhlungen ge-
nutzt werden. Vgl. fr einen Forschungsberblick Sabine Haupt: Es
kehret alles wieder. Zur Poetik literarischer Wiederholungen in der
deutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, Eichen-
dorff. Wrzburg: Knigshausen & Neumann 2002, S. 286-294.

224
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Warnung der Wartfrau zu einem Fluch fr sein ganzes Leben gewor-


den ist.
Das Ich wird zur Wiederholung, zur Reprise eines immer schon ge-
trumten Phantasmas. Diesen Gedanken legt in Hoffmanns Geschichte
vor allem die erst am Schluss (durch den Doktor K.) mitgeteilte Vor-
geschichte zu den Ereignissen im Haus dar, welche vor allem die Bezie-
hung zwischen der im Haus wohnenden alten Frau und der von Theodor
begehrten jungen Frau und zu dem Hausverwalter thematisiert. Statt
einer Auflsung dieser Rtsel wird im Schlussabschnitt der Erzhlung
eine weitere Geschichte innerhalb der Geschichte angeboten (eine Ein-
klammerung in zweiter Potenz, denn bereits die Hauptgeschichte ist eine
Binnengeschichte). Diese jeweils zumeist gegen Ende der eigentlichen
Handlung berichtete Vorgeschichte ist fr Hoffmanns Erzhlungen eben-
so charakteristisch (und in nahezu jeder Geschichte vorzufinden), wie sie
noch nie als Strukturmerkmal seiner Erzhltechnik bemerkt oder be-
schrieben wurde.
In einer furiosen Anlehnung an schauerromantische Erzhlungen bie-
tet Hoffmann auf wenigen Seiten eine Flle von ebenso unwahrscheinli-
chen wie unmglichen Vorgngen. In atemloser Folge verliebt sich ein
Graf von S., der Vater der jungen Frau, zuerst in eine Angelika, Gr-
fin von Z., dann aber in deren jngere Schwester Gabriele; die ltere
Schwester wiederum heuert flugs eine topische Zigeunerin (ein langes,
hageres, entsetzliches Weib217) an, welche sich durch die rtselhafte An-
kndigung eines Brutigams empfiehlt (hei hei blanker Brutigam
kommt218) und den Besitz geheimnisvoller Getrnke (eine Phiole [...],
in der ein kleiner Goldfisch in silberhellem Spiritus auf und ab zu gau-
keln schien219). Unvermutet erklrt nun der untreue Graf S., da er sich
aus gewissen Ursachen gentigt gesehen [habe], den freilich seltsamen
Wnschen Angelikas nachzugeben, und ihr [...] das in ***n belegne
[sic] Haus in der Allee als Eigentum zu schenken.220
Die dunkle Rede von den gewissen Ursachen suggeriert eine ma-
gische Einflussnahme auf die Psyche des untreuen Grafen S., welche
noch deutlicher wird, sobald die Hochzeit einmal vollzogen ist: Dann
fing aber der Graf an auf ganz eigne Weise zu krnkeln. Es war, als wenn
ihm ein geheimer Schmerz alle Lebenslust, alle Lebenskraft raube.221 In
der Folge wird das Kind des Grafen und der jngeren Schwester entfhrt

217 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
194 (Das de Haus).
218 Ebd.
219 Ebd.
220 Ebd., S. 195 (Hervorhebung von mir, O. K.).
221 Ebd.

225
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

und vom Zigeunerweib zurckgebracht, welches allerdings augen-


blicklich verstirbt; der Graf S. wiederum ist derweil in das Haus nach
***n zur inzwischen wahnsinnig gewordenen lteren Schwester sei-
ner Frau gezogen.
Als Gabriele, die jngere Schwester, sich dorthin begibt, scheint An-
gelika pltzlich [...] die Zge des Zigeunerweibes anzunehmen222 und
folglich auf eine dunkle Art und Weise von dieser Figur besessen zu sein.
Auf allen Ebenen wiederholt sich die Struktur des Ich-Verlusts und der
Ich-Verdopplung als Wiederholung eines Phantasmas. In einem lichten
Zwischenraum legt sie dann ein Gestndnis nieder: Sie bekennt, da
der Graf S. in ihre Arme zurckgekehrt, und da das Kind, welches die
Zigeunerin ins Haus des Grafen von Z. brachte, die Frucht dieses Bnd-
nisses sei.223
Die Identitt der jungen Frau wird damit ebenso verdoppelt wie un-
klar: Sie knnte die Tochter des Grafen S. mit seiner Frau sein und folg-
lich Edmonde von S. heien; sie knnte gleichermaen aber auch die
Tochter des Grafen mit seiner Schwgerin Angelika von Z. sein und
folglich Edwine von S. heien. Der Text Hoffmanns gibt ihr an verschie-
denen Stellen beide Namen.224 Als wrde diese wilde Geschichte irgend-
einen wirklichen Zusammenhang konstituieren oder irgendein Rtsel kl-
ren, wendet sich der Doktor K. nun wieder seinem Zuhrer Theodor
(und dem Leser Hoffmanns) zu: Es wrde wohl (so schlo der Arzt sei-
ne Erzhlung) ganz berflssig sein, Sie, gerade Sie auf den tiefern Zu-
sammenhang aller dieser seltsamen Dinge aufmerksam zu machen.225
Nun mag dieser an die Geschichte vom den Haus angehngte
Familienroman unbefriedigend wirken, bricht er doch mit einigen Ge-
setzen psychischer Kohrenz, innerer und uerer Wahrscheinlichkeit
etc.226 Die Vorgeschichte verdoppelt symbolisch die Handlung um das
de Haus: Theodors wahnhaftes Begehren nach der jungen Edwi-
ne/Edmonde entspricht hier der Mesmerisierung des Grafen S. durch
die wahnsinnige Angelika Z.. Theodors Geschichte ist so als eine Wie-
derholung beschreibbar; er kann in dem Zustand des Grafen den seinigen
erkennen und in dieser Identifikation den Wiederholungszwang erken-

222 Ebd., S. 197.


223 Ebd.
224 Vgl. ebd., S. 192 (Wissen Sie wohl, da Ihre Nachbarin die Grfin Ed-
wine von S. war?) und 198 (Da dies Bild Edmonde war, wissen wir
nun beide).
225 Ebd., S. 197f.
226 Max Milner spricht von dem enttuschenden Charakter des Schlusses,
den er als kolportagenhaft (rocambolesque) bezeichnet (Milner:
Phantastik und Familienroman in Das de Haus [wie Anm. 134], S. 213).

226
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

nen, der auch ihn selbst beherrscht. Dies wre eine Identifikation mit der
Identifikation, ebenso, wie die Geschichte des Grafen (und diejenige
Theodors) die Macht des Erzhlens das Imaginre und Phantastische
behandelt.
So bemerkt Doktor K. gegen Ende der Erzhlung: brigens mag
ich jetzt nicht verhehlen, da ich mich nicht wenig entsetzte, als ich,
nachdem ich mich mit Ihnen in magnetischen Rapport gesetzt, ebenfalls
das Bild im Spiegel sah. Dass dies Bild Edmonde war, wissen wir nun
beide.227 Das Wissen, um das es hier geht (dass die junge Frau Ed-
monde ist), beruht jedoch auf nichts anderem als der Evidenz einer Er-
zhlung auf dem Medium des Phantastischen und Imaginren und
bleibt insofern strukturell eine Tuschung und Verblendung. Jeder Blick
in den Spiegel zeigt ein fremdes Gesicht, insofern er zuallererst ein
Gegenber inauguriert, anhand dessen berhaupt Eigenheit und
Fremdheit hervorgebracht werden knnen. Der Blick in den Spiegel er-
mglicht es, ich zu sagen, aber diese Aussage ist zugleich die wahn-
hafte Folge einer trgerischen Identifikation mit einem fremden Ge-
sicht. Diese Macht des Imaginren, ihre Kraft, im Spiegel ein frem-
des Gesicht erscheinen zu lassen, fhrt Hoffmanns Geschichte vor.

III. 4 Mechanisierte Trume


(Die Automate)

Die Irritation: der knstliche Mensch

Die Lektre einer weiteren Erzhlung Hoffmanns, Die Automate, kann


zeigen, welche Variationen und Wiederholungen das Modell des Wahn-
sinns in seinen narrativen Ausformulierungen erfahren kann. Die kurze
Erzhlung, die zuerst in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung (1814)
erschienen ist und dann in die Sammlung Die Serapionsbrder aufge-
nommen wurde, zhlt bis heute zu den am wenigsten beachteten Texten
Hoffmanns.228 Dieser Umstand erklrt sich vielleicht dadurch, dass die

227 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
198 (Das de Haus).
228 Den wenigen Studien zu der Erzhlung gelingt es kaum, deren Struktur
erschpfend zu beschreiben. Der Aufsatz von Bernhild Boie konzentriert
sich ausschlielich auf das Motiv der mechanischen Figur (Bernhild
Boie: Die Sprache der Automaten. Zur Autonomie der Kunst. In: Collo-
quia Germanica 51 [1981], S. 284-297). Die Studie OBriens zu Die Au-
tomate ist anregend (William Arctander OBrien: E.T.A. Hoffmanns cri-
tique of Idealism: Psychology, allegory and philosophy in Die Automate.

227
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Geschichte sich zu weigern scheint, ihre Geheimnisse und Rtsel befrie-


digend aufzulsen. So bemerkt Peter von Matt:

Es gibt wohl keinen einigermaen geschulten Hoffmann-Leser, der von dieser


Arbeit nicht in ganz besonderer Weise enttuscht wrde; denn das echte An-
liegen des Dichters ist durchwegs sprbar, und man erwartet fortwhrend einen
grundstzlichen Aufschlu, der dann eben doch nicht kommt.229

Die enttuschte Reaktion ber eine versprochene, aber nicht eingelste


Aufklrung findet sich jedoch bereits im Rahmengesprch der Serapions-
brder. Hier heit es, unmittelbar im Anschluss an den Text der Erzh-
lung: Nun, sprach Ottmar, als Theodor pltzlich schwieg, nun ist das
alles? Wo bleibt die Aufklrung [...]?230 Wenn man sich nun der Erzh-
lung zuwendet, wird auffallen, dass die Protagonisten insbesondere die
Freunde Ludwig und Ferdinand ebenfalls schwanken zwischen der
Hoffnung auf eine vollstndige Aufklrung und der Enttuschung ber
das Ausbleiben derselben.

[W]ie sind wir doch so bitter getuscht worden!, ruft Ludwig nach dem
ersten Besuch beim Professor X. aus: wo sind die Aufschlsse, nach denen
wir trachteten, wie blieb es mit der lehrreichen Unterhaltung, in der uns der
weise Professor erleuchten sollte, wie die Lehrlinge zu Sais?231

Es liegt nahe, die ausbleibende Enthllung des Rtsels als einen Moment
der narrativen Struktur der Erzhlung zu begreifen. Dieser Eindruck wird
dadurch verstrkt, dass es schwer fllt, nur zu benennen, worin eigentlich

In: Euphorion. Zeitschrift fr Literaturgeschichte 83 [1989], S. 369-406).


Die Lektre Frank Haases berzeugt nicht, da sie kaum plausibel machen
kann, dass die Erzhlung durch alle phantastischen Verwicklungen blo
die medientheoretische Position seiner Epoche darstellt (Frank Haase:
Medien Codes Menschmaschinen. Medientheoretische Studien zum
19. und 20. Jahrhundert. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
1999, S. 53-66). Der Ansatz von Mckes, in dem Wirken des Professors
X. eine Exemplifizierung des foucaultschen Konzepts der Bio-Macht
erkennen zu wollen, weist Mngel sowohl im Verstndnis Foucaults als
auch in dem Hoffmanns auf und erbrigt eine weitere Diskussion (Doro-
thea von Mcke: Bio-Macht und romantische Fantastik. In: Konzepte der
Moderne. Hrsg. von Gerhart von Graevenitz. Stuttgart, Weimar: Metzler
1999 [Germanistische-Symposien-Berichtsbnde. 20], S. 185-201).
229 Matt: Die Augen der Automaten (wie Anm. 65), S. 176.
230 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
427 (Die Automate).
231 Ebd., S. 418.

228
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

das zentrale Rtsel der Erzhlung liegt. Der Beginn der Erzhlung lsst
eine Geschichte erwarten, die um die Auflsung des Rtsels des spre-
chenden Trken zentriert ist: Der redende Trke machte allgemeines
Aufsehen, ja er brachte die ganze Stadt in Bewegung, denn Jung und Alt,
Vornehm und Gering, strmte vom Morgen bis in die Nacht hinzu, um
die Orakelsprche zu vernehmen, die von den starren Lippen der wun-
derlichen lebendigtoten Figur den Neugierigen zugeflstert wurden.232
Schon der erste Satz entfaltet ein Spiel verschiedener Oppositionen,
welche die Geschichte rasch komplexer gestalten. Zunchst einmal der
offensichtliche Skandal der lebendigtoten Figur, einer schieren Un-
mglichkeit, solange die Gegenberstellung von lebendig und tot
nicht zulsst, dass ein Wesen beides zugleich ist oder einen dritten Zu-
stand zwischen beiden einnimmt. Die Kreuzung der Unterscheidung zwi-
schen lebendig und tot wird insbesondere dadurch markiert, dass
das mechanische Wesen spricht, indem es den neugierigen Beobachtern
ber starre Lippen seine Orakelsprche zuflstert. Der Besitz von
Sprache ist allerdings, ebenso wie das Verfgen ber eine Stimme, wel-
che Worte zuflstern kann, in der gesamten philosophischen Tradition
des Abendlands schlechthin dasjenige, das den Menschen im Unterschied
zum Tier und zur Maschine definiert.
Bereits der erste Satz der Erzhlung kann bei seinen Lesern somit
durchaus jene eklatanteste Konfusion233 hervorrufen, welche Peter von
Matt in der Erzhlung insgesamt am Werk sieht. Dieser Eindruck ver-
strkt sich noch, da es im Lauf der Erzhlung zunehmend fragwrdig
wird, ob das Rtsel um den sprechenden Trken wirklich deren Thema
ist. Nachdem Hoffmann eine ausfhrliche Beschreibung und Prosopogra-
phie der mechanischen Figur (eine wahrhaft orientalisch geistreiche
Physiognomie234) gegeben hat, schildert er einige vergebliche Versuche,
die Mechanik der Figur zu verstehen. Wie das de Haus, so ist die Fi-
gur des sprechenden Trken von einem diskursiven Raum des Gerchts
und des Geschwtzes umgeben, in dem die Meinungen und Urteile ber
die Natur des rtselhaften Dings umherschweifen: Man erschpfte sich
in Vermutungen ber das Medium der wunderbaren Mitteilung, man un-
tersuchte Wnde, Nebenzimmer, Gert, alles vergebens.235
In dieser Situation einer alles umgreifenden Fama betreten Hoff-
manns Hauptakteure, die beiden Freunde Ludwig und Ferdinand, die
Szene. Diese suchen nicht mehr nach der mechanischen Struktur des

232 Ebd., S. 396.


233 Matt: Die Augen der Automaten (wie Anm. 65), S. 176.
234 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
396 (Die Automate).
235 Ebd., S. 397.

229
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Trken, sondern nach der Art und Weise, wie die mechanische Figur
eine Verbindung zwischen Personen herstellt. Die komplexe Konstruk-
tion des sprechenden Trken wird nun als ein Manver der Ablenkung
von dem wahren Geheimnis gewertet (Seine [...] Figur ist etwas ganz
Untergeordnetes236). Das wirkliche Geheimnis, so vermutet Ferdinand,
liegt in dem menschlichen Wesen, welches die Figur des Trken als
Medium gebraucht, und in der geistigen Macht dieses unbekannten
menschlichen Wesens, vermge dessen es in die Tiefe des Gemts des
Fragenden zu dringen scheint.237 Das Modell der Mechanik wird ersetzt
durch ein hermeneutisches Modell der Kommunikation, der Relation ver-
schiedener Individuen zueinander.
Wenn die mechanische Figur nur die Aufmerksamkeit des Betrach-
ters von einer Kontaktaufnahme durch ein menschliches Wesen ablenken
soll, dann gilt es, nach dem Wesen hinter dem Automaten und nach der
Art und Weise der Relation jener verborgenen Figur zu den Besuchern
des sprechenden Trken zu fragen. Diese Frage stellt sich umso eher,
als der Besuch Ferdinands und Ludwigs bei der mechanischen Figur of-
fenbart, dass diese um die Vorgeschichte Ferdinands eine scheinbar
hoffnungslose Liebe zu einer Sngerin wei. Ludwig kann sich dieses
Wissen nur durch das Potential des Wesens hinter der Maschinerie er-
klren, sich mit uns in einen solchen geistigen Rapport zu setzen, dass
es unsere Gemtsstimmung, ja unser ganzes inneres Wesen auffat.238
Der Terminus Rapport zeigt, dass hier abermals, wie im gesamten
uvre Hoffmanns, der Mesmerismus das Modell fr die Energiestrme
zwischen den Figuren liefert.
Durch die Suche nach dem Ursprung und der Identitt dieser Macht
hinter der Mechanik erhlt die Erzhlung eine neue Wendung. Der von
einem ltlichen Mann239 als Schpfer des Automaten in die Diskussion
gebrachte Professor X. fhrt zwar bereitwillig seine musikproduzie-
renden Automaten vor, enttuscht die Freunde aber durch seine markt-
schreierische Art,240 was ihn eher als einen dubiosen Scharlatan241
und weniger als einen Meister mesmeristischer Knste erscheinen lsst.
Die beiden Freunde verlassen enttuscht das Anwesen des Professors und
fhren im Gehen einen lngeren Dialog ber das Wesen der Musik und
die Bedeutung der Mechanik fr diese. Dabei kommen sie, scheinbar oh-
ne Absicht, wieder zurck zum Haus des Professors X. und glauben

236 Ebd., S. 400.


237 Ebd., S. 401.
238 Ebd., S. 414.
239 Ebd., S. 411.
240 Ebd., S. 417.
241 Matt: Die Augen der Automaten (wie Anm. 65), S. 179.

230
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

nunmehr, dort die Stimme der Sngerin aus Ferdinands Vorgeschichte zu


hren, was den Professor in einem ganz anderen Licht erscheinen lsst.
Bevor jedoch ein weiterer Besuch bei diesem Aufklrung bringen kann,
muss Ferdinand abreisen; die Geschichte endet mit einem rtselhaften
Brief Ferdinands an seinen Freund, der diesem seinen zerrtteten See-
lenzustand242 vorfhrt. Ferdinand berichtet hier davon, wie er zufllig
der Hochzeit der Sngerin mit einem russischen Offizier beigewohnt ha-
be, bei der auch der Professor X. anwesend gewesen sei, was aber Lud-
wig zufolge nicht der Wahrheit entsprechen kann, da der Professor
durchaus die Stadt nicht verlassen habe.243
Mit dem Verschwinden Ferdinands und der Ratlosigkeit Ludwigs
bricht die Geschichte ab. Es erscheint nicht als erstaunlich, wenn der Ein-
druck, den die Lektre der Erzhlung hinterlsst, oftmals von einer Ent-
tuschung ber die mangelnde Aufklrung der rtselhaften Zusammen-
hnge beherrscht wird. So kann man in einigen Kommentaren zu Die Au-
tomate nicht weniger als reine Ratlosigkeit am Werke sehen.244

Das Fragmentarische Synthese und Erotik

Dieser knappe berblick ber die Handlung gengt, um das Ausma der
Konfusion in Die Automate zu begreifen. Doch es gilt, die im An-
schluss an die Erzhlung im Kreis der Serapionsbrder geuerte Recht-
fertigung Theodors zu beachten, die Erzhlung sei nur ein Fragment.245
Die merkwrdige Historie vom redenden Trken sei sogar von Haus
aus fragmentarisch, fhrt Theodor fort. Ich meine, die Fantasie des
Lesers oder Hrers soll nur ein paar etwas heftige Rucke erhalten und
dann sich selbst beliebig fortschwingen.246

242 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
427 (Die Automate).
243 Ebd.
244 Lothar Pikulik: E.T.A. Hoffmann als Erzhler. Ein Kommentar zu den
Serapions-Brdern. Gttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S.
121: Ob auch im Falle Ferdinands eine Macht manipulierend in sein Le-
ben eingreift und ob zu seinem Heil oder Unheil; welcher Zusammen-
hang zwischen Professor X. und der Sngerin und zwischen diesen und
dem Automaten besteht; was es mit dem russischen Offizier fr eine Be-
wandtnis hat und in welchem Verhltnis alle diese Personen zu Ferdinand
stehen, das bleibt ungeklrt.
245 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
427.
246 Ebd., S. 427f.

231
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Inwiefern ist Erzhlung von Haus aus fragmentarisch? Hier kann


man sicherlich an die Unabgeschlossenheit und Unaufgelstheit des En-
des denken, aber auch an die abrupten Schnitte zwischen einzelnen
Szenen, die, hnlich wie bereits in Das de Haus, durch eine Rhetorik
des Pltzlichen markiert werden (Pltzlich wehte ein seltsamer Klang
durch die Luft247). Es lt sich die These wagen, Die Automate strebe
eine Simulation dessen an, was Schlegel, mit einer hinterlistigen Formu-
lierung, als fragmentarisches Bewutsein248 bezeichnet und hierunter
kaum das Bewusstsein einer in seiner Ganzheit verlorenen, aber in Frag-
menten noch reprsentierbaren Totalitt versteht, wie gelegentlich be-
hauptet wird.249 Zwar besitzt die romantische Universalpoesie im Sinne
Schlegels einen Bezug zu einer Ganzheit: Die classischen Gedichtarten
haben nur Einheit; die progressiven allein Ganzheit,250 schreibt Schlegel
aber die Ganzheit der Progression kann nur eine progressive Ganzheit
sein, eine nie erreichte und nie erreichbare. Entsprechend kann Schlegels
Formulierung des fragmentarischen Bewusstseins nicht die Forderung
nach einem Bewusstsein des Fragmentarischen umfassen, sondern um-
schreibt eher da die Prsenz eines solchen Bewusstseins als gegenwr-
tig behaupten wrde, was nur ein Projekt der Zukunft sein kann die
Notwendigkeit, jedes Bewusstsein (auch das Bewusstsein des Bewusst-
seins) als fragmentarisch zu denken, als noch-nicht-bewusst-sein und
wohl auch nie-jemals-bewusst-gewesen-sein.251
Deutet Hoffmanns Rhetorik der Unterbrechung und Zerstreuung, der
Strung und Digression, seine konsequente Rhetorik der Inkonsequenz
gewissermaen , auf die Mglichkeit eines ironisch gebrochenen Ver-
stehens hin, auf die Fhigkeit einer fortschwebenden Phantasie zu ei-
ner Re-Totalisierung des Fragments? Oder steht nicht gerade die Mg-
lichkeit einer phantastischen Ordnung, einer Ganzheit auf dem Spiel?
Statt allzu voreilig dem Rat Theodors zu folgen, und eine phantastische

247 Ebd., S. 424 (Die Automate; Hervorhebung von mir, O. K.).


248 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 12, S.
393.
249 Vgl. Manfred Frank: Das fragmentarische Universum der Romantik.
In: Fragment und Totalitt. Hrsg. von Lucien Dllenbach und Christiaan
L. Hart Nibbrig. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 (edition suhrkamp.
1107), S. 212-224, hier: S. 218f.
250 Schlegel: Literarische Notizen (wie Anm. 21), S. 63 (Nr. 444).
251 Vgl. Werner Hamacher: Der ausgesetzte Satz. Friedrich Schlegels poeto-
logische Umsetzung von Fichtes absolutem Grundsatz. In: ders.: Entfern-
tes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 (edition suhrkamp. 2026), S. 195-
234, bes. S. 215ff.

232
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Synthese der Erzhlung anzustreben, sollte man die Mglichkeit erw-


gen, dass genau dieser Mechanismus der Synthese das Thema der Erzh-
lung und das vorrangige Problem ihrer Protagonisten darstellen knnte.
Die allgemeine Struktur der Erzhlung gliedert sich in drei Szenen
und Orte. Wenn man die Entwicklung Ferdinands als den Mittelpunkt der
Geschichte begreift, lsst sich diese zwanglos in drei Zeitschichten unter-
teilen, deren Handlung zudem an verschiedenen Orten spielt.252 In chro-
nologischer Folge wird zuerst die Vorgeschichte Ferdinands (die Be-
gegnung mit der Sngerin in D.) berichtet, anschlieend die eigentli-
che Handlung der Erzhlung (die Begegnung mit dem sprechenden Tr-
ken und der Besuch bei dem Professor X. in J.), und schlielich
gleichermaen als Coda der Erzhlung die Szene der Hochzeit
zwischen der Sngerin und dem russischen Offizier im Dorfe P.
Allerdings wird nur die mittlere Episode, die Handlung um die beiden
Freunde Ludwig und Ferdinand, erzhlt, d.h., von einem nicht selbst als
handelnde Figur auftretenden Erzhler berichtet. Die Vorgeschichte,
die Begegnung mit der Sngerin, wird im Gesprch mit seinem Freund
Ludwig, von Ferdinand erzhlt, und die Nachgeschichte, die Hochzeit
der Sngerin, ebenfalls von Ferdinand brieflich an Ludwig berichtet. Der
Akt des Erzhlens wird so exponiert: Es wird hervorgehoben, dass dem
Leser das gesamte Geschehen nicht nur imaginativ vermittelt ist (eine
Banalitt), sondern auch, dass es von vornherein die Logik des Imagin-
ren gleichermaen befolgt und darstellt. Das Erzhlen ist im Gegensatz
zum Umherschweifen des Gerchts und der Vermutung, welche den An-
fang der Geschichte bestimmen von dem Wunsch nach einem Zusam-
menhang, einer Ganzheit angetrieben.
Dieser Wunsch bestimmt insbesondere das Verhltnis Ferdinands zu
der von ihm begehrten Sngerin. Seine Erzhlung ber die erste Begeg-
nung mit der Sngerin fhrt die Logik des Phantasmas vor, die sein
weiteres Handeln bestimmt. Die fr Hoffmanns Erzhlungen charakteri-
stische Vorgeschichte weist sich schon durch ihre narrative Exposition
(Es sind nun schon mehrere Jahre her253) als eine Erzhlung in der Er-
zhlung aus, die folglich immer auch ber das Erzhlen als solches re-
flektiert. Dieses erweist sich hier abermals als der Ort einer seelischen
Programmierung.
Am Anfang der Szenerie steht der Rausch, wie immer bei Hoffmann
ein Zeichen und Medium der Unentscheidbarkeit zwischen Realitt und
Phantasma: Jeden Tag gab es lustige Partien; [...] als wir in den Gast-

252 Vgl. OBrien: E.T.A. Hoffmanns critique of Idealism (wie Anm. 228), S.
385.
253 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
403.

233
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

hof zurckkehrten, erwartete uns schon der kstliche Punsch, [...] den wir
uns [...] wacker schmecken lieen, so da ohne eigentlich berauscht zu
sein, mir doch alle Pulse in den Adern hmmerten und schlugen.254 Es
folgt mit einer nicht nur fr Hoffmanns Erzhlungen, sondern generell
fr die phantastische Narration charakteristischen subtilen sprachlichen
Modalisierung255 der bergang in eine Sphre, in der real Geschehe-
nes und Eingebildetes fr den Akteur wie fr den Leser nicht zu tren-
nen sind: Es war mir, als wrde in dem Nebenzimmer leise gespro-
chen.256 Die folgende Szene fhrt vollends in den Bereich des Phantasti-
schen. Ferdinand hrt nun einige leise Akkorde eines Fortepianos und
die herrliche gttliche Stimme eines Weibes.257 Die Reaktion Ferdi-
nands auf die nun erklingenden Tne ergibt sich aus dem Vokabular des
Enthusiasmus, der Ekstase:

Wie soll ich es denn anfangen, dir das nie gekannte, nie geahnete Gefhl nur
anzudeuten, welches die langen bald anschwellenden bald verhallenden T-
ne in mir aufregten. Wenn die ganz eigentmliche, nie gehrte Melodie ach
es war ja die tiefe, wonnevolle Schwermut der inbrnstigen Liebe selbst wenn
sie den Gesang in einfachen Melismen bald in die Hhe fhrte, da die Tne
wie helle Krystallglocken erklangen, bald in die Tiefe hinabsenkte, da er in
den dumpfen Seufzern einer hoffnungslosen Klage zu ersterben schien, dann
fhlte ich, wie ein unnennbares Entzcken mein Innerstes durchbebte, wie der
Schmerz der unendlichen Sehnsucht meine Brust krampfhaft zusammenzog,
wie mein Atem stockte, wie mein Selbst unterging in namenloser, himmlischer
Wollust. Ich wagte nicht, mich zu regen, meine ganze Seele, mein ganzes Ge-
mt war nur Ohr. Schon lngst hatten die Tne geschwiegen, als ein Trnen-
strom endlich die berspannung brach, die mich zu vernichten drohte.258

Unschwer kann diese Passage, ausgehend von dem Schlsselwort


Wollust, als allegorische Beschreibung eines sexuellen Aktes gelesen
werden, der einem Rhythmus folgt (bald anschwellend bald verhal-

254 Ebd., S. 404.


255 Vgl. Tzvetan Todorov: Einfhrung in die fantastische Literatur [1970].
bers. von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur. Mnchen:
Hanser 1972, S. 37; Norbert Miller: E.T.A. Hoffmanns doppelte Wirk-
lichkeit. Zum Motiv der Schwellenberschreitung in seinen Mrchen
[1975]. In: ders.: Von Nachtstcken und anderen erzhlten Bildern. Hrsg.
von Markus Bernauer und Gesa Horstmann. Mnchen, Wien: Hanser
2002 (Dichtung und Sprache. 16), S. 72-89, hier: S. 85f.
256 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
404 (Die Automate; Hervorhebung von mir, O.K.).
257 Ebd., S. 404f.
258 Ebd., S. 405.

234
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

lend) und ber eine zwischenzeitliche Anspannung (krampfhaft) zu


einer schlielichen kathartischen Entspannung (als ein Trnenstrom
endlich die berspannung brach) gelangt. Dieser bergang von An-
spannung zu Entspannung entfaltet aber zugleich auf einer eher konno-
tativen Ebene die Szenerie eines Selbstverlusts. Dieser steigert sich von
einfacher Affektion (das Gefhl [...], welches die [...] Tne in mir auf-
regten) ber die Markierung eines Eingriffs (wie ein unnennbares Ent-
zcken mein Innerstes durchbebte) bis zur Formulierung einer vollstn-
digen Unterwerfung: meine ganze Seele, mein ganzes Gemt war nun
Ohr. Diese Passivitt, in der das Selbst schlielich gnzlich verloren-
geht (wie mein Selbst unterging), kann nicht nur als Element eines se-
xuellen Akts, sondern auch als Zeichen einer mesmeristischen Beeinflus-
sung gelesen werden. Die beiden Codes Sexualitt und Mesmerismus
verschrnken sich ineinander und geben sich so gegenseitig die Plausibi-
litt von Realitt.
Die Suggestion von Realitt ist damit eine dritte Ebene dieser Sze-
ne, eine dritte allegorische Erzhlung. Auf dieser Ebene berichtet die
Szene vom bergang von einer zeichenhaften uerung (Melodie,
Gesang), einer Reihe von Signifikanten, zu einer vollen Bedeutung, ei-
nem Signifikat: es war ja die tiefe, wonnevolle Schwermut der inbrn-
stigen Liebe selbst. Diese semiotische Verwandlung ist allerdings nicht
einfach eine weitere allegorische Ebene, welche die anderen beiden Co-
des begleitete, sondern eher deren eigentliche Aussage, der eigentliche
Grund ihres Zusammenspiels.
Das Erscheinen der vollen Bedeutung wird einen Moment spter in
die Sphre des Traums verwiesen. Ferdinand fhrt fort:

Der Schlaf mochte mich doch zuletzt bermannt haben, denn als ich von dem
gellenden Ton eines Posthorns geweckt auffuhr, schien die helle Morgensonne
in mein Zimmer, und ich wurde gewahr, da ich nur im Traume des hchsten
Glcks, der hchsten Seligkeit, die fr mich auf der Erde zu finden, teilhaftig
worden.259

Der bergang zwischen realem Erleben und Traum kann hier kaum
bestimmt werden. Bis wohin bezieht sich Ferdinands Schilderung auf die
Realitt, und ab wann auf einen Traum? Dass sich diese Frage nicht
beantworten lsst, ist der narrativen Subtilitt dieser Passage zuzurech-
nen.
Diese Unentscheidbarkeit affiziert noch die Szene, die nach diesem
Einschub erzhlt wird. Erst nach der Feststellung Ferdinands, nur im
Traum des hchsten Glcks [...] teilhaftig geworden zu sein, wird die

259 Ebd., S. 405f.

235
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Szenerie des ersten Gesprchs zwischen Ferdinand und der Sngerin


geschildert, wodurch unklar bleibt, ob es sich um einen Vorgang handelt,
der nach dem Erwachen stattfindet, oder um eine Erinnerung des Erwa-
chenden an seinen Traum. Unklar bleibt somit auch, ob der Augenblick
des hchsten Glcks das Hren des Gesangs bezeichnet oder erst die
folgende Begegnung mit der Sngerin.

Ein herrliches blhendes Mdchen war in mein Zimmer getreten; es war die
Sngerin und sie sprach zu mir mit gar lieblicher, holdseliger Stimme: So
konntest du mich dann wieder erkennen, lieber, lieber Ferdinand! aber ich wu-
te ja wohl, da ich nur singen durfte, um wieder ganz in dir zu leben; denn
jeder Ton ruhte ja in deiner Brust, und mute in meinem Blick erklingen.
Welches unnennbare Entzcken durchstrmte mich, als ich nun sah, da es die
Geliebte meiner Seele war, die ich schon von frher Kindheit an im Herzen ge-
tragen, die mir ein feindliches Geschick nur so lange entrissen, und die ich
Hochbeglckter nun wieder gefunden.260

Obwohl hier ausdrcklich von einem Wiedererkennen die Rede ist, han-
delt es sich um die erste Begegnung Ferdinands mit der Sngerin. Dies
wird einige Stze spter eingestanden: Nun ich erwacht war, mute ich
mirs eingestehen, da durchaus keine Erinnerung aus frher Zeit sich an
das holdselige Traumbild knpfte ich hatte das herrliche Mdchen zum
ersten Male gesehen.261 Dieser Satz wiederum wiederholt die enttusch-
te Geste des Erwachens, die der Satz vor der Schilderung des Treffens
mit der Sngerin zum Ausdruck bringt.
Ist diese Wiederholung des Aufwachens ein Zeichen fr einen nun
endgltigen bergang in die Sphre des Wachseins, nachdem eine
Rckblende nochmals den Augenblick des hchsten Glcks memo-
riert hatte? Genauso gut wre es mglich, von einem zweiten Aufwachen
zu sprechen, welches allerdings das erste als eine Fortfhrung des
Traums bestimmt. Wenn allerdings die erste Szene des Erwachens unter
dem Verdacht steht, nur ein Element eines fortgesetzten Traums zu sein,
dann muss fortan jedes Erwachen unter diesem Verdacht stehen auch
diese zweite Szene. Dieser Verdacht wird gestrkt durch Hoffmanns Hin-
weis, Ferdinand agiere wie ein Trumender.262
Genau in der Mitte der Geschichte Die Automate berichtet Ferdinand
somit, wie aus seinem Leben ein fortwhrender Traum und er ein Tru-
mer im Wachen wurde. Die Logik dieses Traums lsst sich als die Kon-
stitution einer Synthese beschreiben. Diese Synthese geschieht sowohl

260 Ebd., S. 406.


261 Ebd.
262 Ebd., S. 407.

236
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

auf der semiotischen wie auf der temporalen Ebene: Das aus dem Traum
entstandene und ihn als solchen bestimmende Phantasma verbindet zu-
gleich verschiedene Zeichen zu einem Sinn (indem sie im Gesang die
schwermtige Inbrunst der Liebe selbst erkennen will) und verschie-
dene Zeitpunkte zu dem Zusammenhang einer Geschichte. Wiederum ist
die Leistung der Synthese die Verwandlung von Wrtern in ein Bild, von
textuellen Fragmenten in den Zusammenhang des Geschauten.
Die Verbindung beider Ebenen zeigt sich in aller Deutlichkeit in der
Beschreibung der ersten Begegnung Ferdinands mit der Sngerin. Der
erste Satz der Szene verbindet die Erscheinung der jungen Frau (Ein
herrliches blhendes Mdchen) mit dem zuvor gehrten Gesang und er-
klrt sie dadurch zum Ursprung des Gehrten: es war die Sngerin.
Die Macht der Metonymie assoziiert zu der (in der Szene davor geschil-
derten) Wollust Ferdinands deren Urheberin, die dann in der Gestalt ei-
nes begehrenswerten Objekts (herrliches blhendes Mdchen) in Er-
scheinung tritt. Diese Assoziation bewirkt den Schein eines Wiederer-
kennens: der Synthese des gegenwrtigen Eindrucks mit einem vergan-
genen. Die Assoziation erscheint dann als eine Erinnerung (die Geliebte
meiner Seele), die sich erst spter als ertrumt herausstellen wird. Erst
in einem weiteren Schritt wird diese irrige Erinnerung zu einer drama-
tischen Handlung ausgeweitet (die mir ein feindliches Geschick nur so
lange entrissen und die ich Hochbeglckter nun wieder gefunden), wel-
che an den Verlauf eines hellenistischen Romans erinnert.
Wie die Einbildungskraft die Gegenwart, eine ertrumte Vergangen-
heit und eine als Wunsch herbeiphantasierte Zukunft miteinander ver-
bindet, hat Freud in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren
beschrieben:

Man darf sagen: eine Phantasie schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den
drei Zeitmomenten unseres Vorstellens. Die seelische Arbeit knpft an einen
aktuellen Eindruck, einen Anla in der Gegenwart an, der imstande war, einen
der groen Wnsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinne-
rung eines frheren, meist infantilen, Erlebnisses zurck, in dem jener Wunsch
erfllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche
sich als die Erfllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die
Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinne-
rung an sich trgt.263

Der Tagtraum, die phantastische Vorstellung eines erfllten Wun-


sches, ist demnach die Projektion eines zu einem gegenwrtigen Ein-

263 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren [1908]. In: ders.: Ge-
sammelte Werke (wie Anm. 182), Bd. 7, S. 211-223, hier: S. 217f.

237
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

druck assoziierten Vergangenen in das Zuknftige. hnlich hatte bereits


Jean Paul in ber die natrliche Magie der Einbildungskraft die Logik
der Projektionen beschrieben.264
Trotzdem Freuds psychoanalytische Theorie des Tagtraums erkenn-
bar mit der romantischen Theorie der Einbildungskraft verwandt ist, ist
die Struktur der Phantasmen bei Hoffmann komplexer. Freuds Theorie
der assoziierenden Verknpfung der Zeiten setzt die Einheit eines Ich
voraus, welches als der Schnittpunkt aus gegenwrtigen Eindrcken,
Erinnerungen aus der Kindheit, und den aus der Vermischung dieser
beiden Elemente geformten Wunschtrume fr die Zukunft beschrieben
werden kann. Hoffmanns Geschichte fhrt dagegen gerade die Erfindung
dieses Ich vor, indem das Phantasma des begehrten Objekts nicht nur
einen Zukunft und Gegenwart assoziierenden Wunschtraum, sondern zu-
gleich auch dessen Herkunft aus einer phantasierten Vergangenheit er-
schafft. Whrend in Freuds Modell die phantasierte Zukunft aus der As-
soziation eines Eindruck der Gegenwart mit einer realen Vergangenheit
erklrt wird, stellen sich bei Hoffmann Zukunft, Vergangenheit und Ge-
genwart als gleichermaen phantastisch, als wechselseitig assoziierte und
assoziierende Phantasmen heraus. Die Phantasmen sind nicht, wie Freud
suggeriert, durch die Logik einer gegebenen Zeitordnung erklrbar,
sondern sie bringen den Zusammenhang einer zeitlichen Folge erst
hervor. Freuds Theorie des Tagtraums erhlt so eine Korrektur durch
Hoffmanns transzendentalpoetische Narration.
Das Bild der begehrten Frau verwandelt das Leben des Hoffmann-
schen Akteurs in einen fortlaufenden Traum, d.h. in eine andauernde
Vermischung der Realitt mit den Phantasmen der Einbildungskraft.
Wachwerden ist unter diesen Umstnden nurmehr der Inhalt eines
Traums. Die ersten Eindrcke des Wachzustands Ferdinands wiederho-
len entsprechend die Geste der Anagnorisis, die schon seine als Traum
gekennzeichnete, erste Begegnung mit der Sngerin charakterisiert hat:

Als sie aus der Haustre trat, wandte sie sich um und sah zu mir herauf.
Ludwig! es war die Sngerin! es war das Traumbild der Blick des himm-

264 So zieht das Fernrohr der Phantasie, schreibt Jean Paul, einen bunten
Diffusionsraum um die glcklichen Inseln der Vergangenheit, um das ge-
lobte Land der Zukunft. [...] Noch grer ist die phantasierende Kraft,
wenn sie auswrts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblick
oder Teige ihrer Gebilde macht. [...] bei rauschenden Freudenfesten, auf
Bllen, auf nchtlichen Freudengelagen schmckt sich jeder Augenblick
mit dem Widerschein des nchsten knftigen; und solange dies dauert,
vermengen wir den sen Durst des Herzens mit dem Trank (Jean Paul:
Smtliche Werke [wie Anm. 106], Abt. I, Bd. 4, S. S. 197).

238
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

lischen Auges fiel auf mich, und es war mir, als trfe der Strahl eines Krystall-
tons meine Brust wie ein glhender Dolchstich, da ich den Schmerz physisch
fhlte, da alle meine Fibern und Nerven erbebten und ich vor unnennbarer
Wonne erstarrte. Schnell war sie im Wagen der Postillion blies wie im ju-
belnden Hohn ein munteres Stckchen.265

Diese zweite Sequenz des Wiedererkennens ist bis ins Detail eine Va-
riante der ersten. Mehr oder weniger wrtlich werden bestimmte topische
Elemente der romantischen Liebe wiederholt (Schmerz, unnennbare
Wonne). Einige charakteristische Elemente aus der vorigen Traumse-
quenz werden exakt wiederholt, insbesondere der Krystallton als Mar-
kierung des Augenblicks des Wiedererkennens und der Klang des Post-
horns, welcher die jeweilige Sequenz beendet. Durch die nur geringfgig
variierte Wiederholung einer ganzen Sequenz bietet nun sich auch dem
Leser der Geschichte der Effekt des Wiedererkennens an, der den Inhalt
der Szene ausmacht.
Der Zusammenhang zwischen dem Phantastischen und der Wieder-
holung zeigt sich hier deutlicher als in anderen Szenen der Erzhlung.
Einerseits besteht dieser Zusammenhang darin, dass Hoffmann das Phan-
tastische stets als die Wiederholung einer unbewussten Programmie-
rung der Akteure darstellt, in der eine Vorgeschichte unerkannt aus-
agiert wird. Nichts anderes wird Freud als das Unheimliche bezeich-
nen.266 Gleichzeitig erweist sich in Die Automate die Vorgeschichte,
das Wiederholte, als eine phantastische Projektion, die das Wiederholte
im Akt des Wiederholens vor Augen stellt. Tatschlich wiederholt wird
nur der (vermeintliche) Akt der Wiederholung, was dem Leser jede Mg-
lichkeit nimmt, zwischen Traum und Realitt zu unterscheiden. Zu-
gleich vermittelt diese Struktur den Eindruck einer umfassenden Un-
heimlichkeit, in der jedes Element als unerklrliche Wiederkehr des
lngst Bekannten wirkt. Dieser Effekt des lngst Bekannten ist nicht
zuletzt das Ergebnis intertextueller Verweise: Der Kristallton verweist
auf andere Erzhlungen Hoffmanns (Das de Haus, Der goldne Topf),
das Signal des Posthorns ist ein Topos der romantischen Lyrik.
Innerhalb dieser grundstzlichen Wiederholungsstruktur zeigen sich
allerdings auch Differenzen zwischen den beiden Szenen des Wiederer-
kennens. Das erste Zusammentreffen spielt in einem als Traum gekenn-
zeichneten Zustand, das zweite jedoch lsst den Traum in die Realitt
eintreten und damit jede Realitt als potentiell traumartig erkennen.

265 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
406f. (Die Automate).
266 Vgl. Kittler: Das Phantom unseres Ichs und die Literaturpsychologie
(wie Anm. 130), S. 149. Vgl. Kap. III. 3.

239
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Gleichzeitig ndert sich damit der Status der Sngerin. Wird in dem
Traum der ersten Begegnung mit dem imaginativen Wiedererkennen der
Sngerin eine gefundene Vergangenheit erfunden, so in der zweiten
Begegnung eine verlorene, die es wiederzufinden gilt. Ferdinand malt ein
Portrt der Sngerin, um es als Medaillon stets auf bloer Brust267
bei sich zu tragen, und bestimmt das Bild der Sngerin als sein Inne-
res, das auch bei vollstndiger Nichtbereinstimmung mit dem realen
Auen seine Gltigkeit bewahrt. Getreulich wollte ich es [das Ge-
heimnis meines Herzens, O. K.] fortan in mir tragen und nie mehr lassen
von der, die nun die Ewiggeliebte meiner Seele worden, sollte ich sie
auch nimmer wieder schauen.268
Die phantasmatische Geburt des begehrten Objekts und des eigenen
Ich, die in so vielen Erzhlungen Hoffmanns im Mittelpunkt der Hand-
lung steht, wird damit in Die Automate als der Prozess einer Dramatisie-
rung beschreibbar, welche temporale Zusammenhnge stiftet. Dass die
Phantasierung der Sngerin fr Ferdinand in diesem Sinn zugleich die
Identitt des eigenen Ich hervorbringt, zeigt der subtile Einsatz des
Spiegelmotivs im Zusammenhang mit der Figur. Nachdem Ferdinand
von der ersten Begegnung mit der Sngerin berichtet hat, erzhlt er nun
von seinem Besuch bei dem sprechenden Trken.

Als ich zu dem Trken hintrat, fragte ich, der Geliebten meines Herzens den-
kend: Werde ich knftig noch einen Moment erleben, der dem gleicht, wo ich
am glcklichsten war? Der Trke wollte, wie du bemerkt haben wirst, durchaus
nicht antworten; endlich, als ich nicht nachlie, sprach er: die Augen schauen in
deine Brust, aber das spiegelblanke Gold, das mir zugewendet, verwirrt meinen
Blick wende das Bild um! [...] Das Bild lag wirklich so auf meiner Brust, wie
es der Trke angegeben; ich wandte es unbemerkt um, und wiederholte meine
Frage, da sprach die Figur im dstern Ton: Unglcklicher! in dem Augenblick,
wenn du sie wieder siehst, hast du sie verloren!269

Das Umkehren des Bildes evoziert zwei Konnotationen. Erstens insze-


niert es eine Besttigung des Gerchts, der sprechende Trke habe die
Befhigung, einen mystischen Blick in die Zukunft zu werfen, der
aber nur von dem Standpunkt mglich war, wie ihn sich der Fragende
selbst tief im Gemt gestellt hatte.270 Zweitens spricht der Text hier aus,
dass auch der Hauptprotagonist von Die Automate dazu bestimmt ist, in

267 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
407 (Die Automate).
268 Ebd.
269 Ebd., S. 407f. (Die Automate).
270 Ebd., S. 398.

240
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

einem Spiegel Phantasmen zu erblicken, die ihm sein begehrtes Objekt


und die Identitt des eigenen Ich vortuschen. Nachdem er das Bild
umgedreht hat, weist das spiegelblanke Gold nicht mehr in die Rich-
tung des Trken, sondern in seine eigene. Folglich ist es nun sein Blick,
der von der Spiegelung auf sich selbst zurckgeworfen und dadurch
verwirrt wird. Insofern die Beziehung zwischen Ferdinand und der
Sngerin der Logik einer Spiegelung und Identifikation folgt, ist jede
Aussage des Trken nur im Moment der Selbstbespiegelung Ferdi-
nands mglich. Dadurch wird zugleich auch die Identitt des Trken als
das Ergebnis einer Spiegelung bestimmt. Die Prophezeiung des Automa-
ten (in dem Augenblick, wenn du sie wieder siehst, hast du sie verlo-
ren!) hat schlielich, wie so viele Orakelsprche, eine wrtliche Wahr-
heit, die erst die Leser der Erzhlung, nicht aber ihre Akteure, verstehen
knnen. Insofern die Figur der Sngerin Ferdinands Spiegelbild ist, ei-
ne phantasmatische Verdopplung seines Ich, ist es kaum vermeidlich,
dass sie in dem Moment verloren ist, in dem er sie als eine nach au-
en geworfene Projektion sieht.

Der Automat als unheimliche Nachahmung


Die Struktur der Wiederholungen und Verdopplungen

Damit wird es mglich, sich der Figur des Automaten zuzuwenden und
seine Rolle im Spiel der Projektionen und Phantasmen, das Die Automate
durchzieht, zu beschreiben.
Was ist ein Automat? Zuallererst, so lautet die Antwort der Hoff-
mannschen Erzhlung, ist er eine nachahmende Wiederholung ohne See-
le, eine mechanische Imitation des Ich. Hoffmanns Akteur Ludwig ur-
teilt apodiktisch: Mir sind [...] alle solche Figuren, die dem Menschen
nicht so wohl nachgebildet sind, als das Menschliche nachffen, diese
wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens, im
hchsten Grade zuwider.271 Der Automat ahmt nicht einfach nach, son-
dern er fft nach; er parodiert und persifliert das Objekt seiner Nachah-
mung gerade durch dadurch, dass er seine Nachahmbarkeit beweist.
Wenn das Menschliche das Objekt eines Nachffens werden kann, ist
es dem Verdacht ausgesetzt, seinerseits nicht original, sondern ein me-
chanisches Imitat (und also seinerseits ein Automat) zu sein. Dieser im-
plizite Vorwurf des Nachffenden ist es, der Ludwig alles Mechanische
als unheimlich und grauenhaft erscheinen lsst.272

271 Ebd., S. 399.


272 Vgl. ebd.

241
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Unheimlich ist der Automat, insofern er eine doppelgngerhafte Ka-


rikatur des Menschen darstellt. Er sieht dem Menschen nicht nur zum
Verwechseln hnlich, sondern er bewegt sich auch wie ein solcher und
fhrt dabei, als ein zwar selbstbewegtes, aber fremdgesteuertes Wesen
die Version eines menschlichen Lebens ohne Freiheit und Autonomie
vor. Die Provokation des Automaten und sein Unheimliches liegt da-
rin, dass er stets, sowohl in den historischen Schaubuden des 18. Jahr-
hunderts wie auch in der Erzhlung Die Automate als ein Modell auftritt,
das jedes Wesen als Maschine vorfhren will.273
Dass in diesem Sinne fr Hoffmanns Protagonisten die unheimliche
Vorstellung des eigenen Ich als mechanisches und unfreies Wesen den
Schrecken des Automaten ausmacht, belegt nicht zuletzt ein verstecktes
Kantzitat. Dieses legt Hoffmann der skeptischen Figur Ludwig in den
Mund. Whrend des ersten Besuchs bei dem sprechenden Trken er-
scheint das mechanische Wesen Ludwig so abgeschmackt und ver-
braucht, dass er unwillkrlich ausrief: Ach, meine Herren! hren Sie
doch, wir haben hchstens Braten im Magen, aber die trkische Exzel-
lenz da einen ganzen Bratenwender dazu!274 Die Verhhnung des me-
chanischen Wesens als Bratenwender hat ihre Quelle in Kants Kritik
der praktischen Vernunft. In der Diskussion des Begriffs der transzen-
dentalen Freiheit fhrt Kant aus, inwiefern das Unterworfensein eines
Wesens unter die Naturgesetze der Kausalitt als Mechanismus be-
zeichnet werden kann, ohne darum gleich behaupten zu mssen, ein sol-
ches Wesen sei buchstblich eine materielle Maschine.

Hier wird nur auf die Notwendigkeit der Verknpfung der Begebenheiten in
einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen,
man mag das Subjekt, in welchem dieser Ablauf geschieht, automaton materia-
le, da das Maschinenwesen durch Materie, oder mit Leibnizen spirituale, da es
durch Vorstellungen betrieben wird, nennen, und wenn die Freiheit unseres
Willens keine andere als die letztere (etwa die psychologische und komparati-
ve, nicht transzendentale, d.i. absolute zugleich) wre, so wrde sie im Grunde
nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er ein-
mal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.275

273 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Ju-
gendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg, Mnchen: Alber 1975
(Symposium. 49), S. 98.
274 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
401 (Die Automate).
275 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 4, S. 222 (KpV, A
173f.).

242
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Der Bratenwender wird zum Symbol eines Wesens, das niemals frei
handelt, denn jede seiner Handlungen wird kausal durch ein vorherge-
hendes Aufziehen bestimmt. Ein solcher Bratenwender ist jedes
menschliche Wesen, das ber keine transzendentale Freiheit verfgt,
d.h. ber die Befhigung zu einer Handlung, die nicht als die Wirkung ei-
ner vorhergehenden Handlung bestimmt werden kann und deren Verur-
sachung daher auerhalb der Zeitfolge steht.276 Da die Verursachung ei-
ner freien Handlung notwendigerweise auf einer blo noumenalen Ebene
geschieht, muss ein Bratenwender einem Wesen mit Vernunft auf der
phnomenalen Ebene ebenso unheimlich wie grauenhaft gleichen.
Den Schrecken dieses mimetischen Unheimlichen spielt Hoffmanns Die
Automate durch.
Wie aber kann ein Automat seine grauenhafte Vortuschung des
Lebendigen erreichen? Diese Frage macht das eigentliche Geheimnis der
Geschichte ber Die Automate aus. Die Erzhlung fhrt mehrere vergeb-
liche Versuche vor, die mechanische Konstruktion des sprechenden Tr-
ken zu durchschauen. Die technische Konstruktion des Automaten ver-
rt sein Geheimnis jedoch nicht, und somit betreten die beiden Freunde
Ludwig und Ferdinand die Szenerie. Sie entwickeln, wie bereits referiert,
ihre Theorie einer mesmeristischen Suggestion der Lebendigkeit durch
eine dritte, verborgene Person. Diese Theorie ist es, die sie dazu antreibt,
im Professor X. eine machtvolle Figur des Magnetiseurs und Strip-
penziehers sehen zu wollen. Ob er diese Rolle tatschlich einnimmt, lsst
die Geschichte offen. Whrend der Professor in seinem ersten Auftreten
eher als ein marktschreierischer Scharlatan denn als ein machtvoller Ma-
nipulator erscheint, tritt er in seinem zweiten Erscheinen nachdem die
beiden Freunde in seinem Garten die Stimme der Sngerin gehrt zu
haben meinen durchaus als eine Figur auf, die nicht nur ber ein ber-
legenes Wissen, sondern auch ber magische Krfte zu verfgen scheint:

Aber welch ein Erstaunen, ja welch ein inneres Grausen durchdrang sie, als
sie den Professor X. erblickten, der mitten im Garten unter einer hohen Esche
stand. Statt des zurckschreckenden ironischen Lchelns, mit dem er die Freun-
de in seinem Hause empfing, ruhte ein tiefer melancholischer Ernst auf seinem
Gesicht, und sein himmelwrts gerichteter Blick schien wie in seliger Verkl-
rung das geahnete Jenseits zu schauen, was hinter den Wolken verborgen, und
von dem die wunderbaren Klnge Kunde gaben, welche wie ein Hauch des
Windes durch die Luft bebten. Er schritt langsam und abgemessen den Mittel-
gang auf und nieder, aber in seiner Bewegung wurde alles um ihn her rege und

276 Vgl. die Anmerkungen zu Kants Diskussion der Freiheit bei Giovanni B.
Sala: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar. Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 211-221.

243
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

lebendig, und berall flimmerten krystallne Klnge aus den dunklen Bschen
und Bumen empor und strmten vereinigt im wundervollen Konzert wie Feu-
erflammen durch die Luft ins Innerste des Gemts eindringend, und es zur
hchsten Wonne himmlischer Ahndungen entzndend.277

Der vermeintliche Scharlatan erfhrt hier nichts geringeres als seine Apo-
theose. Ebenso wie der Professor hier gttliche Zge eines bermenschli-
chen Wesens (wie in seliger Verklrung) annimmt, ist sein Garten
nunmehr eine allegorische Wiederholung der biblischen Grten Eden und
Gethsemane.278 Gleichzeitig bedient die Szene das Register des Magi-
schen, indem durch die Bewegung des Professors alles um ihn her rege
und lebendig, also buchstblich beseelt wird. Nicht nur die beiden Beo-
bachter, aus deren Perspektive die Szene geschildert wird, scheinen von
dem Auftreten des Professors geradewegs verzaubert; auch die Sprache
bildet den Akt der Verzauberung mimetisch ab, indem sie poetisch wird
und Alliterationen aneinanderreiht (kristallne Klnge, Bschen und
Bumen, Feuerflammen).
Zugleich wiederholt sich hier der Effekt der Musikalitt, der in den
Begegnungen Ferdinands mit der Sngerin das Bild der geliebten Frau
geformt hatte: die metonymische Assoziation von Tnen zum phantasti-
schen Bild ihres Urhebers. Dieser Effekt wird in den sprachlichen As-
soziationen sozusagen performativ nachgebildet: Die mesmeristische
Kraft des Professors (oder der Sngerin) wiederholt sich im betont
poetischen Ausdruck weswegen man, streng genommen, sagen kann,
dass sich hier die Wiederholung wiederholt. Indem mit den kristallnen
Klngen explizit der Kristallton aus der ersten Begegnung mit der
Sngerin zitiert wird, wird berdies eine Verbindung zwischen dem
Professor und der Sngerin suggeriert, deren genaue Art und Weise
freilich unklar bleibt. Auch zu der Figur des Automaten ergibt sich eine
Korrespondenz, denn die Formel, um den Professor werde alles [...] re-
ge und lebendig, variiert den ersten Satz der Erzhlung, demzufolge der
sprechende Trke die ganze Stadt in Bewegung brachte.
Es ergibt sich demnach ein nahezu unauflsbares Geflecht aus Wie-
derholungen, Korrespondenzen und Parallelismen. Viele Zusammenhn-
ge werden suggeriert, aber die genaue Art der Verbindung wird nicht zu-
letzt durch diese Vielheit der Verweisungen unmglich zu bestimmen.
Was bedeutet die Assoziation der Figuren der Sngerin und des spre-
chenden Trken zu der des Professors X.? bt er als Magnetiseur

277 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
424f.
278 Vgl. OBrien: E. T. A. Hoffmanns critique of Idealism (wie Anm. 228),
S. 383.

244
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

oder Magier Macht ber sie aus, oder ist sie gar auch eines seiner Ge-
schpfe, ein Automat? Oder verweisen diese Verbindungen darauf, dass
auch der Professor ein mechanisches Wesen ist? Wer hier eine eindeutige
Lsung erkennen will, beginnt zu phantasieren. Die Passage beschreibt
somit nicht nur den Vorgang des Phantasierens, des Trumens im Wa-
chen; sie ldt den Leser dazu ein, eine Flle von Korrespondenzen und
Parallelen zu sehen und diese als Sprungbrett fr eine Aktivitt der as-
soziierenden Einbildungskraft zu gebrauchen.
Indem jedes Zeichen ein anderes Zeichen wiederholt, verweist es im-
mer auch auf dieses und zeigt auf diese ihm vorausgehende Spur. Die
Zeichen, die den Protagonisten in Hoffmanns Texten begegnen, sind da-
mit allegorisch. Als allegorische Zeichen verweisen sie nicht einfach auf
einen Referenten, sondern immer auch auf etwas anderes: Auf das erste
Erscheinen eines analogen Zeichens und auch auf die Wiederholbarkeit
der Zeichen. Die Autoreflexivitt der Hoffmannschen Texte entspricht in
diesem Sinne der Struktur der Allegorie.
Daraus folgt, dass es keine Erstlektre der Texte Hoffmanns geben
kann. Der Eindruck, der Hoffmanns Erzhlungen als so repetetiv und for-
melhaft erscheinen lsst, wird dadurch bewirkt, dass sie Wiederholungen
von Wiederholungen vorfhren und so jede Lektre zu einer bereits wie-
derholten Lektre machen. Indem jedes Zeichen immer auch auf etwas
anderes, einen verborgenen Zusammenhang, zu verweisen scheint, sieht
sich der Leser dazu bewegt, diese Aktivitt (oder Passivitt) der Figuren
zu wiederholen und seinerseits die Enthllung eines Geheimnisses zu er-
warten. Freilich fhrt Die Automate auch vor, wie diese Bettigung der
Assoziierung und Analogisierung im Falle des Protagonisten Ferdinand,
der wiederum ein paradigmatischer Leser ist, zur Ausbildung einer regel-
rechten Wahnwelt und also in einen zerrtteten Seelenzustand279
fhrt.
Es bleibt damit unmglich zu entscheiden, ob der erste Auftritt des
Professors, der ihn als einen unangenehmen Scharlatan vorfhrt, oder der
zweite, der ihn als ein magisch wie magnetisch bewandertes Wesen
zeigt, die Wahrheit zeigt. Mglich ist es allerdings, die Logik zu be-
schreiben, die zur Apotheose des Professors in seinem zweiten Auftritt
fhrt. Die beiden Protagonisten Ferdinand und Ludwig sehen unver-
mittelt den Zusammenhang zwischen den Figuren der Sngerin und des
Professors und entwickeln daraufhin das Phantasma des mchtigen Pro-
fessors. Das Phantasma stellt so eine Szenerie seines eigenen Ursprungs
vor: Indem der Professor als ein Magier und Magnetiseur vorgestellt

279 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
427 (Die Automate).

245
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

wird, erscheint er als diejenige Figur, die Zusammenhnge und Synthe-


sen aller Art herstellen und hervorbringen kann. Mit anderen Worten pro-
jiziert die Einbildungskraft der beiden Akteure ihre eigene Ttigkeit in
die Person des Professors und phantasiert so Ursache und Wirkung ver-
tauschend einen Ursprung der Phantasmen. Insofern das Erreichen
einer umfassenden Synthese zwischen den disparaten Ereignissen und
Beobachtungen als der Wunsch Ferdinands angesehen werden kann, ist
es nur konsequent dass er nicht nur diesen Zusammenhang, sondern
gleichzeitig auch die Verursachung desselbigen phantasiert. Schon vor
dem Besuch bei Professor X. sind beide Freunde fest berzeugt, dass
dem das Geheimste durchdringenden Blick jener Macht auch wohl der
mysterise Zusammenhang, vermge dessen sich das Zuknftige dem
Gegenwrtigen anreiht, offenbar sein knne.280 Dass diese Anreihung
und Kontinuierung das Ergebnis einer selbst sprunghaften und disso-
ziativen Zeitlichkeit ist, kann nicht nur bei den Ursache und Wirkung
vertauschenden Phantasmen der zweiten Begegnung mit dem Professor
X., sondern bereits in Ferdinands Begegnung mit der Sngerin beo-
bachtet werden.
Wenn die Macht des Professors dergestalt als eine Projektion be-
schrieben werden kann, liegt es nahe, auch die Wirkung der Automaten
insgesamt durch diesen Mechanismus zu beschreiben. Dass eine Logik
der Identifikation und Projektion die Wirkung der Automaten hervor-
bringt, wird von Ludwig im Gesprch mit seinem Freund deutlich ausge-
sprochen.

Ich mu gestehen, fuhr Ludwig fort, da die Figur gleich beim Eintreten mich
lebhaft an einen beraus zierlichen knstlichen Nuknacker erinnerte, den mir
einst, als ich noch ein kleiner Knabe war, ein Vetter zum Weihnachten verehrte.
Der kleine Mann [...] verdrehte jedesmal mittelst einer innern Vorrichtung die
groen aus dem Kopfe herausstehenden Augen, wenn er eine harte Nu knack-
te, was denn so etwas possierlich Lebendiges in die ganze Figur brachte, da
ich stundenlang damit spielen konnte, und der Zwerg mir unter den Hnden
zum wahren Alrunchen wurde.281

Wiederum ist es eine Vorgeschichte aus der Kindheit eines Protagoni-


sten, die eher beilufig eine Programmierung durchschaubar macht, wel-
che das gesamte Handeln der Figur in der erzhlten Gegenwart bestimmt.
Die Identifikation des kleinen Knaben mit dem kleinen Mann ist es,
die die Projektion der Lebendigkeit in die Figur des Nuknackers be-

280 Ebd., S. 409.


281 Ebd.

246
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

wirkt.282 Es ist nur eine etwas komplexere Variation dieses Mechanis-


mus, der es Ferdinand ermglicht, aus Klangassoziationen das Bild der
Sngerin zu entwerfen.
Wenn aber gesagt werden kann, dass die Belebung des Automaten
und die identifikatorische Phantasmierung der Gestalt der Sngerin
nach ein und derselben Logik der Logik der Einbildungskraft in Hoff-
manns Texten berhaupt verlaufen, dann muss daraus gefolgert wer-
den, dass auch die Sngerin ihrem Wesen nach eine Automate, eine
mechanische Figur ist.
Mindestens drei Parallelismen in Hoffmanns Text deuten auf die
Identitt der Figur des sprechenden Trken mit derjenigen der Snge-
rin hin. Erstens wre hier der Gesang der Sngerin zu nennen, der ein
berkreuzen der Unterscheidung zwischen lebendig und tot ver-
spricht:

Mio ben ricordati / savvien chio mora, / quanto quest anima / fedel tam. /
Lo se pur amano / le fredde ceneri / nel urna ancora / tader!283

Das Zitat aus der Oper Alessandro nellIndie ist auf zwei Ebenen lesbar.
Auf den ersten Blick scheint es sich um ein wenig originelles Exempel
einer Topik der dramatischen Liebe zu handeln. Wenngleich diese Zeilen
im Kontext der Oper, aus der sie entnommen sind, einen ausschlielich
metaphorischen Sinn gehabt haben mgen, erhalten sie im neuen Kontext
der Geschichte Die Automate eine unheimliche Wrtlichkeit. In dieser
Wrtlichkeit erscheint die Sngerin als ein weiteres jener Standbilder
eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens.284 Ferdinand liest die
Worte der Sngerin nicht als Aussage ber ewige Liebe, sondern als
ein Versprechen. Als solches verspricht der Gesang der Sngerin einen
umfassenden Einblick in den mysterisen Zusammenhang, vermge
dessen sich das Zuknftige dem Gegenwrtigen anreiht: Es ist das Ver-
sprechen einer umfassenden Synthese, eines Sinns, der gleichzeitig den
zeitlichen Zusammenhang der disparaten Momente und die Referenz sei-
ner semiotischen Komponenten auf ein reales Signifikat verspricht. In-
sofern verkndet die Arie der Sngerin nicht nur ein Leben nach dem
Tod, sondern ebenso eine Prsenz (des Sinns) in seiner vollstndigen Ab-
wesenheit und die Verheiung von Realitt fr das Phantasma. Dieses
Versprechen der Sngerin ist es, welches Ferdinand daran glauben

282 Vgl. OBrien: E.T.A. Hoffmanns critique of Idealism (wie Anm. 228), S.
377.
283 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
405 (Die Automate).
284 Ebd., S. 399.

247
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

lsst, sie in seinem Inneren tragen und so nie verlieren zu knnen:


Kann ich sie denn verlieren, sagte er: sie, die ewig in meinem Innern
waltet, und so eine intensive Existenz behauptet, die nur mit meinem
Sein untergeht?285
Die Figur der Sngerin wird zweitens in die Nhe der mechanischen
Figur des sprechenden Trken gerckt, indem Ferdinand seinem
Freund berichtet, er habe auch bei dem Automaten den Gesang der Sn-
gerin gehrt: Als der Trke die verhngnisvollen Worte sprach, war es
mir, als hrte ich die tiefklagende Melodie: Mio ben ricordati savvien
chio mora in einzeln abgebrochenen Lauten und dann war es wieder
als schwebe nur ein langgehaltener Ton der gttlichen Stimme, die ich in
jener Nacht hrte, an mir vorber.286 Ludwig wiederum zgert nicht,
dem beizustimmen, und bemerkt, dass es auch ihm bei dem Trken so
schien, als gleite ein musikalischer Ton, Gesang kann ich es nicht
nennen, durchs Zimmer.287 Die Wiederholung des Versprechens eines
Lebens im Tod durch den Mund des sprechenden Trken legt es nahe,
davon auszugehen, dass beide Figuren, wenn auch nicht identisch, so
doch gleich sind: Die Wirkung beider Figuren auf die Freunde Ludwig
und Ferdinand geschieht auf die gleiche Weise.
Die Gleichartigkeit wird drittens durch einen weiteren Parallelismus
suggeriert: durch die Fremdsprachigkeit beider Figuren. Der italienische
Gesang der Sngerin konnotiert einerseits die Aura einer bestimmten
Italianitt (Barthes288); er korrespondiert andererseits auch mit einer
Beobachtung, die zu Beginn des Textes ber die mechanische Figur des
sprechenden Trken gemacht wird: Hierzu kam, da der Trke oft,
deutsch gefragt, doch in einer fremden Sprache antwortete, die aber eben
dem Fragenden ganz gelufig war.289 Die Fremdsprachigkeit des Trken
und der Sngerin verweist zudem beide Figuren erneut in die Sphre des
Mesmerismus, denn die pltzliche Befhigung zum Sprechen in fremden
Sprachen ist ein topos der magnetischen Fallgeschichten.290

285 Ebd., S. 416.


286 Ebd., S. 415f.
287 Ebd., S. 416.
288 Vgl. Barthes: S/Z (wie Anm. 139), S. 137.
289 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
398 (Die Automate).
290 Eschenmayer zhlt zur magnetischen Stufe des Hellsehens unter ande-
rem die Phnomene fremder Sprachen, in welchen solche Personen
manchmal reden, ohne darinn gebt gebt zu seyn. Der Knabe, den Dr.
Tritschler beobachtete, sprach, wie er es voraussagte, drey Tage lang auf
die fertigste Weise franzsisch, und verlangte auch von den andern, da
sie nichts als franzsisch mit ihm sprechen sollten. Im gewhnlichen Zu-

248
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Was aber folgt aus dieser Mglichkeit, die Sngerin mit dem Auto-
maten zu identifizieren? Wie bereits festgestellt wurde, sind beide Figu-
ren als Ich-Verdopplungen der Protagonisten zu begreifen. Beide sind
mechanisch, insofern sie bloe Projektionen des Lebendigen auf einer
leeren Leinwand des Nicht-Lebendigen sind. Wie nachffende Wieder-
gnger agieren sie nur scheinbar als autonome Figuren, sind aber tatsch-
lich abhngig von einem Mechanismus der Projektion und Identifikation,
der ihnen Lebendigkeit zukommen lsst. Hoffmanns Geschichte lsst
keinen Zweifel daran, dass dieser Prozess des Zusammenspiels von Pro-
jektion, Identifikation und Verlebendigung nicht einfach ein vermeid-
barer Irrtum, sondern der basale Mechanismus ist, aufgrund dessen die
Protagonisten temporale Synthesen und damit die phantasmatische Iden-
titt eines Ich hervorbringen knnen.
Wenn aber das imaginre Ich das Ergebnis einer automatischen
Produktion und das produzierende Ich ein Automat ist, dann sind nicht
nur die Figuren der Sngerin und des sprechenden Trken als Auto-
maten zu bestimmen. Insofern er sich selbst durch die Identifikation mit
einem seelenlosen Doppelgnger bestimmt, erleidet auch Ferdinand eine
Automation. Konsequent ironisch fhrt Hoffmanns Erzhlung vor, wie
Ferdinand in den Momenten, in denen er eine Synthese der fragmen-
tierten Eindrcke zu einer Ganzheit zu erreichen meint, sich in den Fnge
der Selbsttuschung verstrickt. Die Erinnerung an die vermeintlich
schon von frher Kindheit an geliebte Sngerin ist ebenso das Ergeb-
nis einer Projektion wie die vermeintliche Weisheit des Professors, von
dem sich die beiden Freunde eine Auflsung aller Geheimnisse erwarten.
Insofern er unter einem umfassenden Wiederholungs- und Verdopp-
lungszwang agiert, wird er in diesen Momenten selbst zu einem mecha-
nischen Wesen. In diesem Sinn wird an zwei Schlsselstellen der Hand-
lung eher beilufig auf Ferdinands mechanische Art der Fortbewegung
hingewiesen: mechanisch raffte ich mich auf und eilte ans Fenster;291
Mechanisch gehe ich in die Kirche und trete ein.292 Automatisiert wird
Ferdinands Handeln von Vorstellungen und Zusammenhngen gelenkt,
die seinem Bewusstsein a priori unerreichbar sind. Die Struktur des Wie-
derholungszwangs wird damit auf der Ebene der Narration als die Bedro-
hung der Mechanisierung und Automatisierung angesprochen.
Die Automate erzhlt damit nicht einfach vom Scheitern der Versu-
che der Protagonisten, eine Lsung aller Rtsel zu finden. Die Erzhlung

stand verstand er diese Sprache nur sehr wenig und am wenigsten konnte
er sie reden (Eschenmayer: Psychologie [wie Anm. 113], S. 240).
291 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
406 (Die Automate), Hervorhebung von mir, O.K.
292 Ebd., S. 426, Hervorhebung von mir, O.K.

249
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

fhrt vielmehr vor, wie endliche Wesen, die in ihre eigene Zeitlichkeit
eingebunden bleiben, bei dem Versuch, eine abschlieende Synthese al-
ler Zusammenhnge ihres Lebens zu erstellen, notwendigerweise schei-
tern mssen. Hoffmanns Geschichte ist insofern zugleich von Haus aus
fragmentarisch und unabschliebar: sie kennt kein Ende und leitet, wie
die Ironie fr Schlegel, zur Vorstellung von Unendlichkeit.
Die Automate fhrt vor, wie seine Protagonisten auf der Suche nach
einem Zusammenhang ihrer Erfahrung in die Macht derjenigen Phantas-
men geraten, die genau diesen Zusammenhang immer wieder zerstren.
Der Akteur von Die Automate handelt mechanisch, als ein Nachtwandler
am hellichten Tag. In diesem Sinn hat Reil in seinen Rhapsodieen ber
die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrttungen,
die Hoffmann in Das de Haus erwhnt, den Nachtwandler als einen
Automat beschrieben, dessen Handlungen von ungewussten und unbe-
wussten Vorstellungen ferngesteuert werden.293

Das Unheimliche in der romantischen Musiksthetik

Die eigentliche Pointe der Geschichte besteht freilich darin, dass sie nicht
nur einen Hauptakteur hat, sondern auch diese Rolle verdoppelt prsen-
tiert. Ferdinands Freund Ludwig zeigt sich immer wieder skeptisch ge-
genber den in der Handlung auftretenden mechanischen Figuren, und
ihm ist es vorbehalten, der mechanischen Kunst des Professor X. eine
dezidiert romantische sthetik entgegenzustellen, die nicht selten als
Hoffmanns eigentliche Meinung verstanden wurde. Schon die Verbin-
dung des Menschen mit toten das Menschliche in Bildung und Bewe-
gung nachffenden Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat fr mich
etwas drckendes, unheimliches, ja entsetzliches,294 stellt Ludwig fest.
Die falsche Kunst des Professors fft das Menschliche nach, sie ist es
nicht. Ludwig assoziiert das Mechanische mit der Vorstellung von Nach-
ahmung und Reprsentation und setzt dem eine nicht-mechanische Kunst
entgegen, die auf die Intensitt des Gefhls statt auf Darstellung setzt.
Die nicht-mechanische Musik ermgliche, so Ludwig, im vollkommen-

293 Vgl. Reil: Rhapsodieen ber die Anwendung der psychischen Curmetho-
de (wie Anm. 69), S. 10. Vgl. Manfred Schneider: Das Grauen der Beo-
bachter: Schriften und Bilder des Wahnsinns. In: Bild und Schrift in der
Romantik. Hrsg. von Gerhard Neumann und Gnter Oesterle. Wrzburg:
Knigshausen & Neumann 1999 (Stiftung fr Romantikforschung. 6), S.
237-253, hier: S. 242.
294 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
418 (Die Automate).

250
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

sten Ton295 einen Zugang zu einer sonst verborgenen Urzeit des


menschlichen Geschlechts,296 zu einer Zeit der ersten heiligen Harmo-
nie297 von Mensch und Natur, als der Geist des Menschen nicht die
Natur, sondern diese den Geist des Menschen erfate.298
Den Gedanke, dass in den Urklngen der Natur der Rest einer Har-
monie von Mensch und Natur vernommen werden knne, hat Hoffmann
(oder sein Protagonist Ludwig) aus Schuberts Ansichten von der Nacht-
seite der Naturwissenschaft (1808) entnommen, auf die Ludwig explizit
Bezug nimmt. Ludwigs enthusiastische Ausfhrungen ber die Luftmu-
sik oder Teufelsstimme auf Ceylon299 sind ein Zitat aus Schuberts
Buch.300
Wie aber kann die nicht-mechanische Musik einen Zugang zur Har-
monie der Urzeit wiederherstellen? Indem sie die Fragmente und Re-
ste dieser Harmonie, die in der Gegenwart noch anzutreffen sind, als
Vorbild nimmt. Diese sind als Nachhall301 in den geheimnisvollen
Lauten der Natur zu entdecken, die noch nicht ganz von der Erde ge-
wichen302 und in der Natur wie ein tiefes, nur dem hhern Sinn er-
forschliches Geheimnis verborgen303 sind. Indem die Tne der Natur als
Fragmente einer verlorenen Vergangenheit aufgefasst werden, fgt der
Musikrezipient sie in den Zusammenhang einer Kontinuitt und Ganzheit

295 Ebd., S. 421.


296 Ebd.
297 Ebd.
298 Ebd.
299 Ebd., S. 422.
300 In der dritten Vorlesung notiert Schubert, dass die Naturstimme der
olsharfe unter dem Nahmen Luftmusic, oder Teufelstimme auf Ceylon
und in den benachbarten Lndern wahrgenommen ist (G[otthilf] H[ein-
rich] Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Un-
vernderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Dresden 1808.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, S. 64). Auch vor
Schubert war die olsharfe ein beliebtes Beispiel, um die Mglichkeit
natrlicher Kunst zu belegen. Athanasius Kircher behauptet, die ols-
harfe 1650 erfunden zu haben. In der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts
wurde sie schlielich geradezu zu einem Topos, der die Mglichkeit na-
trlicher Kunst vorfhren sollte. Abrams nennt sie das Lieblingsspiel-
zeug der Romantiker (M. H. Abrams: Spiegel und Lampe. Romantische
Theorie und die Tradition der Kritik [1953]. bers. von Lore Iser. Mn-
chen: Fink 1978, S. 72).
301 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
421 (Die Automate).
302 Ebd.
303 Ebd., S. 423.

251
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ein, die auf diesem Weg zuallererst phnomenal wahrnehmbar werden


kann.
Ludwigs Musiktheorie kann unschwer als eine Variation der in der
gesamten Erzhlung immer wieder vorgefhrten Praxis der Projektion
und Identifikation begriffen werden. Wenn Musik es dem Subjekt fr
Ludwig ermglicht, eine sonst unzugngliche Erfahrung der Ganzheit
(mit der Natur) und des Sinns zu machen, indem sie ein Phnomen als
Fragment einer vergangenen hheren Einheit auffassbar macht und eine
Analogie zwischen dem Innen des Subjekts und dem Auen der Natur
konstituiert (Kann denn, erwiderte Ludwig, die Musik, die in unserm
Innern wohnt, eine andere sein als die, welche in der Natur [...] verbor-
gen304), dann wiederholt diese Theorie exakt die Phantasmen, denen
Ferdinand in der Begegnung mit der ertrumten Sngerin erlegen ist.
Die Theorie der nicht-reprsentativen, intensiven und daher nicht wieder-
holenden Musik wird so als die Wiederholung einer wiederholenden Pra-
xis, eines unendlichen Wiederholungszwangs, vorgefhrt. Ludwigs Glau-
be, in den Klngen der Musik eine anfngliche Harmonie zwischen
Mensch und Natur erneut erleben zu knnen, erliegt den gleichen Phan-
tasmen, in die sich sein Freund Ferdinand verstrickt. In dieser Struktur
der unendlichen Spiegelung, Verdopplung und Wiederholung liegt die
Ironie des Wahnsinns bei Hoffmann.

III. 5 Die doppelte Supposition


(Doge und Dogaresse)

Doge und Dogaresse als historische Novelle und als


Liebesgeschichte der Traum der geliebten Frau

Insofern Das de Haus und Die Automate sich schon auf den ersten
Blick hneln und demselben Genre zuzurechnen sind (der unheimli-
chen Geschichte), knnte man versucht sein zu denken, die bisher ge-
troffenen Aussagen ber die Verbindung von Erzhlstruktur, Wiederho-
lungstechnik und der Darstellung des Wahnsinns seien nur fr diese
Art Erzhlung im uvre Hoffmanns zutreffend. Einige Ausfhrungen zu
Doge und Dogaresse, einer auf den ersten Blick eher novellistischen
Erzhlung, die in der Forschung ebenfalls nur geringe Beachtung gefun-
den hat,305 sollen das Gegenteil beweisen.

304 Ebd.
305 Es existieren nur sehr wenige Studien zu Doge und Dogaresse. Zu nen-
nen ist zuerst die Arbeit von Johannes Wiele (Johannes Wiele: Vergan-

252
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Bereits in der Rahmenhandlung der Erzhlung wird die Genese von


Zeit als deren eigentliches Thema ausgewiesen. In einer bereits zitierten
Passage tritt ein Fremder in Erscheinung und nennt das Gemt des
Knstlers als den Ort, an dem Bilder aufgehen, Gestalten ihre Hei-
mat finden und sich pltzlich eine Verbindung des Bildes mit Vergan-
genheit und Zukunft ergibt:

Es ist ein eignes Geheimnis, da in dem Gemt des Knstlers oft ein Bild auf-
geht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare krperlose, im leeren Luftraum trei-
bende Nebel, eben in dem Gemte des Knstlers erst sich zum Leben zu for-
men und ihre Heimat zu finden scheinen. Und pltzlich verknpft sich das Bild
mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zukunft, und stellt nur dar, was
wirklich geschah oder geschehen wird.306

Wie bereits ausgefhrt wurde, umschreiben diese Stze nicht nur die
Konstitution der Hoffmannschen Knstler-Akteure, sondern ebenso
die Grundstruktur seiner Erzhlungen.307 Wie aber verhlt es mit der Er-
zhlung Doge und Dogaresse, die ber keine Knstler-Figur verfgt
und deren Struktur auf den ersten Blick von dem bisher beschriebenen
Schema abzuweichen scheint?
Die Handlung der Geschichte weist diese auf den ersten Blick als ein
Beispiel historischer Novellistik aus. Mit wenigen Stzen fasst Lothar Pi-

genheit als innere Welt. Historisches Erzhlen bei E.T.A. Hoffmann.


Frankfurt am Main u.a.: Lang 1996, S. 219-380). Allerdings beschftigt
sich Wiele vor allem mit der Fragestellung, was Hoffmanns Erzhlung
ber die Mglichkeit objektiver Geschichtsschreibung sagt. Seither sind
drei weitere Studien zu Doge und Dogaresse erschienen, die sich vor al-
lem dem Verhltnis des Textes zur pikturalen Vorlage dem Bild Doge
und Dogaresse von Karl Wilhelm Kolbe widmen. Vgl. Melanie Klier:
Kunstsehen. E.T.A. Hoffmanns literarisches Gemlde Doge und Doga-
resse. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 7 (1999), S. 29-49; Petra Liedke
Konow: Inszenierung der serapiontischen Genese eines Kunstwerks.
E.T.A. Hoffmanns Rahmengeschichte Doge und Dogaresse im Rah-
men der Serapions-Brder. In: Germanic Notes and Reviews 30 (1999),
H. 1, S. 134-142; Gerhard Neumann: Narration und Bildlichkeit. Zur In-
szenierung eines romantischen Schicksalsmusters in E.T.A. Hoffmanns
Doge und Dogaresse. In: Bild und Schrift in der Romantik. Hrsg. von
Gerhard Neumann und Gnter Oesterle. Wrzburg: Knigshausen &
Neumann 1999 (Stiftung fr Romantikforschung. 6), S. 107-142.
306 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
430f. (Doge und Dogaresse).
307 Vgl. Kap. III. 2.

253
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

kulik nicht nur die Handlung der Erzhlung zusammen, sondern skizziert
zugleich die beiden gelufigsten Lektren derselben:

Man kann die Geschichte auf zweierlei Art lesen. Erstens als historische Er-
zhlung [...]. Da geht es auf der einen Seite um Politik: um die Verteidigung
Venedigs gegen seine Feinde, die Wahl des Dogen, um Verschwrung und die
Wiederherstellung der alten Ordnung. In diese Staatsaktionen ist das private
Glck und Unglck dreier Personen verflochten: Annunziatas, die Bodoeri sei-
nem Machtehrgeiz zuliebe dem alten Falieri verkuppelt; Antonios, der in An-
nunziata die Jugendgeliebte wiedererkennt, sich als Pflegesohn des an den Ma-
chenschaften Bodoeris beteiligten Nenolo entpuppt und in die Verschwrung
gegen die Signorie verwickelt wird; Margarethes, der durch die Folter entstell-
ten Amme Antonios, die die Verbindung zwischen den beiden Liebenden her-
stellt. [...] Damit wird bereits deutlich, da man die Erzhlung auch auf eine
zweite Art lesen kann: als symbolische Erzhlung, in der das Historische nicht
um seiner selbst willen dargestellt ist, sondern als Medium eines tieferen Sinns,
auch einer tiefen Gemtsbewegung.308

Tatschlich lassen sich diese Ebenen jedoch kaum so sorgfltig auseinan-


derhalten, wie Pikulik suggeriert. Sowohl die Figuren der offiziellen
Handlungen um die Intrigen am Hofe Venedigs als auch die Akteure der
privaten Handlung um die Liebesbeziehung zwischen Antonio und An-
nunziata sind stets auch Interpreten der sie umgebenden Symbole. Die-
ses Bemhen zeigt sich wiederum vor allem im Kontext von Antonios
Suche nach seiner eigenen Herkunft als die Anstrengung der Akteure,
die Beziehungen und Verhltnisse der Figuren zueinander zu verstehen.
Wie bereits angedeutet, gestaltet sich dieses Bemhen auch in Doge
und Dogaresse als den Versuch, die Ereignisse im Zusammenhang einer
kontinuierlichen Zeit zu sehen. Bereits darin zeigt sich, dass Doge und
Dogaresse, obwohl die Geschichte auf den ersten Blick einen gnzlich
anderen Charakter zu haben scheint, strukturell an die in der Sammlung
Die Serapions-Brder unmittelbar vorausgehende Erzhlung Die Auto-
mate anknpft. Zu Beginn der Handlung zeigt sich der Hauptakteur von
Doge und Dogaresse, der junge Antonio, als ein armer unglcklicher
Mensch,309 dem eine Krankheit die Erinnerung an die eigene Identitt
und Vergangenheit geraubt hat.

Wie vermag ich dir denn, Alte, diesen Augenblick des Erwachens zu be-
schreiben! Die Wut der Krankheit hatte mir alle Erinnerung des Vergangenen
gnzlich geraubt. Gleich als wre in die todstarre Bildsule pltzlich der

308 Pikulik: E.T.A. Hoffmann als Erzhler (wie Anm. 244), S. 126-128.
309 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
434 (Doge und Dogaresse).

254
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Lebensfunke gefahren, gab es fr mich nur augenblickliches Dasein, das sich


an nichts knpfte. [...] Nach und nach sammelten sich zwar meine Gedanken
und ich besann mich auf mein frheres Leben, aber was ich dir erzhlte Alte,
das ist Alles, was ich davon wei, und das sind doch nur einzelne Bilder ohne
Zusammenhang. Ach! dieses trostlose Alleinstehen in der Welt, das lt mich
zu keiner Frhlichkeit kommen, so gut es mir nun auch gehen mag.310

Wie Ferdinand in Die Automate befindet sich Antonio auf der Suche
nach einem Zusammenhang, einer Synthese, welche die einzelnen Bil-
der zur Kontinuitt einer Geschichte verbinden kann. Insofern, der Lo-
gik der Phantasmen in Hoffmanns Texten entsprechend, nur durch diese
Assoziationen auch Verbindungen zwischen den handelnden Figuren er-
geben knnen, ist die Zusammenhangslosigkeit der Zeit fr Antonio not-
wendig auch ein trostloses Alleinstehen in der Welt.
Analog zu der bereits in anderen Erzhlungen Hoffmanns beschrie-
benen Logik der Synthesen ist es auch in Doge und Dogaresse jedoch
keineswegs so, dass sie von dem synthetisierenden Subjekt bewusst und
kontrolliert vollzogen werden. Der Zusammenhang stellt sich her, und
die Akteure sehen sich dazu gezwungen, ihn auszusprechen.
Wie in einem fernen dunklen Spiegel erschaue ich oft knftige Er-
eignisse und beinahe ohne eignen Willen, in mir oft selbst unverstnd-
lichen Redensarten das, was ich erschaut, auszusprechen, zwingt mich
dann die unbekannte Macht, der ich nicht zu widerstehen vermag.311 So
spricht die alte Margareta, die sich damit einerseits (im Rahmen des kul-
turellen Codes) als eine clairvoyante ausweist, als eine zur somnabulen
Hellsicht begabte Person. Andererseits weist sie sich (im Rahmen der
narrativen Ordnung) als eine Vermittlungsfigur aus, welche Zusammen-
hnge nicht nur schaut, sondern auch ausspricht, und die damit Figuren
in Verbindung bringen kann.
In einer fr Hoffmann eher seltenen Variante der Ironie wird diese
Behauptung, Zusammenhnge erschauen zu knnen, durch eine intertex-
tuelle Relation relativiert. Die Formulierung Wie in einem fernen dunk-
len Spiegel erschaue ich ist eine Anspielung auf den 1. Korintherbrief
des Paulus: Wir sehen jtzt durch einen Spiegel in einem tunckeln wort /
Denn aber von angesicht zu angesichte. Jtzt erkenne ichs stckweise /
Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin (1. Kor.
13,12). Whrend Paulus also das Sehen durch einen Spiegel in einem
dunklen Wort als ein stckweises Sehen beschreibt, welches durch ein
Sehen von Angesicht zu Angesichte ersetzt werden muss, wird das Schau-

310 Ebd., S. 449 (Doge und Dogaresse).


311 Ebd., S. 454 (Doge und Dogaresse).

255
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

en wie in einem fernen dunklen Spiegel durch die alte Frau geradezu
umgekehrt als die Methode zum Erreichen eines ganzen Sehens bewertet.
Indem sie sich als eine Schauerin bezeichnet, kann die Figur der
Margareta in der Ordnung der Erzhlung als eine Vermittlerfigur be-
schrieben werden. Sie vermittelt Antonio einen Zugang zu seiner Ver-
gangenheit, indem sie sich als seine Amme ausweist. Tonino, lispelte
nun die Alte ganz leise, Tonino, wenn du so in mein verschrumpftes Ant-
litz schaust, dmmert denn gar keine leise Ahnung in deinem Innern auf,
da du mich wohl in frher, frher Zeit gekannt haben knntest!312
Nachdem die alte Margareta Antonio derart eine Erinnerung an eine fr-
here Zeit suggeriert hat, beginnt nun auch seine Einbildungskraft, Bilder
von dieser Zeit hervorzubringen. In einer Variante der wiederholten
Struktur der Hervorbringung des Bildes des Anderen erkennt Antonio in
der ihm gegenbertretenden Alten nicht die verlorene Geliebte, son-
dern die ehemalige Amme: Ja du bist die Margareta, die mich nhrte,
die mich hegte und pflegte, ich wute es ja schon immer, aber der bse
Geist verwirrte mir die Gedanken.313
Aber welcher dunkle Zauber ist es, der Antonios Selbst be-
herrscht? Entsprechend der Logik der narzisstischen Selbsterfindung in
Hoffmanns Texten handelt es sich hierbei um nichts anderes als das
Phantasma des Ich. Antonio ist nicht vllig ohne Erinnerung, er trgt
den unverstndlichen Nachklang einer glcklichen Vergangenheit in
sich, der nun, in der Begegnung mit der Alten, die sich ihm als seine
frhere Amme ausweist, eine ganze Geschichte hinzuassoziiert werden
kann. Wie sein Pendant Ferdinand aus Die Automate ist Antonio auf der
Suche nach einer Ganzheit, welche Kontinuitt und Zusammenhang nicht
nur in seine Erinnerung, sondern auch in die Identitt seiner Person zu
bringen verspricht.

Schweig, Alte, unterbrach sie Antonio, schweig, noch etwas ist es, was mir
mein Leben verkmmert, mich rastlos verfolgt, was mich ber kurz oder lang
rettungslos verderben wird. Ein unaussprechliches Verlangen, eine mein Inner-
stes verzehrende Sehnsucht nach einem Etwas, das ich nicht zu nennen, nicht
zu denken vermag, hat, seitdem ich im Spital zum Leben erwachte, mein gan-
zes Wesen erfat. Wenn ich als ein Armer, Elender, ermdet, zerschlagen von
der mhseligen Arbeit Nachts auf dem harten Lager ruhte, dann kam der Traum
und go, mir in lindem Suseln die heie Stirn fchelnd, alle Seligkeit irgend
eines glcklichen Moments, in dem mir die ewige Macht die Wonne des Him-
mels ahnen lie und dessen Bewutsein tief in meiner Seele ruht, in mein Inne-
res. [...] Alles Sinnen, alles Forschen ist vergebens, ich kann es nicht ergrnden,

312 Ebd., S. 452 (Doge und Dogaresse).


313 Ebd., S. 462 (Doge und Dogaresse).

256
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

was mir frher im Leben so Hochherrliches geschah, dessen dunkler, ach mir
unverstndlicher Nachklang mich mit solcher Seligkeit erfllt, aber wird diese
Seligkeit nicht zum brennendsten Schmerz, [...] wenn ich erkennen mu, da
alle Hoffnung verloren ist, jenes unbekannte Eden wieder zu finden, ja es nur
zu suchen?314

Sind gem der Logik der Phantasmen in Hoffmanns Texten die asso-
ziierten Zusammenhnge nicht nur die Verbindungen von Ereignissen,
sondern immer auch die zwischen Figuren, so ist es nicht verwunderlich,
dass Antonios Erinnerung, durch das Auftauchen der Amme angesto-
en, nunmehr beginnt, sich zugleich an das Objekt jenes unaussprech-
lichen Verlangens nach einem Etwas und an das eigene Ich zu erinnern.
Die Erinnerung an die Amme bringt die Vorstellung des eigenen Ich
und das Bild der schon in der Kindheit geliebten Frau hervor, die sich als
die Dogaresse Annunziata herausstellt:

Da streckte ich mde vom Springen und Laufen an einem Abend, als schon
die Sonne zu sinken begann, mich hin unter einen groen Baum und starrte hi-
nauf in den blauen Himmel. Mag es sein, da der wrzige Geruch der blhen-
den Kruter, in denen ich lag, mich betubte, genug meine Augen schlossen
sich unwillkrlich und ich versank in trumerisches Hinbrten, aus dem mich
ein Rauschen, gleich als fiele ein Schlag dicht neben mir in das Gras, erweckte.
Ich fuhr auf in die Hhe; ein Engelskind mit himmlischem Antlitz stand neben
mir, schaute in holder Anmut lchelnd auf mich herab und sprach mit ser
Stimme: Ei, mein lieber Knabe, wie schliefst du so schn, so ruhig, und doch
war dir der Tod so nahe, der bse Tod. Dicht neben meiner Brust erblickte ich
eine kleine schwarze Schlange mit geborstenem Haupt, das Kind hatte das gifti-
ge Tier mit dem Zweige eines Nubaums erschlagen, in dem Augenblick, als es
zu meinem Verderben sich heranringeln wollte. Da erbebte ich in sem
Schauer [...] ich sank nieder auf die Knie, ich erhob die gefalteten Hnde.
Ach, du bist ja ein Engel des Lichts, den der Herr sandte, mich zu retten vom
Tode. So rief ich, das holde Wesen streckte aber beide Arme nach mir aus und
lispelte, indem hheres Rot auf seinen Wangen leuchtete: Ach du lieber Knabe,
ich bin ja kein Engel, ein Mdchen, ein Kind wie du! Da vergingen die Schau-
der in namenloses Entzcken, das mich mit sanfter Glut durchstrmte ich
stand auf wir schlossen uns in die Arme [...]. Nun rief eine silberhelle Stimme
durch den Wald: Annunziata Annunziata! Ich mu nun fort, du herzlieber
Knabe, die Mutter ruft, so lispelte das Mdchen, ein unsglicher Schmerz
durchfuhr meine Brust. [...] Annunziata! rief es aufs neue, und das Mdchen
verschwand im Gebsch! [...] Wenige Tage nachher wurde ich hinausgestoen
aus dem Hause. Vater Blaunas sagte mir, als ich es nicht lassen konnte, von
dem Engelskinde zu reden, das mir erschienen und dessen se Stimme ich zu

314 Ebd., S. 449f. (Doge und Dogaresse).

257
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

vernehmen glaubte in dem Rauschen der Bume, in dem Gelispel der Quellen,
in dem ahnungsvollen Sausen des Meers ja, da sagte mir Vater Blaunas, das
Mdchen knnte niemand anders gewesen sein, als Nenolos Tochter Annun-
ziata [...]. O Mutter Margareta. Hilf Himmel! Diese Annunziata es ist
die Dogaressa!315

Die Szene erscheint geradezu als eine Wiederholung der Begegnung Fer-
dinands mit der Sngerin aus Die Automate. Hier wie dort wird die Se-
quenz eingeleitet mit der Erzhlung des Einschlafens, dem ein Aufwa-
chen folgt. Dieses wird allerdings als eine mgliche Fortsetzung des
Traums bestimmt, indem die Begegnung mit dem jungen Mdchen,
die auf das trumerische Hinbrten folgt, sich als traumartig erweist.
Markiert wird dies durch eine alliterierende und also poetische und
mrchenhafte Sprache, die an die Szenerie im Garten des Professor X.
erinnert (ser Stimme, so schn, so ruhig, der Tod, der bse
Tod). Die junge Annunziata kann so als eine Figur aus einem Traum
verstanden werden, als eine Wiedergngerin der Sngerin aus Die Au-
tomate.
Die zeitliche Struktur dieses Traums ist hier allerdings, im Gegensatz
zur komplexen Strukturierung der Begegnung mit der Sngerin in der
vorhergehenden Geschichte, vereinfacht. Eine realistische Lektre, wo-
nach Antonio sich einfach an eine tatschliche Begebenheit aus seiner
Kindheit erinnert, nachdem er der nunmehrigen Dogaresse begegnet ist,
wird keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil: Ausdrcklich streut
Hoffmann Informationen und Datierungen ein, welche eine Begegnung
von Antonio und Annunziata in ihrer Kindheit mglich erscheinen las-
sen. Bertuccio Nenolo war der Pflegevater316 Antonios, der ihn auf sei-
nem Landhause bei Treviso aufgezogen hat. Zugleich aber ist Nenolo,
wie der Leser einem Gesprch zwischen Marino Falieri und dem Intri-
ganten Marino Bodoeri entnehmen kann, der Vater Annunziatas. Bodoeri
berichtet Falieri, dass er Annunziata, nachdem den wilden barschen Ne-
nolo der Krieg ins Meer verlockte, in tiefer Einsamkeit auf meiner Vil-
la in Treviso317 erziehen lie. Die Vertreibung Antonios aus dem Hause
Nenolos nach dessen vermeintlichen Tod kann dann zeitlich koinzidieren
mit dem Erscheinen Annunziatas in Treviso. Die beiden Passagen, die
Erinnerung Antonios und das Gesprch zwischen Bodoeri und Falieri,
besttigen sich gegenseitig und versichern sich wechselseitig einer ber-
einstimmung mit der Realitt. Der realistische Code ist in Doge und
Dogaresse derjenige der Genealogie und der Chronologie: Es werden

315 Ebd., S. 462-464 (Doge und Dogaresse).


316 Ebd., S. 462 (Doge und Dogaresse).
317 Ebd., S. 442f. (Doge und Dogaresse).

258
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Spuren darber verstreut, wer mit wem verwandt ist und wann sich wel-
ches Geschehen ereignet hat. Die Spuren dieser Codes aufsammelnd, teilt
der Leser die Anstrengungen Antonios, seine Vorgeschichte herauszu-
finden: Gibt es denn Spuren des spurlos Verschwundenen?318
Neben diesem realistischen Netz von sich gegenseitig besttigen-
den Korrespondenzen und bereinstimmungen gibt es allerdings auch,
wie bereits in dem Zitat aus dem Buch Pikuliks angedeutet wurde, ein
symbolisches Netz. Im Unterschied zu den realistischen Codes der
Genealogie und Chronologie kann der symbolische Code nicht auf die
Einheit und Kohrenz einer Geschichte gebracht werden. Die symboli-
schen Konnotationen treten jedoch nicht einfach zu den realistischen
hinzu, als wren sie etwas, was der Leser ignorieren knnte. Ihre Logik
ist nicht nur fragmentarisch, sondern ebenso fragmentierend: Die disso-
ziativen Spuren der Symbolik stren und verstreuen zuletzt auch die
scheinbar bruchlos zusammenhngenden Indizien des realistischen Co-
des.
Gibt es einen systematischen Unterschied zwischen den realisti-
schen und den symbolischen Codes? Diese Frage muss, im Blick auf
Doge und Dogaresse wie auch auf andere Texte Hoffmanns, entschieden
verneint werden. Beide Arten der Codierung entwerfen ein Netz von
Konnotationen und Zusammenhngen, und beide Arten von Codierung
bestimmen das, was in Hoffmanns Texten Realitt genannt werden
kann. Hoffmanns Erzhlungen stellen, wie bereits anhand von Das de
Haus und Die Automate gezeigt wurde, niemals nur eine (wie auch im-
mer rtselhafte) Version der Realitt dar sie fhren ihre Protagonisten
immer als Leser der Realitt vor und verwischen dabei die Unterscheid-
barkeit zwischen tatschlichen Vorkommnissen und ihrer Reprsenta-
tion in der Vorstellung der Protagonisten. Auf diese Weise gelingt es, die
Macht der Fiktion und des Fiktionalen, das die Akteure in einen gefhrli-
chen Wahn zu ziehen droht, nicht nur zu erzhlen, sondern zugleich auch
vorzufhren, fr den Leser des Textes erfahrbar zu machen. Die Ver-
dopplung dieser Ebene ergibt einen umfassenden Effekt des Unheimli-
chen: Korrespondenzen, Analogien und unwahrscheinliche Zusammen-
hnge erscheinen nun nicht mehr blo den enthusiastischen Akteuren
Hoffmanns, sondern auch einem noch so auf Nchternheit erpichten Le-
ser Hoffmanns.

318 Ebd., S. 450 (Doge und Dogaresse).

259
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Die Supposition
Die Azirkularitt des Sinns als Wahnsinn

Dass eine realistische Lektre der Vorgeschichte um die Kindheits-


begegnung von Antonio und Annunziata nicht ausreichen kann, wird be-
reits in der zitierten Passage deutlich. In einer Parenthese, einem schein-
bar unbedeutenden Einschub, erinnert sich Antonio daran, dass Annun-
ziata ihm erschienen sei und dass er ihre se Stimme an vielfltigen
Orten der Natur zu hren glaubte: als ich es nicht lassen konnte, von
dem Engelskinde zu reden, das mir erschienen und dessen se Stimme
ich zu vernehmen glaubte in dem Rauschen der Bume, in dem Gelispel
der Quellen, in dem ahnungsvollen Sausen des Meers [...]. Der Satz
spricht von dem Erscheinen Annunziatas und von der Mglichkeit dieses
Erscheinens in verschiedenen Naturphnomenen. Offenkundig handelt es
sich hier um ein Erscheinen weniger im phnomenalen als vielmehr im
spirituellen Sinn des Wortes. Die Erscheinung Annunziatas wird hier
als eine Projektion bestimmt, und nherhin als das Ergebnis einer Suppo-
sition einer Unterlegung und Unterschiebung. In den seit 1822 und also
nur wenige Jahre nach Erscheinen der Serapions-Brder gehaltenen Vor-
lesungen ber die Philosophie der Geschichte beschreibt Hegel, wie die
Griechen begannen, in dem Gemurmel der Quellen eine Anregung
fr ihr Denken und Dichten zu finden.

Ebenso horchten die Griechen auf das Gemurmel der Quellen und fragten,
was das zu bedeuten habe; die Bedeutung aber ist nicht die objektive Sinnigkeit
der Quelle, sondern die subjektive des Subjekts selbst, welches dann weiter die
Najade zur Muse erhebt. Die Najaden oder Quellen sind der uerliche Anfang
der Musen. Doch der Musen unsterbliche Gesnge sind nicht das, was man
hrt, wenn man die Quellen murmeln hrt, sondern sie sind die Produktionen
des sinnig horchenden Geistes, der [sie] in seinem Hinauslauschen in sich
selbst produziert.319

Wenn die Bedeutung des Gemurmels fr Hegel nicht in der objekti-


ven Sinnigkeit der Quelle liegt, sondern in der subjektiven Sinnigkeit
des Subjekts selbst, dann wird die Beziehung des Griechen zu den

319 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke
von 1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 12,
S. 289 (Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte). Vgl. Werner
Hamacher: Prmissen. Zur Einleitung. In: ders.: Entferntes Verstehen.
Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1998 (edition suhrkamp. 2026), S. 7-48, hier: S. 13f.

260
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Musen und Najaden als eine umwegige Beziehung zu sich selbst dekla-
riert. Der Gesang der Musen ist fr Hegel ein Hinauslauschen in sich
selbst, in welchem der griechische Geist seinen eigenen Sinn in das
Gemurmel supponiert und es in einem zweiten Schritt wieder he-
raushrt als die Sinnigkeit der Quelle. In dieser zirkulren Bewegung
des Sinns, der ihn von seiner Voraussetzung in einem absolut andern
zum andern seiner selbst und weiter zu sich fhrt,320 stellt das Horchen
der Griechen auf das Gemurmel der Quellen eine Urszene Hegelscher
Subjektivitt dar. Sie wiederholt das dialektische Drama des Aus-sich-
heraus-Gehens und Zu-sich-Zurckkommens, das, wie Hegel in seiner
Enzyklopdie ausfhrt, die Intelligenz ausmacht.321 Das voraussetzende
Hineinlegen des Sinns und das anschlieende Hinauslauschen des-
selben aus dem Gemurmel der Quellen entspricht der generellen Struk-
tur des Zeichens bei Hegel, in der, wie Derrida meint, das Aussichhi-
nausgehen [...] der obligate Weg einer Rckkehr zu sich selbst322 ist.
Trotzdem Hoffmann die Erscheinung Annunziatas an das Horchen
Antonios auf das Rauschen der Bume, das Gelispel der Quellen,
sowie auf das ahnungsvolle Sausen des Meers bindet, folgt die Er-
scheinungsweise der begehrten Frau in Hoffmanns Geschichte nicht dem
Hegelschen Schema von voraussetzender Supposition und vermittelter
Rckkehr des Sinns zum sinnstiftenden Subjekt. Die Bewegung des
Sinns ist in Hoffmanns Texten nicht auf die Ordnung eines Aus-sich-he-
raus und Zu-sich-zurck zu bringen. Die Erscheinungen des Sinns sind
nicht auf ein produzierendes Subjekt und nicht auf eine produzierende
Subjektivitt zurckzufhren dies suggeriert zwar die Topik des Enthu-
siasmus in Hoffmanns Texten, aber diese wird stets ironisch gebrochen
und durchkreuzt. In ihrer Unheimlichkeit durchkreuzen diese Sinnpar-
tikel die Unterscheidung zwischen innen und auen und zwischen
selbst und fremd; sie sind nicht in die Bewegung von einem Subjekt
zu sich zurck einzuordnen.
Die Selbstheit des Selbst, die Hegel fr die hinauslauschenden
Griechen durch die Supposition, die Voraussetzung eines Sinns in das
Sinnlose garantiert sieht, ist in Hoffmanns Texten eine leere Einbildung,
der Effekt eines narzisstischen Phantasmas. Zwar organisiert sich das
Ich auch in Hoffmanns Texten, wie dasjenige der Griechen Hegels, in

320 Hamacher: Prmissen (wie Anm. 319), S. 13.


321 Vgl. Hegel: Werke (wie Anm. 319), Bd. 10, S. 271f. (Enzyklopdie der
philosophischen Wissenschaften, 459).
322 Jacques Derrida: Der Schacht und die Pyramide. Einfhrung in die He-
gelsche Semiologie [1971]. In: ders.: Randgnge der Philosophie. bers.
von Gerhard Ahrens u. a. Hrsg. von Peter Engelmann. 2., berarb. Aufl.
Wien: Passagen 1999, S. 93-132, hier: S. 98.

261
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

der Struktur einer Spiegelung und also in einem narzisstischen Drama,


aber dieses Drama ist nie einfach ein Ausichhinausgehen mit einer an-
schlieenden Rckkehr.
Die ubiquitre Bezugnahme auf das Modell des Mesmerismus in al-
len Kontexten, die mit der Ich-Produktion und dem Erscheinen des An-
deren zusammenhngt, verweist auf eine Einmischung einer ueren In-
stanz in die Konstitution des Ich, die in Hegels zirkulrer Bewegung
nicht vorgesehen ist. Diese Einmischung zeigt sich in Hoffmanns Ge-
schichten als die Mitwirkung eines Anderen (einer Vermittlerfigur), vor
allem aber als die Einmischung eines eigenmchtigen Mediums der re-
flektierenden Spiegelung: der Sprache. Hoffmanns Figuren des Ich be-
gegnen immer wieder Doppelgngern, Ich-Teilungen und Ich-Abspaltun-
gen, die weder einfach als Produkt des Ich noch als ein Moment seiner
rckwrts zu sich selbst verlaufenden Ich-Erkenntnis zu verstehen sind.
In der Beziehung zu dem anderen entwirft sich das Selbst in Hoffmanns
Texten, aber zu dieser Beziehung tritt immer etwas dazwischen. Hierbei
kann es sich um eine strende dritte Figur handeln, die zwischen den
verschiedenen Ichs vermittelt, indem sie Phantasmen entwirft wie
Margareta aus Doge und Dogaresse oder indem sie sich ihrerseits fr
Projektionen der Vermittlung anbietet wie der Professor X. aus Die
Automate.
Whrend Hegel das Subjekt auf die Zirkularitt des Sinns festlegt,
entgeht dieses bei Hoffmann dem Wahnsinn nicht, welcher der Zirkula-
tion notwendig vorausgeht.323 Hoffmanns Subjekte sind notwendig wahn-
sinnig, insofern die Geschichten stets die Bedingungen der Kreation des
Ich vorfhren, die nicht von einer zirkulren Bewegung des Sinns er-
fasst werden, weil sie ihr vorausliegen oder strend in sie einbrechen. In-
sofern die zirkulre Selbstsicherheit des Selbst sich dadurch in eine zer-
rissene und haltlose Bewegung ohne telos auflst, ist es nicht verwunder-
lich, dass die Hoffmannschen Texte in der Bewertung Hegels nicht mit
Gnade rechnen durften. Vorzglich jedoch, notiert Hegel in seinen
Vorlesungen ber die sthetik,

ist in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten
Dissonanzen durchgeht, Mode geworden und hat einen Humor der Abscheu-
lichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zuwege gebracht, in der sich
[Ernst] Theodor [Amadeus] Hoffmann z. B. wohlgefiel.324

323 Vgl. Hamacher: Prmissen (wie Anm. 319), S. 15.


324 Hegel: Werke (wie Anm. 319), Bd. 13, S. 289 (Vorlesungen ber die
sthetik).

262
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

Die doppelte Supposition: der Weg in den Abgrund

Es ist mglich, Doge und Dogaresse nur als eine historische Novelle und
Liebesgeschichte zu lesen, aber diese Lektre verweigert sich dem kom-
plexen Spiel der Phantasmen und Bezauberungen, welches die Geschich-
te inszeniert. Den Phantasmen der Figuren korrespondieren die auf ein
phantasmatisches Signifikat verweisenden symbolischen Codes der Er-
zhlung. Willst du mich betren, entsetzliches Weib, da irgend ein
wahnsinniges Streben mich in den Abgrund schleudert?,325 fragt Anto-
nio die alte Margareta und fasst mit dieser nur scheinbar rhetorischen
Frage seine ganze Geschichte zusammen, denn tatschlich handelt Doge
und Dogaresse von einer Betrung (und Selbstbetrung), die den Figuren
ein wahnsinniges Streben eingibt und sie in den Abgrund schleudert.
Dieser Abgrund betritt im letzten Satz der Erzhlung buchstblich die
Szene (Da streckte das Meer, die eiferschtige Witwe des enthaupteten
Falieri, die schumenden Wellen wie Riesenarme empor, erfate die Lie-
benden und ri sie samt der Alten hinab in den bodenlosen Ab-
grund!326).
Der Abgrund, das telos der Geschichte, ist wiederum mehrfach co-
diert: Man kann ihn als eine moralische Allegorie verstehen, der die
Untreue Annunziatas und Antonios bestraft. Gleichermaen knnte
man ihn als Element einer romantischen Liebestopik verstehen, in der
nur ein gemeinsamer Tod die Liebe der beiden Protagonisten verwirk-
licht. Als dritte Mglichkeit bietet es sich allerdings an, den Abgrund, in
den die Figuren am Schluss hineingerissen werden, als die Verwirkli-
chung des Abgrundes zu verstehen, in den Antonio befrchtet, durch ein
wahnsinniges Streben hineingezogen zu werden. Der Abgrund stellt,
als die allegorische Prsentation des Phantasmatischen berhaupt, den
Wahnsinn des wahnsinnigen Strebens dar, dem nicht nur Antonio, son-
dern mit ihm smtliche Figuren der Erzhlung verfallen. Er ist dann das
Phantasma des Phantasmas, die phantastische Darstellung des Phantasti-
schen: buchstblich eine mise-en-abyme.
Alle Figuren der Erzhlung lassen sich durch die Phantasmen charak-
terisieren, die sie von sich selbst und den anderen entwickeln und die ihr
Handeln in einen schlussendlichen Abgrund lenken. Ein phantasmati-
sches Objekt (fr Antonio) ist insbesondere Annunziata, deren Stimme
Antonio aus dem Gelispel der Quellen und dem ahnungsvollen Sau-
sen des Meeres herauszuhren meint. Die Figur der Annunziata wird
durch eine Vielzahl verschiedener Codierungen gestaltet, die sie abwech-

325 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
451f. (Doge und Dogaresse).
326 Ebd., S. 482 (Hervorhebung von mir, O. K.).

263
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

selnd als eine Art Jungfrau nach christlichem Modell erscheinen lsst
(Annunziata, die Verkndigte), als Engel (Engel des Lichts) oder
aber als Naturwesen (das Hren ihrer Stimme im Sausen des Meeres),
das Antonio in das biblische Paradies (jenes unbekannte Eden327)
versetzen kann. Ein ebenso phantasmatisches Objekt ist Annunziata aber
auch fr Marino Falieri. Whrend in der Beziehung zwischen Antonio
und Annunziata die Figur der Margareta vermittelt, tritt zwischen Falieri
und Annunziata der Intrigant Marino Bodoeri als die dritte Figur, die das
Begehren berhaupt erweckt. Die Vermittlung ist nicht ohne Eigennutz
und zeigt, dass in Hoffmanns venezianischer Erzhlung nicht nur die Lie-
besgeschichte, sondern auch die politische Handlung von der Struktur
der Phantasmen und Einflsterungen bestimmt wird. Annunziata ist die
Tochter von Franzeska, der Nichte Bodoeris, und da dieser mancherlei
Ursache haben mochte seine Nichte als Dogaressa an Falieris Seite zu se-
hen,328 stellt er Falieri gegenber seine Enkelin als das schnste Erden-
kind dar, das nur zu finden.329
Bodoeri fing nun an, heit es weiter,

das Bild eines Weibes zu entwerfen und wute die Farben so geschickt zu
mischen und so lebendig aufzutragen, da des alten Falieri Augen blitzten, da
er im ganzen Gesicht rter und rter wurde, da die Lippen sich spitzten und
schmatzten als gensse er ein Glslein feurigen Syrakuser nach dem andern.330

Der Vergleich des erfolgreichen, die Einbildungskraft seiner Leser (oder


Zuhrer) anfeuernden Dichters mit dem Maler ist in Hoffmanns Texten
konventionell. Die Nhe der Einbildungskraft zur Sphre des Visuellen
sie entwirft stets ein Bild macht es notwendig, dass der Dichter wie
ein Maler arbeitet und versucht, ein Bild direkt in die Vorstellung der
Leser zu malen. Dieses Verfahren wird hier plastisch vorgefhrt durch
die Korrespondenz zwischen der Ttigkeit des Malens und Ausmalens
durch Bodoeri (er wute die Farben so geschickt zu mischen und so le-
bendig aufzutragen) und der zunehmenden Farbigkeit des bezauberten
Falieri (der im ganzen Gesicht rter und rter wurde). Da die durch
Bodoeris Schilderungen dargebotenen Freuden freilich nicht allein vi-
sueller Natur sind, werden sogleich aber auch die taktilen Sinnesorgane
von dem Phantasma der jungen Annunziata angesprochen. Indem die
Lippen des Greises sich spitzten und schmatzten, als gensse er ein
Glslein feurigen Syrakuser nach dem andern, vollzieht seine Einbil-

327 Ebd., S. 450 (Doge und Dogaresse).


328 Ebd., S. 443 (Doge und Dogaresse).
329 Ebd., S. 441 (Doge und Dogaresse).
330 Ebd., S. 442 (Doge und Dogaresse).

264
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

dung bereits den sinnlichen Genuss, den der Intrigant Bodoeri ihm gera-
de erst versprochen hat. Die Unterredung zwischen Bodoeri und Falieri
beschreibt also, parallel zu derjenigen zwischen Antonio und Margareta,
einen Eintritt in die Welt des Phantastischen und des Phantasmatischen.
Die Intrige gelingt, der Doge ist begeistert: Ich will sie sehen, ich will
sie sehen, rief der Doge.331
Als ein Bild, das den Mnnern lebhaft und leibhaftig vor Augen steht,
wird Annunziata zum Inbegriff des begehrten Objekts. Die Vorstellung
der begehrenswerten Frau lsst die mediale Distanz zwischen Sprache
und Bild im Phantasma verschwinden: Das gesprochene Wort wird un-
mittelbar in ein Bild umgesetzt. In dieser Energie der Darstellung kann
der Kern des Phantastischen bei Hoffmann gesehen.332 Das Begehren der
Protagonisten Hoffmanns, die Identitt des eigenen Ich zu erlangen und
das begehrte Objekt zu erreichen, wird durch das Bestreben des Erzhlers
verdoppelt, dem Leser gleichfalls eine Vorstellung vom Erzhlten zu ver-
mitteln und so auch ihn in den Austausch der phantastischen Energien
einzubeziehen. Eine solche Einmischung des Erzhlers, wie sie nicht sel-
ten ist bei Hoffmann, findet sich in Doge und Dogaresse in einer Be-
schreibung Annunziatas.

Es war in der Tat ein wunderlich Schauspiel, den alten Dogen Marino Falieri
zu sehen mit seiner blutjungen Gattin. Er, zwar stark und robust genug, aber
mit greisem Bart, tausend Runzeln im braunroten Gesicht, mit mhsam zurck-
gebogenem Nacken, pathetisch daher schreitend; Sie, die Anmut selbst, from-
me Engelsmilde im himmlisch schnen Antlitz, unwiderstehlichen Zauber im
sehnschtigen Blick, Hoheit und Wrde auf der offnen lilienweien von dunk-
len Locken umschatteten Stirne, ses Lcheln auf Wang und Lippen, das
Kpfchen geneigt in holder Demut, den schlanken Leib leicht tragend daher
schwebend ein herrliches Frauenbild, heimatlich in anderer hherer Welt.
Nun, ihr kennt wohl solche Engelsgestalten, wie sie die alten Maler zu erfassen
und darzustellen wuten. So war Annunziata.333

Der Erzhler behauptet die Schnheit Annunziatas nicht einfach, er will


sie vorfhren, indem er Detail fr Detail auflistet und die Perfektion je-
des Krperteils versichert. Selbstverstndlich ist auch diese Auflistung
wiederum ein Klischee, das um nichts mehr plastisch ist als die pure
Versicherung, es handele sich um eine schne Frau. So ist es mit der

331 Ebd., S. 443 (Doge und Dogaresse).


332 Vgl. Hertz: Freud und der Sandmann (wie Anm. 181), S. 143, sowie Kap.
III. 4.
333 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
455f. (Doge und Dogaresse).

265
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Schnheit, schreibt Barthes: sie kann nur tautologisch sein (affirmiert


unter dem Namen der Schnheit) oder analytisch (wenn man ihre Prdi-
kate durchluft), doch niemals synthetisch.334 Der Erzhler, um diese
Schwche seiner Darstellung wissend, wechselt das Register, indem er
das Bild Annunziatas kurzerhand mit einem als jederzeit prsent voraus-
gesetzten Idealbild der Schnheit aus der Kunst identifiziert: Nun, ihr
kennt wohl solche Engelsgestalten, wie sie die alten Maler zu erfassen
und darzustellen wuten. So war Annunziata. So wird Annunziatas
Schnheit letztlich, wenn schon nicht durch eine Auflistung ihrer Kr-
perteile, durch die Identitt ihrer Erscheinung mit den Bildern der alten
Maler bezeugt. Erzhlung und Bild scheinen sich hier nahezukom-
men, insofern Hoffmann in der Beschreibung Annunziatas ersichtlich
vor allem in der Beschreibung der Kopfhaltung explizit auf das Bild
Kolbes referiert, welches in der Rahmenhandlung als Ansto des Tex-
tes ausgegeben wird. Die Erzhlung fhrt nicht nur vor, dass ihre Prota-
gonisten durch ein Bild Annunziatas verzaubert sind; sie ldt aus-
drcklich auch ihre Leser dazu ein, sich ebenfalls ein Bild von ihrer
Schnheit zu machen. Insofern die Gleichsetzung von Bild und Wirklich-
keit die Vorbedingung des wahnsinnigen Strebens ist, ldt der Erzhler
zum Wahnsinn ein.
Neben dem Phantasma der Schnheit (fr die Liebesgeschichte)
besteht das Phantasma der Macht (fr die historische Geschichte). Der
Handlungsstrang um die Intrige Marino Bodoeris kulminiert gegen En-
de der Erzhlung in einer Verschwrung wider die Signorie,335 welche
die aristokratische Ordnung Venedigs beseitigen und bei deren Gelingen
der alte Marino Falieri als souverainer Herzog von Venedig ausgerufen
werden solle.336 Gleich einem Taschenspieler zaubert Hoffmanns Er-
zhler nun den Pflegevater Antonios hervor, Bertuccio Nenolo, der bis-
her in dem Meeresgrund begraben337 geglaubt wurde. Die von dem
Streben nach Macht angetriebene Verschwrung (Beide, Nenolo und
Bodoeri, wnschten dem alten Falieri den Frstenmantel, um selbst mit
ihm zu steigen338) erweist sich alsbald als klglich scheiternder Operet-
tenstaatsstreich, den die aristokratischen Krfte im ersten Aufglimmen
ersticken339 knnen. Dem gesamten Personal der politischen Handlung
wird kurzer Prozess gemacht, und mit wenigen Worten werden der Intri-

334 Barthes: S/Z (wie Anm. 139), S. 117.


335 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
477 (Doge und Dogaresse).
336 Ebd.
337 Ebd.
338 Ebd., S. 478f. (Doge und Dogaresse).
339 Ebd., S. 479.

266
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)

gant Bodoeri, der alte Falieri und auch der gerade erst wiederauferstan-
dene Nenolo hingerichtet:

Am andern Morgen erblickte der von Todesschrecken zermalmte Pbel das


entsetzliche Schauspiel, das jedes Blut in den Adern gerinnen machte. Der Rat
der Zehen hatte noch in derselben Nacht das Todesurteil ber die Hupter der
Verschwornen, die ergriffen worden, gefllt. Erdrosselt wurden sie auf dem
kleinen Platze zur Seite des Palastes von der Galerie herabgelassen [...] Unter
den Leichnamen befanden sich Marino Bodoeri und Bertuccio Nenolo. Zwei
Tage nachher wurde der alte Marino Falieri von dem Rate der Zehen verurteilt
und auf der sogenannten Riesentreppe des Pallastes hingerichtet.340

Die Formulierung, der Anblick der Leichen sei ein Schauspiel gewe-
sen, fllt auf. Tatschlich wird der Begriff in der Erzhlung wiederholt
verwendet und markiert jeweils eine hervorgehobene Szene (das aller-
herrlichste Schauspiel,341 ein wunderlich Schauspiel,342 ein wunder-
lich seltsames Schauspiel343). Indem ihr Scheitern zum Schauspiel wird,
zeigt sich die unfreiwillige Komik des Handelns der Verschwrer und In-
triganten. Ihr Streben nach Macht war, mit den Worten Antonios, ein
wahnsinniges Streben, insofern es eigenen Einflsterungen und Sug-
gestionen folgte, welche von der Wirklichkeit schnell widerlegt wurden.
Da alle Figuren durch das Phantasma bestimmt werden, das ihnen
vor Augen steht, wird auch die Dogaresse nicht nur als Objekt der Phan-
tasmen beschrieben. Glaubt man dem Bericht der alten Amme Marga-
reta, so erinnert auch sie sich an die Begegnung mit Antonio in ihrer
Kindheit. Die Vermittlung, die sie zwischen Antonio und Annunziata
bernimmt, verluft also in beide Richtungen: Sie bewirkt nicht nur die
Erinnerung des jungen Mannes, sondern auch die der jungen Frau. So be-
richtet Margareta:

Nachdem ich den neuen Verband gemacht, blickte sie mich an mit vor Freude
leuchtenden Augen. Da sprach ich: Ei gndige Frau Dogaressa, Ihr habt ja auch
schon einmal einen Knaben gerettet, da Ihr die kleine Schlange ttetet, die ihn
stechen wollte zum Tode als er schlief. Tonino! da httest du sehen sollen
wie, als leuchte ein Strahl des Abendrots hinein, das blasse Antlitz sich schnell
frbte wie die Augen funkelndes Feuer blitzten. Ach ja, Alte, sprach sie,
ach ja ich war noch ein Kind auf meines Vaters Landhause. Ach es war

340 Ebd., S. 480 (Doge und Dogaresse).


341 Ebd., S. 438 (Doge und Dogaresse).
342 Ebd., S. 455 (Doge und Dogaresse).
343 Ebd., S. 461 (Doge und Dogaresse).

267
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ein holder lieber Knabe o wie gedenk ich noch seiner es ist mir, als sei seit
der Zeit mir gar nichts Glckliches mehr begegnet.344

Die Szene der Supposition verdoppelt sich: Sowohl Antonio als auch An-
nunziata versuchen, ihr Leben nach dem Muster eines Traums zu gestal-
ten. Gegen Ende der Erzhlung scheinen Traum und Wirklichkeit tat-
schlich bereinzukommen: Antonio strzte hin zu ihr; er bedeckte ihre
Hnde mit glhenden Kssen, er rief die Geliebte mit den sesten, zrt-
lichsten Namen. Da schlug sie die holden Himmelsaugen langsam auf,
sie sah Antonio [...], drckte ihn an ihre Brust benetzte ihn mit heien
Trnen kte seine Wangen seine Lippen.345 Die Bedingung der
Mglichkeit dieser wechselseitigen Anagnorisis liegt freilich darin, dass
beide Figuren durch dasselbe wahnsinnige Streben bestimmt werden.
Nichts anderes als ein gemeinsam geteiltes wahnsinniges Streben
ist es, das Antonio und Annunziata zu ihrem vermeintlichen Glck fin-
den lsst. Damit niemand diese vermeintliche Szene des Glcks fr das
letzte Wort der Erzhlung halten kann und auf die Idee kommen mag,
dass die durchgngige Ironie Hoffmanns hier durch die Realisierung ei-
ner bereinstimmung und Harmonie zwischen Traum und Realitt,
zwischen Bild und Wirklichkeit abgelst wrde, reit Hoffmann die
beiden Liebenden nur eine Seite spter in exakt den Abgrund, in den An-
tonio sich schon im Gesprch mit Margareta durch ein wahnsinniges
Streben hineingerissen gesehen hat. O mein Antonio! o meine An-
nunziata! So riefen sie des Sturms nicht achtend, der immer entsetz-
licher tobte und brauste. Da streckte das Meer [...] die schumenden
Wellen wie Riesenarme empor, erfate die Liebenden und ri sie samt
der Alten hinab in den bodenlosen Abgrund!346 Als Abgrund ist der
Wahnsinn die Ironie, welche eine Vereinbarkeit von Traum und Wirk-
lichkeit suggeriert und zugleich von der Unvereinbarkeit beider wei.
Was sich im allgemeinen Diskurs Hoffmanns als enthusiastisches bzw.
mesmeristisches Sprechen ber den Wahnsinn differenzieren lsst, wird
in seinen Erzhlungen durch eine ironische Erzhlstruktur zusammenge-
fhrt.

344 Ebd., S. 471 (Doge und Dogaresse).


345 Ebd., S. 481 (Doge und Dogaresse).
346 Ebd., S. 482 (Doge und Dogaresse).

268
IV. T H I S D R E A M I N G , T H I S S O M N A B U L I S M
(C A R L Y L E )

The higher the Wisdom, the closer was ist


neighbourhood and kindred with mere insanity;
literally so; and thou wilt, with a speechless
feeling, observe how highest Wisdom, struggling
up into this world, has oftentimes carried such
tinctures and adhesions of Insanity still cleaving
to it hither!
(Th. Carlyle: Past and Present)

I am going to write Nonsense. It is on


Clothes. Heaven be my comforter!
(Th. Carlyle: Two Note Books)

IV. 1 Humor und Wahnsinn (Jean Paul)

Humor und Satire Unendliche Tollheit

In 32 der Vorschule der sthetik (1804) kommt Jean Paul auf die Hu-
moristische Totalitt zu sprechen. Jean Paul setzt voraus, dass sowohl
Satire als auch Humor grundstzlich durch destruktive Energie be-
stimmt sind. Satire und Humor klagen an: Sie weisen auf Fehler, Irrtmer
und Verrcktheiten hin. Whrend der gemeine Satiriker jedoch ein
paar wahre Geschmacklosigkeiten und sonstige Verste aufgreifen und
an seinen Pranger befestigen mag, nimmt der Humorist [...] fast lieber
die einzelne Torheit in Schutz, den Schergen des Prangers aber samt al-
len Zuschauern in Haft, weil nicht die brgerliche Torheit, sondern die
menschliche, d.h. das Allgemeine sein Inneres bewegt.1 Darin liegt die
Totalitt des Humors: Er richtet sich auf das Allgemeine, nicht, wie
die Satire, auf das Besondere.

1 Jean Paul: Smtliche Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Abteilung I: Bd. 1-
6. Abteilung II: Bd. 1-4. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1996, Abt. I,
Bd. 5, S. 125 (Vorschule der sthetik).

269
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Der Unterschied zwischen Satire und Humor ist in diesem Sinn vor
allem eine Unterscheidung der eigenen Position. Die Satire geht von der
Position einer gesetzten Ordnung aus (das Wortfeld des Prangers, der
Haft lsst das juristische Gesetz anklingen) und zeigt Abweichungen
von dieser Ordnung auf. Der satirische Witz fungiert als eine Art Staats-
anwalt: Er entdeckt Verste gegen die Ordnung und zeigt eine Unord-
nung auf, wo Ordnung herrschen sollte. Der Humor hingegen verlsst
diese sichere Position: Indem er niemanden anprangert, sondern den
Schergen des Prangers samt allen Zuschauern in Haft nimmt, ist es die
Ordnung selbst, die er anklagt. Damit geschieht mehr als nur eine sym-
metrische Umkehrung der Anprangerung einer einzelnen Geschmacklo-
sigkeit durch den Satiriker, denn der Humor richtet sich nicht nur gegen
diejenigen, die andere wegen eines Verstoes gegen die Ordnung ankla-
gen, sondern gegen die Mglichkeit dieser Anklage berhaupt, gegen das
Prinzip der Ordnung.
Der Humor, als das umgekehrt Erhabene, schreibt Jean Paul, ver-
nichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit
der Idee.2 Indem Humor die Totalitt aller Endlichkeit, jeder Ord-
nung und jeden Sinns angreift und vernichtet, stellt es wie das Erha-
bene (in Jean Pauls Interpretation) eine Beziehung zwischen dem Unend-
lichen und dem Endlichen her. Das Erhabene stellt, auf der einen Seite,
als das angewandte Unendliche3 einen paradoxen Kontrast zwischen
der endlichen Natur eines Zeichens und der unendlichen Idee des Be-
zeichneten dar (hierin folgt Jean Paul recht nahe der Analytik des Erha-
benen in der Kritik der Urteilskraft)4 und versucht so, Unendlichkeit
darstellbar zu machen. Der Humor dagegen stellt, auf der anderen Seite,
den Gegensatz zwischen der endlichen Erscheinung und der unendlichen
Idee der Erscheinung dar und vernichtet das Endliche damit. Es geht
im Humor nicht um die Darstellung eines nicht darstellbaren Unendli-
chen im Endlichen, sondern um die berwindung des Endlichen durch
seine berbietende Kontrastierung mit einem Unendlichen.
Im Gegensatz zum Erhabenen, welches versucht, das Unendliche im
Endlichen sichtbar zu machen und deswegen auf ein Verschwinden des
Endlichen zielt, bietet der Humor Endliches und Unendliches zugleich
dar, um ihre Spannung hervortreten zu lassen. Jean Paul beschreibt die-
ses Zugleichsein disparater Elemente als einen raschen Wechsel, als eine

2 Ebd.
3 Ebd., S. 106.
4 Vgl. vor allem Immanuel Kant: Werke in sechs Bnden. Hrsg. von Will-
helm Weischedel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983,
Bd. 5, S. 365 (KdU 29, B 124).

270
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

sich beschleunigende Denkbewegung. Etwas der Keckheit des vernich-


tenden Humors hnliches, schreibt Jean Paul,

gleichsam einen Ausdruck der Welt-Verachtung kann man bei mancher Mu-
sik, z. B. der Haydnschen, vernehmen, welche ganze Tonreihen durch eine
fremde vernichtet und zwischen Pianissimo und Fortissimo, Presto und Andan-
te wechselnd strmt. Etwas zweites hnliches ist der Skeptizismus, welcher
[...] entsteht, wenn der Geist sein Auge ber die frchterliche Menge kriegeri-
scher Meinungen um sich her hinbewegt; gleichsam ein Seelen-Schwindel,
welcher unsere schnelle Bewegung pltzlich in die fremde der ganzen stehen-
den Welt umwandelt.5

Humor zwingt den menschlichen Verstand, sich zwischen zwei wider-


sprchlichen Standpunkten hin- und herzubewegen, um schlielich jeden
Standpunkt zu verlieren. Weit davon entfernt, eine mild lchelnde Be-
trachtung in ruhiger Distanz und weltberwindender Stimmung6 zu
sein, entfaltet er eine Dynamik, welche der ihm ausgesetzte Person jeden
sicheren Grund entzieht. Humor ist nicht die einfache und einmalige Um-
kehrung eines Standpunktes (wie es die gemeine Satire ist), sondern
der Zwang, noch jede Umkehrung umzukehren, bis sich ein Seelen-
Schwindel einstellt und es unentscheidbar werden lsst, ob die taumelnde
Bewegung des Fallenden eine eigene (unsere) oder fremde Bewegung
ist.
In diesem Sinn stellt Humor nicht zuletzt die Identitt des Humo-
risten in Frage. Insofern der Konflikt zwischen der unendlichen Idee und
der endlichen Realitt durch die Totalitt des Humors nicht nur eine
einzelne Geschmacklosigkeit oder einen einzelnen Versto, sondern
schlechthin alles Endliche vernichten muss, erreicht er noch das Prin-
zip, anhand dessen ein Versto als solcher erkannt werden kann und
also die Ttigkeit des Humoristen. Anders als der gemeine Satiriker
kann der Humorist seine eigene Person nicht vor der destruktiven Ener-
gie seines Werks schtzen, auch er selbst muss zum Ziel der Vernichtung
werden. Nicht zuletzt diese Bedrohung der eigenen Identitt ist es, die
den Humor zum Auslser eines Seelen-Schwindels werden lsst. Ent-
sprechend ist Humor fr Jean Paul nichts Vershnendes und Gemtli-
ches, sondern weitaus eher ein Akt der Gewalt, der das Selbst nicht nur
verstrt, sondern regelrecht zu vernichten droht:

5 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 132 (Vorschule
der sthetik).
6 Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Ge-
staltung. Tbingen: Niemeyer 1960 (Hermea. 6), S. 150.

271
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Wie berhaupt die Vernunft den Verstand (z. B. in der Idee einer unendlichen
Gottheit), wie ein Gott einen Endlichen, mit Licht betubt und niederschlgt
und gewaltttig versetzt: so tut es der Humor, der ungleich der Persiflage den
Verstand verlsset, um vor der Idee fromm niederzufallen. Daher erfreuet sich
der Humor oft geradezu an seinen Widersprchen und Unmglichkeiten, z.B. in
Tiecks Zerbino, worin die handelnden Personen sich zuletzt nur fr geschriebne
und fr Nonsense halten, und wo sie der Leser auf die Bhne und die Bhne
unter den Prebengel ziehen.7

Der Konflikt zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit zeigt sich hier als
derjenige zwischen Vernunft und Verstand: der Streit der Fakultten in
der Version Jean Pauls. Insofern der Humor ein Selbst dazu bringt, sich
fr eine fiktionale Figur und fr Nonsense zu halten und damit seine
eigene Identitt zu negieren, ist dieser Konflikt letztlich nichts anderes
als Wahnsinn. Von Anfang an, nicht erst als Seelen-Schwindel, ist Hu-
mor Verrcktheit. Jean Paul verweist auf diesen Zusammenhang fortlau-
fend. So schreibt er im Anschluss an seine einleitende Bestimmung des
Humors: Es gibt fr ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern
nur Torheit und eine tolle Welt.8 Wenn der Humor aber eine Totalitt
ist und sich folglich nicht nur auf die Person des Humoristen, sondern
auch noch auf sich selbst beziehen muss, dann konstatiert er nicht nur die
Tollheit der Welt, sondern auch die eigene Tollheit. Humor ist inso-
fern der Superlativ der Tollheit. Da lacht der Mensch, denn er sagt:
Unmglich! Es ist viel zu toll,9 heit es in 34 der Vorschule der
sthetik. Im folgenden Paragraphen ber die Humoristische Sinnlich-
keit spricht Jean Paul den Zusammenhang zwischen Humor und Wahn-
sinn explizit an.

Insofern als ein solcher Jngster Tag die sinnliche Welt zu einem zweiten
Chaos auseinanderwirft blo um gttlich Gericht zu halten , der Verstand
aber nur in einem ordentlich eingerichteten Weltgebude wohnen kann, indes
die Vernunft, wie Gott, nicht einmal im grten Tempel eingeschlossen ist :
insofern liee sich eine scheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnsinn
denken, welcher natrlich, wie der Philosoph knstlich, von Sinnen und von
Verstande kommt und doch wie dieser Vernunft behlt; der Humor ist, wie die
Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates.10

7 Ebd., S. 131.
8 Ebd., S. 125.
9 Ebd., S. 132.
10 Ebd., S. 139f.

272
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Humor ist fr Jean Paul Wahnsinn, aber dieser Wahnsinn ist etwas ande-
res als das einfache Gegenteil der Vernunft.11 Wenn er die sinnliche
Welt zu einem zweiten Chaos auseinanderwirft, ist Humor nicht ein-
fach eine Umkehrung der Ordnung, sondern die Destabilisierung der
Ordnung; er vollzieht nicht einfach einen Positionswechsel, sondern ei-
nen Schritt in die Positionslosigkeit. Humor wirft den Humoristen in je-
nen grenzenlosen, unendlichen Raum der Vernunft, in dem nur ein Gott
sich auskennen kann, um von dort aus ber die Grenzen und Verirrungen
des endlichen Raums Gericht halten zu knnen. Der Humorist kann aber
nicht die sichere und externe Position eines Gottes einnehmen, sondern
er muss die Endlichkeit in der Endlichkeit zerstren und kann allenfalls
ex negativo eine Vorstellung der Unendlichkeit erhalten. Daraus ergibt
sich eine unbequeme Position fr den Humoristen. Insofern Humor nie-
mals an einem Ort stillstehen kann auch und gerade nicht an dem extra-
mundanden Ort der grenzenlosen Vernunft , sondern sich jederzeit
durch eine frchterliche Menge kriegerischer Meinungen um sich her
bewegen muss, bis er zu einem Seelen-Schwindel fhrt, ist die Einsicht
in die Grenzen des Endlichen trotz der Assoziierung des Humoristen mit
der gttlichen Vernunft vor allem eine Einsicht in die Grenzen des eige-
nen Ich.
Da im Humor das Ich parodisch heraustritt,12 schreibt Jean Paul:
Es tritt hervor und teilt sich in den endlichen und unendlichen Faktor13
seiner selbst, um seine eigene Endlichkeit und Limitation zu sehen. Man
wird allerdings nicht bersehen knnen, dass auch das Heraustreten des
Ich aus sich selbst es dem Selbst nicht erlaubt, einen ruhigen, gar un-
endlichen Standpunkt einzunehmen, von dem aus es seine endliche Sei-
te betrachten knnte.14 Fr einen Augenblick in die Hhe der unendli-
chen Vernunft gehoben, muss der Humorist, wie jene Person aus
Tiecks Zerbino vor allem erkennen, dass sein Ich nichts mehr als das Er-

11 Vgl. auch Gerd Held: Menstruum universalis oder das flchtige Salz des
Komischen. Zur Auflsung der Form bei Jean Paul. In: Das Paradoxe. Lite-
ratur zwischen Logik und Rhetorik. Festschrift fr Ralph-Rainer Wuthe-
now zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Carolina Romahn und Gerold Schip-
per-Hnicke. Wrzburg: Knigshausen & Neumann 1999, S. 35-47, hier:
S. 43.
12 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 135 (Vorschule
der sthetik).
13 Ebd., S. 132.
14 Vgl. Gtz Mller: Jean Pauls sthetik und Naturphilosophie. Tbingen:
Niemeyer 1983, S. 233.

273
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

gebnis einer sprachlichen Fiktion und insofern Nonsense ist.15 Hieraus


erklrt sich, warum der Humorist, im Gegensatz zum gemeinen Satiri-
ker, jederzeit von seiner eigenen Destruktion betroffen ist: Der von ihm
diagnostizierte Wahnsinn ist immer (auch) sein eigener Wahnsinn. Fer-
ner, fhrt Jean Paul aus,

erklrt durch die Totalitt sich die humoristische Milde und Duldung gegen
einzelne Torheiten, weil diese alsdann in der Masse weniger bedeuten und be-
schdigen, und weil der Humorist seine eigne Verwandtschaft mit der Mensch-
heit sich nicht leugnen kann; indes der gemeine Sptter, der nur einzelne ihm
fremde abderitische Streiche des gemeinen und gelehrten Wesens wahrnimmt
und aufzhlt, im engen selbstschtigen Bewutsein seiner Verschiedenheit als
Hippozentaur durch Onozentauren zu reiten glaubend desto wilder von sei-
nem Pferde herab die Kapuzinerpredigt gegen die Torheit hlt, als Frh- und
Vesperprediger in hiesiger Irrenanstalt der Erde.16

Schliet der gemeine Sptter sich selbst vom Irrsinn aus und fordert eine
Irrenanstalt fr die Abderiten um sich, erkennt der Humorist die ganze
Erde als eine einzige Irrenanstalt, in der auch er ein Insasse bleiben muss.
In dieser Totalisierung des Wahnsinns schliet Jean Paul an Kants Aus-
fhrungen ber die Verrcktheit im Versuch ber die Krankheiten des
Kopfes an.17 Ferner knpft Jean Pauls Konzept des Humors, wie schon
das Wort des parodischen Heraustretens des Ich im Humor und der
Bezug auf Tieck zeigt, an Schlegels Beschreibung der Ironie als perma-
nenter Parekbase18 an. Auch Kants Schreibweise im Versuch ber die
Krankheiten des Kopfes weist notwendigerweise bedingt durch die Ein-
sicht in den Zusammenhang von Sprache und Wahnsinn eine ironi-
sche oder humoristische Selbstbezglichkeit auf, aber erst Schlegel
verbindet diese Schreibpraxis mit dem literarischen, aus der antiken Ko-
mdie berlieferten Modell der Parekbase. Im gleichen Mae, wie Ironie
fr Schlegel grundstzlich Wahnsinn ist,19 verlsset Jean Pauls Humor

15 Vgl. zur sprachlichen Verfatheit des Ich in Schlegels Theorie der Ironie
auch Kap. III. 1.
16 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 128 (Vorschule
der sthetik).
17 Vgl. zur Absolutierung des Wahnsinns bei Kant vor allem Kap. II. 4.
18 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst
Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. [Bis-
her:] Bd. 1-14, Bd. 16-23. Paderborn u.a.: Schningh, Zrich: Thomas
1958-1995, Bd. 18, S. 85 (Zur Philosophie, Nr. 668).
19 Vgl. Kap. III. 1.

274
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

jederzeit den Verstand.20 Es muss somit als ein arges Missverstndnis


bewertet werden, wenn in Jean Pauls Beschreibung des Humors eine Re-
vision oder gar Kritik der Schlegelschen berlegungen zur Ironie gese-
hen wird.21
Der Bezug zur Schlegelschen Ironie wird besonders an der Stelle
deutlich, an der Jean Paul ausdrcklich betont, dass die destruktive Ener-
gie des Humors sich nicht zuletzt gegen die eigene Sprache des Humori-
sten richtet. In nur einem Satz entwirft Jean Paul eine Poetik des unge-
schriebenen Buches, die nicht nur Freude an schlechten Bchern zu
erwecken vermag, sondern auch die semiotische Struktur des Humors er-
lutert.

Vive la Bagatelle, ruft erhaben der halb-wahnsinnige Swift, der zuletzt


schlechte Sachen am liebsten las und machte, weil ihm in diesem Hohlspiegel
die nrrische Endlichkeit als die Feindin der Idee am meisten zerrissen erschien
und er im schlechten Buche, das er las, ja schrieb, dasjenige geno, welches er
sich dachte.22

Die beste Literatur, so muss man folgern, ist schlechte Literatur. Gleich
dem verzerrten Bild eines Hohlspiegels gibt sich das schlechte Buch als
eine Entstellung des von ihr Dargestellten (der Idee) zu erkennen. Wie
ein Hohlspiegel stellt die schlechte Literatur die Endlichkeit verzerrt
dar, aber insofern diese Endlichkeit selbst nrrisch und also verkehrt,
verdreht und verzerrt ist, vernichtet sich die Feindin der Idee zur
Freude des halb-wahnsinnigen Swift. Die Verzerrung des Endlichen in
der endlichen Darstellung macht indirekt die Unendlichkeit der Idee
darstellbar, denn die Zerrissenheit der nrrischen Endlichkeit er-
laubt es dem Leser, vom Dargestellten berhaupt abzusehen und dasjeni-
ge zu genieen, was er sich denkt. Humor erlaubt so eine Beziehung
zur Unendlichkeit (der Idee), indem sich in ihm die endlichen Zeichen in
einen zerreienden und vernichtenden Widerspruch zueinander begeben
und sich so wechselseitig negieren. Aus der Vernichtung der endlichen
Zeichen des endlichen Verstandes durch sich selbst ergibt sich indirekt
ein Genuss fr die unendliche Vernunft. Es geht hier folglich nicht allein
darum, dass in dem freien Entschlu, das Mangelhafte zu tun, [...] eine
Erhebung ber den Mangel lge, weil es in dem Autor das Bewut-

20 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 131 (Vorschule
der sthetik).
21 Vgl. Katrin Seebacher: Poetische Selbst-Verdammnis. Romantikkritik der
Romantik. Freiburg i.Br.: Rombach 2000 (Cultura. 13), S. 83f.
22 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 125 (Vorschule
der sthetik).

275
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

sein erwecke, es stehe ihm frei, noch schlechtere zu verfertigen und


sich zugleich vollendete zu denken.23 Weitaus eher geht es um die Ver-
nichtung der endlichen Zeichen und ihre genussreiche Ersetzung durch
ein unendliches Signifikat in einem Verstand, der sich in diesem Akt
selbst vernichtet und berschreitet zur Wahrnehmung dessen, was a prio-
ri jenseits jeglichen Verstandes liegt. Es kann nicht verwundern, dass der
sich solcherart selbst negierende und berschreitende Verstand Swifts
halbwahnsinnig genannt werden muss.

I V . 2 D i e d r e i B c he r i n S a r t o r Re s ar tu s

Die Allerley-Wissenschaft

Ein schlechtes Buch zu schreiben, um sich ein ungeschriebenes Buch


denken zu knnen; ein Buch schreiben mit einem anderen Buch vor Au-
gen, das man im eigenen Schreiben dennoch unweigerlich verfehlen wird
diese Schreibweise des halbwahnsinnigen Swift bestimmt nicht nur
die Form von Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein, sondern auch die
von Carlyles Sartor Resartus. Dass die intensive Beschftigung Carlyles
mit Jean Pauls Texten er bersetzte unter anderem Schmelzles Reise
nach Fltz und das Leben des Quintus Fixlein ins Englische seine Spu-
ren in Sartor Resartus hinterlassen hat, ist bereits ausfhrlich beschrie-
ben worden. Diese Spuren reichen von der Ebene der Handlung bis hin
zur Verwendung einzelner Motive oder stilistischer Merkmale (Neologis-
men, Metaphern).24 Insbesondere aber die Multiplikation der Bcher im
Buch Sartor Resartus schliet an die Vorgaben der Jean Paulschen Theo-
rie des Humors an.
Carlyles Roman ist ber weite Strecken ein Kommentar, eine ber-
setzung, eine Paraphrase eines anderen ungeschriebenen, fiktionalen
Buches. Es ist ein Buch, das geschrieben wurde im Gedanken an ein an-
deres Buch. Die Handlung des Romans wird dadurch bestimmt, dass

23 Mller: Jean Pauls sthetik und Naturphilosophie (wie Anm. 14), S. 231f.
24 Vgl. Ren Wellek: Carlyle und die deutsche Romantik [1929]. In: ders.:
Konfrontationen. Vergleichende Studien zur Romantik. bers. von Rolf
Dornbacher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964 (edition suhrkamp. 82),
S. 42-90, hier: S. 65-84; J. W. Smeed: Thomas Carlyle and Jean Paul Rich-
ter. In: Comparative Literature 16 (1964), S. 226-253; Peter Allan Dale:
Sartor Resartus and the Inverse Sublime: The Art of Humorous Decon-
struction. In: Allegory, Myth, and Symbol. Hrsg. von Morton W. Bloom-
field. Cambridge, London: Harvard University Press 1981 (Harvard En-
glish Studies. 9), S. 293-312.

276
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

ein nicht mit einem Namen bezeichneter englischer Editor sich vor die
Aufgabe gestellt sieht, a new Book from Professor Teufelsdrckh of
Weissnichtwo25 ber die Philosophie der Kleidung (Die Kleider ihr
Werden und Wirken) nicht nur zu besprechen, sondern es auch zu ber-
setzen, zusammenzufassen, zu kritisieren, zu erklren und zu kommentie-
ren. ber den Autor dieses Werks erfhrt der Leser im dritten Kapitel des
ersten Buchs genaueres. Professor Diogenes Teufelsdrckh ist, by title
and diploma, Professor der Allerley-Wissenschaft, or as we should say in
English, Professor of Things in General.26 Was aber ist das Fachgebiet
eines Professors, der fr Dinge berhaupt, fr die Allerley-Wissen-
schaft und also fr schlechthin Alles zustndig zu sein behauptet? Ist ei-
ne Wissenschaft von Allem nicht per se die Parodie einer Wissenschaft?
Der hybride Anspruch, ber schlechthin Alles, ber die Gesamtheit aller
Dinge, Wissen besitzen zu wollen, scheint notwendigerweise zu komi-
scher Selbstberschtzung und zu delirierender Beliebigkeit und absolu-
ter Zerstreuung jedes Wissens zu fhren. Der Anspruch des deutschen
Professors, fr die Dinge berhaupt zustndig zu sein, erinnert in die-
sem Sinn an die vielzitierte uerung Carlyles, er wolle a kind of Sati-
rical Extravaganza on Things in General verfassen; it contains more
of my opinions on Art, Politics, Religion, Heaven, Earth and Air, than all
the things I have yet written.27 Der Professor der Allerley-Wissen-
schaft erscheint aus dieser Perspektive zunchst wie eine irrsinnige
Witzfigur, nicht mehr als ein Anlass fr eine endlose Reihung satirischer
Bemerkungen. The Science of Things in General Method or Mad-
ness?,28 lautet von Anfang an die Frage.
Demgegenber darf nicht bersehen werden, dass Allerley-Wissen-
schaft eine nicht unzutreffende Beschreibung fr das Programm einer
universellen Transzendentalphilosophie ist, wie es zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in Deutschland formuliert wird. Nachdem Kant die Philoso-
phie nicht mehr ber die Zustndigkeit fr ein Gebiet des Wissens (etwa:
Moralphilosophie oder sthetik), sondern allein durch das Wissen ber

25 Thomas Carlyle: Sartor Resartus [1833-1834]. Hrsg. von Kerry McSwee-


ney und Peter Sabor. Oxford, New York: Oxford University Press 1999, S.
6.
26 Ebd., S. 14.
27 Brief an Dr. Carlyle, 27. Mai 1833. Vgl. Smeed: Carlyle and Jean Paul
(wie Anm. 24), S. 231.
28 Vgl. Winnifred Janssen: The Science of Things in General Method or
Madness? In: Dutch Quarterly. Review of Anglo-American Letters 7
(1977), S. 23-44. Trotzdem der Artikel die Thematik des Wahnsinns im Ti-
tel fhrt, geht er leider auf sie nicht nher ein.

277
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

die Grenzen des eigenen Wissens bestimmt,29 ndert sich auch die Rolle
der Philosophie in der Architektur der Universitt. In seinem Deducirten
Plan einer zu Berlin zu errichtenden hheren Lehranstalt (1807) weist
Fichte der Philosophie keine geringere Aufgabe zu als die, schlechthin
alle geistigen Ttigkeiten mit dem kritischen Auge der Vernunft zu pr-
fen und zu verstehen, d.h. in die Gesamtheit eines Systems zu bringen.
So schreibt Fichte:

Nun ist dasjenige, was die gesammte geistige Thtigkeit, mithin auch alle be-
sonderen und weiter bestimmten Aeusserungen derselben wissenschaftlich er-
fasst, die Philosophie: von philosophischer Kunstbildung msste sonach den
besonderen Wissenschaften ihre Kunst gegeben, und das, was ihnen bisher
blosse, vom guten Glck abhngende Naturgabe war, zu besonnenem Knnen
und Treiben erhoben werden; der Geist der Philosophie wre derjenige, wel-
cher zuerst sich selbst, und sodann in sich selber alle anderen Geister verstn-
de [...].30

Nicht nur sich selbst, sondern in sich selber alle anderen Geister zu
verstehen: Darin liegt fr Fichte die unermessliche Aufgabe der Philoso-
phie, die ein buchstblich ungeheures philosophisches Selbstbewusst-
sein erfordert. Wo Kant die Philosophie noch vor allem ber das Wissen
der (eigenen) Grenzen bestimmen wollte, wird die Disziplin bei Fichte
schlechthin grenzenlos. Damit kein Zweifel an der Zustndigkeit der Phi-
losophie fr buchstblich Alles bleiben kann, setzt Fichte noch ausdrck-
lich hinzu: wenn nur wirklich der philosophische Geist und die Kunst
des Philosophirens entwickelt ist, so wird ganz von selbst diese sich ber
die gesammte Sphre des Philosophirens ausbreiten, und diese in Besitz
nehmen.31 Und im folgenden Paragraphen 19 heit es, nun mit aller
Deutlichkeit: Mit diesem also entwickelten philosophischen Geiste, als
der reinen Form des Wissens, msste nun der gesammte wissenschaftli-
che Stoff in seiner organischen Einheit auf der hheren Lehranstalt auf-
gefasst und durchdrungen werden, also dass man genau wsste, was zu
ihm gehre oder nicht, und so die strenge Grenze zwischen Wissenschaft
und Nichtwissenschaft gezogen wrde.32 Fichtes Plan fr die zu grn-

29 Vgl. Cathy Caruth: Empirical Truths and Critical Fictions. Locke, Words-
worth, Kant, Freud. Baltimore, London: The Johns Hopkins University
Press 1991, S. 61.
30 Johann Gottlieb Fichte: Smmtliche Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann
Fichte. Bd. 1-11. Berlin: de Gruyter 1971, Bd. 8, S. 122 (Deducirter Plan,
16; Hervorhebung von mir, O. K.).
31 Ebd., S. 124 (Deducirter Plan, 18; Hervorhebung von mir, O. K.).
32 Ebd., S. 125 (Deducirter Plan, 19).

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IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

dende Berliner Universitt kulminiert in einem gigantomanischen,


schlechthin eine vllige Totalitt alles Wissens und Wissbaren umfassen-
den Programm des Auffassens, Verstehens und Durchdringens.33 Nach-
dem Kants Philosophie als alleszermalmend missverstanden wurde,
wird sie bei Fichte allesschluckend und allesverdauend.
Der Anspruch, eine Wissenschaft von Allem zu vertreten, kann aller-
dings nur eingelst werden, wenn es ein transzendentales Prinzip gibt,
dem es gelingt, die auseinanderstrebenden Partikel der Empirie und des
Wissens in einem Prinzip zu vereinen. In der Kritik der reinen Vernunft
weist Kant der Vernunft die Rolle zu, das Systematische der Erkennt-
nis zu ermitteln, d.i. den Zusammenhang derselben aus einem Prin-
zip.34 Kant hebt jedoch hervor, dass die Idee der systematischen Ein-
heit [...] nur dazu dienen [sollte], um als regulatives Prinzip sie in der
Verbindung der Dinge nach allgemeinen Naturgesetzen zu suchen.35
Als ein reines regulatives Prinzip ist die Idee der systematischen Einheit
allen Wissens nicht mehr als eine (hilfreiche) Fiktion, die keineswegs zur
legitimierenden Basis einer Wissenschaft oder gar Universittsarchitek-
tur taugt. Denn dieser Idee Wirklichkeit zu unterstellen, hiee, so Kant,
den Begriff einer solchen hchsten Intelligenz, weil er an sich gnzlich
unerforschlich ist, anthropomorphistisch36 zu bestimmen.
Von der systematisierenden Kraft der Vernunft ist freilich in Sartor
Resartus keine Rede. Um so ntiger erscheint hier eine Kraft oder ein
Mittel, um die auseinanderstrebenden Einzelheiten und Vielheiten zu-
sammenzubringen und ihnen eine Einheit aufzuprgen. Der Herausgeber
beginnt seine Ausfhrungen mit einem berblick ber die Fortschritte
der Wissenschaft, der bereits den ironischen Grundton des gesamten Bu-
ches anklingen lsst.

Our Theory of Gravitation is as good as perfect: Lagrange, it is well known,


has proved that the Planetary System, on this scheme, will endure for ever; La-
place, still more cunningly, even guesses that it could not have been made on
any other scheme. Whereby, at least, our nautical Logbooks can be better kept;

33 Einige Widersprche und Paradoxien des Fichteschen Universittsentwurfs


habe ich an anderer Stelle herauszuarbeiten versucht. Vgl. Verf.: Universi-
tt als Zeitvertreib? J. G. Fichtes Deducirter Plan einer zu Berlin zu er-
richtenden hheren Lehranstalt. In: Zum Zeitvertreib. Strategien Insti-
tutionen Lektren Bilder. Hrsg. von Alexander Karschnia, Oliver
Kohns, Stefanie Kreuzer und Christian Spies. Bielefeld: Aisthesis 2005, S.
119-129.
34 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 566 (KrV B 673).
35 Ebd., S. 598 (KrV B 720).
36 Ebd.

279
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

and water-transport of all kinds has grown more commodious. Of Geology and
Geognosy we know enough: what with the labours of our Werners and Huttons,
what with the ardent genius of their disciples, it has come about that now, to
many a Royal Society, the Creation of a World is little more mysterious than
the Cooking of a Dumpling; concerning which last, indeed, there have been
minds to whom the question, How the apples were got in, presented difficul-
ties.37

Geradezu im klassischen Verstndnis der Ironie nach Quintilian tadelt


Carlyles Herausgeber, indem er lobt. Das Wissen der Menschen ber die
Gravitation ist perfekt, so umfassend, dass Wissenschaftler so gewitzt
sein knnen, sicher zu sein, dass das Planetensystem nur nach dieser
Theorie entstanden sein kann. In ihrer berheblichkeit scheint den Mit-
gliedern der Kniglichen Akademien die Entstehung der Welt kaum rt-
selhafter zu sein als die Zubereitung eines Apfels im Schlafrock; indem
aber einige Akademiker sich ratlos fragen, wie der Apfel hineingekom-
men sein mag, zeigt sich allzu deutlich die Grenze ihres Knnens. Der
berblick ber den Stand des menschlichen Wissens, den Carlyles He-
rausgeber wortreich gibt, vermittelt daher vor allem einen Eindruck: das
Wissen ist ein eigentliches Unwissen, das ein beliebiges und geschwtzi-
ges Sprechen hervorbringt.
Was der Herausgeber im ersten Kapitel parodistisch und ironisch
gegen die zeitgenssische Philosophie und Wissenschaft vorbringt, wird
im achten Kapitel (The World out of Clothes), in einem Zitat aus
dem Buch Teufelsdrckhs, in direkter Form geuert.

Pity that all Metaphysics had hitherto proved so inexpressibly unproductive!


The secret of Mans Being is still like the Sphinxs secret: a riddle that he can-
not rede; and for ignorance of which he suffers death, the worst death, a spiri-
tual. What are your Axioms, and Categories, and Systems, and Aphorisms?
Words, words. High Air-castles are cunningly build of Words, the Words well
bedded also in good Logic-mortar; wherein, however, no knowledge will come
to lodge.38

Fundamentaler knnte eine Anklage gegen das moderne Wissen nicht


sein. Solange der Mensch das Geheimnis seines eigenen Daseins nicht
lsen kann, solange er also sich selbst und seine Beziehung zur Welt
nicht verstanden hat, bleibt sein gesamtes Wissen ein Luftschloss, errich-
tet aus bloen Wrtern, die nur den Anschein von Wissen vermitteln,
aber kein tatschliches Wissen sind.

37 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 3.


38 Ebd., S. 43.

280
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Im schlechtesten Fall wre Metaphysik und Wissenschaft damit als


Tuschung entlarvt (dies entsprche Platons Kritik an den Sophisten). Im
gnstigsten Fall wre sie ein delirierender Irrsinn, ein Fall jener ge-
schwtzigen Unsinnigkeit, als welche Kant das Unvermgen be-
zeichnet, seine Vorstellungen auch nur in den zur Mglichkeit der Er-
fahrung ntigen Zusammenhang zu bringen.39 Wer Wrter aneinander
reiht, ohne zu bemerken, dass sie keinen Bezug zu ihrem Gegenstand ha-
ben, wer glaubt, das Universum verstanden zu haben, aber noch nicht
einmal ein Gebck verstehen kann, ist schlechthin verrckt. Die Sentenz
Words, words als Antwort auf die selbstgestellte Frage nach dem Sta-
tus der vorhandenen Axiome, Kategorien, Systeme und Aphorismen
ist nicht zufllig ein Zitat der Antwort Hamlets auf die Frage Polonius
nach seiner Lektre: What do you read, my lord? / Hamlet: Words,
words, words.40 Wem Wrter nur noch zusammenhanglos erscheinen,
ohne jede Mglichkeit, sie noch auf einen Referenten oder Sinn zu bezie-
hen, der ist einer vollstndigen Verrcktheit verfallen.
Die Passage ist allerdings auch umgekehrt lesbar mit dem Ergeb-
nis, dass es die Verrcktheit des deutschen Professors ist, die ihn dazu
verleitet, nur Worte erkennen zu knnen, wo andere Zusammenhang
und Sinn vorfinden. Es stellt sich die Frage, wer hier verrckt ist: die
Metaphysik, die nur Wrter hervorbringt und das mit Wissen verwech-
selt, oder aber der Professor Teufelsdrckh, der unfhig, Wrter mit einer
Bedeutung zu versehen? Wenn man Teufelsdrckhs Angriff auf die zeit-
genssische Metaphysik auf sich selbst anwendet, zeigt sich, dass auch
seine eigene Sprache weitaus eher cunningly auf die Macht der Worte
setzt als auf die einer nicht-sprachlichen, sachlichen Logik. Der letzte
Satz der zitierten Passage verdankt seine Evidenz vor allem der Asso-
nanz zwischen logic, knowledge und lodge. Das eigene Sprechen
Teufelsdrckhs folgt eher dem sprachlichen Schein von Logik und baut
seinerseits ein gewitztes Luftschloss aus Wrtern.
Diese Umkehrung und Anwendung der Teufelsdrckhschen Ankla-
gen auf seine eigene Reden wird von der Lektre des Buchs Die Kleider
ihr Werden und Wirken durch den englischen Editor untersttzt. Mehr
als einmal zweifelt der Herausgeber an der Zurechnungsfhigkeit des
Professors, und immer wieder reflektiert er ber die Mglichkeit von
dessen Wahnsinn. Dabei ist es vor allem das Exaltierte, Ungewhnliche,

39 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 4), Bd. 6, S. 530 (Anthropologie
49, BA 144).
40 William Shakespeare: Gesamtwerk. Englisch und Deutsch. bersetzung
von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. Hrsg. von L. L. Sch-
cking. Bd. 1-6. Augsburg: Weltbild Verlag 1996, Bd. 4, S. 109 (Hamlet II,
2).

281
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Bizarre, Unfrmige und Unverstndliche an der Sprache des Deutschen,


die den Englnder daran zweifeln lsst, ob das ihm vorliegende Buch
genial ist oder schlichtweg eine unsinnige Folge von Wrtern darstellt.
Up to this hour, heit es, we have never fully satisfied ourselves whe-
ther it is a tone and hum of real Humour, which we reckon among the
very highest qualities of genius, or some remote echo of mere Insanity
and Inanity, which doubtless ranks below the very lowest.41
Nicht wenige Kommentare haben in diesem Sinn die Beziehung
zwischen dem englischen Editor und dem deutschen Metaphysiker in
den Dualismus von Gesundheit und Irrsinn bersetzt und den Kon-
trast between the visionary, exhortative, yet curiously jokey German
professor and the seemingly common-sensial and conservative but
equally saturnine English Editor42 als das Zentrum der Handlung und
Ausgangspunkt der satirischen und ironischen Energie des Textes be-
stimmt.
Die Zuschreibung des Attributs verrckt erscheint in Sartor Resar-
tus demnach jederzeit umkehrbar. Der Leser kann den Standpunkt Teu-
felsdrckhs einnehmen und die englische Metaphysik und Wissenschaft
fr delirierend halten; er kann jedoch jederzeit auch den zahlreichen An-
deutungen des Herausgebers folgen, die Argumentation des Professors
gegen sich selbst wenden und den Roman als eine satirische Darstellung
der Verrcktheit deutscher Philosophie halten.
Es geht in Sartor Resartus folglich um nicht weniger als um die
Mglichkeit von sprachlicher Bedeutung und Sinn berhaupt und die
durch Bedeutung ermglichte Relation von Sprache zur Welt. Die sati-
rische und ironische Sprache des Textes darf nicht zu dem Urteil verlei-
ten, Carlyles Buch verfolge nicht ein zutiefst ernsthaftes Anliegen. Hierin
schliet Carlyle przise an Jean Pauls Ausfhrungen ber das Wesen des
Humors an: Die wechselseitige Vernichtung der endlichen Zeichen fhrt
zur Evokation eines unendlichen, bersinnlichen Signifikats.
In diesem Sinn stellt Carlyles Roman die Frage, welche Sprache et-
was anderes als words, words sein und sich dem Geheimnis des
menschlichen Daseins annhern kann. Wie es auch in einem Text, ei-
nem Roman anders nicht sein knnte, verfolgt Carlyle die Frage nach der

41 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 24f.


42 Morton Gurewitch: The Comedy of Romantic Irony. Lanham, New York,
Oxford: University Press of America 2002, S. 50. Vgl. Janice L. Haney:
Shadow-Hunting: Romantic Irony, Sartor Resartus, and Victorian Ro-
manticism. In: Studies in Romanticism 17 (1978), S. 307-333, hier: S. 318-
327; Manfred Matheis: Signaturen des Verschwindens. Das Bild des Philo-
sophen in der Literatur und Philosophie um 1800. Wrzburg: Knigshau-
sen & Neumann 1997, S. 56.

282
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Mglichkeit von Bedeutung nur auf der Ebene der Wrter, indem er ver-
schiedene Modelle des Bedeutens vorfhrt und reflektiert. Wie im Fall
des halbwahnsinnigen Swift, der ein Buch liest und sich dabei ein an-
deres denkt, ergibt sich diese Thematisierung der Mglichkeit des Be-
deutens auch in Carlyles Roman durch eine Multiplikation der Bcher im
Buch.

Das Buch des Editors und das Teufelsdrckhs

Das trifft insbesondere fr die Einfhrung des englischen Editors zu.


Dieser sieht sich vor die Aufgabe gestellt, das umfangreiche und sperrige
Werk Die Kleider ihr Werden und Wirken des deutschen Professors Dio-
genes Teufelsdrckh sowie einige Dokumente ber das Leben des Pro-
fessors, fr das englische Publikum (in Teilen) zu bersetzen, zusam-
menzufassen, verstndlich zu machen und zu kommentieren. Im Vorwort
zu El jardn de senderos que se bifurcan erwhnt Borges dieses Verfah-
ren als eine Anregung fr sein eigenes Schreiben. Ein mhseliger und
strapazierender Unsinn ist es, dicke Bcher zu verfassen, schreibt Bor-
ges;

auf fnfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen aus-


reichende, mndliche Darlegung weniger Minuten beansprucht. Ein besseres
Verfahren ist es, so zu tun, als gbe es diese Bcher bereits, und ein Rsum,
einen Kommentar vorzulegen. So machte es Carlyle in Sartor Resartus, so But-
ler in The Fair Heaven: Werke, behaftet mit der Unvollkommenheit, da sie
eben auch Bcher sind, nicht minder tautologisch als die anderen.43

Kann das Verhltnis der ersten beiden Bcher in Sartor Resartus, dasje-
nige zwischen dem Buch Sartor Resartus des fiktiven Herausgebers und
Teufelsdrckhs Buch Die Kleider ihr Werden und Wirken, tatschlich in
erster Linie als Rsum oder Kommentar verstanden werden? Neben den

43 Jorge Luis Borges: Vorwort. In: ders.: Fiktionen. Erzhlungen 1939-1944.


bers. von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs.
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1992, S. 13. Borges weist
in einer weiteren Anmerkung zu Sartor Resartus zudem auf eine bereits
vor Jean Paul bestehende literarische Tradition hin, den eigenen Text als
die bersetzung eines durch einen anderen Autor geschriebenen Text aus-
zuweisen: Schon Cervantes gibt den Don Quijote als die bertragung einer
arabischen Handschrift aus. Vgl. Jorge Luis Borges: Thomas Carlyle, Sar-
tor Resartus. In: ders.: Persnliche Bibliothek. bers. von Gisbert Haefs.
Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 44-45, hier: S. 44.

283
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Passagen, die tatschlich vorgeben, Auszge des Werks des deutschen


Metaphysikers zu referieren oder zu bersetzen, stehen nicht wenige Ab-
schnitte, in denen viel eher die Mglichkeit einer bersetzung, eines
Verstehens berhaupt thematisiert wird. Der Herausgeber verfehlt in sei-
nem Schreiben notwendig dasjenige, was der deutsche Professor in sei-
nem Buch geschrieben hat, und in seiner Reflexion ber dieses Verfehlen
in seiner Reflexion ber das Verfehlen der Reflexion gleicht das
Schreiben des Herausgebers demjenigen des halbwahnsinnigen Swift,
der schlechte Bcher schreibt und liest, um sich ideale (der Idee entspre-
chende) Bcher denken zu knnen. Sartor Resartus ist, kurz gesagt,
ein Buch ber ungeschriebene und ungelesene, ber unschreibbare und
unlesbare Bcher.
Vor allem in der Beziehung zwischen dem fiktiven Editor und dem
deutschen Philosophen Teufelsdrckh, die durch das gesamte Buch hin-
durch spannungsreich bleibt, zeigt sich, dass das Verhltnis zwischen
dem geschriebenen Buch, our Sartor Resartus,44 und dem Buch Teu-
felsdrckhs keineswegs als einfaches Rsum oder als einfacher Kom-
mentar zu verstehen ist. Der Herausgeber, der sich selbst zu Beginn als
a young enthusiastic Englishman, however unworthy45 einfhrt, fllt in
seiner Rezeption des deutschen Buches umgehend von einem Extrem in
das nchste. Der Herausgeber antwortet auf die begeisternde Sprache
Teufelsdrckh mit einer angesteckten, gleichfalls rckhaltlos begeisterten
Sprache (consummate vigour, a true inspiration: his burning Thoughts
step forth in fit burning Words, like so many full-formed Minervas, is-
suing amid flame and splendour from Joves Head; a rich, idiomatic dic-
tion, picturesque allusions, fiery poetic emphasis46).
In die Sprache einer kritischen Rezension verfallend, notiert der He-
rausgeber zugleich aber auch unkonzentrierte Passagen (the merest
commonplaces47) und sieht sich letztendlich immer wieder vor die
Frage gestellt, ob er es in dem Buch und in den Papieren des Professors
berhaupt mit sinnvoller Sprache zu tun hat. Die Sonne des Genies
vermischt sich in der Beobachtung des Herausgebers mit dem Nebel
der Unklarheit und der Unsinnigkeit:

It were a piece of vain flattery to pretend that this Work on Clothes entirely
contents us; that it is not, like all works of Genius, like the very Sun, which,
though the highest published Creation, or work of Genius, has nevertheless

44 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 10.


45 Ebd., S. 16.
46 Ebd., S. 24.
47 Ebd.

284
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

black spots and troubled nebulosities amd its effulgence, a mixture of insight,
inspiration, with dulness, double-vision, and even utter blindness.48

Der Verdacht, in den Texten des deutschen Metaphysikers nicht nur die
Sonne des Genies, sondern auch blanken Unsinn und Wahnsinn vorzu-
finden und also berhaupt keinen sinnvollen Text vor Augen zu haben,
sondern words, words, words , verlsst den Herausgeber im Laufe sei-
ner Arbeit nicht. Bedrohlich ist dieser Verdacht deswegen, weil sich
nicht nur die Begeisterung oder das Genie des Professors als konta-
gis erweist, sondern ebenso auch seine Verwirrung und seine Verrckt-
heit. Durch die Beschftigung mit der Sprache des deutschen Philoso-
phen in Unordnung gebracht, verliert auch die Sprache des englischen
Editors jeden Sinn und Zusammenhalt und droht, seine Leser in Eng-
land gleichfalls anzustecken:

Or, to speak without metaphor, with which mode of utterance Teufelsdrckh


unhappily has somewhat infected us, can it be hidden from the Editor that
many a British Reader sits reading quite bewildered in head, and afflicted rather
than instructed by the present Work?49

Sowohl in seiner genialen Einsicht und Begeisterung (insight, inspi-


ration) als auch in seiner Verrcktheit und Zusammenhangslosigkeit be-
steht die Macht des zu bearbeitenden Textes vor allem darin, den eigenen
Text zu infizieren, wie es der Herausgeber ausdrcklich without me-
taphor sagt. Die Verrcktheit des stammelnden, unzusammenhngen-
den Unsinns, der von dem Sprechen des Metaphysikers ausgeht, ist somit
nicht ansteckend wie eine Krankheit, sondern sie ist buchstblich eine
solche. Es geht um eine Kraft der bertragung, die nicht mehr nach dem
Modell der Metapher gedacht werden kann.
J. Hillis Miller hat, bezogen auf die Darstellung der Arbeit des Edi-
tors in Sartor Resartus, mit einigem Recht festgestellt, dass die Narra-
tion sich hier selbst zum problematischen Gegenstand der Handlung
macht. In Carlyles Sartor, as in novels by Conrad or Faulkner, the act
of narration, in which someone retrospectively reconstructs the past from
ambiguous documents, is foregrounded as a problematic and uncertain

48 Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 141: Singular Teufelsdrckh, would thou hadst
told thy singular story in plain words! [...] Nothing but innuendos, figurati-
ve crotchets: a typical Shadow, fitfully wavering, prophetico-satiric; no
clear logical Picture.
49 Ebd., S. 204.

285
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

enterprise.50 Problematisch und ungewiss ist das Unternehmen des Er-


zhlens, so kann dieser Gedanke verlngert werden, allerdings nicht nur
aufgrund fehlender Sicherheit ber die Authentizitt der dem Herausge-
ber vorliegenden Dokumente, sondern weil die in den Texten zur Spra-
che gebrachte Problematisierung der Mglichkeit des Bedeutens und
Verstehens sich auf die Sprache des Herausgebers zu bertragen droht.

Das Buch der Natur

Die Beziehung zwischen dem Editor und seiner Arbeit des Schreibens
ber ein ihm vorausgehendes und vorliegendes Konvolut von Papieren
und einem Buch wiederholt jene Beziehung, die innerhalb des Buches
(des Professors) zwischen dem Professor Teufelsdrckh und einem wie-
derum ihm vorausgehenden Buch statthat. Der Akt des Erzhlens wird
somit nicht nur einmal, sondern gleich auf zwei Ebenen als ein proble-
matisches Unternehmen dargestellt. Das Buch der Natur, das Buch der
Dinge ist dasjenige Buch, auf welches das Schreiben des Professors sich
genau in dem Mae bezieht, wie das Schreiben des Editors sich auf
seines. In diesem Sinn parodieren und persiflieren sich die Probleme des
Schreibens bei beiden Personen wechselseitig. Wie der Herausgeber vor-
gibt, eine geraffte Version eines ihm vorliegenden, ungleich umfassen-
deren Buchs wiederzugeben, so bezieht sich auch dieses wiederum auf
ein anderes Buch, das nicht geschrieben, sondern allenfalls gedacht
werden kann. Im dem Natural Supernaturalism betitelten Kapitel des
dritten Bandes erhebt sich die Diktion Teufelsdrckhs zu einer geradezu
prophetischen, tatschlich aber eher transzendentalprophetischen Empha-
se:

We speak of the Volume of Nature: and truly a Volume it is; whose Author
and Writer is God. To read it! Dost thou, does man, so much as well know the
Alphabet thereof? With its words, Sentences, and grand descriptive Pages, poe-
tical and philosophical, spread out through Solar Systems, and Thousands of
Years, we shall not try thee. It is a Volume written in celestial hieroglyphs, in
the true Sacred-Writing; of which even Prophets are happy that they can read
here a line and there a line. As for your Insititutes, and Academies of Science,
they strive bravely; and, from amid the thick-crowded, inextricably intertwisted
hieroglyphic writing, pick out, by dextrous combination, some Letters in the

50 J. Hillis Miller: Hieroglyphical Truth in Sartor Resartus: Carlyle and the


Language of Parable. In: Victorian Perspectives. Six Essays. Hrsg. von
John Clubbe und Jerome Meckier. Newark: University of Delaware Press
1989, S. 1-20, hier: S. 3.

286
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

vulgar Character, and therefrom put together this and the other economic Reci-
pe, of high avail in Practice. That Nature is more than some boundless Volume
of such Recipe, or huge, well-nigh inexaustible Domestic-Cookery Book, of
which the whole secret will, in this wise, one day, evolve itself, the fewest
dream.51

Wiederum geht es um die zentrale Frage der Mglichkeit von sprachli-


cher Bedeutung. Teufelsdrckh skizziert zwei Methoden, das Buch der
Natur zu lesen. Auf der einen Seite gibt es die Academies of Science.
ber diese sagt Teufelsdrckh, dass sie sich tapfer um ein richtiges
Verstndnis des Buches der Natur bemhen, aber diese Aussage ist
nichts als Ironie, denn die Akademien deuten das Buch in diesem Be-
mhen gewaltsam um und verflschen es. Tatschlich verfertigen sie
gem ihrer Orientierung an konomischem Nutzen und der Verwend-
barkeit des Wissens in der Praxis ein vollstndig neues Buch, das mit
dem tatschlichen Buch der Natur nur wenig gemeinsam hat. Sie ber-
setzen das heilige Buch der Natur in ein Kochbuch, ein Material zum
praktischen Nutzen. Die Beschreibung der Akademie verluft dem-
nach parallel zur Anklage gegen die zeitgenssische Metaphysik und
Wissenschaft aus dem Kapitel The World out of Clothes, in der Teu-
felsdrckh die Axiome, Kategorien, Systeme und Aphorismen gnzlich
als phantastische High Air-castles und als nicht mehr denn als words,
words verwirft. Das Buch der Natur beinhaltet aber, so der deutsche
Professor, mehr als die wissenschaftlichen Exzerpisten und Hermeneuten
aus ihm machen wollen. Gleich einem Philologen klagt er die Korrum-
pierung des gttlichen Textes in seiner weltlichen berlieferung an. Auf
der anderen Seite, den wissenschaftlichen Akademien gegenbergestellt,
gibt es die Prophets, die ebenfalls ein neues Buch ber das Buch der
Natur schreiben. Sie gehen dabei mit ungleich mehr Ehrfurcht und Ach-
tung zugange als die wissenschaftlichen Akademien und sind glcklich,
wenn sie nur hier und dort eine Zeile entziffern knnen. Um das Buch
der Natur lesen zu knnen, suggeriert die Passage, braucht man die De-
mut der Propheten, nicht die anmaende Selbstsicherheit und Selbstge-
wissheit der Wissenschaftler.
Aber von welcher Position aus spricht Teufelsdrckh? Indem er die
Aussagen sowohl der Wissenschaftler als auch der Propheten bewerten
kann, schreibt er sich ein Wissen zu, dass ber dasjenige beider Gruppen
hinausgeht. Wenn der Professor schreibt, nur die wenigsten wrden es
sich trumen lassen, dass sich das ganze Geheimnis der Natur eines Ta-
ges weit ber das von den Wissenschaftlern hinaus Geahnte hinaus selbst
enthllen werde, dann geht sein Wissen sogar noch ber das dieser We-

51 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 195f.

287
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

nigsten hinaus, denn er wei, was jene nur trumen. Insofern es die Mg-
lichkeit prophetischer Einsicht in das Geheimnis der Natur von einer
bereits erreichten Einsicht zu bewerten scheint und dabei Transzenden-
talprophetie mit Begeisterung verbindet, scheint sein Wissen jenseits
menschlicher Endlichkeit zu sein. Die prekre Behauptung eines Wissens
ber das Unendliche liegt bereits in der Metapher vom Buch der Natur
begrndet, die bekanntlich eine lange philosophische und literarische
Tradition besitzt und die Carlyle vor allem aus dem Umkreis der Autoren
bekannt gewesen ist, die gemeinhin als Romantiker bezeichnet werden.
Die Frage nach der Lesbarkeit natrlicher Zeichen wird in einigen na-
turphilosophischen Reflexionen Goethes gestellt, vor allem aber in Nova-
lis Fragmenten.52 Hier zeigt sich die Problematik der Lesbarkeit freilich
ungleich komplexer, als es die griffige Formel des Buchs der Natur
suggeriert. Wenn die sichtbare Welt eine Mitteilung Gottes an die
Menschen sein soll, ist sie bereits in dem Moment entstellt und unver-
stndlich geworden, in dem sie nur als Buchstaben erscheinen kann. Un-
ter der Bedingung der Arbitraritt der Zeichen ist auch das Buch der Na-
tur nur ein Buch und keineswegs ein verstndlicher Geist. So schreibt
Novalis:

Alles, was wir erfahren ist eine Mittheilung. So ist die Welt in der That eine
Mittheilung Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist
Gottes verstndlich war. Wir sind beym Buchstaben stehn geblieben. Wir ha-
ben das Erscheinende ber der Erscheinung verlohren. Formularwesen.53

Carlyle hingegen liest Novalis als einen ungebrochenen Romantiker,


dem alle Dinge sichtbare Verweise auf die Unendlichkeit Gottes sind. In
seinem Essay ber Novalis aus dem Jahr 1829 hebt Carlyle die besondere

52 Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt [1981]. 4. Aufl. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 592), S.
214-266; Hartmut Bhme: Denn nichts ist ohne Zeichen. Die Sprache der
Natur: Unwiederbringlich? In: ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp. 1470), S. 38-66. Vgl. zu Nova-
lis Fragmenten als Vorlage fr die Semiotik in Sartor Resartus auch Ri-
chard W. Hannah: Novalis, Carlyle and the Metaphysic of Semeiosis. In:
Deutsche Romantik and English Romanticism. Hrsg. von Theodore G.
Gish und Sandra G. Frieden. Mnchen: Fink 1984 (Houston German Stu-
dies. 5), S. 27-41.
53 Novalis: Werke, Tagebcher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg.
von Hans-Joachim Mhl und Richard Samuel. Bd. 1-3. Mnchen, Wien:
Hanser 1978, Bd. 3, S. 383 (Vorarbeiten 1798). Vgl. Blumenberg: Die Les-
barkeit der Welt (wie Anm. 53), S. 256f.

288
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Beziehung hervor, die Novalis als Schriftsteller wie als Philosoph zur
Natur hatte. Przise formuliert ist es fr Carlyle bemerkenswert, dass No-
valis berhaupt eine Beziehung zur Natur hatte, welche fr ihn eher eine
vernehmliche Stimme denn ein Objekt nchterner Betrachtung gewesen
sei. Dass Carlyle hier ausdrcklich erwhnt, die Natur sei fr Novalis
veil und Garment des bersinnlichen gewesen, lsst dessen Schrif-
ten durchaus als eine Inspiration fr Teufelsdrckhs Philosophie der
Kleidung erscheinen.

He loves Nature with a singular depth; nay, we might say, he reverences her,
and holds unspeakable communings with her: for Nature is no longer dead, ho-
stile Matter, but the veil and mysterious Garment of the Unseen; as it were the
Voice with which the Deity proclaims himself to man. These two qualities,
his pure religious temper, and heartfelt love of Nature, bring him into true
poetic relation both with the spiritual and the material World, and perhaps
constitute his chief worth as Poet.54

Was Novalis von der Verstndlichkeit der Natur nurmehr in der Vergan-
genheitsform spricht, bersetzt sich fr Carlyle in den Prsens. Die Lie-
be zur Natur erweckt diese zum Leben, sie ist nicht mehr ein toter Ge-
genstand, sondern eine sprechende Stimme. In seiner Hinwendung zur
Natur bringt sich der Poet in eine Relation zu einer Entitt, die erst in
dieser Hinwendung berhaupt erst zum Subjekt und damit zum mgli-
chen Teil einer Relation wird.
Die Rede vom Garment of the Unseen, die an die traditionelle For-
mel des Buchs der Natur anschliet, ist in diesem Sinn nicht einfach ei-
ne Metapher, sondern eher eine Metatrope, eine transzendentale Trope.
Sie wird nicht durch eine gegebene oder wie auch immer erkannte hn-
lichkeit ermglicht, sondern sie erffnet erst einen Raum, innerhalb des-
sen hnlichkeiten, Vergleiche und also Lesbarkeit und Verstndlichkeit
statthaben knnen. Wenn alle sichtbaren Dinge veil und Garment
sind, ist ihre Sinnhaftigkeit und Verstndlichkeit a priori dadurch garan-
tiert, dass sie Produkte eines Wesens sind, das als Hersteller von Schleier
und Kleid mit endlichen Kategorien der Ttigkeit und Produktion be-
schreibbar und begreiflich wird. Das sprachliche Zeichen und das mate-
rielle Ding werden einander a priori hnlich und ineinander bersetzbar,
insofern das letztere wie das erstere als die uerung eines sich mittei-
lenden Wesens begriffen wird. In diesem Sinn schreibt Teufelsdrckh:
One Bible I know, of whose Plenary Inspiration doubt is not so much as

54 Thomas Carlyle: Novalis [1829]. In: ders.: Critical and Miscellaneous Es-
says. Bd. 1-3. London: Chapman and Hall 1899-1904, Bd. 1, S. 421-467,
hier: S. 444.

289
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

possible; nay with my own eyes I saw the Gods-Hand writing it: thereof
all other Bibles are but Leaves, say, in Picture-Writing to assist the
weaker faculty.55
Bereits Hamann notiert in Ueber die Auslegung der Heiligen Schrift
kurz und bndig die Profession Gottes als Schriftsteller: Gott ein
Schriftsteller!56 Der Anthropomorphismus dieser Metatrope ist es, die
Kant zu einer deutlichen Ablehnung gefhrt hat. Auf das Verstndnis der
gesamten materiellen Welt als signifikant geht er in der Anthropologie,
im Abschnitt ber das Zeichen, ein. Hier heit es: Die wirklichen, den
Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit Schwedenborg) fr bloes
Symbol einer im Rckhalt verborgenen intelligiblen Welt ausgeben ist
Schwrmerei.57 Wer behauptet, die Dinge der Welt seien als Zeichen
lesbar, unterstellt ihnen eine Sinnhaftigkeit, ber die innerhalb der Gren-
zen der menschlichen Endlichkeit keine Aussage zu treffen ist. Nur der
Schwrmer derjenige, der die in den Kantschen Kritiken gezogenen
Grenzen der Vermgen habituell berschreitet58 behauptet, etwas zu
wissen, das dem menschlichen Wissen a priori entzogen ist.
Es kann hier nicht um die Frage gehen, ob Carlyle seinen fiktiven
Professor nun als Schwrmer darstellt oder nicht. Die Lektre von Sar-
tor Resartus lsst seine Leser niemals vergessen, dass die handelnden
Gestalten keine Personen aus Fleisch und Blut sind, sondern fiktionale
Konstrukte, nach deren geistiger Gesundheit zu fragen mig sein muss.
Ein angemessenes Verstehen des Romans darf entsprechend nicht nur
nach der Philosophie Teufelsdrckhs oder seiner Ideologie fragen,
sondern muss auch die Stellung der Figur im symbolischen Gefge der
Narration untersuchen. Sartor Resartus ist ein Roman ber das Schreiben
und die Mglichkeit des Schreibens: Nicht nur der Editor ist wesent-
lich ein Schreibender, der fortlaufend ber das Schreiben reflektiert, son-
dern auch Teufelsdrckh, der wiederum Gott als Autor und sein Werk,
die Welt, als Schrift beschreibt. Die anthropomorphistische Analogie
zwischen Schriftsteller und Gott erffnet, wie zu zeigen versucht wurde,
ein Feld der hnlichkeiten, innerhalb dessen Sprache in eine adquate
Beziehung zur Welt gebracht werden kann. Im Feld dieser Analogie, so
lautet das Versprechen Teufelsdrckhs, kann Sprache Bedeutung und

55 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 147 (Hervorhebung von mir, O.
K.).
56 Johann Georg Hamann: Smtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Josef Nadler. Bd. 1-6. Wien: Thomas-Morus-Presse im Herder-
Verlag 1949-1957, Bd. 1, S. 5 (Ueber die Auslegung der Heiligen Schrift).
57 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 4), Bd. 6, S. 498 (Anthropologie
35, BA 107).
58 Vgl. Kap. II. 3.

290
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Sinn haben, um mehr zu sein als das unsinnige und verrckte Gestammel
von words, words, words.
Wenn es eine Analogie zwischen Schriftsteller und Gott gibt, dann
ist sie allerdings jederzeit in beide Richtungen lesbar. Einerseits folgt aus
der Analogie: Gott ist ein Schriftsteller, insofern seine Werke geschriebe-
ne Zeichen sind, die fr die Menschen lesbar sind. Andererseits folgt
aber auch: Der Mensch wird in dem Moment zu einem Gott, in dem er
zum Stift greift und sinnvolle Worte notiert. Indem er aus dem Nichts he-
raus eine Ordnung hervorbringt, gleicht der schreibende Mensch dem
schpferischen Gott. In diesem Sinn fhrt Carlyles Metaphysiker Teu-
felsdrckh ausdrcklich eine Analogie zwischen dem Ergreifen des Stif-
tes und dem schpferischen Fiat Gottes aus:

Hast thou not a Brain, furnished, furnishable with some glimmerings of Light;
and three fingers to hold a Pen withal? Never since Aarons Rod went out of
practice, or even before it, was there such a wonder-working Tool: greater than
all recorded miracles have been performed by Pens. For strangely in this so
solid-seeming World, which nevertheless is in continual restless flux, it is
appointed that Sound, to appearance the most fleeting, should be the most
continuing of all things. The WORD is well said to be omnipotent in this world;
man, thereby divine, can create as by a Fiat. Awake, arise! Speak forth what is
in thee; what God has given thee, what the Devil should not take away.59

In gewisser Weise ist diese Passage der Kulminationspunkt der gesamten


Kleider- und Symboltheorie Teufelsdrckhs, der Moment, an dem der
Bezug des Symbolischen des Wortes zur Sphre des bersinnlichen
und Unendlichen klar ausgesprochen wird. Im Aussprechen und Nieder-
schreiben des in Grobuchstaben gedruckten Wortes erreicht der Mensch
hnlichkeit zu Gott, und diese hnlichkeit wiederum verspricht, in ei-
nem zweiten Schritt, die Sinnhaftigkeit der Sprache berhaupt zu garan-
tieren.
Im mit Zauberkraft ausgestatteten WORD des schpferischen Au-
tor-Gottes scheint demnach das Gegenkonzept zu den vielen words,
words der Metaphysiker und Wissenschaftler aufzufinden zu sein. Mit
der Umkehrung der Analogie, in der nicht mehr Gott wie ein Schriftstel-
ler, sondern der Schriftsteller wie ein Gott begriffen wird, verschiebt sich
auch die Instanz, die der Sprache ihre Sinnhaftigkeit zuschreibt. Diese
scheint nun nicht mehr Gott als Autor des Buchs der Natur zu sein, son-
dern der Mensch als Autor seines eigenen Buchs oder seiner eigenen
Bcher. Die Sinnhaftigkeit des Wortes scheint gesichert dadurch, dass

59 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 150f. Vgl. Miller: Hieroglyphi-
cal Truth in Sartor Resartus (wie Anm. 50), S. 16f.

291
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

der sprechende Mensch sich selbst in die Position eines Gottes begibt
und seinen eigenen Sinn beglaubigt.
Diese Lsung lsst sich freilich schon durch den Versuch verunsi-
chern, die Passage auf sich selbst anzuwenden. Tatschlich hat der Pas-
sus, in dem Teufelsdrckh die Macht des Wortes als gttliches Fiat
beschwrt, nur wenig hnlichkeit mit einem derart kraftvollen Wort.
Teufelsdrckh bereitet die Beschwrung des Wortes Fiat nicht nur me-
tonymisch durch das Brain, furnished, furnishable with some glimme-
rings of Light vor und sichert sie zustzlich durch den Vergleich mit
dem biblischen Stab Aarons ab. Zugleich wird die schpferische Kraft
des Wortes, genau besehen, nicht festgestellt, sondern eher gefordert. Die
schpferische Macht wird nicht konstatiert, sondern imperativisch einge-
klagt: Awake, arise! Speak forth what is in thee. Indem Teufelsdrckhs
eigene Sprache hier in hyperbolischer Grozgigkeit auf das Arsenal rhe-
torischer Mittel und nicht auf die herrschende Macht gttlicher Befehle
zurckgreift, erinnert sein Sprechen weitaus eher an die zahlreichen und
vergeblichen words, words der Metaphysiker und Wissenschaftler als
an das gttliche WORD. Der Wortreichtum und die Wortflle der Aus-
sage durchbrechen die Mglichkeit, an den Inhalt der Aussage zu glau-
ben. Was Walter Benjamin ber Robert Walser sagt, beschreibt auch
Teufelsdrckhs Wortflle: Kaum hat er die Feder in die Hand genom-
men, bemchtigt sich seiner eine Desperadostimmung. Alles scheint ihm
verloren, ein Wortschwall bricht aus, in dem jeder Satz nur die Aufgabe
hat, den vorigen vergessen zu machen.60 In diesem Sinn bemerkt auch J.
Hillis Miller, Sartor Resartus sei one of the noisiest books among the
classics of English Literature.61
Wre dieser Widerspruch einfach dem schlechten Stil oder der In-
konsequenz Carlyles anzulasten, dann htte er eine rein akzidentielle Be-
deutung und wre nicht weiter der Rede wert. Interessant wre dieser
Widerspruch erst dann, wenn sich zeigen liee, dass er aus der Kleider-
und Symboltheorie des Buchs notwendig hervorgeht und auch in ihr
selbst am Werke ist. Die sich selbst widersprechende Darstellung des
Textes wre dann nicht mehr der Ausdruck schriftstellerischer Schlam-
pigkeit, sondern im Gegenteil der einer rigorosen Konsequenz. Es wird
also ntig sein, die Symboltheorie Teufelsdrckhs in Grundzgen nach-
zuvollziehen.

60 Walter Benjamin: Robert Walser. In: ders.: Illuminationen. Ausgewhlte


Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 349-352, hier: S. 350.
61 Miller: Hieroglyphical Truth in Sartor Resartus (wie Anm. 50), S. 3.

292
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

IV. 3 Symbole

This Dreaming, this Somnabulism

Der Ausgangspunkt der Semiotik Teufelsdrckhs ist die Annahme, dass


Sprache grundstzlich von Beginn an und von Grund auf, also sowohl
historisch wie auch systematisch metaphorisch, nach dem Modell der
Metapher strukturiert ist. Teufelsdrckhs Philosophie der Kleider ist
demzufolge notwendigerweise zugleich eine Philosophie der Metapher
und der bertragung. Die Sprache ist dabei das Paradigma des Kleides,
und die Metapher das Paradigma des sprachlichen Zeichens.

Language is called the Garment of Thought: however, it should rather be,


Language is the Flesh-Garment, the Body, of Thought. I said that Imagination
wove this Flesh-Garment; and does she not? Metaphors are her stuff: examine
Language; what, if you except some few primitive elements (of natural sound),
what is it all but Metaphors, recognised as such, or no longer recognised; still
fluid and florid, or now solid-grown and colourless? If those same primitive
elements are the osseous fixtures in the Flesh-garment, Language, then are
Metaphors its muscles and tissues and living integuments. An unmetaphorical
stlyle you shall in vain seek for: is not your very Attention a Stretching-to?62

In ihrem berdreht metaphorischen Stil evoziert die Passage den Ein-


druck einer perfekten bereinstimmung von Aussage und Darstellung.
Than which paragraph on Metaphors did the reader ever chance to see a
more surprisingly metaphorical?,63 fragt der Editor im Anschluss
nicht ohne Recht. Die Aussage, Sprache sei von Grund auf metaphorisch,
ist fr sich genommen alles andere als originell. Die bildhafte Sprache
entstand zuerst, die eigentliche Bedeutung fand man zuletzt,64 heit es
in Rousseaus Essai sur lorigine des langues. In Jean Pauls Vorschule
der sthetik wird bemerkt, in Rcksicht geistiger Beziehungen sei jede
Sprache ein Wrterbuch erblasseter Metaphern.65 In seiner Theorie des

62 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 57.


63 Ebd.
64 Jean-Jacques Rousseau: Versuch ber den Ursprung der Sprachen, in dem
von der Melodie und der musikalischen Nachahmung die Rede ist. In:
ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften. In Erstbersetzung
von Eckhart Koch, Dietrich Leube, Melanie Walz und Hanns Zischler so-
wie bearbeiteten und ergnzten bersetzungen aus dem 18. und 19. Jahr-
hundert. Mnchen: Winkler 1981, S. 163-221, hier: S. 171.
65 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 184 (Vorschule
der sthetik).

293
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Symbols versucht Carlyles Protagonist Teufelsdrckh, aus diesem


Grundsatz weitreichende Konsequenzen ber das Verhltnis von Sprache
und Welt abzuleiten. Die Metapher stellt das Paradigma des Symbols
dar, insofern es in der Symboltheorie um die Mglichkeit und Ver-
gewisserung von bertragung geht bertragung nicht nur im Sinne
von Kommunikation von einem Wesen zu einem anderen, sondern auch
und gerade von einer Sphre des Seins auf eine andere, als Verbindung
zwischen der Sphre der Phantasie einerseits und der Sphre der Materie
und der Sphre des bersinnlichen andererseits. Bereits in den Anmer-
kungen des Editors ber seine Beziehung zu Teufelsdrckhs Schriften
und Schreibstil zeigte sich zudem, dass bertragung auch eine wesent-
liche poetologische Kategorie des Romans ist.
Wie sich allerdings in den Abschnitten zeigt, in denen Teufelsdrckh
ber das Buch der Natur spricht, lsst die Behauptung einer grundstz-
lichen Metaphorizitt von Sprache einige Fragen offen. Wird die in dem
Modell der Metapher implizierte Analogie und Analogiefhigkeit zwi-
schen Sein und Sprache durch ein gttliches Wesen garantiert, von
dem mit Sicherheit gesagt werden kann, dass es das Sein analog zu ei-
ner sprachlichen Aussage geschaffen hat, oder ist sie eine rein rhetori-
sche Suggestion durch einen ebenso kreativen wie auch gottvergessenen
menschlichen Autor? Die zentrale Frage Teufelsdrckhs nach dem Ver-
hltnis der Sprache (und also des sprechenden Menschen) zur Welt
wird von der Annahme eines metaphorischen Charakters der Sprache
nicht beantwortet. Sie ist denn auch nur die Grundannahme, an die Teu-
felsdrckh seine elaborierte Theorie und Philosophie der Kleidung an-
knpft.
Diese Philosophie erweist sich alsbald als eine Philosophie des em-
blematischen und symbolischen Zeichens. Bereits im ersten Buch findet
sich eine kurze Passage, welche von den Ausfhrungen ber Kleider zum
Zusammenhang aller Dinge als Emblem abschweift.

All visible things are Emblems; what thou seest is not there on its own
account; strictly taken, is not there at all: Matter exists only spiritually, and to
represent some Idea, and body it forth. Hence Clothes, as depicable as we think
them, are so unspeakably significant. Clothes, from the Kings-mantle down-
wards, are Emblematic, not of want only, but of a manifold cunning Victory
over Want. On the other hand, all Emblematic things are properly Clothes,
thought-woven or hand-woven: must not the Imagination weave Garments, vi-
sible Bodies, wherein the else invisible creations und inspirations of our Reason
are, like Spirits, revealed, and first become all-powerful [...]?66

66 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 56.

294
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Wiederum, wie bereits in der Rede ber die Zauberkraft des Wortes, geht
es um Macht und Kraft. Hier allerdings geht es um die Kraft, welche es
erst ermglicht, von einer magischen Macht der Wrter zu sprechen: die
Einbildung als Kraft, die Einbildungskraft (imagination). Sie ist diejeni-
ge Kraft, die Dinge mit einer Bedeutung versieht, indem sie sie als Ver-
krperung einer Idee, eines Zeichens betrachten kann. Als Verkrpe-
rung ist das Kleid in diesem Sinn ebenso ein Emblem wie das Emblem
ein Kleid ist. Die gesamte sichtbare Welt ist ein Produkt der Einbildungs-
kraft und wird bevlkert von ihren Spirits und Inspirations, von ihren
Geistern und Begeisterungen. Die Einbildungskraft verbindet ein Wort
mit einer Bedeutung, indem sie es mit einer Vorstellung verbindet. Um-
gekehrt kann der Sinn eines Wortes nichts anderes sein als die mit ihm
verbundene Vorstellung. Die Wrter geben den Menschen die Vorstel-
lung, in einer sinnvollen und sinnhaften Welt zu leben, aber diese ist not-
wendigerweise eine Welt des Phantasmas, des Geistes und der Geister,
der Einbildungen und des Traums.
Keinem Wort kann eine Wahrheit zukommen, welche die Ebene des
Vorstellbaren und damit des Eingebildeten und Phantastischen ber-
schritte. Diesen Gedanken expliziert Teufelsdrckh im Zusammenhang
mit seiner Kritik an den Dogmen der bisherigen Metaphysik, die nichts
als words, words hervorbringe. Dass der Sinn jedes Wortes an die Sphre
des Phantastischen und Geisterhaften gebunden bleibt, fhrt er hier bei-
spielhaft an der Bedeutung des Wortes Here vor: Again, Nothing can
act but where it is: with all my heart; only WHERE is it? Be not the slave
of Words: is not the Distant, the Dead, while I love it, and long for it, and
mourn for it, Here, in the genuine sense, as truly as the floor I stand
on?67 Obzwar die einzige explizite Erwhnung Hegels in Sartor Resar-
tus darin besteht, dass der Editor seinem Professor eine Widerlegung
von Hegel and Bardili zutraut, welche er beide, strangely enough, [...]
included under a common ban,68 ist zumindest diese Passage ber das
Here unschwer als eine Paraphrase des ersten Kapitels der Phnome-
nologie des Geistes zu erkennen. Im Abschnitt ber die sinnliche Ge-
wiheit sind es die deiktischen Begriffe Dieses und Hier, die fr
Hegel die Unzulnglichkeit bloer sinnlicher Evidenz beweisen.69

67 Ebd., S. 43.
68 Ebd., S. 12.
69 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Wer-
ke von 1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 3, S.
85: Das Hier ist z. B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahr-
heit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier
ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst verschwin-

295
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Anders als fr Hegel gibt es allerdings fr Teufelsdrckh keinerlei


Mglichkeit, die Unsicherheit sinnlichen Wissens durch ein anderes Wis-
sen (einer reinen Vernunft) und die Anbindung der Sprache an die phan-
tasierende Einbildungskraft durch eine andere Sprache zu berbieten und
zu ersetzen. Carlyles Metaphysiker folgert aus der Annahme, alle sicht-
baren Dinge seien Zeichen, das notwendige Erscheinen allen Seins als
Schein und Traum:

So that is this so solid-seeming World, after all, were but an air-image, our ME
the only reality: and Nature, with its thousandfold production and destruction,
but the reflex of our own inward Force, the phantasy of our Dream; or what
the Earth-Spirit in Faust names it, the living visible Garment of God.70

Dass die Ausfhrungen Teufelsdrckhs zum Traum und zum Dasein als
Traum mehr als eine wilde Aneinanderreihung einschlgiger Zitate aus
Novalis Die Lehrlinge zu Sas (die Phantasie ihres Traumes71), Goe-
thes Faust (der Gottheit lebendiges Kleid72) und Shakespeares The
Tempest (We are such stuff / As Dreams are made of; and our little Life
/ Is rounded with a sleep73) beinhalten, zeigt indes ein anderer Ab-
schnitt.
Hier geht es zentral um das Verhltnis der Sprache zur Welt, und die-
ses Verhltnis beschreibt Teufelsdrckh als Traum. In diesem Traum, in
dieser Phantasmagorie und in diesem Somnabulismus ergibt sich ein
Zwischenstadium, eine Mitte zwischen dem unsinnigen und irrsinnigen
Sprechen der Metaphysiker und Wissenschaftler (die nur words, words
ohne jede Bedeutung von sich geben) und dem demiurgischen Anspruch
eines Autors, dessen Worte kraft seines gttlichen Seins Wahrheit sind.

det nicht; sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes


usf. und gleichgltig, Haus, Baum zu sein.
70 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 44.
71 Vgl. Novalis: Werke, Tagebcher und Briefe Friedrich von Hardenbergs
(wie Anm. 53), Bd. 1, S. 213: Die Andern reden irre, sagt ein ernster
Mann zu diesen. Erkennen sie in der Natur nicht den treuen Abdruck ihrer
selbst? Sie wissen nicht, da ihre Natur ein Gedankenspiel, eine wste Fan-
tasie ihres Traumes ist.
72 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bnden.
Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich
Trunz. Mnchen: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, Bd. 3, S. 24 (Faust
I, V. 509).
73 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 202. Vgl. Shakespeare: Gesamt-
werk (wie Anm. 40), Bd. 6, S. 141 (The Tempest, IV/1).

296
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Das wache Trumen des Somnabulismus ist, so Teufelsdrckh, nichts an-


deres als das gesamte Leben auf der Erde:

We sit as in a boundless Phantasmagoria and Dream-grotto; boundless, for the


faintest star, the remotest century, lies not even nearer the verge thereof: sounds
and many-coloured visions flit round our sense; but Hims, the Unslumbering,
whose work both Dream and Dreamer are, we see not; except in rare half-wa-
king glorious Rainbow; but the Sun that made it lies behind us, hidden from us.
Then, in that strange Dream, how we clutch at shadows as if they were substan-
ces; and sleep deepest while fancying ourselves most awake! Which of your
Philosophical Systems is other than a dream-theorem; a net quotient, confident-
ly given out, where divisor and dividend are both unknown? What are all your
national Wars, with their Moscow Retreats, and sanguinary hate-filled Revolu-
tions, but the Somnabulism of uneasy Sleepers? This Dreaming, this Somnabu-
lism is what we on Earth call Life; wherein the most indeed undoubtingly wan-
der, as if they knew right hand from left; yet they only are wise who know they
know nothing.74

Die Traumgrotte Teufelsdrckhs ist natrlich abermals eine literari-


sche Allusion, diesmal auf die Hhle des platonischen Gleichnisses. Wie
im platonischen Mythos sind die Erdenbewohner fr Carlyles Metaphysi-
ker dazu gezwungen, Schatten fr Substanzen zu halten, whrend
die Sonne, die das Licht auf die Schatten wirft, sich hinter ihnen befin-
det. Teufelsdrckh geht es jedoch keineswegs um die Struktur einer Tu-
schung und noch weniger um die Aussicht auf die berwindung dieser
Tuschung. Im Unterschied zu den Insassen der platonischen Hhle gibt
es fr die Bewohner der grenzenlosen Phantasmagorie und Traum-
grotte, welche die Welt selbst ist, nicht einmal die vorstellbare oder
auch nur denkbare Mglichkeit, entfesselt zu werden und aufzustehen,
um den Hals herumzudrehen [...] und gegen das Licht zu sehn.75 Da
der endlose und grenzenlose Traum, der das Leben ausmacht, sich aus
den Phantasmen, Trumen und Somnabulismen der Einbildungskraft
speist, ist Erkennen und Denken, das auf Sprache und damit auf die Ein-
bildungen angewiesen bleiben muss, a priori dem Traum verfallen. In
diesem seltsamen Traum schlft derjenige, der behauptet, wach zu
sein, am tiefsten, whrend derjenige, der ber seinen Schlaf wei, am
wachsten ist. Ein jedes philosophisches System muss unter diesen Um-

74 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 42f.


75 Platon: Smtliche Werke. bers. von Friedrich Schleiermacher. Auf der
Grundlage der Bearbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert
Plambck neu hrsg. von Ursula Wolf. Bd. 1-4. Reinbek bei Hamburg: Ro-
wohlt 1994, Bd. 2, S. 421 (Politeia, 517c).

297
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

stnden zugleich eine Traumtheorie und der Traum einer Theorie sein
ein Schatten, den man nicht mit einer Substanz verwechseln sollte.
Diese Aussage muss noch auf den Passus anwendbar sein, in dem sie
getroffen wird. We sit as in a boundless Phantasmagoria and Dream-
grotto, schreibt Teufelsdrckh, und markiert mit dem as nicht einfach
das Folgende als ein Gleichnis, eine Metapher oder eine Allegorie, son-
dern weitaus eher die epistemologische Unsicherheit, die jeder sprachli-
chen Aussage ber die Welt aufgrund ihres notwendigerweise symboli-
schen Charakters zukommen muss. Teufelsdrckhs Symboltheorie ist so
zugleich eine Traumtheorie und der Traum von einer Theorie, eine ge-
trumte Theorie. Wer in diesem Traum wandelt und denkt, er knne sei-
ne linke Hand von der rechten unterscheiden, irrt sich und beweist, wie
tief er schlft. Teufelsdrckh zitiert dagegen die klassische Formulierung
der (sokratischen) Ironie (yet they only are wise who know they know
nothing) und berfhrt sie auf den Stand romantischer Ironie, indem
er verdeutlicht, dass noch das Wissen ber das eigene Nichtwissen kei-
nesfalls Wissen ist, sondern gleichfalls nur ein Traum. In dieser Para-
doxie und Aporie vernichtet sich um den Begriff Jean Pauls wieder
aufzunehmen die Sprache selbst und weist sich in ihre Schranken. Die
Einsicht in diese Schranken der eigenen Sprache und damit der Mglich-
keiten menschlicher Erkenntnis und menschlichen Denkens berhaupt,
hierin folgt die Symboltheorie Teufelsdrckhs der Jean Paulschen Theo-
rie des Humors, ist die einzige Mglichkeit, indirekt und negativ ei-
nen Bezug zum Unendlichen und bersinnlichen zu erhalten.
Die Passage ber die Phantasmagorien und Traumgrotten, wel-
che das Leben auf Erden sind, ist demnach, wie so viele Passagen in Sar-
tor Resartus, gleichzeitig eine Erluterung und eine Demonstration der
Symboltheorie Teufelsdrckhs. Der Text entwickelt die Symboltheorie
nicht einfach, sondern fhrt sie gleichzeitig aus und vor.

Symbol und Zeichen

Unter Bercksichtigung dessen, was bisher ber die Zeichentheorie Teu-


felsdrckhs gesagt wurde, wird es nun mglich, die Ausfhrungen ber
das Symbol im gleichnamigen dritten Kapitel des dritten Buchs nachzu-
vollziehen, ohne sie zu vorschnell in bestimmte Traditionslinien einzu-
ordnen. Die Verfhrung dazu ist gro, denn Teufelsdrckh spart auch
hier nicht mit Zitaten und Anspielungen, von denen einige angetan sind,
Missverstndnisse ber die Zielrichtung seiner Theorie anzuregen. Hier
ist vor allem an die hyperbolische Passage aus dem Kapitel Symbols
zu denken, in welcher der Herausgeber seinen Professor bezeichnen-

298
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

derweise on the verge of the inane76 sieht, woraufhin er folgende Lob-


rede Teufelsdrckhs auf das Symbol als Verkrperung und Offenbarung
des Unendlichen kurzerhand abbricht und ausblendet:

For it is here that Fantasy with her mystic wonderland plays into the small
prose domain of Sense, and becomes incorporated therewith. In the Symbol
proper, what we can call a Symbol, there is ever, more or less distinctly and di-
rectly, some embodyment and revelation of the Infinite; the Infinite is made to
blend itself with the Finite, to stand visible, and as it were attainable, there. By
Symbols, accordingly, is man guided and commanded, made happy, made
wretched. He every where finds himself encompassed with Symbols, recogni-
sed as such or not recognised: the Universe is but one vast Symbol of God; nay,
if thou wilt have it, what is man himself but a Symbol of God, is not all that he
does symbolical; a revelation to Sense of the mystic god-given Force that is in
him; a Gospel of Freedom, which he, the Messias of Nature, preaches, as he
can, by act and word?77

Es ist nicht schwer, in Teufelsdrckhs Bestimmung des Symbols als


Verkrperung und Offenbarung des Unendlichen ein Echo der ontolo-
gischen Bestimmungen des Symbols durch zahlreiche Autoren der ro-
mantischen Kunstphilosophie herauszuhren. Am ehesten kann man
sich an Goethes Notiz aus den Maximen und Reflexionen erinnert fhlen,
in der es heit: Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das All-
gemeinere reprsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als leben-
dig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.78 Nun ist der
Begriff des Symbols eine der zentralen Kategorien der Kunst- und Zei-
chentheorie der als romantisch bezeichneten Zeit,79 und es wre aus-

76 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 167.


77 Ebd., S. 166f.
78 Goethe: Werke (wie Anm. 74), Bd. 12, S. 471.
79 Die Liste der potentiell relevanten Autoren ist lang: Kant, Schiller, Goethe,
Herder, K. P. Moritz, Schelling, Creuzer, Wilhelm von Humboldt, Fried-
rich Schlegel, Coleridge usw. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und
Methode. Grundzge einer philosophischen Hermeneutik [1960]. 6. Aufl.
Tbingen: Mohr 1990, S. 77-87; Paul de Man: The Rhetoric of Temporali-
ty [1969]. In: ders.: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Con-
temporary Criticism. Second Edition, Revised. Minneapolis: University of
Minnesota Press 1983 (Theory and History of Literature. 7), S. 187-228;
Tzvetan Todorov: Symboltheorien [1977]. bers. von Beat Gyger. Tbin-
gen: Niemeyer 1995 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 54),
S. 143-219; Ernst Behler: Symbol und Allegorie in der frhromantischen
Theorie. In: ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie
2. Paderborn u.a.: Schningh 1993, S. 249-263.

299
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

sichtslos, hier mehr als nur ein paar Hinweise auf die Konstellation abge-
ben zu wollen, in die Teufelsdrckhs Symboltheorie sich einschreibt.
Whrend Symbol und Allegorie noch Mitte des 18. Jahrhunderts
synonym als Mittel der Darstellung und Bezeichnung verstanden wurden,
avanciert das (ursprnglich) theologische Konzept des Symbols gegen
Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den kunstphilosophischen
Bemhungen Goethes und durch sie, zum Gegenbegriff des rhetorischen
Begriffs der Allegorie. Das Symbol wird in diesen berlegungen zum
paradoxen Fall eines Zeichens, das kein Zeichen mehr ist, da es mit dem
Bezeichneten zusammenfllt. Das Symbol, fasst Gadamer zusammen,
meint den Zusammenfall von sinnlicher Erscheinung und bersinnlicher
Bedeutung, und dieser Zusammenfall ist, so wie der ursprngliche Sinn
des griechischen Symbolon und sein Fortleben im terminologischen Ge-
brauch der Konfessionen, keine nachtrgliche Zuordnung, sondern die
Vereinigung von Zusammengehrigem.80 Aus diesem Grund folgert
Schelling in seiner Philosophie der Kunst (1802/1803):

die Mythologie berhaupt und jede Dichtung derselben insbesondere ist weder
schematisch noch allegorisch, sondern symbolisch zu begreifen. Denn die For-
derung der absoluten Kunstdarstellung ist: Darstellung mit vlliger Indifferenz,
so nmlich, da das Allgemeine ganz das Besondere, das Besondere zugleich
das ganz Allgemeine ist, nicht es bedeutet.81

In Teufelsdrckhs Symboltheorie ist es vor allem die Unterscheidung


zwischen intrinsischen und extrinsischen Symbolen, die an die Vor-
gaben dieser idealistischen Symbolkonzepte anschliet. Symbole, so
fhrt Teufelsdrckh aus, haben entweder intrinsischen oder extrinsi-
schen, inneren oder ueren Wert.82 Die Differenz bestimmt sich durch
den Grad der Nhe zwischen Signifikant und Signifikat. Im Falle des ex-
trinsischen Symbols ist die Beziehung zwischen dem Bedeutenden und
seiner Bedeutung nicht notwendig, sondern zufllig: What, for instance,
was in that clouted Shoe which the Peasants bore aloft with them as en-
sign in their Bauernkrieg (Peasants War)?83 Allenfalls der Schimmer
einer gttlichen Idee (there glimmers something of a Divine Idea)84
mag an extrinsischen Symbolen wie militrischen Standarten anhaften.

80 Gadamer: Wahrheit und Methode (wie Anm. 79), S. 83.


81 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Philosophie der Kunst
[1802/1803]. In: ders.: Ausgewhlte Schriften in 6 Bnden. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1985, Bd. 2, S. 181-564, hier: S. 239.
82 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 168.
83 Ebd.
84 Ebd., S. 168f.

300
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Das intrinsische Symbol hat dagegen eine innere Bedeutung, weshalb es


aus sich selbst heraus (of itself85) dazu gemacht und geeignet er-
scheint, als Manifestation einer gttlichen Idee zu dienen. Insofern das
intrinsische Symbol jedoch nicht einfach eine Metapher ist, sondern
wie die Metatrope des Buchs der Natur das Feld der Metaphorizitt
erst erffnet, ist es zugleich die Begrndung jedes menschlichen Zusam-
menhalts und jeder Soziabilitt, welche in Sprache grndet.

Let but the Godlike manifest itself to Sense; let but Eternity look, more or less
visibly, through the Time-Figure (Zeitbild)! Then is it fit that men unite there;
and worship together before such Symbol; and so from day to day, and from
age to age, superadd to it new divineness.86

Das externe Symbol lsst demnach allenfalls das Schimmern einer gttli-
chen Idee erscheinen, weil es zufllig und ohne einen notwendigen Be-
zug zum Dargestellten ist, whrend das Gttliche sich im internen Sym-
bol selbst den Sinnen prsentiert. Erhlt ersteres seine Bedeutung durch
einen zuflligen Akt eines Menschen, so wird letzteres offenbar durch
ein gttliches Wesen gestiftet. Interne Symbole sind all true works of
Art,87 vor allem aber religise Zeichen. Hier bezieht sich Teufelsdrckh
insbesondere auf das Leben Jesu:

If thou ask to what height man has carried it in this matter, look on our divi-
nest Symbol: on Jesus of Nazareth, and his Life, and his Biography, and what
followed therefrom. Higher has the human Thought not yet reached: this is
Christianity and Christendom; a Symbol of quite perennial, infinite character;
whose significance will ever demand to be anew inquired into, and anew made
manifest.88

Es ist offensichtlich, dass die Unterscheidung, die Teufelsdrckh zwi-


schen internen und externen Symbolen trifft, parallel zu der Unterschei-
dung zwischen Symbol und Allegorie bei Goethe und Schelling, aber
auch zu der zwischen Symbol und Zeichen in Hegels Vorlesungen ber
die sthetik verluft. Hegel zufolge ist die Beziehung zwischen Bezeich-
nendem und Bezeichnetem beim Zeichen arbitrr, whrend das Symbol
kein bloes gleichgltiges Zeichen [ist], sondern ein Zeichen, welches

85 Ebd., S. 169.
86 Ebd.
87 Ebd.
88 Ebd.

301
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

in seiner uerlichkeit zugleich den Inhalt der Vorstellung in sich selbst


befat, die es erscheinen macht.89
Das intrinsische Symbol, das eigentliche Symbol berhaupt, das Zei-
chen, welches kein Zeichen mehr ist, sondern mit dem Bezeichneten
identisch ist, verkrpert fr Teufelsdrckh demnach den idealen Gegen-
pol zu dem unendlichen Geschwtz und sinnlosen Gerede (den words,
words) einer Zeit, deren Sprache keinen Bezug zu einer gttlichen Idee
und damit auch keinerlei Garantie eines Sinns mehr hat. Wenn man die-
sen Gedanken verlngert, kann man auch sagen, dass das Gttliche in
Sartor Resartus berhaupt nichts anderes ist als die Erfahrung eines um-
fassenden Sinns, eines Zusammenhangs zwischen Sprache und Sein,
zwischen Mensch und Welt und den Menschen untereinander. In diesem
Sinn lsst sich Teufelsdrckhs eigene Lebensgeschichte, wie sie im zwei-
ten Buch von Sartor Resartus wiedergegeben wird, als die Geschichte ei-
ner Sinnsuche und Sinnfindung begreifen, bei der die Erfahrung eines
umfassenden Sinns und eines immerwhrenden Sinnpotentials das glck-
liche Ende markiert. Or what is Nature?, heit es im Kapitel The
Everlasting Yea: Ha! why do I not name thee GOD? Art thou not the
Living Garment of God? O Heavens, is it, in very deed, HE, then, that
ever speaks through thee; that lives and loves in thee, that lives and loves
in me?90 Sobald sich diese Frage glcklich bejahen lsst, ist die Sinn-
haftigkeit des Universums gerettet und das menschliche Ich kann sich als
Sohn Gottes fhlen: The Universe is not dead and demoniacal, a char-
nelhouse with spectres; but god-like, and my Fathers!91
Damit scheint die Frage nach der Mglichkeit der Beziehung zwi-
schen Sprache und Welt und nach der Mglichkeit des Sinns von Spra-
che einer klaren Antwort zugefhrt worden zu sein. Aber ist diese Ant-
wort wirklich ausreichend? Der Hinweis auf die gttliche Herkunft des
intrinsischen Zeichens, welches die Erfahrung von Zusammenhang und
Sinn garantiert, stellt sich in einen eklatanten Widerspruch zur bereits
dargestellten Theorie der Traumgrotte, nach welcher das Leben auf Er-
den die Phantasie eines Traums, ein anhaltender Somnabulismus ist. Irri-
tierend ist allerdings der Umstand, dass Teufelsdrckhs hervorragendes
Beispiel fr ein intrinsisches Symbol nicht die Person Jesu ist, sondern
sein Leben, und nherhin die Beschreibung seines Lebens, seine Bio-
graphie. Insofern ist auch das intrinsische Symbol bei nherer Betrach-

89 Hegel: Werke (wie Anm. 69), Bd. 13, S. 395 (Vorlesungen ber die sthe-
tik I). Vgl. zur Parallele zwischen der Symboltheorie Teufelsdrckhs und
der Hegels auch Miller: Hieroglyphical Truth in Sartor Resartus (wie
Anm. 50), S. 8f.
90 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 143.
91 Ebd.

302
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

tung nicht so sehr ein direktes Produkt und eine direkte Manifestation des
Gttlichen durch sich selbst als vielmehr eine schriftliche Darstellung
des Gttlichen durch einen Menschen. Der Ursprung der Religion wie
der menschlichen Gemeinschaft ist in diesem Sinne jederzeit die Schrift,
die es vermag, das Gttliche berzeugend und wirksam in Worte zu fas-
sen.

Die Gttlichkeit der Schrift


Das Symbol und die Paradoxie des Sinns

Aus diesem Zusammenhang erklrt sich die Emphase, mit der Schrei-
ben im gesamten Text Carlyles aufgeladen ist. Be no longer a Chaos,
but a World, or even Worldkin. Produce! Produce! Were it but the piti-
fullest infinitesimal fraction of a Product, produce it in Gods name!,92
fordert sich Teufelsdrckh gegen Ende seiner Sinnsuche selbst auf, und
die Formel, er wolle in Gottes Namen produzieren, muss in diesem Zu-
sammenhang wrtlich verstanden werden: Der schreibende Mensch pro-
duziert in Gottes Namen, wenn es ihm gelingt, an den Sinn des eigenen
Schreibens zu glauben. Die Arbeit, zu der Teufelsdrckh sich auffordert,
kann demgem keine andere sein als die des Schreibens. Teufels-
drckhs Lob des Symbols wird demgem von einem Lob des Buches
begleitet:

Wondrous indeed is the virtue of a true Book. Not like a dead City of stones,
yearly crumbling, yearly needing repair; more like a tilled Field, but then a spi-
ritual Field: like a spiritual Tree, let me rather say, it stands from year to year,
and from age to age (we have Books that already number some hundred-and-
fifty human ages); and yearly comes its new produce of Leaves (Commentaries,
Deductions, Philosophical, Political Systems; or were it only Sermons, Pam-
phlets, Journalistic Essays), every one of which is talismanic and thaumaturgic,
for it can persuade men.93

So wie das Niederschreiben der Schrift in Hegels Phnomenologie des


Geistes das Paradigma der Bewegung des Aufhebens schlechthin darstellt
und die Schrift folglich als privilegierte Formel des dialektischen Pro-
zesses beschrieben werden kann,94 ist sie auch in Teufelsdrckhs Sym-

92 Ebd., S. 149.
93 Ebd., S. 132.
94 Vgl. Werner Hamacher: pleroma zu Genesis und Struktur einer dialektis-
chen Hermeneutik bei Hegel. In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Der
Geist des Christentums. Schriften 1796-1800. Mit bislang unverffent-

303
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

boltheorie unterschwellig das privilegierte Medium des symbolischen


Prozesses. Im Schreiben erffnet sich die Mglichkeit einer berwin-
dung der menschlichen Endlichkeit, indem das geschriebene Zeichen
Jahr fr Jahr und Generation fr Generation berdauert. Indem eine
Schrift zudem im Fall ihrer Kanonisierung nicht aufhrt, weitere
Schriften anzuregen und hervorzubringen (Kommentare, Deduktionen,
Pamphlete und Essays), ffnet sie einen Raum der Sprache. Teufels-
drckhs eigener Text mit all seinen Zitaten, Paraphrasen und Anspielun-
gen auf unzhlige weitere Texte, auf das gesamte Feld der Bibliothek
letztlich, fhrt deutlich genug vor, wie Texte aus Texten geboren werden.
Die Traumgrotte der Einbildungskraft, in der das Unendliche im End-
lichen erscheint, in der die menschliche Sprache sich auf die Welt
bezieht und in der Menschen miteinander kommunizieren, ist ein Traum
der Schrift, eine Bibliotheksphantasie (Foucault).
Das Modell des intrinsischen Symbols ist damit nichts anderes als die
Schrift. In dem geschriebenen Buch, und nur hier, tritt das Gttliche in
Erscheinung. Als Vorbild eines derart inspirierten und inspirierenden
Schreibens nennt Teufelsdrckh bezeichnenderweise denjenigen Autor,
der als einer der ersten gegen Ende des 18. Jahrhunderts versucht hat,
eine theologische Konzeption des Symbols zu entwickeln.

But there is no Religion? reiterates the Professor. Fool! I tell thee, there is.
Hast thou well considered all that lies in this immeasurable froth-ocean we
name LITERATURE? Fragments of a genuine Church-Homiletic lie scattered
there, which Time will assort: nay, fractions even of a Liturgy could I point out.
And knowest thou no Prophet, even in the vesture, environment, and dialect of
this age? None to whom the Godlike had revealed itself, through all meanest
and highest forms of the Common; and by him been again prophetically
revealed: in whose inspired melody, even in these rag-gathering and rag-bur-
ning days, Mans Life again begins, were it but afar off, to be divine? Knowest
thou none such? I know him, and name him Goethe.95

Die Parallele und Analogie zwischen Gott und Schreiber, die Carlyles
gesamten Text durchzieht, kulminiert hier in der Behauptung einer direk-
ten Identitt zwischen dem Godlike und Goethe. Was zunchst wie ein
bloes Wortspiel wirken knnte, erscheint im Zusammenhang der Be-
ziehung des intrinsischen Symbols zur Schrift als eine logische Konse-
quenz. Schreiben bringt Sinn hervor, Zusammenhnge, Prophezeiung,
Homiletik und Liturgie. Wenn sich in der durch diesen Zusammenhang

lichten Texten. Hrsg. von Werner Hamacher. Frankfurt am Main, Berlin,


Wien: Ullstein 1978, S. 7-333, hier: S. 236.
95 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 191.

304
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

gesetzten Annahme einer Verbindung und Kommunikation zwischen der


Sprache und der Welt die Mglichkeit von Sprechen und Schreiben be-
grndet, dann ist die Rede vom Gttlichen in Sartor Resartus die Be-
zeichnung fr eine Selbstbegrndung und Selbstvoraussetzung der Mg-
lichkeit des Schreibens durch das Schreiben.
In seiner eigentmlichen Metaphorik beschreibt Teufelsdrckh den
Umstand, dass jeder Schreibende zugleich die Mglichkeit von Sprache
begrndet und allein durch die bereits begrndete Mglichkeit schreiben
kann, durch die Dopplung von schneidern und geschneidert sein. So
heit es im achten Kapitel unvermittelt und ohne eine weitere Erlute-
rung: Strange enough, it strikes me, is this same fact of there being Tai-
lors and Tailored.96 Diese auf den ersten Blick kryptische Aussage er-
klrt sich erst durch die im weiteren Verlauf des Buchs entwickelte
Symboltheorie. Der Schneider ist derjenige, der schreibend, Texte we-
bend, eine symbolische Verbindung von Sprache und Welt hervorbringt,
die die Mglichkeit immer neuer Sinne gebiert; geschneidert ist aber
auch er, insofern er sich notwendig als Leser eines ihm vorausgehenden
Schreibers ausweisen muss, insofern er sich unmglich als der Gott
setzen kann, der in einem Akt des Fiat sich seine eigene Sprache vor-
aussetzen kann. Jede Schrift ist damit einerseits schreibend indem sie
Sprache als Mglichkeit von Sinn begrndet und geschrieben indem
sie sich niemals selbst begrnden kann, sondern nur eine bersetzung,
Kommentierung und Fortschreibung vorgngiger Texte (und handle es
sich dabei um das Buch der Natur) sein kann. Der durch sich selbst ge-
schneiderte Schneider der Sartor Resartus ist ein paradoxes und da-
rum unvorstellbares Wesen, dem der Akt der Selbstvoraussetzung ex ni-
hilo gelnge, der seine eigene Mglichkeit hervorbringt. Diese paradoxe
Bedingung ist aber die Bedingung des Sinns berhaupt, solange Sinn
nicht einfach tradiert und vererbt werden kann und deshalb in jedem Akt
des Schreibens neu erfunden werden muss.
Auch die lautliche Nhe von Godlike zu Goethe kann nicht darber
hinwegtuschen, dass keine intrinsische Symbolik das Gttliche durch
sich selbst darstellen kann. Damit kann man auf die sich im Abschnitt
ber das Buch der Natur ergebene Frage zurckkommen, ob es ein
Gott oder nur der menschliche Autor ist, der die Analogie zwischen
Schrift und Welt, zwischen Sein und Sprechen garantiert (und die
folglich gleichermaen lauten konnte: Ist das Symbol des Buches der
Natur intrinsisch oder extrinsisch?). Die Antwort auf diese Frage muss
nach der Lektre des Abschnitts ber Symbols paradox ausfallen: We-
der ein Gott noch ein Mensch kann die Voraussetzung und den Sinn von

96 Ebd., S. 44.

305
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Sprache garantieren, da diese Voraussetzung selbst im Medium des Sinns


und damit der Sprache geschehen msste und seinerseits wieder einer
Voraussetzung bedrfte. Gleich dem Kleiderphilosophen, der keine Ge-
nealogie erhlt, keine Ahnen und Vorfahren und nicht allein von obsku-
rer, sondern gnzlich ohne Herkunft zu sein scheint97 und seinen El-
tern von einem Fremden in einem kleinen Korb berreicht wird, wird
Sprache nicht geschaffen, sondern setzt sich in jedem Akt des Sprechens
selbst. Sinn wird nicht vorausgesetzt, sondern geschieht punktuell, ab-
rupt, beziehungslos, unverstndlich und daher seinerseits unsinnig. Die
Setzung der Sprache, schreibt Hans-Jost Frey in diesem Sinn,

ist auf nichts zurckbeziehbar. Sie ist ein abrupter, beziehungsloser Akt, der in
seiner Unbezogenheit ohne Bedeutung und Sinn ist. Dass es Sprache gibt, ist
nicht verstehbar. Jeder Sprechakt hat insofern, als in ihm die Sprache selbst
sich setzt, an dieser Abruptheit teil. Jedes Sinngefge verdankt sich letztin-
stanzlich einem Setzungsakt, der ohne Sinn ist und das Gefge dadurch auf-
reit, da er sich auf keine Weise in dieses integrieren lt.98

Aus dieser Paradoxie des Sinns folgt zunchst, dass die Unterscheidung
zwischen intrinsischen und extrinsischen Symbolen kollabiert und in sich
zusammenbricht.99 Das intrinsische Symbol ist gleichermaen nicht
durch das Gttliche selbst bestimmt wie das extrinsische nicht durch den
Menschen. Die Externalitt noch des inneren Symbols zeigt sich in Teu-
felsdrckhs Ausfhrungen beispielhaft bereits an dem Punkt, an dem er
die Zeitlichkeit und Vergnglichkeit des Symbols einrumen muss. So
schreibt Teufelsdrckh:

But, on the whole, as Time adds much to the sacredness of Symbols, so like-
wise in his progress he at length defaces, or even desevrates them; and Sym-
bols, like all terrestrial Garments, wax old. Homers Epos has not ceased to be
true; yet it is no longer our Epos, but shines in the distance, if clearer and clea-
rer, yet also smaller and smaller, like a receding star.100

97 Vgl. ebd., S. 63: Unhappily, indeed, he seems to be of quite obscure ex-


traction; uncertain, we might almost say, whether of any: so that this Ge-
nesis of his can properly be nothing but an Exodus (or transit out of Invi-
sibility into Visibility).
98 Hans-Jost Frey: Die Verrcktheit der Wrter. In: ders.: Die Autoritt der
Sprache. Lana, Wien, Zrich: Edition Holweg + edition per procura
1999, S. 253-285, hier: S. 275.
99 Vgl. aus einer anderen Perspektive Miller: Hieroglyphical Truth in Sar-
tor Resartus (wie Anm. 50), S. 12.
100 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 170.

306
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Insofern das Symbol nichts weiter als ein irdisches Kleid des Unendli-
chen ist, ist es nichts anderes als ein Bestandteil der Traumgrotte, wel-
che das Leben auf Erden zu einem wachen Traum, einem Somnabulis-
mus macht.
Daraus folgt, dass Teufelsdrckhs Symboltheorie ihre Herkunft nicht
allein und nicht in erster Linie von derjenigen Goethes ableiten kann,
sondern weitaus eher von derjenigen Kants. In den Prolegomena zu einer
jeden knftigen Metaphysik fhrt Kant das Konzept des symbolischen
Anthropomorphismus ein, der keine Aussagen ber Gott an sich zu tref-
fen wagt, sondern allein ber die Beziehung zwischen Gott und der Welt
spricht.101 Der Modus des symbolischen Sprechens ist fr Kant ein sol-
cher, der ber die Grenzen seines eigenen Wissens und Sprechens wei.
Dieses Sprechen versucht, im Sprechen bewusst zu sein, dass es nur ein
analogisches Sprechen ber den Gegenstand zu sein und nichts ber den
Gegenstand an sich auszudrcken vermag.102
In diesem Sinn ist das Symbol fr Teufelsdrckh durch die Dopplung
von Verbergen und Zeigen, von Schweigen und Sprechen bestimmt ist.
In a Symbol, schreibt Teufelsdrckh, there is concealment and yet re-
velation: here, therefore, by Silence and by Speech acting together, co-
mes a doubled significance.103 Das Symbol verbirgt und verschweigt,
insofern es das Produkt (und insofern auch eine Reprsentation) des Un-
endlichen zu sein vorgibt, welches es nicht sein kann. Es ist keine ber-
tragung und keine Metapher, insofern die Analogie zwischen der Sphre
des Endlichen und der des Unendlichen jederzeit nicht mehr als eine
Tuschung und ein Traum ist. Teufelsdrckhs Theorie des Symbols ist
nicht nur eine Theorie des Kleids, sondern zugleich der Verkleidung, der
Enthllung und Verhllung.104

101 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 232f.
102 Vgl. auch Kap. II. 4 sowie zu Kants Schwierigkeit, zwischen figurativer
und nichtfigurativer Sprache also zwischen symbolischem und dogma-
tischem Anthropomorphismus zu unterscheiden: Kap. I. 5.
103 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 166.
104 Darin ist sie einer Germanistik berlegen, die in ebenso blinder wie epi-
gonaler Goetheverehrung die Essenz der Textilmetaphorik immer noch
darin sieht, ein Symbol im Sinne Goethes zu sein: bedeutungsvolle
Anschaulichkeit aus einer [...] vielfachen Verknpfung (Daniel Fulda:
Der Wahrheit Schleier aus der Hand der Dichtung. Textilmetaphern als
Vehikel und Reflexionsmedium sthetisch-wissenschaftlicher Transfe-
renzen um 1800. In: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als
Medium und Metapher. Hrsg. von Johannes Endres, Barbara Wittmann
und Gerhard Wolf. Mnchen: Fink 2005, S. 165-184, hier: S. 165).

307
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

So wie bertragung und bersetzung die zentrale poetologische Me-


tapher des Buchs ist, wird bersetzung aus diesem Grund notwendig in
ihrem Scheitern vorgefhrt. Die Versuche des Editors, die Texte Teu-
felsdrckhs zu bersetzen und zu kommentieren, zeigen immer wieder
deren Unverstndlichkeit und Unbersetzbarkeit; Teufelsdrckhs eigene
Versuche, in den Erfahrungen eines umfassenden Sinns die schreibende
Hand Gottes zu begreifen, fhrt im Gegenzug die Unbegreifbarkeit und
Zusammenhanglosigkeit jedes Sinns vor. In diesem scheiternden Bezug,
in dieser scheiternden Darstellung und bersetzung ist sein Text (und
das Symbol berhaupt) dennoch eine Verkrperung und Offenbarung
des Unendlichen.
Das Symbol verbirgt und verschweigt nicht nur; es zeigt und spricht
ber die Unangemessenheit der Trume und Phantasmen innerhalb der
Traumgrotte zu der berirdischen Welt des Unendlichen. Wie Humor
fr Jean Paul dasjenige endliche Zeichen ist, das sich im Konflikt mit an-
deren endlichen Zeichen selbst vernichtet und dadurch negativ und in-
direkt auf etwas Unendliches verweist, ist das Symbol fr Teufelsdrckh
eine negative Bezeichnung, die durch ihre eigene Vernichtung auf das
Unbezeichenbare verweist. Die Einsicht in die Grenzen des Darstellbaren
in die Grenzen der Traumgrotte des Lebens ist aber jederzeit zu-
gleich eine Einsicht in die Grenzen des eigenen Verstandes und des eige-
nen Vermgens. Aus diesem Grund besitzt die Erfahrung des Unendli-
chen fr Teufelsdrckh eine notwendige Nhe zum Wahnsinn.
Der Wahnsinn Teufelsdrckhs ist demnach keine Schwche seiner
Vernunft, sondern im Gegenteil eine Folge des Konflikts zwischen Ver-
nunft und Verstand in Teufelsdrckh. Wie der Enthusiasmus fr Kant
und E.T.A. Hoffmann, so ist auch der Wahnsinn Teufelsdrckhs ein
Wahnsinn der Vernunft, die das Unendliche zu greifen versucht und in
einen notwendigen Konflikt mit der endlichen Instanz des Verstandes ge-
rt. Den Konflikt zwischen der Vernunft und dem Verstand spricht Car-
lyle in seinem Aufsatz ber Novalis explizit an. Mit der gleichen Empha-
se, mit der Kant in seinem Versuch ber die Krankheiten des Kopfes
schreibt, ohne den Enthusiasmus sei niemals [...] in der Welt etwas Gro-
es ausgerichtet worden,105 erklrt Carlyle die Vernunft, die sich ber
die Grenzen des Verstandes hinwegsetzt, kurzerhand fr die Grundlage
aller Poetry, Virtue, Religion:

We allude to the recognition, by these transcendentalists, of a higher faculty in


man than Understanding; of Reason (Vernunft), the pure, ultimate light of our
nature; wherein, as they assert, lies the foundation of all Poetry, Virtue, Reli-
gion; things which are properly beyond the province of the Understanding, of

105 Vgl. zum Enthusiasmus bei Kant Kap. II. 4.

308
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

which Understanding can take no cognisance, except a false one. The elder Ja-
cobi, who indeed is no Kantist, says once, we remember: It is the instinct of
Understanding to contradict Reason.106

Jacobi beschreibt das Verhltnis zwischen Verstand und Vernunft in die-


sem Sinn tatschlich als spannungsreich. In Von den gttlichen Dingen
und ihrer Offenbarung (1811) vergleicht Jacobi das Verhltnis zwischen
Verstand und Vernunft in einer biblischen Analogie mit demjenigen
zwischen Fleisch und Geist: Denn wie nach dem Paulinischen
Spruch, das Fleisch gelstet wider den Geist, der Geist aber wider das
Fleisch, und beide wider einander sind; so im Menschen auch sein Ver-
stand und seine Vernunft.107
Carlyle fhrt die Einsicht in diesen Konflikt zwischen Verstand und
Vernunft ausdrcklich auf Kant zurck. Auch wenn angemerkt wurde,
dass Kant diesem Gegensatz nicht htte zustimmen knnen,108 ist er in
der Kritik der Urteilskraft, in der Analytik des Erhabenen, durchaus an-
gelegt. Wenn Kant auch hier nachdrcklich auf den Enthusiasmus als die
Gemtsstimmung des Erhabenen hinweist, dann verdeutlicht das, inwie-
weit Enthusiasmus fr Kant diejenige Form des Wahnsinns ist, die durch
eine bewundernswerte berhebung der Vernunft ber den Verstand her-
beigefhrt wird. In diesem Sinn ist auch der Wahnsinn von Carlyles Pro-
tagonist Teufelsdrckh eine Form des Enthusiasmus.

I V . 4 b e r s e t z u n g u n d W a hn si n n

An authentic Demon-Empire

Der Wahnsinn lauert in Sartor Resartus entsprechend, wie bereits im Fall


der Enthusiasten Hoffmanns, stets dort, wo die Erfahrung der Unzulng-
lichkeit der eigenen Sprache gemacht wird. Eine typische Passage findet
sich etwa gegen Ende des ersten Buchs. Hier beschreibt der Herausgeber
die Mglichkeiten und Gefahren seiner Arbeit des bersetzens:

Daily and nightly does the Editor sit (with green spectacles) deciphering these
unimaginable Documents from their perplex cursiv-schrift; collating them with

106 Carlyle: Novalis (wie Anm. 54), S. 442f.


107 Friedrich Heinrich Jacobi: Von den gttlichen Dingen und ihrer Offenba-
rung [1811]. In: ders.: Werke. Hrsg. von Klaus Hammacher und Walter
Jaeschke. Hamburg: Meiner; Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holz-
boog 2000, Bd. 3, S. 3-138, hier: S. 109.
108 Wellek: Carlyle und die deutsche Romantik (wie Anm. 24), S. 62.

309
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

the almost equally unimaginable Volume, which stands in legible print. Over
such a universal medley of high and low, of hot, cold, moist and dry, is he here
struggling [...] to build a firm Bridge for British travellers. Never perhaps since
our first Bridge-builders, Sin and Death, built that stupendous Arch from Hell-
gate to the Earth, did any Pontifex, or Pontiff, undertake such a task as the pre-
sent Editor. For in this Arch too, leading as we humbly presume, far otherwards
than that great primeval one, the materials are to be fished up from the welte-
ring deep, and down from the simmering air, here one mass, there another, and
cunningly cemented, while the elements boil beneath: nor is there any superna-
tural force to do it with; but simply the Diligence and feeble thinking Faculty of
an English Editor, endeavouring to evolve printed Creation out of a German
printed and written Chaos, wherein, as he shoots to fro in it, gathering cluthing,
piecing the Why to the far-distant Wherefore, his whole Faculty and Self are
like to be swallowed up.109

In wenigen Stzen entwirft diese Passage ein Drama en miniature, das


sowohl das Versprechen als auch das notwendige Scheitern der ber-
setzung vorfhrt. Der bersetzer ist hier zunchst eine quasi-demiurgi-
sche Figur, der aus einem deutschen Chaos nicht weniger als eine
Schpfung hervorgehen lassen muss. Die Aufgabe (task) des He-
rausgebers ist es, eine Brcke zu bauen, die einen hnlich unberwind-
lich scheinenden Graben zu berwinden hat wie die Brcke zwischen
dem Hllentor und der Erde, die von der Snde und dem Tod gebaut
wurde. Gleich dieser Brcke muss die Brcke, die die bersetzung ist,
eine Verbindung herstellen zwischen Elementen, die in keinerlei Bezie-
hung stehen. Im Gegensatz zum blichen Verstndnis, dass die ber-
setzung als eine bertragung, als ein Transport eines Dings oder einer
Botschaft von einem Ort zu einem anderen versteht, zeigt es sich hier
als die Aufgabe des bersetzers, eine Brcke zu bauen, welche die Mg-
lichkeit eines Transports, einer Kommunikation herstellen soll. Er-
schwert wird diese Aufgabe dadurch, dass diese Brcke nicht einfach
eine Verbindung ber einen Fluss und nicht einmal von einem Ort zu ei-
nem anderen herstellen soll, sondern von einem Ort zu einem Nicht-Ort.
Indem er aus dem Chaos eine Schpfung erstellt, erschafft der
Herausgeber das von ihm bersetzte und Herausgegebene. Indem er das
Unverstndliche verstndlich und das Unvorstellbare (these unimagi-
nable Documents) vorstellbar machen will, verhilft er dem Objekt sei-
ner Ttigkeit zuallererst zu einer konkreten Gestalt, in der es wahrnehm-
bar werden kann. Seine Arbeit des Verbindens und Ordnens (gathering
cluthing, piecing) verwandelt, vergleichbar dem Prozess der transzen-
dentalen Synthesis in Kants Schema des Verstandes, Un-Sinn in Sinn.

109 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 61f.

310
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

Um im Register der biblischen Metaphorik und Allusionen zu bleiben,


kann man sagen, die Aufgabe des bersetzers und Herausgebers, eine
Brcke von einer Sprache in die andere zu bauen, verspricht kaum we-
niger als eine Zurcknahme der Sprachverwirrung nach dem Turmbau zu
Babel.
Die quasi-demiurgische Beschreibung dieses Aktes, bei dem der
Baustoff aus der tumultarisch wogenden Tiefe oder der brodelnden Luft
herbeigeholt wird, um ihm zu einer zusammengefgten Ordnung zu ver-
kitten, lsst die bersetzung jedoch zugleich als eine Wiederholung der
hybris des Turmbaus erscheinen, der in der Verwirrung der Sprachen en-
dete. Das Gelingen der demiurgengleichen Aufgabe wird durch die unzu-
reichenden Mittel des mit der Aufgabe Bedachten, dem nichts als
menschlicher Flei und ein schwaches Denkvermgen (Diligence and
feeble thinking Faculty) zur Verfgung stehen, ironisch in Frage ge-
stellt. Die Notwendigkeit seines Scheiterns ist demgem in die Be-
schreibung der Aufgabe des Herausgebers eingeschrieben. Das unvor-
stellbare Objekt bleibt jeder Vorstellung unerreichbar.
Indem das chaotische Denken des deutschen Professors jedes Adjek-
tiv mit seinem exakten Gegenteil zusammenfallen lsst hoch mit nied-
rig, hei mit kalt, feucht mit trocken (a universal medley of high and
low, of hot, cold, moist and dry) , erschttert es nicht nur jegliche
Mglichkeit, Differenzen zwischen Dingen zu erkennen, sondern zu-
gleich jede Mglichkeit einer Sprache, die auf der Markierung von Diffe-
renz beruht. Die bersetzung stiftet Sprache und Kommunikation, aber
im gleichen Akt geht die Mglichkeit von beiden wieder verloren. Die
Verwandlung der nicht mit Sinn erfllten Materie in Sinn droht daran zu
scheitern, dass das im Sinn Gesagte die Ordnung des Sinns berhaupt in
Frage stellt. Wenn die bersetzung nicht einfach eine vorhandene Mittei-
lung von einer Person zu einer anderen berbringen soll, sondern, wie
Carlyles Herausgeber es beschreibt, die Mglichkeit einer solchen ber-
tragung und Kommunikation erst herstellen soll, dann steht mit dem not-
wendigen Scheitern dieses Vorhabens letztlich die Sprache und das ge-
samte Denken des Herausgebers auf dem Spiel. In dem Moment, in dem
er sich vornimmt, das Chaos in eine Ordnung zu bringen und einen Zu-
sammenhang zu bringen, droht es im Gegenzug ihn selbst und seine gan-
zen Vermgen (his whole Faculty and Self) zu verschlingen und zu
vernichten. In dieser Gefahr des Verlusts von Vermgen und Selbst er-
weist sich das Chaos, der Unsinn, der die Konstituierung von Sinn be-
droht, als die Gefahr des Wahnsinns. Dadurch, dass sie die Selbstver-
stndlichkeit der eigenen Sprache verlsst, ist jede bersetzung dem

311
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Wahnsinn ausgeliefert.110 In einer Fortfhrung der Definition des Wahn-


sinns durch Foucault als Abwesenheit eines Werkes,111 kann man sa-
gen, der Wahnsinn sei fr Carlyles Herausgeber eine notwendige Abwe-
senheit, die im Werk und im Wirken selbst am Werk ist. Jede Konstituie-
rung des Sinns kann von dem Wahnsinn im Sinn gefhrdet werden.
Die gleiche Problematik spricht Carlyle in seinem Essay Past and
Present (1843) an. Das zwlfte Kapitel des dritten Buches (Reward)
entwickelt nichts geringeres als eine Sakralisierung der menschlichen Ar-
beit. All true Work is sacred, schreibt Carlyle hier mit Emphase; in
all true Work, were it but true hand-labour, there is something of divine-
ness.112 Inmitten dieser Theologie der reinen und wahren Handarbeit,
die den Menschen vergttlicht, findet sich eine Passage, die darauf Be-
zug nimmt, dass jede Herstellung, jede Bewerkstelligung demjenigen ab-
gerungen werden muss, das wesentlich Chaos, Unsichtbarkeit, Schwei-
gen und tatschlich: Wahnsinn ist. He who takes not counsel of the
Unseen and Silent, schreibt Carlyle,

from him will never come real visibility and speech. Thou must descend to the
Mothers, to the Manes, and Hercules-like long suffer and labour there, wouldst
thou emerge with victory into the sunlight. [...] O, it is a business, as I fancy,
that of weltering your way through Chaos and the murk of Hell! Green-eyed
dragons watching you, three-headed Cerberuses not without sympathy of
their sort! [...] For in fine, as Poet Dryden says, you do walk hand in hand with
sheer madness, all the way who is by no means pleasant company! You look
fixedly into Madness, and her undiscovered, boundless, bottomless Night-em-
pire; that you may extort new Wisdom out of it, as an Eurydice from Tartarus.
The higher the Wisdom, the closer was its neighbourhood and kindred with me-
re Insanity; literally so; and thou wilt, with a speechless feeling, observe how
highest Wisdom, struggling up into this world, has oftentimes carried such tinc-
tures and adhesions of Insanity still cleaving to it hiter! All works, each in their

110 Vgl. Shoshana Felman: Writing and Madness (Literature, Philosophy,


Psychoanalysis). bers. von Martha Noel Evans und Shoshana Felman.
Ithaca, NY.: Cornell University Press 1987, S. 18f.
111 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des
Wahns im Zeitalter der Vernunft [1961]. bers. von Ulrich Kppen. 12.
Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wis-
senschaft. 39), S. 12; Michel Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines
Werkes [1964]. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Daniel Defert
und Franois Ewald. bers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek
und Hermann Kocyba. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft. 1675), S. 175-185.
112 Thomas Carlyle: Past and Present [1843]. Introduction by Douglas Jer-
rold. London: Dent & Sons 1960, S. 194.

312
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)

degree, are a making of Madness sane; truly a religious operation; which can-
not be carried on without religion.113

Die Nhe der Weisheit zum schieren Wahnsinn erscheint hier freilich
weniger bedrohlich als in den Notizen des Herausgebers von Sartor Re-
sartus. Der Wahnsinn ist ein steter Begleiter des Arbeitenden und Schaf-
fenden (er geht mit ihm hand in hand), aber er ist letztlich dasjenige,
das durch die Arbeit in Gesundheit transformiert und verwandelt werden
kann. Arbeit ist nunmehr dasjenige, das den Wahnsinn in Nicht-Wahn-
sinn verwandelt, nicht mehr etwas, das selbst vom Wahnsinn affiziert ist
und die Gesundheit bedrohen kann. Whrend hier die Religion den Glau-
ben an die Gesundheit der Arbeit retten kann, bleibt dem verzweifelten
Herausgeber in Sartor Resartus nur die vage Hoffnung auf sein eigenes,
schwaches Vermgen, das er keineswegs mit einer bernatrlichen Kraft
verwechselt sehen will (nor is there any supernatural force to do it
with).
In diesem Sinn spricht Teufelsdrckh von dem Wahnsinn, der in der
Seele des Weisesten wohnt und unter seiner Welt als sein dunkles Funda-
ment haust:

Notable enough too, here as elsewhere, wilt thou find the potency of Names;
which indeed are but one kind of such Custom-woven, wonder-hiding gar-
ments. Witchcraft, and all manner of Spectre-work, and Demonology, we have
now named Madness, and Diseases of the Nerves. Seldom reflecting that still
the new question comes upon us: What is Madness, what are Nerves? Ever, as
before, does Madness remain a mysterious-terrific, altogether infernal boiling
up of the Nether Chaotic Deep, through this fair-painted Vision of Creation,
which swims thereon, which we name the Real. Was Luthers Picture of the
Devil less a reality, whether it were formed within the bodily eye, or without it?
In every wisest Soul, lies a whole world of internal Madness, an authentic De-
mon-Empire; out of which, indeed, his world of Wisdom has been creatively
built together, and now rests there, as on its dark foundations does a habitable
flowery Earth-rind.114

Unterhalb dessen, was wir die Vision der Schpfung, der Wirklichkeit
nennen, haust der Wahnsinn als die Einsicht darin, dass jede Vorstellung
der Wirklichkeit nur eine sprachliche Konstruktion der Einbildungskraft
ist, in der ein Teufel ebenso wirklich und mchtig sein kann wie ein D-
mon.

113 Ebd., S. 198f.


114 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 196f.

313
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Der Wahnsinn Teufelsdrckhs ist demgem ein gnzlich anderer als


der Unsinn und die Verwirrtheit, die er den Metaphysikern und Akade-
mikern seiner Zeit anlastet. Diese glauben dogmatisch an den Sinn der
eigenen Worte und behaupten, ber das Sichtbare und Unsichtbare, so
wie es ist, sprechen zu knnen und geben aus diesem Grund keine sinn-
volle Sprache, sondern nur irrsinniges Gestammel (words, words) von
sich. Teufelsdrckhs dream-theorem einer Philosophie wei dage-
gen, dass es nichts wei; es wei um die Grenzen des eigenen Wissens
und noch ber die Grenzen dieses Wissens ber das eigene Wissen. Teu-
felsdrckhs Sprache ist gleichfalls geschwtzig, laut und redundant, aber
in dieser Geschwtzigkeit zeigt sich die Grenze endlicher Sprache und
Erkennbarkeit und zeigt darin, negativ und indirekt, die Unerreichbarkeit
des Unendlichen. Weil er bemerkt hat, dass sich unter der dnnen,
fruchtbaren Schicht des Sinns in seinen Worten und Werken ein ganzes
Dmonenreich des Unsinns und Wahnsinn verbirgt, sind ihm die Gren-
zen des Sinns insgesamt erfahrbar geworden.
Natrlich zeigt die Schilderung dieses Wahnsinns alle Zge einsamer
Melancholie. Zu denken ist vor allem an die Szenerie im dritten Kapitel
des ersten Buchs, die Teufelsdrckh in seinem hchsten Haus der Wahn-
gasse in Weinichtwo ber den Dchern der Ortschaft sitzend vorfhrt.
Die Menschen unter ihm sind geschftig, with all their doing and dri-
ving (Thun und Treiben),115 indem sie den Traum ihres Lebens leben,
whrend Teufelsdrckh in seiner Wohnung sitzt, ber allem und alleine
mit den Sternen (But I, mein Werther, sit above it all; I am alone with
the Stars116). Zumindest an einer Stelle deutet der Herausgeber jedoch
auch an, dass die Erfahrung des Wahnsinns auch mit der Frhlichkeit ei-
nes unbeschwerten Lachens einhergehen kann. Dass der Anlass dieses
Lachens der Humor Jean Pauls ist, kann nun nicht mehr berraschen. So
berichtet der Herausgeber:

Here, however, we gladly recall to mind that once we saw him laugh; once
only, perhaps it was the first and last time in his life; but then such a peal of
laughter, enough to have awakened the Seven Sleepers! It was of Jean Pauls
doing: some single billow in that vast world-Mahlstrom of Humour, with its
Heaven-kissing coruscations, which is now, alas, all congealed in the frost of
Death!117

115 Ebd., S. 16.


116 Ebd., S. 18.
117 Ebd., S. 25.

314
V. D I E V E R R C K T H E I T DES SINNS. NACHWORT
Was dem gesunden Menschenverstand
Wahnsinn dnkt, hat in Hegel auch fr jenen
lichte Momente. Von ihnen her kann der
gesunde Menschenverstand Hegel sich nhern,
wofern er es sich nicht aus Ha verbietet, wie
ihn freilich Hegel selbst in der Differenzschrift
als jenem Menschenverstand eingeboren
diagnostizierte.
(Theodor W. Adorno: Skoteinos oder Wie zu
lesen sei)1

1.

Schon frh beginnt die Philosophie, Sprache als ein Medium wahrzuneh-
men, welches Gedanken nicht einfach transportiert, sondern das die
Formung dieser Gedanken wesentlich bestimmt und wesentlich limitiert.
Dies beginnt nicht erst mit Nietzsches Reflexionen ber die Sprache im
auermoralischen Sinne. Einen systematisch grundierten Zweifel an der
Mglichkeit philosophischer Erkenntnis im Medium der Sprache trgt
bereits Hegel vor. So kritisiert Hegel in der Vorrede zur Phnomenolo-
gie des Geistes vehement den Dogmatismus der Denkungsart im Wissen
und im Studium der Philosophie, der nichts anderes sei als die Mei-
nung, da das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat ist oder auch
der unmittelbar gewut wird, bestehe.2 Zweifellos setzt Hegel im Um-
kehrschluss auf die Mglichkeit eines Satzes, der nicht unmittelbares,
sondern vermitteltes Wissen ermglicht: Nichts anderes ist seine dialekti-
sche Methode. Die elementare Methode der Philosophie besteht Hegel

1 Theodor W. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei. In: ders.: Drei Stu-
dien zu Hegel [1963]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (Suhrkamp Ta-
schenbuch Wissenschaft. 110), S. 84-133, hier: S. 88f.
2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von
1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 3, S. 41 (Ph-
nomenologie des Geistes).

315
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

zufolge darin, die Gegenstnde ihres Wissens nicht als feststehende Ge-
genstnde zu begreifen und ihre Objekte eben nicht als Objekte, son-
dern als lebendige, in sich vernderliche Wesenheiten. Die Philosophie
dagegen, schreibt Hegel,

betrachtet nicht [die] unwesentliche Bestimmung, sondern sie, insofern sie we-
sentliche ist; nicht das Abstrakte oder Unwirkliche ist ihr Element und Inhalt,
sondern das Wirkliche, sich selbst Setzende und in sich Lebende, das Dasein in
seinem Begriffe. Es ist der Proze, der sich seine Momente erzeugt und durch-
luft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus.3

Wenn das Wahre fr Hegel damit nichts anderes ist als der bacchan-
tische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist,4 dann muss es ihm
umso problematischer erscheinen, dass die traditionelle Form philosophi-
schen Wissens das Urteil als einfache und unvermittelte Aussage ber
eine vermeintliche Wahrheit eine Nchternheit aufweist, die diesem
Taumel in keiner Weise angemessen erscheint.

Es ist aber nicht schwer einzusehen, da die Manier, einen Satz aufzustellen,
Grnde fr ihn anzufhren und den entgegengesetzten durch Grnde ebenso zu
widerlegen, nicht die Form ist, in der die Wahrheit auftreten kann. Die Wahr-
heit ist die Bewegung ihrer an sich selbst; jene Methode aber ist das Erkennen,
das dem Stoffe uerlich ist.5

Das Urteil als die traditionelle Form des philosophischen Denkens er-
scheint in dieser Perspektive als grundstzlich fragwrdig, denn in seiner
Form (x ist y) liegt bereits eine Objektivierung und Abstraktion, die
dem bacchantischen Taumel des Begriffs entgegensteht. Die alte Me-
taphysik, schreibt Hegel in der Enzyklopdie, habe nicht untersucht, ob
solche Prdikate an und fr sich etwas Wahres seien, noch ob die Form
des Urteils Form der Wahrheit sein knne.6 Hegel, so kommentiert
Adorno, demonstrierte, da Begriff, Urteil, Schlu, unvermeidliche In-
strumente, um mit Bewutsein eines Seienden berhaupt sich zu ver-
sichern, jeweils mit diesem Seienden in Widerspruch geraten; da alle

3 Ebd., S. 46.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 47.
6 Ebd., Bd. 8, S. 94 (Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften,
28).

316
V. NACHWORT

Einzelurteile, alle Einzelbegriffe, alle Einzelschlsse, nach einer empha-


tischen Idee von Wahrheit, falsch sind.7
Der philosophische Satz, wie Hegel ihn dagegen konzipiert, zeich-
net sich durch einen bestndigen Kampf mit der Form des Satzes und
also mit der gesamten Grammatik der gewhnlichen Sprache aus, in-
dem er die durch die Form der Aussage unvermeidlichen Irrtmer durch
den Inhalt der Aussage zu stren versucht. So schreibt Hegel in der
Vorrede zur Phnomenologie des Geistes:

Der philosophische Satz, weil er Satz ist, erweckt die Meinung des gewhnli-
chen Verhltnisses des Subjekts und Prdikats und des gewhnlichen Verhal-
tens des Wissens. Dies Verhalten und die Meinung desselben zerstrt sein phi-
losophischer Inhalt; die Meinung erfhrt, da es anders gemeint ist, als sie
meinte, und diese Korrektion seiner Meinung ntigt das Wissen, auf den Satz
zurckzukommen und ihn nun anders zu fassen.8

Diese Korrektion kann jedoch nicht in der Form eines simplen Urteils,
einer einfachen Feststellung gemacht werden, da diese wieder in die
Form des gewhnlichen Verhaltens des Wissens zurckfallen und die
grammatische Suggestion der Objektivitt eher sttzen als zerstren
wrde. Da die Form des Satzes aufgehoben wird, mu nicht nur auf
unmittelbare Weise geschehen, nicht durch den bloen Inhalt des Sat-
zes,9 ergnzt Hegel deshalb. Sondern diese entgegengesetzte Bewe-
gung mu ausgesprochen werden; sie mu nicht nur jene innerliche
Hemmung, sondern dies Zurckgehen des Begriffs in sich mu darge-
stellt sein.10
Gegen die traditionelle philosophische Sprache des einfachen Urteils
und des Schlusses setzt Hegel eine anspruchsvolle Arbeit des Begriffs,
die jederzeit eine durch einen Begriff geleistete Arbeit (seine immer wie-
der neue Kontextualisierung und Verwirklichung) ist und eine Arbeit, die
ein Leser am Begriff und also in der Lektre des philosophischen Textes
zu leisten hat. Das Verstndnis eines Satzes setzt das Verstndnis eines
zuvor oder danach geschriebenen Satzes notwendig voraus und modi-
fiziert es zugleich: Die Bewegung des Begriffs in sich verlangt eine be-

7 Theodor W. Adorno: Erfahrungsgehalt. In: ders.: Drei Studien zu Hegel


[1963]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (Suhrkamp Taschenbuch Wis-
senschaft. 110), S. 53-83, hier: S. 72.
8 Hegel: Werke (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 60 (Phnomenologie des Geistes).
9 Ebd., S. 61.
10 Ebd.

317
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

wegliche, eine der Bewegung nachdenkende Lektre.11 Es wird jederzeit


und immer wieder ntig sein, auf den Satz zurckzukommen und ihn
nun anders zu fassen: Die Lektre des philosophischen Textes wird not-
wendigerweise zur vielfachen Bemhung.12 Der Text stellt sich gegen
die Erwartungen des gesunden Menschenverstands und riskiert bewusst
die Gefahr der Unverstndlichkeit.13
Auf eine kaum zu berbietende Art und Weise setzt sich die Philoso-
phie damit in einen offenen Gegensatz zum gewhnlichen Denken, zur
Normalitt, zum gesunden Menschenverstand in all seinen Formen.

In Ansehung der eigentlichen Philosophie sehen wir fr den langen Weg der
Bildung, fr die ebenso reiche als tiefe Bewegung, durch die der Geist zum
Wissen gelangt, die unmittelbare Offenbarung des Gttlichen und den gesun-
den Menschenverstand, der sich weder mit anderem Wissen noch mit dem ei-
gentlichen Philosophieren bemht und gebildet hat, sich unmittelbar als ein
vollkommenes quivalent und so gutes Surrogat ansehen, als etwa die Zichorie
ein Surrogat des Kaffees zu sein gerhmt wird,14

spottet Hegel. Sowohl unmittelbare Offenbarung als auch gesunder


Menschenverstand werden durch eine falsche Unmittelbarkeit charakte-
risiert; beide bestehen auf der Meinung des gewhnlichen Verhltnisses
des Subjekts und Prdikats,15 d.h.: sie glauben, einem Subjekt ein ein-
deutiges Prdikat zusprechen zu knnen, als ob sie es unvermittelt, an
sich und unvernderlich erkennen knnten.
In der Enzyklopdie heit es ber die alte Metaphysik: Die Vo-
raussetzung der alten Metaphysik war die des unbefangenen Glaubens
berhaupt, da das Denken das Ansich der Dinge erfasse, da die Dinge,
was sie wahrhaft sind, nur als gedachte sind. [...] Sie nahm die abstrakten
Denkbestimmungen unmittelbar auf und lie denselben dafr gelten, Pr-

11 Er [Hegel, O.K.] verlangt objektiv, nicht blo, um den Lesenden an die


Sache zu gewhnen, die mehrfache Lektre. Stellt man freilich alles da-
rauf, so kann man ihn abermals verfehlen (Adorno: Skoteinos oder Wie
zu lesen sei [wie Anm. 1], S. 86).
12 Hegel: Werke (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 63 (Phnomenologie des Geistes).
13 Vgl. ebd., S. 60. Vgl. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei (wie Anm.
1), S. 84: Im Bereich groer Philosophie ist Hegel wohl der einzige, bei
dem man buchstblich zuweilen nicht wei und nicht bndig entscheiden
kann, wovon berhaupt geredet wird, und bei dem selbst die Mglichkeit
solcher Entscheidung nicht verbrieft ist.
14 Ebd., S. 63.
15 Ebd., S. 60.

318
V. NACHWORT

dikate des Wahren zu sein.16 Die alte d.h. vorkritische Metaphy-


sik tritt damit jedoch, ebenso wie die unmittelbare Offenbarung und
der gesunde Menschenverstand in die Nhe der Verrcktheit, die He-
gel wie zuvor Kant wesentlich als eben diese Verwechslung von Zeichen
und Realitt bestimmt, die den unbefangenen Glauben an eine Identitt
von Gedanke und Ding erst mglich macht.
In der Vorrede zur Phnomenologie des Geistes spricht Hegel ent-
sprechend nicht allein von Unwissenheit und [...] form- wie geschmack-
loser Roheit,17 nicht allein von der gemeinen Unbestimmtheit und
Drftigkeit des gemeinen Menschenverstandes,18 sondern auch von ei-
ner nicht rsonierenden Einbildung auf ausgemachte Wahrheiten.19
Durch diese Einbildungen kann eine Verwirrung im gesunden Men-
schenverstand entstehen, die sich durch Einwnde seitens des kritischen
Philosophen nicht mehr auflsen lsst, sondern im Gegenteil weiter po-
tenziert. Die Begegnung des kritischen Philosophen mit dem gesunden
Menschenverstand beschreibt Hegel in einem knappen Drama, in dem er-
sterer verzweifelt, letzterer aber in heillose Verwirrung verfllt.

Es ist nicht schwer, solche Wahrheiten an ihrer Unbestimmtheit oder Schief-


heit zu fassen, oft die gerade entgegengesetzte ihrem Bewutsein in ihm selbst
aufzuzeigen. Es wird, indem es sich aus der Verwirrung, die in ihm angerichtet
wird, zu ziehen bemht, in neue verfallen und wohl zu dem Ausbruch kommen,
da ausgemachtermaen dem so und so, jenes aber Sophistereien seien, ein
Schlagwort des gemeinen Menschenverstandes gegen die gebildete Ver-
nunft.20

Der gesunde Menschenverstand ist fr Hegel nicht nur dumm, sondern


verwirrt und letztlich sogar wahnsinnig.
Die Begegnung des kritischen Philosophen mit dem Vertreter des ge-
sunden Menschenverstands endet so in wechselseitigem Unverstndnis.
Hegels Philosophie fhrt eine grundstzliche Kritik der gewhnlichen
Sprache und der mit ihr verbundenen gewhnlichen Meinungen vor.
Vermeintlich unmittelbare und daher notwendige Wahrheiten sind fr
Hegel nichts als einer sprachlichen Konvention geschuldete Irrtmer. Wo
der gesunde Menschenverstand sich sowohl des Sinns einer Aussa-

16 Ebd., Bd. 8, S. 94 (Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften, 28,


Zusatz).
17 Ebd., Bd. 3, S. 63 (Phnomenologie des Geistes).
18 Ebd., S. 65.
19 Ebd., S. 62.
20 Ebd., S. 64.

319
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ge als auch seiner Erfllung in seinem Herzen21 sicher ist, sieht Hegel
nichts als Dummheit, Verwirrung und Unsinn. Die traditionelle, von He-
gel mit dem gewhnlichen Verstand assoziierte Form des philosophi-
schen Urteils x ist y ist zwar in sich notwendigerweise schlssig
und sinnvoll: Der Satz ist seinem Wesen nach normal,22 schreibt Derri-
da in einem nur scheinbar anderen Zusammenhang. Fr Hegel und auf
eine etwas andere Art und Weise auch fr Derrida ist diese Normalitt
jedoch charakterisiert durch den Mangel, durch eine fehlende Einsicht in
die begrenzte Wahrheit der eigenen Einsichten.
Indem Hegels eigene Sprache versucht, diesem Mangel zu entgehen
und die feste Struktur von Subjekt und Prdikat zugunsten eines bac-
chantischen Taumels der Begriffe und der Erkenntnis abzulsen, wird
sie fr den ungebten Leser nur schwer zugnglich. So kann, wie Adorno
es beschreibt, der gesunde Menschenverstand, den Hegel als irrig und
irrsinnig ablehnte, die Texte Hegels wiederum schlicht als Wahnsinn
begreifen,23 und selbst kanonische Philosophen haben diesen Verdacht
gegen Hegel gehegt. ber die Hegelsche Afterweisheit schimpft je-
denfalls Schopenhauer in Ueber die Universitts-Philosophie, ihr
Grundgedanke sei der absurdeste Einfall gewesen, eine

auf den Kopf gestellte Welt, eine philosophische Hanswurstiade [...] und ihr
Inhalt der hohlste, sinnleerste Wortkram, an welchem jemals Strohkpfe ihr
Genge gehabt, und [...] ihr Vortrag, in den Werken des Urhebers selbst, der
widerwrtigste und unsinnigste Gallimathias [...], ja an die Deliramente der
Tollhusler erinnert.24

2.

Etwa 150 Jahre nach Hegels Phnomenologie des Geistes beschreibt


Foucault in seiner Vorrede zur berschreitung sein Verstndnis einer
Philosophie, die begreift, dass der Philosoph nicht wie ein geheimer und

21 Ebd.
22 Jacques Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns [1964]. In:
ders.: Die Schrift und die Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 177), S. 53-101, hier: S. 87.
23 Vgl. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei (wie Anm. 1), S. 88f.
24 Arthur Schopenhauer: Werke in fnf Bnden. Nach den Ausgaben letzter
Hand hrsg. von Ludger Ltkehaus. Zrich: Haffmanns 1988, Bd. 4, S. 146
(Ueber die Universitts-Philosophie).

320
V. NACHWORT

all-sprechender Gott die Totalitt seiner Sprache bewohnt.25 Wiederum


geht es darum, dass die Philosophie sich eine neue Sprache finden muss,
um sich von den Irrtmern ihrer hergebrachten Sprache zu befreien.
Der neue Philosoph erkennt, schreibt Foucault, dass es [...] eine
Sprache gibt, die spricht und deren Herr und Meister er nicht ist.26 Es
geht also um den Gegensatz zwischen einer Philosophie, die glaubt, die
Sprache beherrschen zu knnen, und einer, die sich in eine Position der
Passivitt gegenber einer selbst sprechenden Sprache begibt. Damit ist
vor allem gesagt, dass der schreibende Autor sich durch die Sprache
nicht mehr seiner eigenen Identitt (etwa im Akt des cogito, wie Foucault
ihn interpretiert) vergewissern kann. Der Philosoph

entdeckt [...], dass er im Moment des Sprechens nicht stets in derselben Weise
im Inneren seiner Sprache aufgehoben ist; dass sich an der Stelle des sprechen-
den Subjekts der Philosophie dessen offenkundige und geschwtzige Identitt
von Plato bis Nietzsche niemand in Frage gestellt hatte eine Leere auftat, in
der sich eine Vielzahl sprechender Subjekte verbinden und wieder lsen, kom-
binieren und ausschlieen.27

Als Beispiel einer solchen geschwtzigen Identitt einer von einem


sprechenden Subjekt kontrollierten Philosophie und damit als Exempel
der philosophischen Sprache, die es zu berwinden gilt, nennt Foucault
die Sprache der Dialektik, die seit Menschengedenken oder fast seit
Menschengedenken28 die Sprache der Philosophie geworden sei. Die
Mglichkeit einer entdialektisierenden Sprache29 verbindet sich fr
Foucault mit der Vorstellung eines Autors, der sich nicht als Subjekt,
nicht als Herrscher ber seine Sprache, und also nicht als Autor begreift.
Es geht um nicht weniger als um die Mglichkeit des wahnsinnigen
Philosophen.30 Foucault beschreibt diese Mglichkeit anhand der Texte
Batailles und, wie bereits in seiner Geschichte des Wahnsinns, der Auto-
renfigur Nietzsches, des paradigmatisch dissoziierten Philosophensub-
jekts: Wer also hat, seit den Vorlesungen ber Homer bis zu den Schrei-

25 Michel Foucault: Vorrede zur berschreitung [1963]. In: ders.: Schriften


zur Literatur. Hrsg. von Daniel Defert und Franois Ewald. bers. von Mi-
chael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 2003 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 1675), S.
64-85, hier: S. 75.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Ebd., S. 74.
29 Ebd., S. 75.
30 Ebd., S. 77.

321
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

en des Wahnsinnigen in den Straen von Turin, diese kontinuierliche, so


hartnckig dieselbe bleibende Sprache gesprochen? [...] Zarathustra, sein
Affe oder bereits der bermensch? Dionysos, Christus, oder beide, in
einer Person vereint, oder am Ende dieser Mensch, wie er hier steht?31
Der Wahnsinn Nietzsches erscheint aus dieser Perspektive nicht
mehr als das Ende seiner philosophischen Karriere, sondern im Gegenteil
als deren eigentliche Krnung. Es geht nicht um das Ende der Philoso-
phie, schreibt Foucault: Eher um das Ende des Philosophen als souve-
rner und grundlegender Form der philosophischen Sprache.32
Mit dem Begriff der Dialektik ist, auch wenn der Begriff natrlich
eine lange pr-hegelianische Geschichte hat, Hegel als ein Hauptadressat
der Foucaultschen Kritik an der Philosophie benannt. In der fr das
Nachkriegsfrankreich auerordentlich einflussreichen Hegellektre Koj-
ves erscheint die Dialektik als das Instrument des ewigen Lichts der He-
gelschen absoluten Wahrheit33 und also als ein Weg zum Erreichen ei-
nes absoluten Bewusstseins und absoluter philosophischer Souvernitt.
Der kojvesche Hegel erscheint in Foucaults Vorrede zur berschrei-
tung implizit als Antagonist jener Reihung positiver Vorbildfiguren von
Bataille bis Nietzsche. Mit seiner Identifikation mit dem Wahnsinn
scheint Foucault sich provokativ von dem Streben der Philosophie nach
dem ewigen Licht absoluter Wahrheit zu verabschieden.
Bei genauerer Betrachtung fllt jedoch auf, dass das Foucaultsche
Unternehmen grundstzlich mit der Hegelschen Kritik an der traditionel-
len philosophischen Sprache vergleichbar ist. Hier wie dort sieht sich die
philosophische Erkenntnis bedroht durch eine Sprache, die durchaus ihre
eigene Evidenz erzeugt, die sich aber jederzeit als Tuschung und Wahn
herausstellen kann. Erste Unterschiede zwischen den kritischen Projekten
Hegels und Foucaults zeigen sich in Bezug auf die Anstze einer anderen
Form der Sprache. Whrend Hegel die Illusion einer unmittelbaren Aus-
sage attackiert und eine Sprache der Vermittlung verschiedener Momente
der Entwicklung eines Begriffs entwickelt, ist das Ziel fr Foucault um-
gekehrt gerade eine unmittelbare Wahrheit: die Sprache des Wahnsinns.
Foucaults Vision des wahnsinnigen Philosophen zielt, wie Hegels
Kritik der Sprache der alten Metaphysik, auf eine neue philosophische
Sprache, die nicht mehr die Sprache des Rationalismus sein soll. Die Ge-

31 Ebd., S. 75.
32 Ebd., S. 76.
33 Alexandre Kojve: Hegel. Eine Vergegenwrtigung seines Denkens. Kom-
mentar zur Phnomenologie des Geistes [1947]. Mit einem Anhang: Hegel,
Marx und das Christentum. Hrsg. von Iring Fetscher. bers. von Iring Fet-
scher und Gerhard Lehmbruch. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 97), S. 148.

322
V. NACHWORT

ste scheint radikalisiert: Whrend Hegel noch im Namen eines berlege-


nen Verstandes gegen den gesunden Menschenverstand und im Namen
einer berlegenen Vernunft gegen die Scheinvernunft des Rationalismus
vorgeht, wechselt Foucault rhetorisch die Seite und spricht im Namen
des Wahnsinns, den er in der Tradition des Rationalismus zum Schwei-
gen verurteilt sieht. Diese Mglichkeit die Mglichkeit einer nicht
mehr wahnsinnigen Sprache ist fr Foucault nicht mehr gegeben; die
Sprache der Philosophie muss ihren Wahnsinn nur noch erkennen und
ffentlich eingestehen. Der Sprache und den uerungen der Wahnsinni-
gen Foucaults Kanon ist bekannt: Hlderlin, Nerval, Nietzsche wird
in dieser Situation eine Wahrhaftigkeit zugebilligt, welche diejenige der
dialektischen Sprache der Philosophie grundstzlich berschreitet.
Die Zuschreibung von Wahrheit zum Wahnsinn hat ihre Quelle,
wie wohl so vieles bei Foucault, in den Texten Maurice Blanchots. In
seinem Essay La Folie par excellence (1953) beschreibt Blanchot den
Wahnsinn Hlderlins als Erfahrung und nherhin als Erfahrung einer
grundstzlichen Wahrheit, die gesunden Menschen strukturell nicht
zugnglich ist. So schreibt Blanchot:

Zur selben Zeit, da die Krankheit einsetzt, erscheint im Werk eine Vernde-
rung, die [...] etwas Einzigartiges und Auergewhnliches hervorbringt, das ei-
ne ungeahnte Tiefe und Bedeutung offenbart. [...] Es scheint, als ob sich in be-
stimmten Kranken eine metaphysische Tiefe offenbare. Alles verluft so, als ob
sich im Leben dieser Wesen vorbergehend etwas offenbare, das Schaudern,
Grauen und Seligkeit erregt.34

Die Krankheit, der Wahnsinn ist das uere Anzeichen fr den Einblick
in die metaphysische Tiefe, der sich dem Kranken gewhrt. Wahnsinn
erscheint in dieser Perspektive als eine berwindung der engen
menschlichen Horizonte;35 als eine buchstbliche Entgrenzung, als Ver-
lust der klaren und engen Konturen, die die gesellschaftliche Normalitt
setzen und limitieren. Wahnsinn ist fr Blanchot die Erfahrung einer d-
monischen Existenz, diese Tendenz, auf ewig ber sich hinauszu-
gehen.36 Das Motiv der berschreitung ist aus diesem Grund noch fr
Foucaults Behandlung des Wahnsinns von entscheidender Bedeutung.

34 Maurice Blanchot: Der Wahnsinn par excellence [1953/70]. In: Jaspers,


Karl: Strindberg und van Gogh. Versuch einer vergleichenden pathographi-
schen Analyse. Mit einem Essay von Maurice Blanchot. bers. von Hen-
ning Schmidgen. Berlin: Merve 1998, S. 7-33, hier: S. 16f.
35 Ebd., S. 17.
36 Ebd.

323
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Indem Wahnsinn hier zur Erfahrung einer radikalen Alteritt wird,


die jede Grenze menschlicher Sicht wenigstens kurzzeitig berwinden
kann, nhert er sich dem Konzept des Enthusiasmus, wie es von Platon
bis Kant beschrieben wurde. Der Dichter, schreibt Blanchot,

ist jetzt der Bezug zum Unmittelbaren, zum Unbestimmten: dem Offenen, aus
dem die Mglichkeit entspringt, das aber das Unmgliche, Menschen wie Gt-
tern Untersagte ist, das Heilige. Der Dichter hat gewi nicht die Macht, das
Nicht-Mitteilbare mitzuteilen, aber in ihm durch den Bezug den er zu den
Gttern, zu dem, was es an Gttlichem in der Zeit gibt, zur Tiefe des reinen
Werdens unterhlt wird das Nicht-Mitteilbare zu dem, was Mitteilung erst
mglich macht.37

Wahnsinn erffnet fr Blanchot einen Zugang zur Sphre des Unbe-


grenzten, des Offenen vor aller Schematisierung und Begrenzung durch
die Kultur. Weil diese metaphysische Tiefe vor aller Sprachlichkeit
liegt (die Sprache ist umgekehrt genau das Begrenzende), kann sie nicht
mitgeteilt werden. Weil sie aber die Erfahrung eines Mglichen ist, des
Offenen, ist sie eine Erfahrung des Wahren der Wahnsinnige steht im
Angesicht des Absoluten38 , die zur Kommunikation und Mitteilung
auffordert und anregt. In diesem Sinn ist das Nicht-Mitteilbare hier
durchaus vergleichbar mit der Konzeption des Enthusiasmus bei Kant
dasjenige, das jede Mitteilung berhaupt mglich macht.
Foucaults Untersuchung der Geschichte des Wahnsinns schliet
offensichtlich in Vielem an Blanchots Ausfhrungen zum Thema an.
Dennoch liegen Welten zwischen Blanchots Formulierung, auch der
wahnsinnige Dichter knne das Nicht-Mitteilbare nicht mitteilen, und
Foucaults Anspruch, die Geschichte des Wahnsinns selbst in Wrtern
ohne Sprache39 schreiben zu wollen. Wo Blanchot die Sprache des
Wahnsinns durch eine Erfahrung des Nicht-Mitteilbaren geprgt sieht,
sucht Foucault in der Sprache des Wahnsinns eine authentische Wahr-
heit, die jenseits der diskursiven Beschrnkungen des klassischen Zeit-
alters liegt. Die Unmglichkeit dieses Unternehmens hat Derrida in sei-
ner Kritik Foucaults berzeugend beschrieben.
Im Gegensatz zu Foucault sucht Derrida nicht mehr nach einer spezi-
fischen Sprache des Wahnsinns in den Texten kanonischer Schriftsteller,

37 Ebd., S. 26.
38 Ebd., S. 17.
39 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns
im Zeitalter der Vernunft [1961]. bers. von Ulrich Kppen. 12. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 39), S. 12f.

324
V. NACHWORT

sondern er beschreibt die Wahnhaftigkeit im Innersten des Sinns, inso-


fern dieser in seiner Idealitt und Wiederholbarkeit a priori unabhngig
von jeder Wahrheit und Authentizitt funktionieren knnen muss. Nicht
mehr Sprache des Wahnsinns, sondern der Wahnsinn der Sprache: die
Verrcktheit des Sinns.40 In seinem Essay ber Artaud beschreibt Derri-
da, sein Konzept der Iterabilitt vorwegnehmend, eine ursprngliche
Wiederholung der Sprache:41 Jede Aussage ist a priori der Situation und
den Umstnden der uerung entfremdet; sie muss wiederholbar, zitier-
bar, flschbar, imitierbar sein, um als Sinn zu funktionieren.42 Paul de
Mans Sentenz Die Sprache verspricht (sich)43 wird von Derrida best-
tigt:

die Sprache verspricht, sie verspricht sich, es gehrt jedoch auch zu ihrem
Wesen, da sie sich sogleich zurckzieht und widerruft, da sie sich auflst und
da sie ihre eigene Ordnung zerstrt, da sie entgleist und den Faden nicht
mehr findet, da sie wie eine Irre redet, da sie sich selbst beschdigt und ver-
flscht.44

Sprache spricht im Modus des Versprechens, der Ankndigung und Set-


zung eines Sinns; dieses kann jedoch jederzeit zugleich ein Versprecher
sein, eine Auflsung und Entgleisung des Sinns. Sprache muss, um ber-
haupt sinnvoll sprechen zu knnen, jederzeit auch wie eine Irre reden
knnen. Dass diese Perspektive auf Sprache ihre Folgen fr Derridas ei-
gene textuelle Praxis hat, ist schwer zu bersehen. Derridas Abwendung
von der Idee einer thetischen Darstellung, einer setzenden oder entge-

40 Vgl. hierzu ausfhrlicher Kap. I, 2 und 3.


41 Vgl. Jacques Derrida: Die soufflierte Rede [1965]. In: ders.: Die Schrift
und die Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7. Aufl. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 177), S.
259-301, hier: S. 271f.
42 Vgl. Jacques Derrida: Limited Inc a b c [1990]. In: ders.: Limited Inc.
bers. von Werner Rappl. Hrsg. von Peter Engelmann Wien: Passagen
2001, S. 53-168, hier: S. 103: Die Iterabilitt verndert, parasitiert und
kontaminiert [...]; sie macht, da man (schon, immer, auch) etwas anderes
sagen will als man sagen will, man etwas anderes sagt als das, was man
sagt und sagen mchte.
43 Paul de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietz-
sche, Rilke, and Proust. New Haven, London: Yale University Press 1979,
S. 277.
44 Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage [1987]. bers. von
Alexander Garca Dttmann. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993
(Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 995), S. 110.

325
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

gensetzenden Logik45 schliet an berlegungen Hegels und Heideggers


(Der Satz vom Grund) an und hat unverkennbar ihre Spuren auch in Der-
ridas philosophischen Texten hinterlassen. Aufgrund der Vielzahl und
Heterogenitt der textuellen Verfahren in seinen Texten ist es jedoch al-
les andere als einfach, eine einzige und durchgehende Strategie in der
Abwendung von der thetischen Darstellung zu beschreiben.
Das Schlagwort von der performativen Wende46 Derridas hilft
jedenfalls nur bedingt weiter. Von einer Zunahme eines performativen
Elements in Derridas Texten knnte nur dann gesprochen werden, wenn
hierunter nicht im Sinne Austins das sprachliche Ausagieren eines fest-
legbaren Regelwerks verstanden wird denn eben dieses Verstndnis des
Performativen ist durch Derridas Beschreibung des nicht zu sttigen-
den Kontextes angreifbar geworden. Verschiedene Autoren haben die
Meinung geuert, Derridas Texte seien aufgrund ihrer ungewhnlichen
Sprache eher der Literatur als der Philosophie zuzuordnen.47 Diese Posi-
tion folgt jedoch recht offensichtlich in erster Linie einer polemischen
Strategie: Als Literatur wren Derridas Texte auerhalb des philosophi-
schen Diskurses; die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung wrde
sich erbrigen.
Problematisch ist es jedoch auch, die Bedeutung der literarischen
Elemente der Texte Derridas zurckzuweisen mit dem Hinweis auf deren
Ernsthaftigkeit.48 Eines der zentralen Argumente von Limited Inc ist,
dass jedes Bestreben nach absolutem Ernst unweigerlich eingeholt wird
von der Persiflage, der Parodie, dem Unernst, welcher der Sprache in al-
len mglichen Formen innewohnt. Derridas mehrfach wiederholte
Selbstermahnung zum Ernst (Seien wir ernst)49 vollzieht nicht nur ei-
nen performativen Widerspruch (die durch die mehrfache Wiederholung
unernst werdende Aufforderung zur Ernsthaftigkeit). Sie fhrt damit die

45 Jacques Derrida: Punktierungen die Zeit der These [1990]. In: Einstze
des Denkens. Hrsg. von Hans-Dieter Gondek und Bernhard Waldenfels.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 1336), S. 19-39, hier: S. 29.
46 Vgl. Hans-Dieter Gondek und Bernhard Waldenfels: Derridas performative
Wende. In: Einstze des Denkens. Hrsg. von Hans-Dieter Gondek und
Bernhard Waldenfels. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Ta-
schenbuch Wissenschaft. 1336), S. 7-18.
47 Vgl. Richard Rorty: Dekonstruieren und Ausweichen. In: ders.: Eine Kul-
tur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays. bers. von Joachim Schul-
te. Stuttgart: Reclam 1993, S. 104-146.
48 Vgl. Outi Pasanen: Derrida In and Out of Context: On the Necessity to
Know Why Derrida?. In: MLN 118 (2004), S. 1298-1310, hier: S. 1300f.
49 Vgl. Derrida: Limited Inc a b c (wie Anm. 42), S. 61.

326
V. NACHWORT

Mglichkeit vor, ein und dieselbe uerung durch ihre Wiederholung in


immer neue Kontexte zu rcken (ein zentrales Argument von Limited
Inc). Diese Mglichkeit ist zugleich die Unmglichkeit des sprechenden
Ichs, den Sinn seines Sprechens limitieren, beherrschen und kontrollieren
zu knnen. Der Unernst, der jedem ernsten Sprechen jederzeit innewoh-
nen kann, ist ein Element des Wahnsinns inmitten des Sinns selbst, eine
Verrcktheit des Sinns. [D]er Wahnsinn, ein gewisser Wahnsinn, mu
jeden Schritt abpassen und im Grunde genommen ber unser Denken
wachen, so wie es auch die Vernunft tut,50 bemerkt Derrida in einem
Gesprch und beschreibt damit den Mechanismus, der die Logik des
Sinns begrndet.

3.

Nach der Kritik Derridas an der Foucaultschen Geschichte des Wahn-


sinns hat die Vorstellung einer sich vom Wahnsinn abgrenzenden Spra-
che der Philosophie ebenso an Plausibilitt verloren wie umgekehrt die
Vorstellung einer Literatur, welche eine reine und unverstellte Wahr-
heit des Wahnsinns zum Ausdruck bringt. Nichtsdestotrotz bestimmt
dieses Schema immer noch den kulturwissenschaftlichen Diskurs ber
Wahnsinn. Immer noch wird eine unverflschte und authentische Er-
fahrung und Sprache des Wahnsinns einem entfremdeten gesellschaftli-
chen Diskurs gegenbergestellt, der sich vor allem durch eine Ausgren-
zung vom Wahnsinn etabliert. Die Einleitung zu einem neueren Sammel-
band zum Thema kann hier beispielhaft zitiert werden:

As Michel Foucault has shown, the treatment of mental illness may be seen to
mirror cultural ideologies. Literature, however, may provide alternative per-
spectives, and may set against the notions of asylum and confinement an inte-
rest in probing the state of the mind and the nature of mental illness as a funda-
mental aspect of the human condition.51

50 Jacques Derrida: Ein Wahnsinn muss ber das Denken wachen. In:
ders.: Auslassungspunkte. Gesprche. bers. von Karin Schreiner und Dirk
Weissmann. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 1998, S. 343-
368, hier: S. 367.
51 Corinne Saunders und Jane Macnaughton: Introduction. In: Madness and
Creativity in Literature and Culture. Hrsg. von Corinne Saunders and Jane
Macnaughton. Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2005, S. 1-15,
hier: S. 3.

327
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

Der literarische Wahnsinn als die Wahrheit der conditio humana: Die
Kategorien Foucaults dienen der Kulturwissenschaft offensichtlich nicht
mehr zur Kritik an den Humanwissenschaften. Die Gegenbersetzung
der Wahrheit des Wahns und seiner Ausgrenzung durch die Philosophie
(oder durch die Kultur) ist zum Klischee geworden.
Demgegenber versucht die vorliegende Arbeit eine neue Perspekti-
ve einzunehmen. Es wird vielmehr versucht, zu zeigen, dass die philoso-
phische Perspektive auf den Wahnsinn nicht a priori als ausschlieend
und ebenso wenig die literarische Perspektive auf das Phnomen a
priori als antiphilosophisch und irrationalistisch zu verstehen ist.
Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildet der semiotische
Begriff des Wahnsinns, wie er von Kant formuliert wurde. Indem Kant
Wahnsinn als die Verwechslung einer Vorstellung (der Einbildungs-
kraft) mit der Gegenwart einer Sache selbst definiert, bestimmt er ihn
fundamental als Produkt der Einbildungskraft und des von ihr inaugurier-
ten Raums der Zeichen. Wahnsinn wird in diesem Modell mglich durch
einen Akt der Verdopplung der gesamten Wirklichkeit durch ihre men-
tale Reprsentation und Darstellung durch die Einbildungskraft. Auch
wenn Kant den Begriff des Zeichens in diesem Zusammenhang nicht
verwendet, kann diese Bestimmung des Wahnsinns semiotisch genannt
werden. Der Wahnsinn ist eine Krankheit des Zeichenvermgens, des
Bezeichnens und also des Zeichens. Kants Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes und seine anderen Ausfhrungen zum Thema beschreiben
eine Pathologie des Zeichens. Die Mglichkeit des Wahnsinns folgt
demnach aus der Struktur des Zeichens und also aus der Grundlage der
Gemeinschaft, der Sozialitt und jeder Form der Entwicklung der Gat-
tung Mensch. Kants Position zum Wahnsinn ist demnach denkbar weit
entfernt von dem, was man mit Foucault als Ausschluss bezeichnen
knnte. Von Anfang an spielt Kant mit der Mglichkeit des eigenen
Wahnsinns.
Gerade weil die Mglichkeit des Wahnsinns niemals a priori ausge-
schlossen werden kann, stellt er fr Kant aber durchaus eine Bedrohung
dar. Wahnsinn ist in erster Linie eine politische Gefahr; er bedroht das
Gemeinwesen und die Gemeinschaft, deren Grundlage (die Einbildungs-
kraft, das semiotische Vermgen) zugleich die Bedingung seiner Mg-
lichkeit ist. Dies geschieht im Fall des Schwrmers, der meint, eine un-
mittelbare Beziehung zu den Mchten des Himmels zu besitzen. Die
Gegenfigur zum Schwrmer ist fr Kant der Enthusiast. Kant definiert
Enthusiasmus als einen zweideutigen Anschein von Phantasterei,52 und

52 Immanuel Kant: Werke in sechs Bnden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel.


Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Bd. 1, S. 896.

328
V. NACHWORT

fgt hinzu, es sei niemals ohne denselben in der Welt etwas Groes aus-
gerichtet worden.53 Zweideutig ist der Enthusiasmus, weil er den An-
schein von Phantasterei besitzt: der Enthusiast sieht wie der Phantast
Abwesendes als anwesend, er hrt Stimmen, die andere nicht hren (die
Stimme der Vernunft in seinem Kopf). Ohne den Enthusiasmus ist nie-
mals etwas Groes ausgerichtet worden, aber er ist dennoch eine Form
des Wahnsinns.
Aufgrund dieser Zweideutigkeit bleibt die Unterscheidung zwischen
der Schwrmerei, der bedrohlichen Seite des Wahnsinns, und dem En-
thusiasmus, dem Wahnsinn der Vernunft, ebenso dringend wie hchst
problematisch. Die Differenz ist nicht zuletzt textuell: Die Tuschung der
Schwrmerei ist auch ein sprachlicher Akt. Die Sprache der Mystiker,
der sich vornehm gebenden Neuplatoniker ist beispielsweise wesent-
lich figurativ: Sie ersetzt den Begriff durch die Metapher und suggeriert
so eine Erfahrung des Unerfahrbaren durch eine Ahnung. In dieser
schwrmerischen Suggestion, so legt Kant nahe, sind die Texte der Neu-
platoniker allenfalls Literatur, nicht aber Philosophie.
Die Philosophie entkommt dem figuralen Sprechen jedoch nie. Kant
will diese Unmglichkeit keinesfalls leugnen. Die Schreibweise, die er
dem Diskurs der Schwrmer entgegensetzt, versucht dementsprechend
nicht, eine eigentliche Schreibweise unter Verzicht auf rhetorische Ele-
mente der Sprache zu entfalten. In Kants Texten ist es schlielich das
Verfahren einer negativen Darstellung, welches die Grenze zur
Schwrmerei absichern soll. Eine negative Darstellung ist der Kritik
der Urteilskraft zufolge eine solche, die keinen Gegenstand darbietet,
sondern allein die Unerreichbarkeit dieses Gegenstandes ausspricht und
es der Einbildungskraft berlsst, diesen in einem Akt der enthusia-
stischen Entgrenzung dennoch vorzustellen. Dies kann allerdings nur um
den Preis geschehen, die Mglichkeit des eigenen Wahnsinns jederzeit
einrumen zu mssen, wie es in Kants Versuch ber die Krankheiten des
Kopfes auch jederzeit geschieht.
Der von Kant beschriebene Zusammenhang zwischen der Struktur
des Zeichens und dem Wahnsinn wird fr die Konzeption der Literatur
bei Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann inspirierend. Das Zeichen
gilt auch Schlegel in seiner Struktur als notwendig potentiell wahnsinnig.
Schlegels Beschreibung der Ironie als einer Unbeherrschbarkeit des
Sinns nimmt Foucaults Analyse der Abwesenheit eines Werks und
ebenso Derridas Ausfhrungen zur Aporetik des Sinns vorweg.
Die fr Schlegel kennzeichnenden Merkmale der Ironie die Logik
der unendlichen Reflexion sowie die daraus folgende Einsicht in die not-

53 Ebd.

329
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

wendige Unerreichbarkeit des eigenen Selbst fr das Bewusstsein bil-


den in Hoffmanns Erzhlungen die Struktur des literarischen Diskurses.
Wahnsinn, bereits von Schlegel mit der Ironie identifiziert, wird damit
nicht nur zum Thema des literarischen Textes, sondern bildet dessen
Struktur.
Der Ausgangspunkt beinahe aller Erzhlungen Hoffmanns bietet ein
Rtsel: eine rtselhafte Erscheinung (das de Haus, der sprechende
Trke) oder Situation (die Herkunft Antonios in Doge und Dogaresse).
Die Handlung wird angetrieben durch das Streben der Protagonisten, das
Rtsel aufzuklren. In der Metaphorik der Erzhlungen geht es darum,
ein Bild, die vollstndige Vorstellung einer Ganzheit, hervorzubringen.
Diese Operation beschreibt die hermeneutische Ideologie des Zeichens:
Die Zeichen zu lesen bedeutet, sie in das a-mediale Medium des Sinns zu
berfhren. Dieser a-mediale Sinn bleibt in Hoffmanns Geschichten je-
doch nur die Teleologie des Lesens; das Phantasieren eines Sinns bringt
immer nur neue Zeichen und damit neue Verrtselungen hervor.
Im Zentrum des Rtsels steht immer die Andere, das Gegenber, das
Bild der geliebten Frau. Insofern Hoffmanns Protagonist in dieser Frau
die Ewiggeliebte meiner Seele sieht, wird sie als ein Teil der Ge-
schichte des Helden selbst erkannt. In einem Spiel der narzisstischen Pro-
jektion wird die Begegnung mit dem Gegenber zum Schauplatz der Ent-
wicklung eines Bildes auch vom eigenen Ich. Weil das Rtsel damit im-
mer schon ein Rtsel der eigenen Identitt ist, kann es vom Protagonisten
auch niemals gelst werden. Jeder Moment der vermeintlich erreichten
Einsicht (die Sicht des Bilds) ist niemals mehr als ein Traum, ein
Phantasma und also ein Teil der Struktur des Rtsels selbst (und nicht
seine Auflsung). Was Schlegel in seinen Fragmenten als Ironie bezeich-
net, die Unendlichkeit der Reflexion und also die Unerreichbarkeit des
Bewusstseins, bildet die Grundstruktur der Erzhlungen Hoffmanns.
Diese Struktur der Ich-Verwirrung und Wiederholung nennt Freud
das Unheimliche. Das Unheimliche ist der Name dafr, dass die un-
erklrlich und rtselhaft erscheinenden Dinge und Zusammenhnge, die
den Protagonisten begegnen, einer strengen Logik folgen: Sie sind einer
Matrix zuzuordnen, die den Protagonisten undurchsichtig und uneinsich-
tig bleiben muss, und sich nur dem analytischen Leser der Geschichte er-
schliet. Diese Matrix zeigt sich in Hoffmanns Geschichten, wie bereits
Freud erkannt hat, als eine Logik der Wiederholung. Durch eine subtile
Struktur der Wiederholungen verwandelt sich die narrative Zeit fr Hoff-
manns Akteure in eine Zeit der Wiederholung, der Wiederkehr und also
des Gespenstischen und Phantasmatischen. Die scheinbare Auflsung der
Geheimnisse fr den Akteur erweist sich als eine immer tiefere Ver-
strickung in Phantasmen und Spiegelungen.

330
V. NACHWORT

Das ironische Spiel der Tuschungen und Fehlinterpretationen prgt


auch das Signifikat Wahnsinn in Hoffmanns Texten. Die tuschende
und vorgetuschte Synthese, die das Ich sich einbildet, verbindet sich bei
Hoffmann mit einem Diskurs des Enthusiasmus. Die Protagonisten
sprechen ber die Erfahrung der Synthese, der Lsung aller Rtsel, in der
traditionellen Sprache der Begeisterung. Die das Ich von auen berwl-
tigende und pltzlich geschehende Synthese des Phantasmas hingegen
beschreibt Hoffmann durch einen Diskurs des Mesmerismus.
Auch Carlyles Roman Sartor Resartus geht von der Verbindung zwi-
schen Sinn und Wahnsinn aus. Die Metaphysiker, so Carlyles Protagonist
Diogenes Teufelsdrckh, verfallen der Scheinlogik der Sprache, wenn sie
glauben, ihre Systeme wrden etwas ber die Welt aussagen; tatschlich
seien diese aber nichts als words, words. Insofern ein leeres Sprechen
ohne Referenz und Inhalt die Bestimmung des Wahnsinns aus-
macht, behauptet Carlyles Protagonist nicht weniger als den Wahnsinn
der Metaphysiker. Teufelsdrckhs Philosophie der Kleidung und also
auch Carlyles Roman stellt die Frage, welche Sprache etwas anderes
als words, words sein und sich dem Geheimnis des menschlichen Da-
seins annhern kann. Teufelsdrckh behauptet die Gewalt, die Kraft des
singulren WORTES, mit dem der menschliche Schreiber in Analogie
zum gttlichen Autor des Buchs der Natur eine Wirklichkeit erschaf-
fen kann. Die Theorie des Symbols besitzt einen ausdrcklich theologi-
schen Charakter.
Der Begriff des Symbols ist in den Jahrzehnten vor dem Erscheinen
von Sartor Resartus von den verschiedensten Autoren im Gegensatz zu
dem Begriff der Allegorie diskutiert worden; vor allem Goethe konzi-
pierte das Symbol wirkungsvoll als ein Zeichen, das kein Zeichen ist
(sondern sich mit dem Bedeutenden selbst verbindet). Im Gegensatz dazu
betont Carlyles Professor Teufelsdrckh die Distanz, die zwischen dem
Wort, der durch die Einbildungskraft vorgestellten Bedeutung des Wor-
tes und jeglicher wahren Realitt liegt. In Teufelsdrckhs Beschreibung
der Traumgrotte, einer Variante des platonischen Hhlengleichnisses,
ist es allein die Einbildungskraft, die dem Menschen die Vorstellung ei-
ner Realitt vermittelt, indem sie seine Wrter mit einem Bild vermittelt.
Das gesamte menschliche Leben erscheint folglich als ein Traum, ein
somnabules Schlafwandeln.
Der sprachkritische und erkenntnistheoretische Zweifel der Philoso-
phie Teufelsdrckhs ist so radikal, dass keine seiner emphatischen Aus-
fhrungen ber die gttliche Kraft des Symbols davon verschont bleiben
kann. Insbesondere die Analogie zwischen dem gttlichen Autor und
dem quasigttlichen Schreiber erweist sich als ein Effekt innerhalb der
Traumgrotte, nicht aber als ein Weg zur berwindung derselben. Kei-

331
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

ne Instanz, kein Gott und kein Mensch kann die bereinstimmung eines
Zeichens mit seinem Referenten versichern, da diese Voraussetzung
selbst im Medium des Sinns und damit der Sprache geschehen mss-
te und seinerseits wieder einer Voraussetzung bedrfte.
Jeder sprachliche Akt erschafft sich damit selbst erst die eigene
Grundlage, die durch keine Voraussetzung gegeben sein kann. Teufels-
drckhs Symboltheorie umkreist diese Selbstvoraussetzung des Wortes.
Das Symbol verbirgt und verschweigt, insofern es das Produkt (und inso-
fern eine Reprsentation) des Unendlichen zu sein vorgibt, was es nicht
sein kann. Wie Humor fr Jean Paul dasjenige endliche Zeichen ist, das
sich im Konflikt mit anderen endlichen Zeichen selbst vernichtet und
dadurch negativ und indirekt auf etwas Unendliches verweist, ist das
Symbol fr Teufelsdrckh eine negative Bezeichnung, die durch ihre ei-
gene Vernichtung auf das Unbezeichenbare verweist. Die Einsicht in die
Grenzen des Darstellbaren in die Grenzen der Traumgrotte des Le-
bens ist aber jederzeit zugleich eine Einsicht in die Grenzen des eige-
nen Verstandes und des eigenen Vermgens. Aus diesem Grund besitzt
die Erfahrung des Unendlichen fr Teufelsdrckh eine notwendige Nhe
zum Wahnsinn.
Wie der Enthusiasmus fr Kant und E.T.A. Hoffmann, so ist auch
der Wahnsinn Teufelsdrckhs ein Wahnsinn der Vernunft, welche das
Unendliche zu greifen versucht und in einen notwendigen Konflikt mit
der endlichen Instanz des Verstandes gert. Dieser Enthusiasmus ist es,
der die Macht des intrinsischen Symbols ebenso wie das singulre WORT
des gottgleichen Autors fr den Moment eines Traums evident erschei-
nen lsst. Es ist demnach die Form des Wahnsinns, welche die Kraft des
Symbols begrndet, das gesamte Feld der Gesellschaft und der Kommu-
nikation zu begrnden.

4.

Der die Analysen der vorliegenden Arbeit zusammenbindende Gedanke


liegt demnach in der Verbindung der Frage nach der Mglichkeit des
Wahnsinns mit der Thematik des Zeichens. Mit Kants These einer not-
wendigen Verbindung des Zeichengebrauchs als der Einbindung des
Absenten in die mentale Prsenz wird eine radikal neue Perspektive auf
den Wahnsinn mglich, die die Literatur nach Kant inspiriert hat. Letzt-
lich wird es mglich zu sagen, dass das Konzept Wahnsinn ein Signifi-
kat bereitstellt, mit dessen Hilfe Texte zu Ende des 18. Jahrhunderts und
zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Vorstellung von Literatur insge-
samt thematisieren knnen. Wahnsinn wird zum Synonym von Litera-

332
V. NACHWORT

tur und literarischer Sprache, nicht allein im Sinne der Behauptung einer
enthusiastischen oder manischen dichterischen Inspiration, sondern
auch in der Beschreibung einer Erfahrung der Unverfgbarkeit und Un-
beherrschbarkeit der Sprache fr den Sprechenden und des Schreibens
fr den Schreibenden.
Auch in den Texten E.T.A. Hoffmanns zeigt sich der Zusammenhang
von Wahnsinn und Literatur auf einer ganz anderen Ebene als nur auf der
topischen des enthusiastischen Knstlertums. Hoffmann fhrt seine
Akteure immer wieder als Leser und Schreibende (eines Zusammen-
hangs in ihrem Erleben) vor, die von den Ereignissen um sie verwirrt und
betrt werden knnen. Literatur ist hier essentiell ber Literatur, sie be-
handelt die Mglichkeit und Unmglichkeit, das Gelingen und Nicht-Ge-
lingen einer umfassenden Synthese und eines umfassenden Sinns. Sie ist
damit zugleich dasjenige Medium, in dem die Erfahrung des Sinns und
des Ohne-Sinns, des Wahnsinns kommunizierbar gemacht wird, ohne
sie (die Erfahrung) ihrerseits gewaltsam in das Medium eines eindeutigen
Sinns bringen zu mssen.
Die Beziehung zwischen den hier verhandelten Textkorpora ist dem-
nach nicht die eines Widerspruchs zwischen einer rationalistischen Phi-
losophie und einer (mglicherweise gar subversiven) Literatur. Meine
Arbeit versucht vielmehr zu zeigen, dass ein radikal neues Konzept von
Sinn und Wahnsinn in philosophischen Texten zu literarischen Ef-
fekten fhren kann (Kants ironisches Spiel mit der Mglichkeit seines ei-
genen Wahnsinns). Gleichzeitig ist es ntig, literarische Texte philoso-
phisch ernst zu nehmen, auch dort, wo dies bisher nicht ausreichend ge-
schehen ist, wie im Fall der Erzhlungen Hoffmanns und Carlyles. In den
Texten Kants wird erstmals die Idee eines anderen Wahnsinns, eines to-
talen Wahnsinns entwickelt, der nicht mehr als komplementrer Gegen-
satz zu einer eindeutig gesunden und normalen ratio gedacht werden
kann, sondern der in der Struktur des Zeichens und also: der Einbil-
dungskraft, der Sprache und der Gesellschaftlichkeit berhaupt wirk-
sam ist. Sowohl Hoffmann als auch Carlyle schlieen, jeder auf seine
Weise, an diese Analytik des anderen Wahnsinns an und spielen mit der
semiotischen Verfasstheit nicht nur ihrer eigenen Texte, sondern auch
noch der in ihr konstituierten Wirklichkeit. Als Zeichensysteme knnen
beide strukturell dem Wahn verfallen: Eine Verrcktheit des Sinns.
Selbstverstndlich ist die hier getroffene Auswahl der Texte bis zu
einem gewissen Grad notwendigerweise kontingent. Es gibt eine Reihe
von Texten, die durchaus auch im hier skizzierten thematischen und in-
haltlichen Rahmen zu behandeln gewesen wren. Hier wren etwa die
Erzhlungen Heinrich von Kleists zu nennen. Die Erzhlung Michael
Kohlhaas beispielsweise wird durch einen sich enthemmenden und radi-

333
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

kalisierenden Wahnsinn des Protagonisten angetrieben. So spricht Kleist


von Kohlhaas Schwrmerei krankhafter und migeschaffener Art54
und vom Wahn des rasenden Mordbrenners.55 Der Fokus von
Kleists Darstellung liegt dabei weniger auf dem Seelenzustand seines
Protagonisten als vielmehr auf der gebrechlichen Einrichtung der
Welt,56 die nur weniger Un- und Zuflle bedarf, um vollends aus den
Fugen zu geraten. Diese Gebrechlichkeit zeigt sich auch in Kleists Auf-
satz ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden als die
Verworrenheit, die entsteht, sobald jemand versucht, einen fertigen Ge-
danken auszudrcken und allgemeiner als das Problem des ber-
gangs vom Gedanken zur Sprache berhaupt. In Michael Kohlhaas ent-
faltet sich eine wahnhafte Dynamik sich wechselseitig missverstehender
Schriften, Briefe und prophetischer Texte aller Art; in seinem Aufsatz
ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken spricht Kleist von dem
Unverstndlichen, das Leute pltzlich mit einer zuckenden Bewe-
gung [...] zur Welt bringen, wenn in einem lebhaften Gesprch eine
kontinuierliche Befruchtung der Gemter mit Ideen im Werk ist.57 Das
sprachliche Zeichen ist hier wie dort kein Medium einer Verstndigung,
sondern ein Medium von Verworrenheit und Irrsinn. In diesem Sinn
spricht Lzsl Fldnyi vom sprachlichen Wahnsinn,58 der in Kleists
Texten waltet und der sich bis in die grammatische Struktur seiner Stze
einschreibt. Literatur erscheint hier als eine Art Wahnsinn, und dies
nicht nur im Bezug auf die Problematik des Erhabenen, die Bernhard
Greiner in den Mittelpunkt seiner Studie ber Goethe und Kleist stellt.59
In verschiedenen Texten Friedrich Nietzsches wre aufzuzeigen, dass
die hier entwickelten Konzepte des Wahnsinns strukturell vergleichbar
sind zu der Philosophie des Wahnsinns bei Kant. Vergleichbar mit der
Gegenbersetzung von Schwrmerei und Enthusiasmus bei Kant fin-
den sich bei Nietzsche zwei zwar nicht explizit gegenbergestellte, aber
vollkommen kontrr gewertete Beschreibungen von Wahnsinn. Es gibt
erstens die Ekstase des Dionysischen, die eine Vereinigung zwischen
Mensch und Mensch ebenso in Aussicht stellt wie diejenige von
Mensch und Natur. Mglich werden diese Vereinigungen, weil das Dio-

54 Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bnden. Hrsg. von Siegfried
Streller. 4. Aufl. Berlin: Aufbau 1995, Bd. 3, S. 37 (Michael Kohlhaas).
55 Ebd., S. 43.
56 Ebd., S. 14.
57 Ebd., S. 457 (ber die allmhliche Verfertigung).
58 Lzsl F. Fldnyi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wrter. bers. von
Akos Doma. Mnchen: Matthes & Seitz 1999, S. 503.
59 Vgl. Bernhard Greiner: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants:
Studien zu Goethe und Kleist. Berlin: E. Schmidt 1994.

334
V. NACHWORT

nysische sich jenseits des apollinischen Scheins bewegt und also jen-
seits der Scheidung von Zeichen und Bezeichnetem berhaupt. Der dio-
nysische Mensch verlernt Gehen und Sprechen und damit die elemen-
taren Kulturtechniken, die das Menschliche definieren; statt dessen gibt
er in seiner Ekstase nur mehr tierische (und gttliche) Tne von sich:

Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen
Abgrenzungen, die Noth, Willkr oder freche Mode zwischen den Menschen
festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fhlt sich
Jeder mit seinem Nchsten nicht nur vereinigt, vershnt, verschmolzen, son-
dern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wre und nur noch in Fetzen
vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend us-
sert sich der Mensch als Mitglied einer hheren Gemeinsamkeit: er hat das Ge-
hen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lfte empor-
zufliegen. Aus seinen Gebrden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere
reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tnt auch aus ihm etwas Ueber-
natrliches: als Gott fhlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzckt und er-
hoben, wie er die Gtter im Traume wandeln sah.60

Vor allem die Vorstellung einer Vereinigung, des Verschmelzens nicht


nur verschiedener Individuen, sondern auch von Subjekt und Objekt so
dass es gar scheint, als sei der Schleier der Maja zerrissen , erinnert
an die Beschreibungen der Schwrmerei aus dem 18. Jahrhundert. An-
dererseits gibt es bei Nietzsche einen zweiten Diskurs des Wahnsinns, der
diesen nicht mehr als eine archaische Technik der Ent-Individualisierung
erscheinen lsst, sondern im Gegenteil als eine hchst moderne Form der
Isolierung und Fragmentierung des Wirklichen. So schreibt Nietzsche in
Richard Wagner in Bayreuth ber die Sprache des modernen Menschen:

Der Mensch kann sich in seiner Noth vermge der Sprache nicht mehr zu er-
kennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefhlten
Zustande ist die Sprache berall eine Gewalt fr sich geworden, welche nun
wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich
nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verstndigen und zu einem Werk
zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der
reinen Wortklnge, und in Folge dieser Unfhigkeit, sich mitzutheilen, tragen
dann wieder die Schpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-
Verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nthen entsprechen, sondern
eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe.61

60 Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Ein-


zelbnden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Mnchen,
Berlin: Dtv, de Gruyter 1988, Bd. 1, S. 29f. (Die Geburt der Tragdie).
61 Ebd., S. 455 (Richard Wagner in Bayreuth, 5).

335
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

In Richard Wagner in Bayreuth ist diese Beschreibung eine Darstellung


der Situation nach dem Zusammenbruch der politischen Gemeinschaft in
der Moderne. Doch die semiotische Situation, die Nietzsche hier skiz-
ziert, ist der Szenerie aus der Geburt der Tragdie durchaus vergleich-
bar. Hier wie dort geht es um ein Umschlagen von sprachlichem Sinn in
Unsinn und Irrsinn. Was im Falle des dionysischen Rauschs zu einer
Aufhebung der Grenzen zwischen den Menschen und zwischen Mensch
und Natur fhrt, bringt in Richard Wagner in Bayreuth eine Mitteilungs-
losigkeit und Verstndnislosigkeit. Hier wie dort geht es um die Mg-
lichkeit, dass der Sphre des Sinns per se den allgemeinen Begriffen
ein Wahnsinn innewohnen kann. Es geht um etwas anderes als eine
tiefere Wahrheit, einen Nicht-Wahn, ja eine List der Vernunft,62 die
Karl Heinz Bohrer im Zentrum des Nietzscheanischen Interesses am
Wahnsinn erkennen will. Die Geschichte der Beziehung zwischen Wahn-
sinn und Semiotik im 19. Jahrhundert ist noch zu schreiben.

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 2006 von der Johann Wolf-
gang-Goethe Universitt Frankfurt am Main als Dissertation angenom-
men. Ich danke meinem Doktorvater Werner Hamacher (Frankfurt am
Main/New York) fr seinen buchstblich unermdlichen Einsatz und sei-
ne Ermutigung, sich auf ein schwieriges Thema einzulassen. Heiko Chri-
stians (Potsdam) danke ich fr seine magebliche intellektuelle und psy-
chologische Untersttzung.
Kelly Baker Josephs und Melanie D. Holm (Rutgers University) dan-
ke ich fr die Einladung, Teile von Kapitel 2 (ber Shaftesburys und
Kants Konzept des Enthusiasmus) auf der Jahrestagung der ACLA im
Mrz 2006 in Princeton vorzustellen und zu diskutieren.
Fr Hilfe, Hinweise und Gesprche danke ich: Andrea Diller, Martin
Doll, Andrea Eckert, Janine Hauthal, Michaela Putzke und Daniel Ul-
brich. Ich danke auerdem meinen Eltern, Christa Kohns-Ludes und Wil-
helm Kohns, sowie Mathilde Ptz, die mir jeder auf seine Art und
Weise entscheidend geholfen haben.
Achim Geisenhanslke (Regensburg) und Georg Mein (Luxemburg)
danke ich fr die Aufnahme des Buchs in die von ihnen herausgegebene
Reihe Literalitt und Liminalitt.

62 Karl Heinz Bohrer: Nietzsches Wahnsinn im kulturellen System. In:


ders.: Pltzlichkeit. Zum Augenblick des sthetischen Scheins. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1981, S. 139-160, hier: S. 148.

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von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 6. Aufl. Frankfurt am Main:
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Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufstze. Hrsg. von Wolfgang
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Deutsch-Franzsisches Jahrbuch fr Text-Analytik. Hrsg. von Man-
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hann Gottfried Gellius, berarb. und Ergnzung der bersetzung
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dem von der Melodie und der musikalischen Nachahmung die Rede
ist. In: ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften. In Erst-
bersetzung von Eckhart Koch, Dietrich Leube, Melanie Walz und
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lagen der Ungleichheit unter den Menschen [revidierte Fassung der
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von Henning Ritter. Bd. 1-2. Frankfurt am Main: Fischer Tb Verlag
1988, Bd. 1, S. 165-302.

355
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

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Siegfried Schmitz. 2. Aufl. Dsseldorf, Zrich: Artemis & Winkler
1997.
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von Silvio Vietta und Dirk Kemper. Mnchen: Fink 1997, S. 287-
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and Jane Macnaughton. Basingstoke, New York: Palgrave Mac-
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Stuttgart: Artemis 1960, S. 346-388.
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DIE VERRCKTHEIT DES SINNS

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Wellbery, David E.: Der Zug der Sinnlichkeit. Kants Beobachtungen
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Wellek, Ren: Carlyle und die deutsche Romantik [1929]. In: ders.: Kon-
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bei E.T.A. Hoffmann. Frankfurt am Main u.a.: Lang 1996.
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360
VI. LITERATUR

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Olms 1983.
Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollstndiges Universal-Lexikon
[1732-1750]. Bd. 1-64. Graz: Akademische Druck- und Verlagsan-
stalt 1961.
Ziolkowski, Theodore: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und
ihre Institutionen [1990]. bers. von Lothar Mller. Mnchen: Deut-
scher Taschenbuch Verlag 1994.

361
Literalitt und Liminalitt

Achim Geisenhanslke, Oliver Kohns


Hans Rott (Hg.) Die Verrcktheit des Sinns
Ignoranz Wahnsinn und Zeichen bei
Nichtwissen, Vergessen und Kant, E.T.A. Hoffmann und
Missverstehen in Prozessen Thomas Carlyle
kultureller Transformationen Juli 2007, 366 Seiten,
Oktober 2007, ca. 180 Seiten, kart., 34,80 ,
kart., ca. 22,80 , ISBN: 978-3-89942-738-7
ISBN: 978-3-89942-778-3

Achim Geisenhanslke,
Georg Mein (Hg.)
Grenzrume der Schrift
September 2007, ca. 250 Seiten,
kart., ca. 26,80 ,
ISBN: 978-3-89942-777-6

Georg Mein,
Heinz Sieburg (Hg.)
Medien des Wissens
Interdisziplinre Aspekte
von Medialitt
September 2007, ca. 250 Seiten,
kart., ca. 26,80 ,
ISBN: 978-3-89942-779-0

Achim Geisenhanslke,
Georg Mein (Hg.)
Schriftkultur und
Schwellenkunde
September 2007, ca. 250 Seiten,
kart., ca. 26,80 ,
ISBN: 978-3-89942-776-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter:


www.transcript-verlag.de

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