Kohns Die Verruecktheit Des Sinns
Kohns Die Verruecktheit Des Sinns
Kohns Die Verruecktheit Des Sinns
I. Einleitung
7
VI. Literatur
337
I. E I N L E I T U N G
Zu Recht erwartet man von einer Abhandlung die Klrung und Defini-
tion ihrer wichtigen Begriffe. Dennoch wird dieses Buch jeden Leser ent-
tuschen mssen, der eine psychologische Definition des Wahnsinns vor-
zufinden erwartet.
Auch dem klinischen Diskurs der Psychopathologie ist freilich bis
heute nicht gelungen, den Begriff des Wahnsinns oder auch nur den (en-
geren) Begriff des Wahns zu definieren. Das Urteil aus dem Jahr 1967
scheint bis heute gltig zu sein: Die Frage, was Wahn berhaupt sei, ist
bisher ungeklrt geblieben. Die Beschftigung mit den Ergebnissen der
Wahnforschung [...] gibt auch fr die Zukunft wenig Hoffnung auf eine
befriedigende Antwort.1 Dieser Umstand resultiert keinesfalls aus einem
empirischen Versagen der Psychologie, sondern spricht im Gegenteil
eher fr die intellektuelle Redlichkeit der Disziplin.
Eine psychologische Definition des Wahnsinns, das kann nicht zu-
letzt aus den wichtigen Arbeiten Michel Foucaults gelernt werden, ist a
priori unmglich. Wie Foucault herausgearbeitet hat, besitzt Wahnsinn
eine ausschlielich diskursive Existenz. Der Wahnsinn ist, so schreibt
Foucault, nicht eine psychologische Tatsache, sondern etwas, das von der
7
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Man knnte die Geschichte der Grenzen schreiben [...], mit denen eine Kultur
etwas zurckweist, was fr sie auerhalb liegt [...]. Eine Kultur ber ihre
Grenzerfahrungen zu befragen, heit, sie an den Grenzen der Geschichte ber
eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen.2
Jede Definition des Wahnsinns sagt demzufolge mehr ber den Defi-
nierenden als ber das Definierte aus. Keine adquate Beschreibung des
Wahnsinns kann, mit anderen Worten, ohne Bercksichtigung des Stand-
punktes des Beobachters erfolgen.
Wenn Wahnsinn dasjenige ist, das die Vernunft von sich abgrenzt
und ausgrenzt, dann ist der Wahnsinnige immer der Andere. Foucault be-
schreibt diese Alterisierung des Wahnsinnigen in erster Linie als eine Al-
terisierung der Sprache. Die Sprache der Vernunft grenzt bestimmte
Sprachformen von sich aus und definiert sich selbst durch diese Aus-
schlsse. Die Herstellung des Wahnsinns geschieht demnach durch
Sprachverbote. Wahnsinn, schreibt Foucault,
ist die ausgeschlossene Sprache , die Sprache, die gegen den Code der Spra-
che Reden ohne Bedeutung ausstt (die von Sinnen sind, die Dummkpfe,
die Schwachsinnigen), oder die Sprache, die als heilig verehrte Reden aus-
spricht (die Gewaltttigen, die Rasenden), oder die Sprache, die untersagte
Bedeutungen durchrutschen lsst (die Libertins, die Starrkpfigen).3
Wahnsinn ist fr Foucault eine Form der Sprache: eine ausgesperrte und
ausgeschlossene Sprache. Die Sprache der Vernunft konstituiert sich, in-
dem sie andere Sprachen aus dem Bereich der Sprache ausschliet und in
die Sphre des Stammelns und Schweigens verweist.4 Seit seiner ur-
8
I. EINLEITUNG
In der Tat kndigt Foucault an, nicht die Geschichte der Psychiatrie,
sondern die des Wahnsinns selbst in seinen Aufwallungen vor jedem Er-
fatwerden durch die Gelehrsamkeit6 schreiben zu wollen. Foucault
postuliert: Die Flle der Geschichte ist nur in dem leeren und zugleich
bevlkerten Raum all jener Wrter ohne Sprache mglich, die einen
tauben Lrm denjenigen hren lassen, der sein Ohr leiht, einen tauben
Lrm von unterhalb der Geschichte, das obstinate Gemurmel einer Spra-
che, die von allein spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Ge-
sprchspartner, auf sich selbst gehuft, in der Gurgel geballt, und die
noch zusammenbricht, bevor jegliche Formulierung erreicht ist.7
Vor allem Jacques Derridas Kommentar zu Foucaults Folie et Drai-
son hat die Aussichtslosigkeit jedes Versuchs aufgezeigt, eine Sprache
des Schweigens oder eine Sprache der Wrter ohne Sprache wieder-
zuentdecken. Ein bedeutendes Argument Derridas gegen Foucaults Kon-
zeption weist darauf hin, dass das gesamte begriffliche und kategorische
Instrumentarium Foucaults die Geschichte, der Begriff des Begriffs
selbst, kurz: die gesamte Sprache weiterhin eben der Vernunft ver-
pflichtet bleiben, von der Foucault sich entfernt zu haben glaubt. Es ge-
ngt vielleicht nicht, schreibt Derrida,
9
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
der Gestalt der Erfassung oder der Objektivierung des Wahnsinns definiert.
Nichts in dieser Sprache und niemand unter denen die sie sprechen, kann der
historischen Schuld entgehen [...], der Foucault den Proze machen zu wollen
scheint.8
8 Jacques Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns [1964]. In:
ders.: Die Schrift und die Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 177), S. 53-101, hier: S. 60. Die deutsche bersetzung dieses Tex-
tes wurde verglichen mit der Originalfassung (und an einer Stelle korri-
giert): vgl. Jacques Derrida: Cogito et histoire de la folie. In: ders.: Lcri-
ture et la diffrence. Paris: Seuil 1967, S. 51-97.
9 Vgl. Shoshana Felman: Writing and Madness (Literature, Philosophy,
Psychoanalysis). bers. von Martha Noel Evans und Shoshana Felman.
Ithaca, NY.: Cornell University Press 1987; S. 35-55; Roy Boyne: Foucault
and Derrida. The other Side of Reason. London, New York: Routledge
1994, S. 53-89; Wolfgang Schffner: Wahnsinn und Literatur. Zur Ge-
schichte eines Dispositivs bei Michel Foucault. In: Poststrukturalismus.
Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neu-
mann. Stuttgart, Weimar: Metzler 1997 (Germanistische Symposien-Be-
richtsbnde. 18), S. 59-77, hier: S. 76f.; Peter Fenves: Derrida and History:
Some Questions Derrida pursues in his Early Writings. In: Jacques Derrida
and the Humanities. A Critical Reader. Hrsg. von Tom Cohen. Cambridge:
Cambridge University Press 2001, S. 271-295, hier: S. 273-280; Pier Aldo
Rovatti: Der Wahnsinn in wenigen Worten. bers. von Ren Scheu und
Andreas Fagetti. Wien: Turia + Kant 2004, S. 17-35.
10
I. EINLEITUNG
sich knftig im Exil. Wenn der Mensch immer wahnsinnig sein kann, so kann
das Denken als Ausbung der Souvernitt eines Subjekts, das sich die Ver-
pflichtung auferlegt, das Wahre wahrzunehmen, nicht wahnsinnig sein.10
Der Akt des Cogito und die Gewiheit, zu existieren, entgehen zum ersten
Mal dem Wahnsinn. Aber abgesehen davon, da es sich dabei zum ersten Mal
nicht mehr um eine objektive und reprsentative Erkenntnis handelt, kann
man nicht mehr buchstabengetreu sagen, da das Cogito dem Wahnsinn ent-
geht, weil es sich seinem Griff entzieht, oder weil, wie Foucault sagt, ich als
Denkender nicht irre sein kann (S. 69), sondern weil in seinem Augenblick, in
seiner eigenen Instanz der Akt des Cogito sogar gilt, wenn ich wahnsinnig bin,
sogar wenn mein Denken durch und durch wahnsinnig ist [mme si ma pense
est folle de part en part].11
11
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Wenn nmlich das Cogito sogar fr den Irren Gltigkeit hat, bedeutet wahn-
sinnig zu sein wenn, noch einmal, dieser Ausdruck einen eindeutigen philoso-
phischen Sinn hat, was ich nicht glaube: er besagt lediglich das Andere jeder
determinierten Form des Logos [elle dit simplement lautre de chaque forme
dtermine du logos] , nicht das Cogito reflektieren und aussagen zu knnen,
das heit, es als solches fr einen anderen erscheinen zu lassen; einen anderen,
der ich selber sein kann.18
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Felman: Writing and Madness (wie Anm. 9), S. 46.
17 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 69.
18 Ebd., S. 95 (Hervorhebung von mir, O.K.).
12
I. EINLEITUNG
Wenn die Philosophie stattgehabt hat was man immer bestreiten kann ,
dann nur in dem Mae, in dem sie das Ziel entworfen hat, jenseits des endli-
chen Schutzes zu denken. Indem man die historische Konstituierung dieser end-
lichen Schutzvorrichtungen in der Bewegung der Individuen, der Gesellschaf-
ten und aller endlichen Totalitten im allgemeinen beschreibt, kann man letzt-
lich alles beschreiben [...], ausgenommen das philosophische Vorhaben
selbst.20
Wenn es also ein Unternehmen der Philosophie gibt Derrida hlt die
Mglichkeit und Gegebenheit dieses Unternehmens stets offen , dann
besteht sein Kern darin, die endliche Vernunft des Individuellen und Ge-
sellschaftlichen transzendieren zu wollen, um sich die unendliche Ver-
nunft anzueignen. Wie der wahnsinnige Weltschpfer in Klingemanns
Nachtwachen von Bonaventura, der dem Erzhler Kreuzgang zufolge
eben so gut sein konsequentes System wie Fichte21 besitzt; wie also
das System Fichtes nichts geringeres als die Gottgleichheit des Philoso-
phen behauptet, so besteht der Wahnsinn der Philosophie darin, eine ab-
19 Ebd., S. 61.
20 Ebd., S. 94 (Funote 30).
21 August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura [1805]. Frankfurt am
Main: Insel 1974, S. 116.
13
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
22 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 94
(Funote 30).
23 Ebd.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 61.
26 Ebd., S. 98. Diese Aussage wird in jeder Hinsicht gesttzt, wenn man die
Argumente Derridas selbst als Verdunklung und Obskuritt, als Blindheit
und Verblendung und also letztendlich als unvernnftig charakterisiert.
Vgl. Gary Steiner: This Project is mad: Descartes, Derrida, and the no-
tion of philosophical crisis. In: Man and World. An international Philoso-
phical Review 30 (1997), S. 179-198, hier: S. 182, ber Derridas Bestim-
mung des Wahnsinns: Taken together, these claims [] demand that we
resign ourselves entirely to the realm of obscurity and confusion that the
14
I. EINLEITUNG
15
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Nun beginnt das Werk mit dem elementarsten Diskurs, mit der ersten Artiku-
lation eines Sinnes, mit dem Satz, mit dem ersten syntaktischen Stck eines als
solches, weil einen Satz zu bilden einen mglichen Sinn zu manifestie-
ren heit. Der Satz ist seinem Wesen nach normal. Er trgt die Normalitt in
sich, das heit den Sinn, in jedem Sinne dieses Wortes, dem Descartes insbe-
sondere. Er trgt die Normalitt und den Sinn in sich, wie der Zustand, die Ge-
sundheit oder der Wahnsinn desjenigen im brigen auch sein mgen, der ihn
ausspricht oder durch den und ber den er luft, in dem er artikuliert wird. In
seiner rmsten Syntax ist der Logos die Vernunft, und zwar eine bereits histori-
sche Vernunft.33
Es fllt nicht schwer, in diesen Stzen Derridas ein Echo der Sprachkritik
Nietzsches zu vernehmen. Derridas Aussage, bereits die syntaktische
Struktur des Satzes binde die Sprache notwendigerweise an die Mglich-
keit des Sinns und also an die Vernunft, scheint direkt auf eine Bemer-
kung Nietzsches aus der Gtzen-Dmmerung zu antworten: Die Ver-
nunft in der Sprache: oh was fr eine alte betrgerische Weibsperson!
Ich frchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik
16
I. EINLEITUNG
17
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Vom Augenblick an, wo ich spreche, gehren die Wrter, die ich gefunden
habe, mir nicht mehr, weil sie Wrter sind; sie werden in ursprnglicher Weise
wiederholt [...]. Die Entwendung ereignet sich als das ursprngliche Geheimnis,
das heit als Rede oder Geschichte (), die ihren Ursprung und ihren Sinn
verbirgt und nie sagt, woher sie kommt noch wohin sie geht; zunchst, weil sie
es nicht wei und weil dieses Nichtwissen, die Abwesenheit ihres eigentlichen
Subjektes nmlich, nicht ber sie hereinbricht, sondern sie konstituiert. [...]
Folglich ist, was man das sprechende Subjekt nennt, nicht mehr jener oder jener
allein, der spricht. Er befindet sich in einer irreduziblen Zweitrangigkeit, dem
immer schon, aus einem organisierten Feld der Rede, in dem er vergeblich eine
stets fehlende Stelle sucht, entwendeten Ursprung.37
36 Vgl. Fenves: Derrida and History (wie Anm. 9), S. 278: The Cogito is a
name for that which makes it impossible for any historical context to be
closed, even in principle: no context can be so completely determined and
fully saturated that it thereby excludes the possibility of thought the
possibility, in other words, not only that utterances mean something other
than what they are said to mean but that utterances mean precisely nothing,
that they are mad utterances and therefore not utterances, strictly spea-
king, but, as Derrida underscores, silences or, to use Foucaults phrase, the
absence of work.
37 Jacques Derrida: Die soufflierte Rede [1965]. In: ders.: Die Schrift und die
Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 177), S. 259-301, hier:
S. 271f.
38 Vgl. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext [1971]. In: ders.: Rand-
gnge der Philosophie. bers. von Gerhard Ahrens u. a. Hrsg. von Peter
Engelmann. 2., berarb. Aufl. Wien: Passagen 1999, S. 325-351, hier: S.
346f.
18
I. EINLEITUNG
Trotz seiner heftigen Kritik an Foucaults Buch, die darin gipfelt, es als
genau das zu bezeichnen, was es hatte anklagen wollen (Eine kartesiani-
sche Geste fr das 20. Jahrhundert41), betont Derrida immer wieder
auch seine vllige bereinstimmung mit Foucault. Paradoxerweise ist
das von mir Gesagte streng Foucault entsprechend,42 schreibt Derrida.
Dieser Satz leitet Derridas Errterung der Foucaultschen Definition des
Wahnsinns als Abwesenheit eines Werkes ein. Tatschlich verwerfen
Derridas Ausfhrungen zum Wahnsinn diese Definition nicht; viel eher
muss man sagen, dass Derrida die Bestimmung des Wahnsinns als Ab-
wesenheit eines Werkes aufnimmt und sogar radikalisiert.
Durch diese Radikalisierung ndert sich die Rolle der Literatur, wel-
che fr Foucault noch eine emphatische Rolle eingenommen hat. Im An-
schluss an Blanchot43 beschreibt Foucault in Folie et Draison die Li-
19
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
teratur als eine Sprache, welche die objektivierende Geste der Vernunft
vermeiden und einen unverstellten Zugang zur Wahrheit des Seins her-
stellen kann.44 ber die diskursiven Umstellungen des neunzehnten Jahr-
hunderts schreibt Foucault:
Dann tritt der Wahnsinn in einen neuen Kreis ein. Er ist jetzt von der Unver-
nunft losgelst, die lange Zeit bleiben wird, als streng poetische oder philoso-
phische Erfahrung, die von de Sade bis Hlderlin, bis Nerval und bis Nietzsche
wiederholt wird, das reine Eintauchen in eine Sprache, die die Geschichte auf-
hebt und an der empfindlichen Oberflche des Wahrnehmbaren die Bedrohung
einer unerinnerlichen Wahrheit schimmern lt.45
men werden als die Wahrheit, als der wieder begriffene und auf die poe-
tische Schpfung bezogene Sinn einer unmittelbaren Erfahrung (Maurice
Blanchot: Der Wahnsinn par excellence [1953/70]. In: Jaspers, Karl:
Strindberg und van Gogh. Versuch einer vergleichenden pathographischen
Analyse. Mit einem Essay von Maurice Blanchot. bers. von Henning
Schmidgen. Berlin: Merve 1998, S. 7-33, hier: S. 14f.).
44 Vgl. Gelhard: Unvernunft, Un-wahrheit, Unzeit (wie Anm. 31), S. 55.
45 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 386.
46 Vgl. ebd., S. 536.
20
I. EINLEITUNG
kommt, das heit den Ort, von dem her es nicht aufhren wird, abwesend zu
sein.47
47 Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes (wie Anm. 3), S. 183.
48 Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben I [1991]. bers. von Andreas
Knop und Michael Wetzel. Mnchen: Fink 1993, S. 116.
21
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Der Schriftsteller ist unter diesen Umstnden allenfalls, wie der Philo-
soph Descartes, lediglich das sprechende Subjekt par excellence, inso-
fern sein Sprechen den Wahnsinn im Sinn aufzeigt und sichtbar werden
lassen kann. Der literarische Text ist derjenige, der sich als Falschgeld
erweist (als Fiktion etc.). Dies ist nicht einfach in dem Sinne zu verste-
hen, dass die Sprache der Literatur tuschen oder lgen wrde (in
dem Sinne der platonischen Kritik). Die Analogie zwischen dem literari-
schen Text und dem Falschgeld basiert vielmehr auf einer tiefen episte-
mologischen Verunsicherung. Derrida weist ausdrcklich darauf hin,
dass ein falsches Geldstck nicht lnger als Falschgeld wirken kann, so-
bald es als Falschgeld anerkannt wird: Das falsche Geldstck ist als sol-
ches niemals Falschgeld. Sobald es ist, was es ist, anerkannt als solches,
hrt es auf, als Falschgeld zu wirken und zu gelten. Es ist nur, wenn es
sein kann, mglicherweise, was es ist.49 In diesem Sinn wre ein literari-
scher Text, sobald er als Tuschung markiert wre, keine Tuschung
mehr; Falschgeld ist der literarische Text vielmehr in dem Sinn, dass in
ihm jeder Sinn sich jederzeit mglicherweise als Unsinn und Wahn-
sinn herausstellen kann.
Literatur ist vielleicht derjenige Text, von dem gesagt werden muss,
er sei verrckt. Ihre epistemologische Verunsicherung gilt auch und
vielleicht gerade dann, wenn sie dieses Urteil zu antizipieren scheint
und sagt: Ich bin verrckt. Der Erzhler in Flauberts Mmoires dun fou
(1838) fragt: Wit ihr denn selbst, warum ihr die erbrmlichen Bltter
aufgeschlagen habt, die die Hand eines Irren vollzeichnen will?50
Unmglicher Sprechakt: ich bin wahnsinnig. Wenn der Wahnsin-
nige immer der Andere ist, dann muss die Aussage ich bin wahnsinnig
a priori unmglich sein. Sie bildet einen paradoxen Sprechakt: wenn er
zutrifft, kann er nicht ausgesagt werden (denn dann wre das Ich nicht zu
einer sinnhaften Sprache fhig); sobald er gesagt wird, dementiert der
Akt des Aussagens (in seiner sinnhaften Struktur) den Inhalt der Aus-
sage.51 Wie Shoshana Felman in ihrer Lektre der Mmoires dun fou ge-
zeigt hat, entwickelt Flauberts Text verschiedene Strategien, aus diesem
Widerspruch einen produktiven rhetorischen Mechanismus zu machen:
Wahnsinn ist das Urteil der Anderen, eine sprachliche Aggression etc.52
Wahnsinn wird zu einem beweglichen Attribut, das verschiedene
Adressaten ansprechen und bezeichnen kann. Der Wahnsinn des literari-
49 Ebd., S. 117.
50 Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. November, Erinnerungen, Auf-
zeichnungen und innerste Gedanken. bers. von Traugott Knig. Zrich:
Diogenes 2005, S. 53.
51 Felman: Writing and Madness (wie Anm. 9), S. 89.
52 Vgl. ebd., S. 82f.
22
I. EINLEITUNG
schen Textes liegt dann mglicherweise gerade darin, dass nicht mehr
gesagt werden kann, wer wahnsinnig ist und wer nicht. Die Worte ich
bin wahnsinnig sind auch hier mglicherweise eine Zitation, eine ironi-
sche Formel, kurz: eine entwendete Sprache, die nur die Abwesenheit
des sprechenden Subjekts im Sprechen aussagt. Flauberts Text spricht
nicht nur ber die Verrcktheit seiner Protagonisten, sondern ebenso
auch ber das, was de Man als Verrcktheit der Wrter53 bezeichnet.
Die Verrcktheit der Wrter ist die Verrcktheit der Sprache, die Sinn
nur innerhalb einer internen Verweisstruktur besitzt, aber keine berein-
stimmung mit einer ueren Realitt garantieren kann. Hast du jemals
darber nachgedacht, da der linguistische Terminus Metathese dem
onkologischen Terminus Metastase hnelt?, fragt Ecos Protagonist Ja-
copo Belbo:
53 Paul de Man: Shelleys Entstellung [1979]. In: ders.: Die Ideologie des s-
thetischen. bers. von Jrgen Blasius. Hrsg. von Christoph Menke. Frank-
furt am Main: Suhrkamp 1993 (edition suhrkamp. 1682), S. 147-182, hier:
S. 176. Vgl. ausfhrlicher zu dieser Formel: Hans-Jost Frey: Die Verrckt-
heit der Wrter. In: ders.: Die Autoritt der Sprache. Lana, Wien, Zrich:
Edition Holweg + edition per procura 1999, S. 253-285.
54 Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. bers. von Burkhart Kroeber.
Mnchen, Wien: Hanser 1989, S. 665.
23
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
wird, handelt es sich hier, wie Derrida schreibt, um einen totalen Wahn-
sinn,55 der noch die Vernunft selbst umgreift. Um diesen Wahnsinn soll
es in der folgenden Arbeit gehen. Sie soll den Nachweis fhren, dass be-
reits im philosophischen und literarischen Diskurs gegen Ende des acht-
zehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Reflexionen ber eine
Form des totalen Wahnsinns vorzufinden sind, der jeden Sinn (und al-
so die Sprache als Medium des Sinns) erst konstituiert.
Gerade das Werk Kants ist in Bezug auf die Thematik des Wahnsinns ei-
nigen Missverstndnissen ausgesetzt gewesen, gegen die es einzutreten
gilt. Weil sich ihre Studie in dieser Hinsicht besonders hervorgetan hat
und weil diese Deutung immer noch hufig zitiert wird, muss hier insbe-
sondere die Arbeit ber Das Andere der Vernunft (1983) von Hartmut
und Gernot Bhme erwhnt werden. Bhme und Bhme konstruieren
den Plot ihrer Untersuchung offensichtlich analog zu Foucaults Ge-
schichte des Wahnsinns, wobei Kant die Rolle einnimmt, die Descartes
bei Foucault hat. Kant erscheint folglich als kalter, rigider und misan-
thropischer Rationalist, der alles als Unvernunft und Wahnsinn dekla-
riert, was sich seinem Rationalittsprogramm widersetzt. Bhme und
Bhme rcken Kant in ihrer Einleitung explizit in die Tradition Des-
cartes:
55 Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns (wie Anm. 8), S. 85.
56 Hartmut Bhme und Gernot Bhme: Das Andere der Vernunft. Zur Ent-
wicklung von Rationalittsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1983, S. 17.
57 Ebd, S. 11.
24
I. EINLEITUNG
Was aber liegt jenseits der Grenze der Vernunft? Was ist das Andere
der Vernunft? Bhme und Bhme geben hier klare Auskunft:
Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale,
ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische.
Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die
Phantasie, das Begehren, die Gefhle oder besser: all dieses, insoweit es sich
die Vernunft nicht hat aneignen knnen.58
58 Ebd., S. 13.
59 Ebd., S. 240.
60 Ebd., S. 243.
61 Ebd., S. 249.
25
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
62 Ebd., S. 232.
63 Dies hat insbesondere Heideggers Interpretation der Kritik der reinen Ver-
nunft betont. Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphy-
sik [1929]. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 6. Aufl. Frankfurt
am Main: Klostermann 1998.
26
II. V EL U T A E G R I S O M N I A (K A N T )
Did the Sage of Knigsberg Have no Dreams?
(C. I. Lewis: Mind and the World Order)
I I . 1 W ah n si n n : d i e u n he i l b a r e Un o r d n u n g
Den Wahnsinn gibt es nicht. Dies muss als erstes Ergebnis der Beschf-
tigung Kants mit der Unvernunft festgehalten werden. Wre es anders,
gbe es ein Wesen des Wahnsinns, eine fest umschriebene Form, die
ein apriorisches Wissen ber den Unverstand ermglichen wrde, dann
wrde es sich kaum mehr um einen Wahnsinn handeln, sondern lediglich
um ein Negativbild der Vernunft. Der Wahnsinn wre nicht das Andere
der Vernunft, wenn er einfach eine bloe Gegenvernunft oder Unver-
nunft wre. Das Gegenstck zur einen und einzigen Vernunft bildet fr
Kant nicht einfach eine einzige Unvernunft oder einen Unverstand
im Gegensatz zum einzigen Verstand , sondern eine auerordentliche
Flle von Bezeichnungen verschiedenster Geistesstrungen. Eine Liste
der Kantschen Benennungen der Unvernunft aufzufinden in den ver-
27
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
28
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
trie und Neurologie 133 (1957), S. 17-28; Werner Leibbrand und Annema-
rie Wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendlndischen Psychopatho-
logie. Freiburg, Mnchen: Alber 1961, S. 360-368; Helen Liebel-Wecko-
wicz und Thaddeus E. Weckowicz: Kants Theory of Mental Illness. In:
Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover 17. bis 22. Juli
1972. Bd. 1-3. Wiesbaden: Steiner 1973-1975, Bd. 1, S. 261-277.
5 Vgl. Gabriele Ricke: Schwarze Phantasie und trauriges Wissen. Beobach-
tungen ber Melancholie und Denken im 18. Jahrhundert. Hildesheim:
Gerstenberg 1981, S. 149-152 sowie S. 166-181; Jutta Osinski: ber Ver-
nunft und Wahnsinn. Studien zur literarischen Aufklrung in der Gegen-
wart und im 18. Jahrhundert. Bonn: Bouvier 1983, bes. S. 105f.; Hartmut
und Gernot Bhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Ratio-
nalittsstrukturen am Beispiel Kants. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1992 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 542), S. 233-274; Ste-
fan Niessen: Traum und Realitt. Ihre neuzeitliche Trennung. Wrzburg:
Knigshausen & Neumann 1993, S. 274-285; Iris Denneler: Die Kehrseite
der Vernunft. Zur Widersetzlichkeit der Literatur in Sptaufklrung und
Romantik. Mnchen: Fink 1996, S. 106-111; Simonetta Sanna: Im ge-
sprungenen Spiegel des Wahnsinns: Die Moderne und ihre Bewutseins-
krise. In: sthetische Moderne in Europa. Grundzge und Problemzusam-
menhnge seit der Romantik. Hrsg. von Silvio Vietta und Dirk Kemper.
Mnchen: Fink 1997, S. 287-319, hier: S. 305; Leonhard Fuest: Grillen an
Bord. ber Immanuel Kants Verhltnis zum Wahnsinn und dessen Rezep-
tion bei Thomas Bernhard. In: Der Andere Ein alltglicher Begriff in phi-
losophischer Perspektive. Hrsg. von Ulrike Hagel u.a. Leipzig: Leipziger
Universittsverlag 2002, S. 129-138; Bernadette Malinowski: Literatur und
Wahnsinn Aspekte eines kulturhistorischen Paradigmas. In: Germanica
32 (2003), S. 11-30, hier: S. 21f.
29
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
genprophet hie.6 Erst eine Lektre, die den Text ernst nimmt, wird
ber diese Vorurteile hinauskommen.
Das schwierige Verhltnis zwischen dem systematisierenden Ver-
stand und der wesentlichen Unordnung des Wahnsinns und somit
zwischen dem Philosophen und dem Wahnsinnigen findet im ersten
Abschnitt des Versuchs einen ironischen Kommentar. Kant kndigt sei-
nen Versuch mit einiger Bescheidenheit als eine kleine Onomastik der
Gebrechen des Kopfes an und vergleicht sich bei diesem Unternehmen
mit einem jener rzte, die glauben ihrem Patienten sehr viel genutzt zu
haben, wenn sie seiner Krankheit einen Namen geben.7
Der Philosoph, der ber den Wahnsinn spricht, ist demnach darauf
verwiesen, sich mit Wrtern zu beschftigen und nicht mit Krankheiten.
Da eine Krankheit etwas anderes als ein Wort ist, verfehlt er notwendig
den Gegenstand seines Nachdenkens und gleicht einem schlechten Arzt,
welcher eine Komdienfigur abgeben knnte. Insofern sich sein Wissen
lediglich auf die selbstgeschaffenen Wrter bezieht und nicht auf die
Dinge, die diese Wrter bezeichnen sollen, stellt der Arzt in Kants Text
die Figuration eines komischen Realittsverlusts dar. Mit seiner Ver-
wechslung des Wortes mit dem bezeichneten Ding erinnert jener Arzt
(und jener Philosoph) unweigerlich an den ersten Wahnsinnigen der mo-
dernen Literatur, an Cervantes Don Quijote. Ein Arzt, der Wrter be-
handelt anstelle von Krankheiten, muss sich dem Verdacht stellen, selbst
wahnsinnig zu sein. Im Versuch zeigt sich mithin wiederum eine Affek-
tion der scheinbar distanziert betrachtenden ratio durch die beobachtete
Unvernunft, die Kants Anthropologie andeutet.
Der erste Absatz des Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes fragt
nach der Mglichkeit des Wahnsinns im Naturzustand und rckt die
6 Vgl. Ludwig Ernst Borowski: Darstellung des Lebens und Charakters Im-
manuel Kants. Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt [1804]. In:
Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Bio-
graphien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 1-115, hier: S. 31;
Arsenij Gulyga: Immanuel Kant. bers. von Sigrun Bielfeldt. Frankfurt am
Main: Insel 1981, S. 85f.
7 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 888 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 14).
30
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Die Einfalt und Gngsamkeit der Natur fordert und bildet an dem Menschen
nur gemeine Begriffe und eine plumpe Redlichkeit, der knstliche Zwang und
die ppigkeit der brgerlichen Verfassung hecket Witzlinge und Vernnftler,
gelegentlich aber auch Narren und Betrger aus, und gebieret den weisen oder
sittsamen Schein, bei dem man so wohl des Verstandes als auch der Recht-
schaffenheit entbehren kann, wann nur der schne Schleier dichte genug ge-
webt ist, den die Anstndigkeit ber die geheime Gebrechen des Kopfes oder
des Herzens ausbreitet.8
Nach dem Mae, als die Kunst hoch steigt, werden Vernunft und Tugend end-
lich das allgemeine Losungswort, doch so, da der Eifer, von beiden zu spre-
chen, wohl unterwiesene und artige Personen berheben kann, sich mit ihrem
31
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Besitze zu belstigen. [...] Ich lebe unter weisen und wohlgesitteten Brgern,
nmlich unter denen, die sich darauf verstehen, so zu scheinen.9
Die Gesellschaft des Brgers ist eine Gesellschaft der Kunst und der
Knstlichkeit und also der Destabilisierung jeder festen und zuverlssi-
gen Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichneten. Kant stellt der br-
gerliche Gesellschaft jedoch nicht eine andere Gesellschaftsform gegen-
ber, sondern dem Naturzustand, den man am ehesten als eine Nicht-
Gesellschaft beschreiben knnte. Die brgerliche Gesellschaft mit ih-
rer Kunst ist hier nicht eine Regierungsform unter anderen gleichfalls
mglichen und auch nicht nur eine historische Entwicklungsstufe der
menschlichen Gattung, sondern eher der Zustand der Mglichkeit von hi-
storischer Entwicklung berhaupt.
Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Isolation des Men-
schen in der Natur und seinem Nicht-Wahnsinn? Kants Beschreibung
des Naturzustands zielt auf eine spezifische konomie der Bedrfnisse,
die sich durch ihre Vermittlungslosigkeit auszeichnet. Zwischen dem Be-
drfnis und dessen Erfllung schiebt sich keine Vorstellung von dem
Werte ungenossener Gter, welche die Struktur des Bedrfnisses ver-
komplizieren knnte. Statt dessen halten seine Bedrfnisse den Natur-
menschen jederzeit nahe an der Erfahrung; diese sind demzufolge
strikt sinnlicher Natur. Wenn der Mensch im Zustande der Natur dem-
zufolge ein Mensch ohne eine Instanz der Vermittlung ist, dann ist es nur
folgerichtig, dass er um anderer Urteil unbekmmert lebt: Er hat ber-
haupt keine Beziehung zum Anderen.
Die Nhe von Kants Versuch ber die Krankheiten des Kopfes zu einigen
Gedanken Rousseaus wurde bereits gelegentlich bemerkt.10 Offenkundig
9 Ebd.
10 Vgl. Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht (1798). Hamburg: Meiner 1999 (Kant-Forschun-
gen. 10), S. 286. Siehe ferner Hans-Jrgen Schings: Melancholie und Auf-
klrung. Melancholiker und Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Litera-
tur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1977, S. 71f.; Willi Goetschel:
Kant als Schriftsteller. Wien: Passagen 1990, S. 78; Eric J. Schwab: Wit,
Satire, and Low Humor in Early Kant. In: Lessing Yearbook 29 (1997), S.
131-150, hier: S. 136; Meike Hillen: Die Pathologie der Literatur. Zur
wechselseitigen Beobachtung von Medizin und Literatur. Frankfurt am
Main: Lang 2003 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur. 61), S. 56.
32
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
bietet ihm keine Bilder dar [ne lui peint rien], sein Herz fordert nichts. Seinen
migen Bedrfnissen [modiques besoins] kann er leicht genug tun, und er ist
von allen Einsichten [connoissances], ohne welche man niemals nach greren
Bedrfnissen strebt, so weit entfernt, da er weder etwas vorhersehen noch neu-
gierig sein kann.12
33
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
man sich, um sich dieser Beschftigung hinzugeben und die Felder zu besen,
entschlieen mu, erst einmal etwas zu verlieren, um in der Folge viel zu ge-
winnen [perdre dabord quelque chose pour gagner beaucoup dans la suite]:
eine Vorsorge [prcaution], die der Geistesverfassung des wilden Menschen
hchst fern liegt, der, wie ich gesagt habe, groe Mhe hat, am Morgen an sei-
ne Bedrfnisse fr den Abend zu denken.16
13 Ebd., S. 231.
14 Ebd., S. 204.
15 Ebd., S. 207.
16 Ebd., S. 240.
34
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
35
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
erwacht die Einbildungskraft, die wirksamste unter allen [la plus active de
toutes], und kommt ihnen zuvor. Die Einbildungskraft erweitert fr uns das
Ma der mglichen Dinge, es sei nun im Guten oder im Bsen, und erweckt
und nhrt folglich die Begierden [les dsirs] durch die Hoffnung [lespoir], sie
zu befriedigen.20
Aber nicht nur das Verhltnis zwischen Krften und Begierden ndert
sich in diesem Moment radikal, sondern ebenso auch die Zielrichtung des
Begehrens: Der natrliche Wille zur Selbsterhaltung wird nun durch
den Willen zur Anerkennung durch den Anderen ersetzt. Rousseau fhrt
die Idee des Vergleichs zwischen zwei gleichermaen nicht sinnlichen
Vorstellungen ein, um diesen bergang zu erklren.21
Whrend der Naturmensch seine natrlichen Bedrfnisse befriedigen
will, strebt der zivilisierte Mensch die Anerkennung von seinen Mitmen-
schen an. Zu diesem Zwecke kann er Gter herstellen, welche die Einbil-
dungskraft seiner Mitmenschen anstacheln, um sich Verdienst zu er-
werben, oder er kann diesen Verdienst vortuschen. Weil in der Ge-
sellschaft alle Menschen dasselbe Gut begehren Anerkennung durch
den Anderen , beginnen die Menschen, sich gegenseitig zu tuschen
und zu betrgen. Rousseau setzt nicht nur den gesellschaftlichen Unfrie-
den bellum omnia contra omnes in genauer Umkehrung der ge-
schichtsphilosophischen Perspektive Hobbes an den Endpunkt seiner
Betrachtung, sondern er beschreibt das Medium der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung als den Motor der Vergesellschaftung.
19 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Von der Erziehung [1762]. In der [ano-
nymen] deutschen Erstbertragung von 1762. berarb. von Siegfried
Schmitz. 2. Aufl. Dsseldorf, Zrich: Artemis & Winkler 1997, S. 69.
20 Ebd.
21 Vgl. Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der
Ungleichheit (wie Anm. 11), S. 236.
36
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Der Rang und das Schicksal eines jeden Menschen ist [...] auch in Ansehung
des Verstandes [lesprit], der Schnheit, der Leibesstrke, der Geschicklichkeit
und der Verdienste und Talente festgesetzt, und da diese Eigenschaften die ein-
zigen Mittel sind, sich Achtung [considration] zu erwerben, so war es bald
notwendig, sie zu haben oder sie vorzutuschen [il falut bientot les avoir ou les
affecter]; man mute sich um seines Vorteiles willen anders zeigen, als man tat-
schlich war. Sein und Scheinen wurden zwei ganz verschiedene Dinge, und
aus diesem Unterschiede entsprang die tuschende Hoheitsmiene, die betrgeri-
sche List [la ruse trompeuse] und ihr Gefolge, alle brigen Laster [tous les vi-
ces].22
Das Zeitalter der Zivilisation ist somit ein Zeitalter der Phantasmen und
Tuschungen: des Betrugs seiner selbst wie auch des Betrugs des Ande-
ren. Beide Arten des Betrugs beruhen auf dem gleichen Prinzip: Sie wir-
ken durch die Macht der Einbildungskraft, abwesende zuknftige oder
vermeintlich zuknftige Dinge so stark vorzustellen, dass sie erreichbar
erscheinen und die Begierde beflgeln. Wenn Rousseau im zweiten Teil
des Discours das Zeichen explizit als Mittel der Tuschung einfhrt
(Zeichen [...], um Reichtum auszudrcken [signes reprsentatifs des ri-
chesses]23), gibt er der Vorstellung (der ide), welches die Einbildungs-
kraft als Medium fr alle Selbstaffektion bentigt, lediglich einen ande-
ren Namen. Tatschlich geht es im zweiten Discours um das Zeichen, so-
bald der Mensch nicht mehr an den gegenwrtigen Augenblick geheftet
ist, sondern beginnt, sich eine mgliche, reale oder irreale Zukunft oder
auch Vergangenheit (jedenfalls: das Nichtgegenwrtige) vorzustellen.
Die Verflschung der ursprnglichen Prsenz des Naturzustands durch
das Zeichen ist es, die Rousseau zu einer entschiedenen Ablehnung der
Reprsentation in allen ihren Erscheinungsformen fhrt.24
Im Essai sur lorigine des langues unterscheidet Rousseau zwischen
der lteren Form des Austauschs durch vorzeigbare Gegenstnde oder
Gesten Zeichen und der neueren durch gesprochene Wrter: aufein-
anderfolgende, immaterielle Zeichen. Erstere stellen (als Spur oder Indiz)
ein Mittel der juristischen Evidenz dar:
Als der Levit aus Ephraim den Tod seiner Frau rchen wollte, sandte er kein
Schreiben an die Stmme Israels, sondern zerstckelte ihren Krper in zwlf
Teile und lie diese den Stmmen zukommen. [...] Heutigentags htte die An-
gelegenheit sich in die Lnge gezogen, verdreht in Pldoyers und Streitgespr-
22 Ebd., S. 242.
23 Vgl. ebd., S. 243.
24 Vgl. Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemein-
schaft. bers. von Sabine Schulz und Francesca Raimondi. Berlin: diapha-
nes 2004, S. 75f.
37
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
38
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Die Voraussicht [La prvoyance]! die Voraussicht, die uns ohne Unterla ber
uns hinaustreibt [qui nous porte sans cesse del de nous] und uns so oft dahin
streben lt, wohin wir niemals kommen werden; sie ist die wahre Quelle all
unseres Elendes. Was fr ein Wahn [Quelle manie] fr so ein vergngliches
Wesen [un tre aussi passager], wie den Menschen, stets fern in eine Zukunft
zu sehen, die so selten kommt, und das Gegenwrtige zu verabsumen, dessen
er gewi [sur] ist!29
Im gleichen Mae, wie der Mensch nach seinem Austritt aus dem Natur-
zustand nicht mehr nur den gegenwrtigen Augenblick wahrnimmt
weil er ihm jederzeit voraus oder hinterher und jedenfalls nicht bei ihm
ist , lst sich fr ihn die enge Bindung zwischen Zeichen und Bezeich-
netem auf. Diese Entwicklung ist fr Rousseau die manie des modernen
Menschen. Insofern ist es kaum erstaunlich, dass Rousseau in Emile die
Lehre entwickelt, man mge den Kindern nicht mehr Worte vermitteln,
als sie mit Bedeutungen verbinden knnen, um ihre geistige Gesundheit
zu erhalten.
Man beschrnke also den Wortschatz der Kinder so sehr wie nur mglich. Es
ist eine sehr groe Unbequemlichkeit, da es mehr Wrter hat als Vorstellun-
gen [ides], da es mehr Dinge zu sagen wei, als es denken kann. Ich glaube,
eine der Ursachen, warum die Bauern gewhnlich einen gesnderen Verstand
[lesprit plus juste] haben als die Stadtleute, ist, da ihr Wortschatz nicht so
weitlufig ist.30
28 Vgl. Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau und die Gefahren der Refle-
xion. In: ders.: Das Leben der Augen [1961]. bers. von Henriette Beese.
Berlin, Wien: Ullstein 1984, S. 67-146, hier: S. 78.
29 Rousseau: Emile oder Von der Erziehung (wie Anm. 19), S. 72.
30 Ebd., S. 63.
39
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Wahnsinn ist fr Rousseau vor allem die Dissoziation von Wort und Be-
deutung, der berschuss des Sprechens ber die Vorstellung.31 Er ist in
die Geschichte des Zeichens eingeschrieben und entfaltet sich sptestens
mit der Einfhrung des lautlichen Zeichens. Wahnsinn ist jederzeit
Wahnsinn der Sprache, eine Verrcktheit des Sinns.
Rousseaus Forderung einer klaren Zuordnung jeden Wortes zu einer
Vorstellung hat seine Herkunft in einer Grndungsakte der abendlndi-
schen Sprachphilosophie. Aristoteles bestimmt zu Beginn seiner Ab-
handlung Peri Hermeneias, dass die uerungen unserer Stimme ein
Ausdruck der seelischen Eindrcke () seien und diese wie-
derum Abbildungen der Dinge ().32 Die Wahrheitsfhig-
keit der Sprache beweist sich, indem jede Aussage auf ein Ding zurck-
gefhrt werden kann. Sprache gilt damit im Idealfall als ein transparentes
Medium, das im Prozess des analysierenden Verstehens restlos ver-
schwindet und einen Einblick in die Welt der Dinge ermglicht.33 Wenn
die Sprache des Wahnsinns eine Sprache ist, in der Worte sich nicht auf
Vorstellungen beziehen lassen (oder nicht auf eine Vorstellung) und in
der Vorstellungen sich nicht auf Dinge beziehen lassen, dann widersetzt
sie sich ihrem Verschwinden im Prozess des Verstehens und gefhrdet so
die Annahme einer Transparenz der Sprache.
Wie kann ein Jenseits des Wahnsinns aussehen? Rousseau spricht
diese Frage explizit an, im Vorwort seines Romans Julie. Hier findet sich
eine Passage, in der die nrrische Neigung der stdtischen gens du monde
zur tuschenden Fiktion, zum ueren Glanz und zur schnen Rede der-
jenigen zur wahren Tugend der lndlichen campagnards gegenberge-
stellt wird. Die durch das Lesen der modischen Romane bewirkte Gei-
stesverwirrung der Stdter geht so weit, dass jene guten Romane, welche
die Grundstze der groen Gesellschaften bekmpfen und zerstren
wollen, von den Leuten nach der Mode als ein plattes, berspanntes, l-
cherliches Buch ausgepfiffen, gehat, verschrien werden.34
31 Vgl. Manfred Schneider: Das Grauen der Beobachter: Schriften und Bilder
des Wahnsinns. In: Bild und Schrift in der Romantik. Hrsg. von Gerhard
Neumann und Gnter Oesterle. Wrzburg: Knigshausen & Neumann
1999 (Stiftung fr Romantikforschung. 6), S. 237-253, hier: S. 240f.
32 Aristoteles: Werke in deutscher bersetzung. Begrndet von Ernst Gru-
mach. Hrsg. von Hellmut Flashar. [Bisher:] Bd. 1-14/III; 17-20. Berlin:
Akademie 1973-2002, Bd. 1/II, S. 3 (Peri Hermeneias, 16a).
33 Vgl. Daniel Heller-Roazen: Language, or no Language. In: Diacritics 29
(1999), H. 3, S. 22-39, hier: S. 22f.
34 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die neue Hloise. Briefe zweier Lieben-
den aus einer kleinen Stadt am Fue der Alpen. bers. von Johann Gott-
40
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
fried Gellius, berarb. und Ergnzung der bersetzung von Dietrich Leu-
be. Mnchen: Winkler 1978, S. 19.
35 Ebd.
36 Vgl. Shoshana Felman: Writing and Madness (Literature, Philosophy, Psy-
choanalysis). bers. von Martha Noel Evans und Shoshana Felman. Ithaca,
NY.: Cornell University Press 1987, S. 83; Hans-Jost Frey: Die Verrckt-
heit der Wrter. In: ders.: Die Autoritt der Sprache. Lana, Wien, Zrich:
Edition Holweg + edition per procura 1999, S. 253-285, hier: S. 266.
37 Frey: Die Verrcktheit der Wrter (wie Anm. 36), S. 266.
41
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Seine Seele, die von nichts bewegt wird, berlt sich der bloen Empfindung
ihres gegenwrtigen Daseins [au seul sentiment de son existence actuelle], ohne
den mindesten Begriff von dem Zuknftigen zu haben [sans aucune ide de
lavenir], es mag noch so nahe bevorstehen. Seine Entwrfe [projets], die eben-
so eingeschrnkt sind wie seine Anschauungen [vues], erstrecken sich kaum bis
an das Ende eines einzigen Tages.38
Der wilde Mensch hat nicht nur keine Vorstellung von der Zeit er hat,
weil er nicht ber Zeit verfgt, weil er keine Zukunft und damit auch
keine Vergangenheit kennt, berhaupt keine Vorstellung. Daraus ergibt
sich die paradoxe Konsequenz einer vollstndigen Unkenntnis der Ge-
genwart: Weil und insofern er ausschlielich im gegenwrtigen Augen-
blick lebt, weil er die zuknftige Gegenwrtigkeit nicht antizipieren und
die vergangene Gegenwrtigkeit nicht memorieren kann, ist ihm der ge-
genwrtige Augenblick, den allein er doch kennt, kognitiv unzugnglich.
Wenn der Naturmensch keinen anderen Bezug zu seiner Auenwelt als
den der unmittelbaren sinnlichen Eindrcke hat; wenn Wahrnehmen
und Fhlen [appercevoir et sentir], die reine Passivitt der Rezeption al-
so, seinen ersten Zustand [son premier tat]39 ausmachen, dann tritt
ihm jeder Augenblick vereinzelt gegenber. Das Leben des Naturmen-
schen ist eine blinde Reihung abwechselnder Zustnde, ohne die Mg-
lichkeit, sich selbst oder einen anderen je wiederzuerkennen. Rous-
seau folgert, dass im Naturzustand keinerlei Gesellschaft entstehen kann,
nicht einmal die der Familie (Sie hatten nicht die mindeste Gemein-
schaft unter sich [ils navoient entre eux aucune espce de commer-
ce]).40
38 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 207.
39 Ebd., S. 205.
40 Ebd., S. 222.
42
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
41 Ebd., S. 210.
42 Vgl. Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie
von Descartes bis Rousseau. Tbingen: Niemeyer 1997 (Mimesis. 29), S.
214.
43 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 218.
44 Ebd.
43
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
nichts als ein Gefhl, das uns an die Stelle des Leidenden setzt [un sentiment
qui nous met place de celui qui souffre], ein Gefhl, das bei einem Wilden
[dans lhomme sauvage] dunkel und lebhaft [obscur et vif], bei dem gesitteten
Menschen [dans lhomme civil] hingegen aufgeklrt, aber schwach [dvelopp,
mais foible] sein mu [...].49
45 Ebd., S. 220.
46 Ebd., S. 219.
47 Ebd., S. 218.
48 Vgl. ebd., S. 219: Kein Tier geht ohne einige Unruhe [sans inquitude] an
einem Leichnam seiner Art [de son espce] vorber. Es gibt sogar einige,
die ihre Toten begraben.
49 Ebd., S. 220 (Hervorhebung von mir, O. K.).
44
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
50 Wenn aber die Strke einer sich ausdehnenden Seele mich mit meinem
Mitmenschen [mon semblable] identifiziert und ich mich sozusagen in ihm
fhle [et que je me sens pour ainsi dire en lui], so will ich nicht, da er lei-
de, damit ich selbst nicht leide. Ich nehme mich seiner aus Liebe zu mir
selbst an, und die Ursache des Gebotes liegt in der Natur selbst, die mir die
Begierde zu meinem Wohlsein [le dsir de mon bien-tre] einflt (Rous-
seau: Emile oder Von der Erziehung [wie Anm. 19], S. 291).
51 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 221.
52 Vgl. Esposito: Communitas (wie Anm. 24), S. 93f.
53 Vgl. Derrida: Grammatologie (wie Anm. 17), S. 295-312.
45
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
54 Rousseau: Versuch ber den Ursprung der Sprachen (wie Anm. 25), S.
186. Die neuerdings diskutierte These, jede Gemeinschaft sei grundstzlich
imaginr verfasst vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur
Karriere eines folgenreichen Konzepts [1983]. bers. von Benedikt Bur-
kard und Christoph Mnz. Erw. Ausgabe. Berlin: Ullstein 1998, S. 15 ,
darf bereits im 18. Jahrhundert als Gemeingut gelten.
55 Vgl. Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts (wie Anm. 42), S.
215.
56 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. bers. und hrsg. von Manfred
Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, S. 18f.
57 Vgl. Ian Watt: Der brgerliche Roman. Defoe Richardson Fielding
[1957]. bers. von Kurt Wlfel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974
(Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 78), S. 235.
46
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
dies ist die Macht [force] des natrlichen Mitleids, das die depraviertesten Sit-
ten [les murs les plus dpraves] noch Mhe haben zu zerstren, die man in
unseren Theatern [spectacles] tglich sieht, wie manch einer sich vom Leid und
Unheil eines Unglcklichen rhren lt und darber weint, der, wre er an der
Stelle des Tyrannen, die Qualen seines Feindes noch verschrfen wrde, gleich
dem blutdrstigen Sulla [...] oder jenem Alexander von Pherae, der es nicht
wagte, der Auffhrung irgendeiner Tragdie beizuwohnen, aus Furcht, da man
ihn mit Andromache oder Priamos wehklagen she, whrend er die Schreie so
vieler Brger, die man tglich auf seine Befehle hin umbrachte, unbewegt [sans
motion] mitanhrte.58
Whrend das natrliche Mitleid auf das Leiden des anderen hin rea-
giert, lsst das Theater die Trnen durch eine mimetische Darstellung der
Leiden flieen dergestalt, dass diese Darstellung berzeugender wirkt
und daher ein strkeres Gefhl des Mitleids bewirkt als echtes Leiden.
Das Verhltnis der dargestellten Leiden zu den echten ist insofern ver-
gleichbar mit der Gegenberstellung des Gefhlsmenschen und des
Schauspielers in Diderots Paradoxe sur le Comedien: Hier wird die
Frage, wer in der Liebe eher Erfolg haben wrde, zugunsten des Schau-
spielers beantwortet, weil er sich beherrscht und berzeugen kann, wh-
rend der Gefhlsmensch nur unbeholfen stammeln knne.59 Der Per-
version des Tyrannen, im Schauspiel mit den Unglcklichen zu
weinen, whrend ihn in der Realitt keinerlei Rhrung bewegt, entspricht
in Rousseaus Darstellung die Perversion des Theaters, knstliche Zeichen
zu verwenden, um das Mitleid darzustellen, durch welche unweigerlich
auch das echte Leiden in die stetige Gefahr der Falschheit und Tu-
schung (in die Macht der Einbildungskraft also) hineingezogen wird. Das
Mitleid darf nicht ber Zeichen vermittelt sein, damit es erstens natr-
lich und universell bleibt und zweitens nicht der Tuschung, dem Irr-
tum, der Affektation anheimfllt.
Insofern das Theater seine Nachahmbarkeit vorfhrt, zeigt es, dass
das Mitleid von Anfang an auf das Zeichen angewiesen ist. Die mime-
tische Wiederholung fgt dem natrlichen Zeichen des Leidens ein
nachgeahmtes hinzu und zerstrt damit jene eindeutige Beziehung zwi-
schen Wort und Vorstellung, die in Emile als die Grundlage geistiger Ge-
sundheit gilt. Das Auftreten der Mimesis zeigt den Beginn des Wahn-
58 Rousseau: Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit (wie Anm. 11), S. 219f. Vgl. Rousseau: Versuch ber den Ur-
sprung der Sprachen (wie Anm. 25), S. 168.
59 Vgl. Denis Diderot: Das Paradox ber den Schauspieler. In: ders.: Erzh-
lungen und Gesprche. bers. von Katharina Scheinfu. Leipzig: Diete-
richsche Verlagsbuchhandlung 1953, S. 337-416, hier: S. 370f.
47
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
sinns an und befrdert ihn zugleich.60 Doch ist die Mimesis dem Mitleid
von Anfang an eingeschrieben. Die Perversion des Tyrannen der auf
die Anzeichen des Leidens hin Mitleid empfindet statt auf das wirkliche
Leiden hin ist nur mglich, weil Mitleid sich stets nur auf die Zeichen
des Leidens und nie auf das Leiden selbst beziehen kann. Das Theater
knnte die Perversion des Tyrannen nicht vollbringen, wenn sie nicht in
der Struktur des Mitleids angelegt wre wenn das Mitleid nicht von
vornherein pervertierbar wre. Das Theater ist die Perversion des Mit-
leids, aber Mitleid ist nur mglich aufgrund der menschlichen Perversibi-
litt ein anderer Name fr die perfectibilit und aufgrund des
menschlichen Vermgens der Perversibilitt, der Einbildungskraft.
Indem Rousseau derart, ber das Mitleid, seinen Naturmenschen
mit der Einbildungskraft und damit mit der ffnung fr die Zukunft (fr
die Selbstaffektion) ausstattet, rettet er diesen aus der Paradoxie der rei-
nen Passivitt, erweckt dafr allerdings den Eindruck, dass der Discours
sur lorigine et les fondemens de lingalit eine andere These belegt, als
der Autor zu beweisen vorgibt. Wenn der Discours ausdrcklich zu be-
weisen sucht, dass der Mensch ursprnglich nmlich von Natur aus
moralisch gut und unverdorben ist und nur die Gesellschaft den Keim
des Bsen in ihn hineingetragen hat,61 dann fhrt er gegen diese These
vor, dass der Mensch genau dasjenige Wesen ist, das keine Natur hat.
Seine Natur ist vielmehr das Potential der Denaturalisierung, der fort-
schreitenden Entnatrlichung, und das bedeutet nicht weniger als das He-
raustreten aus jeder Bestimmung, aus jeder Eigenheit oder Eigentlichkeit.
Die Natur des Menschen ist es, von keiner Natur bestimmt zu werden.
48
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Kant hat Rousseau vor allem Anfang und Mitte der 1760er Jahre mit Be-
geisterung gelesen. Mit Blick auf die Differenz der Kantschen Anthropo-
logie zur physiologischen Anthropologie lsst sich die These vertreten,
dass Kant an Rousseau vor allem der Gedanke interessierte, der Mensch
sei als dasjenige Wesen zu bestimmen, das sich nicht an natrlichen
Zielen, sondern an idealen und also nicht naturgegebenen, sondern
selbstgesetzten Zielen orientiert.63
49
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
50
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Der Mensch im Zustande der Natur kann nur wenig Torheiten und schwerlich
einiger Narrheit unterworfen sein. Seine Bedrfnisse halten ihn jederzeit nahe
an der Erfahrung, und geben seinem gesunden Verstande eine so leichte Be-
schftigung, da er kaum bemerkt, er habe zu seinen Handlungen Verstand
ntig. [...] Wo sollte er wohl zur Narrheit Stoff hernehmen, da er um anderer
Urteil unbekmmert weder eitel noch aufgeblasen sein kann? Indem er von
dem Werte ungenossener Gter gar keine Vorstellung hat, so ist er vor die Un-
gereimtheit der filzigen Habsucht gesichert, und weil in seinen Kopf niemals
einiger Witz Eingang findet, so ist er eben so wohl gegen allen Aberwitz gut
verwahret.67
67 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 898f. (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 29). Dieses Schema findet sich noch in Gar-
ves Essay Ueber die Rollen der Wahnwitzigen in Shakespears Schauspie-
len, und ber den Charakter Hamlets ins besondre (1796): Und Wahn-
witz, oder die Anlage dazu, eine phantastische Einbildungskraft, ist in ei-
nem rohen Zeitalter eben so selten, als unter den gemeinen und ganz unge-
sitteten Stnden. Man mu, um schwrmen zu knnen, vielerley wissen,
vielerley Ideen und Bilder im Kopfe haben; besonders sich mit bersinn-
lichen Dingen beschftigen. Der ganz sinnliche Mensch bleibt dewegen
leichter vernnftig, weil er nicht einen Fu breit von dem Pfade alltglicher
Erfahrung abweicht (Christian Garve: Ueber die Rollen der Wahnwitzi-
gen in Shakespears Schauspielen, und ber den Charakter Hamlets ins be-
sondere [1796]. In: ders.: Popularphilosophische Schriften ber literari-
sche, sthetische und gesellschaftliche Gegenstnde. Im Faksimiledruck
hrsg. von Kurt Wlfel. Bd. 1-2. Stuttgart: Metzler 1974, Bd. 2, S. 719-798,
hier: S. 722).
51
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Wenn die Einfalt den Beginn der Geschichte ausmacht, den Men-
schen im Zustande der Natur, dann lsst sich die Abfolge der Geistes-
krankheiten im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes als eine Ge-
68 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 899 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 29).
69 Ebd., S. 887 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 14).
52
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
schichte der Entfernung des Menschen von der Natur begreifen. Die im-
plizite Geschichtsphilosophie des Versuchs ist dann sozusagen die Ent-
faltung der humanen perfectibilit als einer Geschichte des sukzessiv ge-
steigerten Wahnsinns, in der die Einfalt der Natur kaum mehr als
einen Nullpunkt der Geschichte abgibt. Die Bedingung der Mglichkeit
des Wahnsinns liegt fr Kant in der sowohl gattungshistorischen als
auch individuellen Entwicklung des Verstandes begrndet. Der ge-
schichtsphilosophische Entwurf des Versuchs ist jedoch notwendiger-
weise dadurch in Unordnung gebracht, dass Kant den Wahnsinn letztlich
berall und jederzeit vorfindet. Die Geschichtsphilosophie des Versuchs
demontiert sich selbst und ist offen pseudo-historisch.
Innerhalb dieser Pseudo-Historie sind Torheit und Narrheit die
ersten Schritte der Menschheit heraus aus der Einfalt des Naturzu-
stands. Die Torheit ist Kant zufolge der Wahnsinn einer bersteigerten
Leidenschaft: Der Tor ist durch diese Leidenschaft bezaubert, er
fllt in einen Zustand der gefesselten Vernunft.70 Der Begriff der Tor-
heit mit seiner Nhe zur Betrung deutet an, dass Kant die wesentli-
che Folge der Leidenschaft darin sieht, dass sie dem von ihr befallenen
Mensch ein Ziel setzt, das dessen Realitt nicht angemessen ist, insofern
es unerreichbar oder unwrdig ist. Die verliebte Leidenschaft, oder ein
groer Grad der Ehrbegierde, schreibt Kant, haben von je her viele
vernnftige Leute zu Toren gemacht. Ein Mdchen ntigt den furchtba-
ren Alcides, den Faden am Rocken zu ziehen, und Athens mige Brger
schicken durch ihr lppisches Lob den Alexander an das Ende der
Welt.71 Torheit ist die Unfhigkeit, sich von einem Objekt des Begeh-
rens zu lsen, das den begehrenden Menschen notwendig in einen komi-
schen (oder tragischen) Widerspruch zwischen seiner Person und dem
begehrten Objekt treibt. Der Tor ist der aus der Gruppe ausgeschlosse-
ne Mensch: derjenige, dessen Neigung ihn lcherlich macht, derjenige,
der sich an das Ende der Welt fhren lsst (dorthin, wohin ihm kein
vernnftiger Mensch mehr folgen wollte). In der Torheit weicht der
Mensch aus seiner natrlichen Stelle,72 insofern sich in ihr ein Raum
ffnet zwischen dem begehrenden Ich und dem begehrten Objekt. Wie
das Beispiel der Ehrbegierde zeigt, knnen sich die Leidenschaften zu-
letzt auf ein Objekt der Begierde richten, das gnzlich irreal ist und sich
vollkommen im Bereich der Einbildungen befindet.73
53
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Wahn ist die Tuschung, die bloe Vorstellung einer Sache mit der Sache
selbst fr gleichgeltend zu halten. So ist es bei einem kargen Reichen der gei-
zende Wahn, da er die Vorstellung, sich einmal, wenn er wollte, seiner Reich-
tmer bedienen zu knnen, fr genugsamen Ersatz dafr hlt, da er sich ihrer
niemals bedient. Der Ehrenwahn setzt in anderer Hochpreisung, welche im
Grunde nur die uere Vorstellung ihrer (innerlich vielleicht gar nicht geheg-
ten) Achtung ist, den Wert, den er blo der letzteren beilegen sollte; zu diesem
gehrt also auch die Titel- und Ordenssucht; weil diese nur die uere Vorstel-
lungen eines Vorzugs vor andern sind. Selbst der Wahnsinn hat daher diesen
Namen, weil er eine bloe Vorstellung (der Einbildungskraft) fr die Gegen-
wart einer Sache selbst zu nehmen, und ebenso zu wrdigen gewohnt ist.74
54
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
gewohnt ist und die also eine prinzipielle Unfhigkeit aufweist, beides
zu unterscheiden.76
Die Unterscheidung zwischen der phnomenalen Vorstellung eines
Objekts und dem noumenalen Objekt selbst ist bekanntlich der argu-
mentative Ausgangspunkt der Kritik der reinen Vernunft. Die spte Ab-
handlung ber Religion transformiert die Bestimmungen des Wahnsinns
aus dem Versuch ber die Krankheiten des Kopfes in die Terminologie
der kritischen Philosophie und zeigt in aller Deutlichkeit, dass die The-
matik des Wahnsinns, dem geringen Interesse seiner Interpreten zum
Trotz, Kant von Anfang bis Ende seiner philosophischen Ttigkeit be-
schftigt hat.
Titel, Orden, Mnze: Die Torheit ist eine Krankheit der Vermittlung
und des Mediums. In seiner Beschreibung der Torheit zeigt sich eine zi-
vilisationskritische Spitze, die Kant von Rousseau erbt. Die gesellschaft-
lichen Instanzen der Vermittlung erscheinen in dieser Perspektive als
Strungen und Irritationen der Kommunikation. Sie verfhren zu einer
Verwechslung der Reprsentation mit dem reprsentierten Objekt und al-
so zu nichts anderem als Wahnsinn.
Die Narrheit bildet die nchste Stufe in der im Versuch implizier-
ten Geschichte des Wahnsinns. Der Narrheit gengt es nicht mehr, die
Leidenschaft auf ein nichtiges Objekt zu lenken, sondern sie erzeugt eine
Leidenschaft, die das Objekt der Leidenschaft hasst. Whrend die Tor-
heit die Folge einer unkontrollierten Leidenschaft darstellt, ist die
Narrheit die Bezeichnung einer verkehrten Leidenschaft. Kant
schreibt: Wenn die herrschende Leidenschaft an sich selbst hassenswr-
dig und zugleich abgeschmackt genug ist, um dasjenige, was der natrli-
chen Absicht derselben gerade entgegengesetzt ist, fr die Befriedigung
derselben zu halten, so ist dieser Zustand der verkehrten Vernunft Narr-
heit.77 Im Gegensatz zum Toren, der immerhin die wahre Absicht
seiner Leidenschaft sehr wohl versteht, ist der Narr durch seine Leiden-
schaft zugleich so dumm gemacht, dass er alsdenn nur glaubt im Be-
sitze zu sein, wenn er sich des Begehrten zugleich beraubt.78
Die Narrheit ist autodestruktiv, insofern sie eine Leidenschaft ist,
die notwendig das Gegenteil des beabsichtigten Zweckes hervorbringt.
55
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
I I . 3 G e se l l sc ha f t und Wa hn si n n
Der Beginn des zweiten Teils des Versuchs scheint zumindest auf den er-
sten Blick keinen Bezug zu den geschichts- bzw. sprachphilosophischen
Postulaten Kants zu nehmen. Kant unterscheidet hier drei Hauptgruppen
der Gemtskrankheiten und ordnet diese jeweils einem Erkenntnisverm-
gen zu. Nun also scheint endlich eine Systematik einzugreifen. Die Ge-
brechen des gestrten Kopfes, schreibt Kant,
79 Ebd.
80 Ebd., S. 891 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 18).
56
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Die Ordnung der Geisteskrankheiten wird bei Kant also durch die triadi-
sche Struktur von Begriff, Urteil und Vernunft vorgegeben, die seit der
Rezeption der aristotelischen Logik in der scholastischen Philosophie als
die drei Elemente der Logik gelten und bereits bei Nikolaus von Kues
auch eine vermgenstheoretische Deutung erfahren haben.82 Mit der Zu-
ordnung der Geisteskrankheiten zu den somit als Gemtsfhigkeiten
definierten Elementen Begriff, Urteil und Vernunft setzt Kant eine impli-
zite Theorie der Vermgen voraus, die mit seiner spter ausgearbeiteten
Version (vor allem in der Kritik der reinen Vernunft und der Anthropolo-
gie) nicht vollstndig bereinstimmt (insbesondere in der spteren Tren-
nung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, welche hier beide noch dem
Begriff zugeschlagen werden), aber doch sichtlich verwandt ist. Das
Thema, dem Kant bei weitem den meisten Raum widmet, ist die Ver-
rckung, die Strung der sinnlichen Erfahrung.
Was also ist die Verrckung? Wie man dem vergleichenden Blick in
Rousseaus zweiten Discours entnehmen konnte, musste Kant nicht erst
das Modell des transzendentalen Schematismus entwerfen, um die
Selbstaffektion denken zu knnen. Bereits in Rousseaus Beschreibung
der imagination als einer Affektion des Subjekts durch sich selbst findet
sich eine spezifische Ambivalenz: Einerseits ist die Selbstaffektion als
Mittel der Denaturalisierung die Quelle allen bels und aller Perversio-
nen, anderseits ist sie als Bedingung der Mglichkeit der perfectibilit
dasjenige, das den Menschen dazu befhigt, diese bel zu erkennen
und vielleicht zu beheben.
Der Name fr die gefhrliche Seite der Selbstaffektion ist im Ver-
such ber die Krankheiten des Kopfes Verrckung. Diese ist dement-
57
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
da Personen, die in andern Fllen gnug reife Vernunft zeigen, gleichwohl fest
darauf beharren, mit aller Achtsamkeit wer wei was vor Gespenstergestalten
und Fratzengesichter gesehen zu haben, und da sie wohl gar fein genug sind,
ihre eingebildete Erfahrung mit manchem subtilen Vernunfturteil in Zusam-
menhang zu bringen. Diese Eigenschaft des Gestrten, nach welcher er ohne
einen besonders merklichen Grad einer heftigen Krankheit im wachen Zustande
gewohnt ist, gewisse Dinge als klar empfunden sich vorzustellen, von denen
gleichwohl nichts gegenwrtig ist, heit die Verrckung.83
Der Verrckte ist derjenige, der Dinge und Gestalten sieht, die nur
seiner eingebildeten Erfahrung, nicht aber der Realitt entspringen.
Entsprechend nennt Kant den Verrckten einen Trumer im Wa-
chen:84 dieser trumt (d.h. er wird zum Objekt eines unwillkrlichen
Spiels seiner Einbildungen85) auch dann, wenn er vermeintlich wach
ist.86 Wenn die Verrckung diejenige Krankheit ist, in welcher der Be-
troffene gezwungen ist, sich gewisse Dinge [...] vorzustellen, von denen
gleichwohl nichts gegenwrtig ist, dann ist als ihre Ursache das Prinzip
und Vermgen der Einbildungskraft genannt. Diese wird von Kant so-
wohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Anthropologie als
ein Vermgen der Anschauungen auch ohne Gegenwart eines Gegen-
standes87 definiert. Es handelt sich bei ihr somit um dasjenige Verm-
83 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 894 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 22).
84 Ebd.
85 Ebd., Bd. 6, S. 466 (Anthropologie 25, B 68, A 67).
86 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Wer-
ke von 1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 10, S.
162 (Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften 408): Es ist der
Unterschied wie beim Wachen und Trumen; aber hier fllt der Traum in-
nerhalb des Wachens selbst, so da er dem wirklichen Selbstgefhl ange-
hrt. Irrtum und dergleichen ist ein in jenen objektiven Zusammenhang
konsequent aufgenommener Inhalt.
87 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 466 (Anthropologie
25, B 68, A 67). Vgl. ebd., Bd. 2, S. 148 (KrV, B 151). Diese Bestim-
mung steht natrlich in einer langen philosophischen (und prziser: aristo-
telischen) Tradition. Annhernd gleichlautend schreibt Christian Wolff be-
reits 1720: Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfle-
get man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vor-
stellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungs-Kraft (Christian
58
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
gen, das es dem Menschen gestattet, die Grenzen der sinnlichen Affek-
tion zu berschreiten und quasi-sinnlich (sich selbst affizierend) von
Vorgestelltem und Vorstellbarem affiziert zu werden. Die Einbildungs-
kraft bildet ein: Sie erschafft und aktualisiert Vorstellungen, die das je-
weils aktuell sinnlich Vorhandene in jede mgliche Richtung ber-
schreiten.
Als Verwechslung der (gegenwrtigen) Sache selbst mit der (ein-
gebildeten) Vorstellung der Sache88 ist Wahnsinn damit grundstzlich
semiotisch bestimmt. Auch wenn der Begriff des Zeichens in diesem Zu-
sammenhang nicht immer explizit gebraucht wird, wird er in der Unter-
scheidung zwischen der Sache selbst (dem Signifikat) und der Vor-
stellung (dem Signifikanten) implizit notwendig vorausgesetzt. Wahn-
sinn wird in diesem Modell erst mglich durch einen vorausgehenden,
durch die Einbildungskraft erfolgenden Akt der Verdopplung der gesam-
ten Wirklichkeit durch ihre mentale Reprsentation und Darstellung.
Wahnsinn ist demzufolge eine Krankheit des Zeichenvermgens, des Be-
zeichnens und also des Zeichens. Kants Versuch ber die Krankheit des
Kopfes und seine anderen Ausfhrungen zum Thema beschreiben eine
Pathologie des Zeichens.
In der Annahme der Einbildungskraft als Ursache des Wahnsinns
stimmt Kant berein mit der Definition des Wahns in Humes Enquiry
concerning human Understanding (1748). Es komme vor, schreibt Hu-
me, dass das Gedchtnis oder die Einbildungskraft eine vergangene oder
erwartete Wahrnehmung so lebhaft (in so lively a matter) prsentier-
ten, that we could almost say we feel or see it, aber man msse doch
wohl wahnsinnig sein, um sie nicht auseinanderhalten zu knnen: But,
except the mind be disordered by disease or madness, they never can ar-
rive at such a pitch of vivacity, as to render these perceptions altogether
undistinguishable.89 Das Unvermgen, zwischen echter und eingebil-
deter Erfahrung unterscheiden zu knnen, macht demnach den Wahn-
sinn aus. Eine traditionsreiche Bestimmung: Die traditionelle Psycholo-
gie wie noch Hume, Rousseau und Kant bestimmt mentale Gesund-
Wolff: Vernnftige Gedanken von Gott, Der Welt und der Seele des Men-
schen, Auch allen Dingen berhaupt [1720]. Nachdruck der Ausgabe Halle
1751. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A.
Corr. Hildesheim, Zrich, New York: Olms 1983, S. 130 [ 235]).
88 Vgl. die oben zitierte Definition des Wahns aus der Religion innerhalb
der Grenzen der bloen Vernunft: Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm.
1), Bd. 4, S. 839 (Religion, B 256, A 241).
89 David Hume: An Enquiry concerning Human Understanding [1748]. A cri-
tical Edition. Hrsg. von Tom L. Beauchamp. Oxford: Clarendon Press
2000, S. 13.
59
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die Seele eines jeden Menschen ist, selbst in dem gesundesten Zustande ge-
schftig, allerlei Bilder von Dingen, die nicht gegenwrtig sein, zu malen, oder
auch an der Vorstellung gegenwrtiger Dinge einige unvollkommene hnlich-
keit zu vollenden, durch einen oder andern chimrischen Zug, den die schpfe-
rische Dichtungsfhigkeit mit in die Empfindung einzeichnet.91
90 Vgl. Lszl Fldnyi: Melancholie [1984]. bers. von Nora Tahy. 2., erw.
Aufl. Berlin: Matthes & Seitz 2004, S. 82f.
91 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 893 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 22).
92 Dieses Problem hebt Monique David-Mnards Lektre des Versuchs her-
vor. Vgl. Monique David-Mnard: Kants An Essay on the Maladies of
the Mind and Observations on the Feelings of the Beautiful and the Subli-
me. In: Hypatia 15 (2000), H. 4, S. 82-98, hier: S. 86.
60
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
61
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
fr Kant wie vor ihm fr Rousseau und nach ihm fr Hegel die Be-
zeichnung fr eine Kraft der Einwirkung des Ich auf sich selbst darstellt,
die der ueren sinnlichen Affektion eine Autoaffektion hinzufgt und es
dadurch ermglicht, ihrer Unmittelbarkeit zu entgehen, dann stellt die
Verrckung, die unkontrollierte Einzeichnung von Einbildung in die
Erfahrung, nicht so sehr eine Strung oder Unterbrechung dieses Pro-
zesses der Autoaffektion dar, sondern sie ist ihr von Beginn an einge-
schrieben. Wenn die Verrckung der Name fr eine gewisse Intranspa-
renz der Selbstaffektion fr das sich affizierende Subjekt ist, so dass es
nicht sicher sein kann, inwieweit die Wahrnehmung eines Gegenstandes
durch die eigene Einbildungskraft geformt oder verformt ist, dann ist
diese Intransparenz zugleich die Bedingung der Mglichkeit der Synthe-
se von Sinnlichkeit und Verstand. Die Verrckung ist so nicht nur die
Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe, sondern sie wohnt den Erfah-
rungsbegriffen als notwendige Mglichkeit potentiell, als Potential,
als Vermgen also immer schon bei.
95 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 494 (Anthropologie
33, BA 102). Der topos leitet natrlich sich aus der Lehre des Enthusias-
mus bei Platon und Aristoteles ab. Vgl. Frederick Burwick: Romantic
Madness. Hlderlin, Nerval, Clare. In: Cultural Interactions in the Roman-
tic Age. Critical Essays in Comparative Literature. Hrsg. von Gregory
Maertz. Albany: State University of New York Press 1998, S. 29-51.
96 Vgl. Kants Anthropologie: Wie aber gar die Poeten dazu kamen, sich
auch fr begeistert (oder besessen) und fr wahrsagend (vates) zu halten,
und in ihren dichterischen Anwandlungen (furor poeticus) Eingebungen zu
62
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
haben sich berhmen konnten, kann nur dadurch erklrt werden: da der
Dichter [...] den gnstigen Augenblick seiner ihn anwandelnden inneren
Sinnenstimmung haschen mu, in welchem ihm lebendige und krftige Bil-
der und Gefhle von selbst zustrmen, und er hiebei sich gleichsam nur lei-
dend verhlt (Kant: Werke in sechs Bnden [wie Anm. 1], Bd. 6, S. 494
[Anthropologie 33, BA 102]). Die Kritik der Einbildungskraft war in
der Tat wie der Diskurs ber die Rolle der Einbildungskraft fr das kreati-
ve Genie immer eine Variation ber einige Motive der passiven Einbil-
dung. Vgl. Lorraine Daston: Angst und Abscheu vor der Einbildungskraft
in den Wissenschaften [1998]. In: dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen.
Zur Geschichte der Rationalitt. bers. von Gerhard Herrgott, Christa Kr-
ger und Susanne Scharnowski. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch
Verlag 2001, S. 99-125; Ursula Geitner: Kritik der Einbildungskraft (poe-
tologisch/pathologisch). In: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur
schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Hrsg. von Helmut J. Schneider,
Ralf Simon und Thomas Wirtz. Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 307-332.
97 Vgl. Jean Starobinski: Grundlinien fr eine Geschichte des Begriffs der
Einbildungskraft [1970]. In: ders.: Psychoanalyse und Literatur. bers. von
Eckhart Rohloff. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 3-23, hier: S. 9.
98 Robert Burton: Anatomie der Melancholie [1621]. ber die Allgegenwart
der Schwermut, ihrer Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr
auszuhalten. bers. von Ulrich Horstmann. Mnchen: Dtv 1991, S. 199.
63
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
99 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 466 (Anthropologie
25, B 68, A 67).
100 Vgl. Liliane Weissberg: Geistersprache. Philosophischer und literarischer
Diskurs im spten achtzehnten Jahrhundert. Wrzburg: Knigshausen &
Neumann 1990, S. 37.
101 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 476 (Anthropologie
25, BA 80).
102 Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [1929].
Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 6. Aufl. Frankfurt am Main:
Klostermann 1998, bes. S. 127ff.
64
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Die Behendigkeit, etwas zu fassen und sich zu erinnern, imgleichen die Leich-
tigkeit, es geziemend auszudrcken, kommen gar sehr auf den Witz an; [...] und
die Schwierigkeit, sich ausdrcken zu knnen, beweiset nichts minder als die
Verstandesfhigkeit, sondern nur, da der Witz nicht gnugsame Beihlfe leiste,
den Gedanken in mancherlei Zeichen einzukleiden.103
Witz ist somit ein Vermgen des Zeichens und Bezeichnens. Bekanntlich
hat Kant in seiner kritischen Philosophie die Frage des Zeichens und der
Sprache kaum je explizit thematisiert. Einzig in der Anthropologie, im
Abschnitt ber die Einbildungskraft, findet sich eine knappe Bestimmung
des Bezeichnens. Kant schreibt: Das Vermgen der Erkenntnis des
Gegenwrtigen, als Mittel der Verknpfung der Vorstellung des Vorher-
gesehenen mit der des Vergangenen, ist das Bezeichnungsvermgen.
Die Handlung des Gemts, diese Verknpfung zu bewirken, ist die Be-
zeichnung (signatio).104 Das Zeichen als Instrument der Zusammenfas-
sung sinnlicher Daten ist demnach nicht zu denken ohne das Vermgen
der Einbildungskraft, nicht aktuell sinnlich gegebene und also nicht-ge-
genwrtige Vorstellungen zu gegenwrtigen zu assoziieren und so eine
Kontinuitt der zeitlichen Folge herzustellen. Das Zeichen ist eine gegen-
wrtige Vorstellung, die dem Zweck dient, eine sinnlich abwesende Vor-
stellung zu vergegenwrtigen.105
Der Witz als Vermgen der Beihlfe zur Bezeichnung ist notwen-
dig eine Form des Bezeichnungsvermgens. In der Anthropologie defi-
niert Kant den Witz ganz in der Tradition des 18. Jahrhunderts als ein
Vermgen der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem.106 Das
Verfahren des Witzes, Regeln zu erfinden, beschreibt Kant, wie vor ihm
103 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 888 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 14).
104 Ebd., Bd. 6, S. 497 (Anthropologie 35, BA 106).
105 Vgl. Hermann Mrchen: Die Einbildungskraft bei Kant. In: Jahrbuch fr
Philosophie und phnomenologische Forschung 11 (1930), S. 311-495,
hier: S. 347.
106 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 511 (Anthro-
pologie 41, BA 123).
65
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
bereits Locke, Addison und Wolff,107 als ein Erkennen von hnlich-
keiten.108
Witz ist ein Vermgen der Synthese, indem er Gattungen erfinden
kann, die verschiedene Besondere zu einem Allgemeinen zusam-
menfassen. Da dieses Allgemeine nicht einfach vorgegeben ist, muss
auch dieses als ein Produkt des Witzes begriffen werden, der in der Lage
ist, es zu erfinden. Die Regeln, von denen Kant spricht, sind nichts an-
deres als Zeichen: allgemeine Bezeichnungen einer Gattung, die ver-
schiedene besondere Dinge unter dem Zeichen eines ihnen gemeinsa-
men Allgemeinen versammelt. Der Witz ist indem er in verschiede-
nen Einzelwahrnehmungen hnlichkeiten entdeckt, die es erlauben, die
wahrgenommenen Dinge als gleichartig zu behandeln ein zeichenpro-
duzierendes Vermgen: ein Vermgen der Sprache.
Kant beschreibt im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes und in
anderen Texten den Witz ebenso wie das ihm zugrundeliegende Verm-
gen der Einbildungskraft einerseits als das Vermgen des Wahnsinns, der
Tuschung, der Strung in jeder Form; andererseits als das Vermgen
des Zeichens im allgemeinen, der Sprache und der Kommunikation. Der
Wahnsinn folgt aus dem Vermgen des Menschen, Zeichen zu gebrau-
chen, um mit ihnen zu kommunizieren und zu denken, er folgt hierin
bleibt Kant nahe bei der Vorlage Rousseaus demnach aus der Mg-
lichkeit der Entwicklung, des Fortschritts und der Gesellschaftlichkeit
und ist zugleich deren eigene Bedrohung.
Kein anderer Autor nach Kant hat diese Ambivalenz des Wahnsinns
hnlich pointiert formuliert wie Hegel. In seiner Enzyklopdie definiert
Hegel Wahnsinn zunchst bereinstimmend mit Kant als den Fall, wo
66
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
der Mensch seine nur subjektive Vorstellung als objektiv sich gegenwr-
tig zu haben glaubt und gegen die mit derselben in Widerspruch stehende
wirkliche Objektivitt festhlt.109 Wahnsinn wird fr Hegel demnach
mglich aus dem Gegensatz von Konkretem und Abstraktem, Wirkli-
chem und Mglichen: Der Wahnsinnige verwechselt seine subjektive
Vorstellung mit dem objektiv Gegenwrtigen, auch wenn es in Wider-
spruch zu seiner subjektiven Meinung steht. So fhrt Hegel fort:
Aus dem eben Gesagten folgt, da man die verrckte Vorstellung eine vom
Verrckten fr etwas Konkretes und Wirkliches angesehene leere Abstraktion
und bloe Mglichkeit nennen kann; denn wie wir gesehen haben, wird eben in
jener Vorstellung von der konkreten Wirklichkeit des Verrckten abstra-
hiert.110
Wer hier nun abermals einen eindeutigen Ausschluss des Wahnsinns aus
der Ordnung der Vernunft erkennen mchte, muss sich daran erinnern,
dass Hegel alles andere als ein Advokat des unmittelbar gegenwrtigen
sinnlichen Eindrucks ist; nicht nur die Phnomenologie des Geistes be-
vorzugt demgegenber jederzeit den Gedanken, der das Ergebnis einer
abstrahierenden und entgegenwrtigenden Reflexion ist. In diesem Sinne
beschreibt Hegel nur einen Absatz zuvor die Notwendigkeit, das Gefun-
dene und Empfundene die sinnliche Rezeptivitt also in Vorstel-
lungen zu verwandeln und dasselbe zugleich zu einem uerlichen
Gegenstande111 zu machen. Nur wenn ich auf die eben angegebene Art
verfahre, bin ich bei Verstande und erhlt der mich erfllende Inhalt sei-
nerseits die Form der Objektivitt.112 Die Mglichkeit des Irrtums
Sowohl ber mich selbst wie ber die Auenwelt kann ich mich nun al-
lerdings irren113 , ja letztendlich die Mglichkeit des Wahnsinns als
Extrem des Irrtums ist damit der Struktur des Verstandes und der Ver-
stndigkeit eingeschrieben. Hegel folgt hier sehr przise dem von Kant
beschriebenen Zusammenhang zwischen Zeichen und Wahnsinn und
schreibt diesen Zusammenhang wiederum in seine Analytik des Verstan-
des ein, in dem die Verrcktheit folgerichtig als eine wesentliche Ent-
wicklungsstufe der Seele114 erscheint.
109 Hegel: Werke (wie Anm. 86), Bd. 10, S. 167 (Enzyklopdie der philoso-
phischen Wissenschaften 408, Zusatz).
110 Ebd., S. 168.
111 Ebd., S. 166f.
112 Ebd., S. 167.
113 Ebd.
114 Ebd., S. 164.
67
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Der Mensch ist dasjenige Wesen, das die Mglichkeit des Wahnsinns
besitzt: Er hat sozusagen das Vorrecht der Narrheit und des Wahn-
sinns.115 In Hegels Beschreibung des notwendigen Wahnsinns in aller
Vernnftigkeit liegt selbstverstndlich eine auerordentliche kritische
Energie, die sich vor allem gegen die rationalistische und empiristische
Vorstellung einer objektiven Erkennbarkeit des Wirklichen wendet. Das
Thema des Wahnsinns hat demnach auch fr Hegel seine Faszination
ebendort, wo es gilt, der rationalistischen Vernunft ihre Limitationen auf-
zuzeigen; die rationalistische Vorstellung einer sich selbst und seiner Er-
kenntnis gewissen Vernunft muss von hier aus als hchste Stufe der Ver-
blendung und des Wahns erscheinen. Die Ausfhrungen ber Wahnsinn
in der Enzyklopdie stehen damit in enger Beziehung zum philosophi-
schen Unternehmen Hegels insgesamt, welches, wie Adorno formuliert,
darauf zielt, die rationalistische Vernunft kritisch auf sich selbst anzu-
wenden, damit sie der Male von Unvernunft heilend noch an ihrer eige-
nen Vernunft innewird, aber auch der Spur des Vernnftigen am Unver-
nnftigen.116
In der Diskussion des Witzes hebt Kant das Element der Leichtigkeit
der Synthesenbildung hervor. Zwar stiftet das Vermgen Zusammenhn-
ge und ist insofern ein Erkenntnisorgan, aber es erkennt diese Zusam-
menhnge stets spielerisch, ohne Mhe, pltzlich und mit einer Vor-
liebe fr berraschende und neue Zusammenhnge: Des vergleichenden
Witzes Tun und Lassen ist mehr Spiel; das der Urteilskraft aber mehr
Geschfte.117 Wenn der Witz allerdings vornehmlich ein Spiel ist und
nicht ein serises Geschft , dann ist sein Wirken nicht ohne Gefahren.
Das Spiel bezeichnet fr Kant eine Freiheit von allen Kategorien des
68
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Verstandes, die man als Vorgaben von Ordnung begreifen kann: Konti-
nuitt, Sinnhaftigkeit, Vorhersagbarkeit.118
Im zerstreuten Suchen nach hnlichkeiten zeigt sich die Freiheit des
Bezeichnungsvermgens von den Vorgaben der sinnlichen Wahrneh-
mung und vom eigenen Verstand. Wenn es sich hier um ein Vermgen
handelt, frei von dem Diktat einer gegebenen Ordnung einen Sinn zu kre-
ieren, dann kann dies nur mglich sein aufgrund des immanenten Poten-
tials, jederzeit auch Unsinn hervorzubringen. Whrend der Verstand
durch seine Kategorien an die Gesetze des Sinns gebunden bleibt, erhlt
der Witz und das ihm zugeordnete Seelenvermgen, die Einbildungs-
kraft durch seine Freiheit zum vlligen Unsinn die Mglichkeit, neuen
Sinn hervorbringen zu knnen.
Denn aller Reichtum der ersteren [der Einbildungskraft, O.K.],
heit es in der Kritik der Urteilskraft, bringt in ihrer gesetzlosen Frei-
heit nichts als Unsinn hervor.119 Einbildungskraft ist das Vermgen des
Unsinns, weil es das Vermgen der Kombination und Rekombination
von Sinnpartikeln darstellt. Unsinn die Absenz von Zusammenhngen
jeglicher Art zeigt sich als die Grundlage jedes Sinns. Unsinnigkeit
als das Unvermgen, seine Vorstellungen auch nur in den zur Mglich-
keit der Erfahrung ntigen Zusammenhang zu bringen, wird in Kants
Anthropologie mit einer Weiblichkeit assoziiert, die ihre Einbildungs-
kraft nicht zu bndigen vermag: Der Unsinnigkeit sei in den Tollhu-
sern [...] das weibliche Geschlecht, seiner Schwatzhaftigkeit halber, [...]
am meisten unterworfen.120 Indem freilich die Unsinnigkeit der hchste
Ausdruck der Freiheit der Einbildungskraft darstellt, wird das Genie
das Wesen mit einer besonders krftigen Einbildungskraft und produkti-
vem Witz unweigerlich in die Nachbarschaft jener baren Unsinn
schwatzenden Frauen gezogen.121 Witz ist in der Anthropologie ein
schlechthin sprunghaftes und unberechenbares Vermgen, und insofern
mindestens ebenso ein Unvermgen wie ein Vermgen. Die in ihm ange-
legte Tendenz zur Selbstberbietung der Wille, hnlichkeiten unter un-
hnlichen Dingen zu sehen macht ihn suspekt. Witz, schreibt Kant,
118 Insofern verbindet sich der Begriff des Spiels in der Kritik der Urteils-
kraft mit dem der Freiheit und wird zu einem zentralen Begriff in der
Beschreibung der Aktivitt des Genies. Vgl. Winfried Sdun: Zum Be-
griff des Spiels bei Kant und Schiller. In: Kant-Studien 57 (1966), S.
500-518, hier: S. 504f.
119 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 421 (KdU 50, B
202f., A 200).
120 Ebd., Bd. 6, S. 530 (Anthropologie, BA 144).
121 Vgl. Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. ber Kant, Tieck und
Blaubart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 26-45.
69
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
hascht nach Einfllen; Urteilskraft strebt nach Einsichten. [...] Die Jagd auf
Witzwrter (bon mots), wie sie der Abt Troulet reichlich aufstellte, und den
Witz dabei auf die Folter spannte, macht seichte Kpfe, oder ekelt den grnd-
lichen nach gerade an. Er [?] ist erfinderisch in Moden, d. i. den angenomme-
nen Verhaltungsregeln, die nur durch die Neuheit gefallen [...].122
Wenn wir nach dem Erwachen in einer lssigen und sanften Zerstreuung lie-
gen, so zeichnet unsere Einbildung die unregelmige Figuren etwa der Bett-
vorhnge, oder gewisser Flecke einer nahen Wand zu Menschengestalten aus,
mit einer scheinbaren Richtigkeit, welche uns auf eine nicht unangenehme Art
unterhlt, wovon wir aber das Blendwerk den Augenblick wenn wir wollen zer-
streuen. [...] Geschieht etwas dem hnliches in einem hheren Grade, ohne da
die Aufmerksamkeit des Wachenden das Blendwerk in der tuschenden Einbil-
dung abzusondern vermag, so lt diese Verkehrtheit einen Phantasten vermu-
ten.124
122 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 539f. (Anthropolo-
gie 52, BA 155).
123 Vgl. Jean-Baptiste Botul: Das sexuelle Leben des Immanuel Kant [1945].
Hrsg. und bers. von Dieter Redlich und Angelika Rther. Leipzig: Re-
clam 2001, S. 50f.
124 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 894 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 22).
70
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
125 Ebd., S. 893 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 22).
126 Ebd. (Hervorhebung von mir, O.K.).
71
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
72
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
baren und des Wahrscheinlichen hlt, wenn sie doch eigentlich alle Frei-
heit htte, Unerwartetes zu erschaffen?
Kants Ausfhrungen ber die Strke der Einbildungskraft geben
eine Antwort auf diese Frage. Indem sie dasjenige zur Darstellung bringt,
was man fr real hlt, erfllt sie die Erwartungen des Verstandes und
kann es daher erreichen, dass dieser ihre Darstellung fr wahr hlt. Das
Erwartbare allein ist evident und glaubwrdig. Daher, schreibt Kant,
macht der Bildhauer oder Maler, wenn er einen Engel oder einen Gott
verfertigt, jederzeit einen Menschen. Jede andere Figur scheint ihm Teile
zu enthalten, die sich, seiner Idee nach, mit dem Bau eines vernnftigen
Wesens nicht zusammen vereinigen lassen (als Flgel, Krallen, oder Hu-
fe).130 Die meisten Geschpfe der Einbildungskraft sind demnach nicht
besonders ungewhnlich. Gerade darin liegt die eigentliche Strke der
Einbildungskraft, und folglich ihre eigentliche Gefahr: Ihre Assoziatio-
nen sind nicht auf den ersten Blick chimrisch, sondern mit allen schein-
baren Regeln der Erfahrung vereinbar (selbst dort, wo, wie im Fall der
Frage nach der Gestalt eines Engels oder Gottes, Erfahrung berhaupt
nicht mglich ist). Die Gefahr der Einbildungskraft liegt darin, dass sie
sich naturalisiert, dass ihre Schpfungen als selbstverstndlich hinge-
nommen werden, so dass sie nicht mehr als Einbildungen erscheinen,
sondern als reale Erfahrungen.
In seinen weiteren Ausfhrungen ber die Strke erweitert Kant
die Mglichkeiten der Einbildungen ber die Assoziation des Wahr-
scheinlichen hinaus, indem er die Verbindung der Einbildungskraft mit
den Affekten bespricht. Die Assoziationen folgen nicht nur dem Gesetz
des allgemein fr wahr Gehaltenen, sondern ebenso sehr dem Gesetz
der subjektiven Affekte. Die Einbildungskraft hat also zwei Methoden,
das sinnlich Anwesende mit einem Abwesenden zu verknpfen: neben
dem Wahrscheinlichen (demjenigen, das durch die Schemata des Ver-
standes verbrgt wird) die affektive Neigung des Subjekts.131
73
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Kant nennt zuerst das Beispiel des Heimwehs: Das Heimweh der
Schweizer [...], welches sie befllt, wenn sie in andere Lnder versetzt
werden, ist die Wirkung einer durch die Zurckrufung der Bilder der
Sorgenfreiheit und nachbarlichen Gesellschaft in ihren Jugendjahren er-
regten Sehnsucht nach den rtern, so sie die sehr einfachen Lebensfreu-
den genossen.132 Doch ist diese Lebensfreude der Jugend, wie Kant
ergnzt, stets eine Fiktion. Falls die Schweizer wieder die Orte ihrer
Jugend aufsuchten, wrden sie in ihrer Erwartung sehr getuscht und so
auch geheilt.133
Schon das die Sehnsucht auslsende Begehren an sich ist ein Produkt
der Einbildungskraft, insofern der ersehnte Zustand (die Sorgenfreiheit
der Jugend) immer schon ein Bild, eine Projektion war. Wenn der heim-
kehrende Schweizer meint, sein Land habe sich in der Zeit seiner Ab-
wesenheit sehr gendert, tuscht er sich darber, dass sein Blick nicht
mehr derjenige seiner Jugend ist, in der er sich als Teil einer nachbarli-
chen Gesellschaft vorgestellt hat.
Auch wenn Kant dies nicht ausfhrt, knnen alle von ihm genannten
Beispiele auf Humes Assoziationsprinzipien der Nachbarschaft in Raum
und Zeit (die Schweizer), vor allem aber auf das der hnlichkeit zu-
rckgefhrt werden. Der letztere Bezug ergibt sich vor allem durch den
aus einer hnlichkeit hervorgebrachten Akt der Identifikation, der sich
zur sympathetischen Ferneinwirkung steigern kann. Die Identifikation
74
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
macht eine sinnliche Affektion des anderen als eigene Affektion erfahr-
bar. Die Einbildungskraft versetzt den Zuschauer, wie bereits Rous-
seau beschrieben hat, in das Innere des Akteurs und lsst ihn eine (ver-
meinte) Affektion quasi-sinnlich spren. Ein starkes Gefhl wie etwa
Ekel kann so, allein durch den Sichtkontakt vermittelt, von einem Sub-
jekt zum anderen augenblicklich bergreifen. Kants schreibt, mit seinem
Beispiel aus der Sphre des Reiseberichts die phantastische Ttigkeit der
Einbildungskraft seinerseits vollziehend: Der Anblick des Genusses
ekeler Sachen an anderen (z.B. wenn die Tungusen den Rotz aus den Na-
sen ihrer Kinder mit einem Tempo aussaugen und verschlucken) bewegt
den Zuschauer eben so zum Erbrechen, als die wenn ihm selbst ein sol-
cher Genu aufgedrungen wrde.134
Als eine gesteigerte und dynamisierte Variante der Identifikation
spricht Kant im folgenden Abschnitt die Sympathie der Einbildungs-
kraft an. Kant schreibt:
Man kann zu allen diesen noch die Wirkungen durch die Sympathie der Ein-
bildungskraft zhlen. Der Anblick eines Menschen in konvulsivischen, oder gar
epileptischen Zufllen reizt zu hnlichen krampfhaften Bewegungen [...], und
der Arzt, Hr. Michaelis, fhrt an: da, als bei der Armee in Nordamerika ein
Mann in heftige Raserei geriet, zwei oder drei beistehende durch den Anblick
desselben pltzlich auch darin versetzt wurden [...]; daher es Nervenschwachen
(Hypochondrischen) nicht zu raten ist, aus Neugierde Tollhuser zu be-
suchen.135
Sympathie ist eine Krankheit des Zufalls: Sie fllt pltzlich beiste-
hende Personen an und versetzt sie unvermittelt in die Lage eines an-
deren Befallenen. Kant versteht Sympathie demnach nicht (im Sinne
des 18. Jahrhunderts) als Mitleid und noch weniger (im modernen
Sinne des Wortes) als Bezeichnung fr eine Zuneigung oder Affinitt
einer Person zu einer anderen obgleich bereits Hume sympathy in
diesem Sinne gebraucht , sondern als die okkulte Macht der Einbil-
dungskraft, durch bloen Blickkontakt sinnliche Affektionen von einem
Subjekt zu einem anderen zu vermitteln. Die Quelle fr Kants Verstnd-
nis von Sympathie kann entsprechend eher in der Naturphilosophie der
frhen Neuzeit als in der zeitgenssischen Vermgenslehre ausgemacht
werden. Sympathie bezeichnet hier die Vorstellung einer Wechselwir-
kung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, die es ermglicht, Din-
75
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
136 Vgl. Heinz Schott: Sympathie als Metapher in der Medizingeschichte. In:
Wrzburger medizinhistorische Mitteilungen 10 (1992), S. 107-127, bes.
S. 109f.; Joseph Vogl: Kalkl und Leidenschaft. Poetik des konomi-
schen Menschen. Mnchen: sequenzia 2002, S. 87-107.
137 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 531 (Anthro-
pologie 49, BA 146f.).
138 Ebd., Bd. 2, S. 178 (KrV, A 124).
76
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Eine fr Rousseau wie auch fr Kant besonders wichtige Art und Weise
der Wirkung der Einbildungskraft ist nun, dass sie die Erfahrungen (das
Denken, die Gefhle) des anderen erfahrbar macht, gleichsam als wren
es die eigenen Erfahrungen. Whrend Rousseau die durch die Einbil-
dungskraft ermglichte Form der Vergemeinschaftung auf das Mitleid
beschrnkt, stellt dieses fr Kant nur eine und keineswegs eine beson-
ders hoch einzuschtzende Mglichkeit des Bezugs zum anderen dar.
Die Einbildungskraft ist fr Kant nicht blo das Vermgen des Mit-
leids, sondern das Vermgen der Teilhabe ebenso wie des Bezeichnens
(als Witz) und also allgemein der Kommunikation und Mitteilung.
Man kann sogar sagen, dass es das Vermgen berhaupt als eine Er-
mglichung des Mglichen des potentiell Zuknftigen oder Gegenwr-
tigen ist im Gegensatz zu den Sinnesvermgen, die auf das Aktuelle
und Wirkliche beschrnkt sind. Allerdings darf das Vermgen hier wie
auch sonst nicht nur als die Mglichkeit der Ausbung einer vorhande-
nen Befhigung verstanden werden, sondern mindestens ebenso als ein
Zwang, das Eingebildete wahrzunehmen.
Wenn die Einbildungskraft das fundamentale Vermgen der Verge-
meinschaftung (als Grundvermgen der Mitteilung) ist, dann ist es zu-
gleich und dieses zugleich ist keine empirische Zuflligkeit, sondern
es folgt aus der transzendentalen Struktur der Einbildungskraft und dem
von ihr Ermglichten das Vermgen der Tuschung, der Verstellung,
der Blendung und Verblendung, der Lge und also des Scheins. Wenn
Kant die brgerliche Gesellschaft zu Beginn des Versuchs ber die
Krankheiten des Kopfes als eine Gesellschaft der Tuschung und Dissi-
mulation charakterisiert, dann bedeutet dies kaum, dass Kant sich auf ei-
ne wie auch immer satirische oder gar rousseauistische Art und Weise
von seiner zeitgenssischen Gesellschaft distanzieren will. Vielmehr
zeigt sich hier die Einsicht, dass eine brgerliche Gesellschaft nur eine
Gesellschaft der Einbildungskraft, der Einbildungen sein kann und dass
diese Gesellschaft stets potentiell eine der Tuschung und Verstellung, ja
selbst der Narrheit und des Wahnsinns sein muss.
Der Versuch ber die Krankheiten des Kopfes ist demzufolge ein
Versuch ber die Pathologien der Gesellschaft, die von den Bedingungen
der Mglichkeit der Gesellschaft selbst hervorgebracht werden. Mit an-
deren Worten fragt Kant nicht danach, ob Geisteskrankheiten soziale Ur-
sachen haben, sondern es geht ihm darum, zu zeigen, wie die in der Ein-
bildungskraft begrndete Mglichkeit der Mitteilung und Vergemein-
schaftung zugleich den Wahnsinn als Pathologie der Gesellschaftlichkeit
77
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Der Hypochondrist hat ein bel, das, an welchem Orte es auch seinen Haupt-
sitz haben mag, dennoch wahrscheinlicher Weise das Nervengewebe in allerlei
Teilen des Krpers unstetig durchwandert. Es ziehet aber vornehmlich einen
melancholischen Dunst um den Sitz der Seele, dermaen, da der Patient das
Blendwerk fast aller Krankheiten, von denen er nur hret, an sich selbst
fhlt.140
Der Hypochonder leidet zwar unter einem realen bel, aber sein Lei-
den multipliziert sich durch die Neigung des Hypochonders, jede Krank-
heit, von der er hrt, fr diejenige zu halten, unter der er leidet. Durch
den melancholischen Dunst, den die Hypochondrie verursacht, fhlt er
augenblicklich jede Krankheit, von der er nur hret. Auch der Hypo-
chonder verwechselt also Zeichen und Bezeichnetes und auch seine
Variante des Wahns ist eine sprachliche und semiotische Verrckung.
Angestoen von einer vagen und unsteten Affektion seines Gemts
durch den Krper, sucht der Hypochonder nach einem Namen und nach
einer Ursache fr sein bel, um dann jede sich anbietende Krankheit
augenblicklich an sich aufzufinden und vermittelt ber eine Affektion
des Krpers durch das Gemt tatschlich zu fhlen. Sein innerer Zustand
ist nichts anderes als ein Einfallstor fr die Analogie mit dem ueren.
Die Wahrnehmung des eigenen krperlichen Zustands ist beim Hy-
pochonder somit krankhaft ber uere Zeichen vermittelt: Er befindet
sich stets auf der Suche nach hnlichkeiten zwischen den eigenen Symp-
139 Ebd., Bd. 1, S. 895 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 25).
140 Ebd.
78
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
tomen und den Krankheiten, von denen er hrt. Insofern das Auffinden
solcher hnlichkeiten, das bei fast allen Krankheiten gelingt, von de-
nen er hrt, augenblicklich das tatschliche Empfinden der jeweiligen
Krankheiten bewirkt, ist die Hypochondrie der Name fr ein krankhaft
rezeptives Verhltnis zum Sprechen (und Schreiben) ber Krankhei-
ten.141 Das Leiden des Hypochonders kann sich entsprechend unendlich
potenzieren, wenn er in medizinischer Literatur nicht mehr nur nach den
Ursachen fr sein anfngliches bel sucht, sondern beginnen muss,
auch noch fr jedes angelesene bel eine Ursache zu suchen. Der Hy-
pochonder, schreibt Kant, redet daher von nichts lieber als von seiner
Unplichkeit, lieset gerne medizinische Bcher, findet allenthalben sei-
ne eigene Zuflle, in Gesellschaft wandelt ihn auch wohl unvermerkt sei-
ne gute Laune an, und alsdann lachet er viel, speiset gut, und hat gemei-
niglich das Ansehen eines gesunden Menschen.142
Wenn man folglich die Hypochondrie als eine Krankheit der Lese-
sucht, der wahnhaften und abhngigen Lektre (addictive reading)143
bezeichnen kann, dann wird man zugleich sagen mssen, dass Kant hier
nicht etwa eine zu ausgiebige Lektre als solche kritisiert, sondern die
Methode des Lesens: die Identifikation. Der hypochondrische Leser ist
ein einfhlender Leser, eine Technik, die sich gleichermaen auf den
Witz (das Erkennen von hnlichkeiten zwischen dem Gelesenen und
dem eigenen Krperzustand) wie auf die Sympathie der Einbildungs-
kraft (das durch das Erkennen von hnlichkeiten mgliche Vermgen
der Identifikation) zurckfhren lsst. Wenn schon Rousseau die Identifi-
kation nicht als eine stabile Beziehung zwischen zwei Subjekten versteht,
entfaltet sie bei Kant explizit eine destabilisierende Dynamik, die zu ei-
ner Potenzierung des Wahns fhren kann.
Die Verrcktheit oder Phantasterei ist mit anderen Worten eine
Krankheit der bersteigerten Mit-Empfindung und Mit-Affektion. Kant
beschreibt sie als ein strukturelles Auer-sich-sein, eine Raserei der
79
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Eine Variante der Hypochondrie ist die von Kant im Versuch als Wahn-
sinn (im engeren Sinn) bezeichnete Gemtskrankheit. Der Wahnsinni-
ge, schreibt Kant, siehet oder erinnert sich der Gegenstnde so richtig
wie jeder Gesunde, nur er deutet gemeiniglich das Betragen anderer
Menschen durch einen ungereimten Wahn auf sich aus und glaubet da-
raus wer wei was vor bedenkliche Absichten lesen zu knnen, die jenen
niemals in den Sinn kommen. Wenn man ihn hrt, so sollte man glauben,
die ganze Stadt beschftige sich mit ihm.145 Mit einem Begriff, der sp-
ter gebruchlich wurde, kann man Wahnsinn in Kants Beschreibung
als Paranoia verstehen: als Beobachtungs- bzw. Verfolgungswahn, der
wahnhaften Gedanken ber eine externen Beeinflussung und Bedrohung
des eigenen Ich beinhaltet. Der wahnsinnige Paranoiker bezieht nicht,
wie der Hypochonder, eine Form des Sprechens (etwa der medizinischen
Literatur) auf seinen krperlichen Zustand, sondern er versteht jegliches
Sprechen als ein gegen ihn gerichtetes und ihn bedrohendes Sprechen.
Der Wahnsinnige ist in gewisser Weise die symmetrische Gegenfigur
zum Hypochonder, denn wo jener jeden Sprechakt zwanghaft in sich
aufnimmt und als krperlichen Zustand umsetzt, sieht dieser eine zuknf-
tige Bedrohung seiner Person durch die Sprechakte der anderen.
Auch Wahnsinn (im engen Sinn) ist eine Krankheit der Sprache.
Wie der Hypochonder ist der Wahnsinnige durch eine zwanghafte Re-
zeptivitt geprgt, durch die Abhngigkeit vom Sprechen der Anderen,
dem er immer eine lebensnotwendige Bedeutung zuweist, denn nur hier
kann er Anzeichen ber knftige Gefahren erkennen. Jeder beobachtete
Austausch wird zum Anzeichen einer knftigen Bedrohung: Die Markt-
leute, welche miteinander handeln und ihn etwa ansehen, schmieden An-
144 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 25).
145 Ebd., S. 897 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 26).
80
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
schlge wider ihn, der Nachtwchter rufet ihm zum Possen, und kurz er
siehet nichts als eine allgemeine Verschwrung wider sich.146 Auch
wenn Kant den Namen Rousseaus in diesem Zusammenhang nicht
erwhnt, wird es den Zeitgenossen nicht schwer gefallen sein, in der Be-
schreibung des Krankheitsbildes des Wahnsinns den berhmtesten Pa-
ranoiker des 18. Jahrhunderts wiederzuerkennen. In seinen Anthropolo-
gievorlesungen nennt Kant Rousseau explizit als Beispiel fr den Verfol-
gungswahn.147 Es ergibt sich die ironische Folgerung, dass ausgerechnet
der Theoretiker eines Naturzustands ohne jede Einbildungskraft fr Kant
eine phantastische Abhngigkeit vom gesellschaftlichen Sprechen auf-
weist.
146 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 897 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 26).
147 Rousseau, so kann man in einer Mitschrift der Anthropologievorlesun-
gen Kants nachlesen, war ein Mann von groer Laune, hatte aber auch
wunderliche Grillen, und einen groen Hang zum Argwohne; er glaubte
immer Rnke zu bemerken, so da seine Phantasie sehr nahe an Wahn-
sinn grnzte. [...] Rousseau hatte eine eingebildete Grille, da er glaubte,
alle Menschen verschwren sich gegen ihn (zit. nach Brandt: Kritischer
Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [wie
Anm. 10], S. 316). Zu einer Lektre der Kulturtheorie Rousseaus als pa-
ranoider Verschwrungstheorie vgl. John Farrell: Paranoia and Moder-
nity. Cervantes to Rousseau. Ithaca, NY, London: Cornell University
Press 2006, S. 251-278 (Rousseaus Great Plot).
81
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis), und der dagegen eintre-
tende logische Eigensinn (sensus privatus), z.B. ein Mensch sieht am hellen Ta-
ge auf seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende
nicht sieht, oder hrt eine Stimme, die kein anderer hrt.148
Unter dem sensus communis aber mu man die Idee eines gemeinschaftlichen
Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermgens verstehen, welches in seiner Refle-
xion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rcksicht
nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten
und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen,
welche leicht fr objektiv gehalten werden knnten, auf das Urteil nachteiligen
Einflu haben wrde.151
148 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 535 (Anthropologie
50, B 151).
149 Vgl. Avital Ronell: Taking it Philosophically: Torquato Tassos Women
as Theorists. In: dies.: Finitudes Score. Essays for the End of the Mil-
lennium. Lincoln, London: University of Nebraska Press 1994, S. 129-
158, hier: S. 156.
150 Vgl. Astrid von der Lhe: Aisthesis synaisthesis sensus communis.
Shaftesburys Entdeckung des moralischen Gefhls. In: Synsthesie. In-
terferenz Transfer Synthese der Sinne. Hrsg. von Hans Adler. Wrz-
burg: Knigshausen & Neumann 2002, S. 185-203.
151 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 389 (KdU 40, B
157).
82
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
In erster Linie also ist der sensus communis die Idee eines gemein-
schaftlichen Sinnes. Er ist also zunchst ein Sinn fr die Gemeinschaft-
lichkeit der im sthetischen Urteil frei miteinander arbeitenden Erkennt-
niskrfte (Verstand und Einbildungskraft). Der sensus communis aesthe-
ticus ist demnach ein Sinn der Sinne, eine Wahrnehmung der eigenen
Wahrnehmung, die einen Konsensus der Erkenntniskrfte152 fhlbar
macht. Gegen die Tradition der common-sense-Philosophie des 18. Jahr-
hunderts greift Kant damit auf eine historisch ltere Bestimmung des
sensus communis zurck: Die Beschreibung eines inneren Sinnes, der die
Einheit der ueren Sinne herstellt, miteinander vermittelt und somit ein
Sinn fr die Gemeinschaft der Sinne ist, lsst sich in diesem Sinn bereits
bei Aristoteles finden.153
Der sensus communis nimmt in seiner Reflexion auf die Vorstel-
lungsart jedes andern in Gedanken [...] Rcksicht, heit es in der Kritik
der Urteilskraft. Die Vorstellungsart ist allerdings keine konkrete Vor-
stellung, keine bestimmte Meinung und kein bestimmtes Urteil, sondern
viel eher die Struktur der Vorstellungen und also der Vorstellbarkeit. Der
sensus communis nimmt also auf die allen Menschen gleichsam gegebe-
ne apriorische Struktur der Erkenntnisvermgen Rcksicht, durch die
allein Erfahrung mglich ist: die Sinnlichkeit und ihre apriorischen Be-
dingungen, deren Zusammenspiel zum Zweck der Erkenntnis Kant in der
Kritik der reinen Vernunft beschreibt. In diesem Sinn schreibt Kant, der
Gemeinsinn sei die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnis-
krfte.154
Erst aus diesem Sinn fr die Sinnlichkeit, fr die allen Menschen ge-
meinsame Endlichkeit, erwchst fr Kant die transzendentalpolitische
Bedeutung des sensus communis.155 Indem der Urteilende auf die Vor-
stellungsart aller anderen potentiell urteilenden Menschen a priori
83
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
156 Vgl. Ernst Vollrath: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Po-
litischen. Wrzburg: Knigshausen & Neumann 1987, S. 257-288; Tho-
mas Gutschker: sthetik und Politik. Annherungen an Kants politische
Philosophie. In: Kant als politischer Schriftsteller. Hrsg. von Theo Stam-
men. Wrzburg: Ergon 1999, S. 43-56; Bernadette Meyler: What is Poli-
tical Feeling? In: Diacritics 30 (2000), H. 2, S. 25-42; Heinz Paetzold:
Die Bedeutung von Kants Dritter Kritik fr die politische Philosophie in
der Postmoderne. Zu Hannah Arendts Lektre der Kritik der Urteils-
kraft als Kants Politische Philosophie. In: Kants Schlssel zur Kritik des
Geschmacks. sthetische Erfahrung heute Studien zur Aktualitt von
Kants Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Ursula Franke. Hamburg: Mei-
ner 2000 (Zeitschrift fr sthetik und Allgemeine Kunstwissenschaft:
Sonderheft), S. 189-208; Markus Arnold: Die harmonische Stimmung
aufgeklrter Brger. Zum Verhltnis von Politik und sthetik in Imma-
nuel Kants Kritik der Urteilskraft. In: Kant-Studien 94 (2003), S. 24-
50.
157 Vgl. Esposito: Communitas (wie Anm. 24), S. 119-130; Seyla Benhabib:
Hannah Arendt. die melancholische Denkerin der Moderne. Erweiterte
Ausgabe. bers. von Karin Wrdemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2006 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 1797), S. 291-301.
158 Vgl. Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philoso-
phie. Hrsg. und mit einem Essay von Ronald Beiner. bers. von Ursula
Ludz. Durchgesehene Taschenbuchauflage. Mnchen, Zrich: Piper
1998, S. 60.
84
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
tung liegt vielmehr darin begrndet, dass sie eine Angemessenheit von
Begriffen zu Anschauungen und also von Sprache zu Welt suggeriert,
welche die Mitteilbarkeit von Erfahrung ermglicht. Statt eines quantita-
tiv gemessenen Konsenses Kant spricht abschtzig von Stimmen-
sammlung und Herumfragen bei andern wegen ihrer Art zu empfin-
den159 ist der sensus communis die Voraussetzung der Mglichkeit
von Mitteilung.
Diese Voraussetzung setzt die reine Potentialitt von Mitteilung und also
die Mitteilbarkeit (eines Urteils) voraus. Der sensus communis teilt keine
bestimmten Werte oder Gedanken mit er teilt berhaupt nichts mit,
sondern fordert lediglich die Mglichkeit von Mitteilung berhaupt ein.
Hans-Georg Gadamer hat in dieser Ausrichtung des sensus communis
durch Kant eine inhaltliche Entleerung und Intellektuierung161 des Ge-
meinsinns im Vergleich zur vorherigen Tradition gesehen, die den Ge-
schmack (exemplarisch bei Gracin) noch als Bildungsideal162 konzi-
piert habe. Dieser Vorwurf ist jedoch unberechtigt, denn Kant gibt mit
der Verbindung zu den apriorischen Strukturen der Erkenntnis durchaus
eine inhaltliche Bestimmung des sensus communis: Nicht zuletzt das Kri-
terium der Mitteilbarkeit.163
Die im Gemeinsinn erfahrbare Harmonie zwischen den frei spielen-
den Erkenntnisvermgen teilt einen zweckmigen Zustand des Ge-
mts in der Verbindung von Begriff und Anschauung und also nichts
anderes als die Mitteilbarkeit des Gefhls mit.
Nur da, wo Einbildungskraft in ihrer Freiheit den Verstand erweckt, und die-
ser ohne Begriffe die Einbildungskraft in ein regelmiges Spiel versetzt: da
159 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 374 (KdU 31, B
135, A 133).
160 Ebd., S. 321 (KdU 20, B 64f.).
161 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzge einer philoso-
phischen Hermeneutik [1960]. 6. Aufl. Tbingen: Mohr 1990, S. 35.
162 Ebd., S. 41.
163 Vgl. Graubner: Mitteilbarkeit und Lebensgefhl in Kants Kritik der
Urteilskraft (wie Anm. 152), S. 60f.
85
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
teilt sich die Vorstellung, nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefhl eines
zweckmigen Zustandes des Gemts, mit.164
Im nchsten Satz folgert Kant aus diesem Argument, dass dem Ge-
schmack den er zuvor mit dem sensus communis identifiziert hat kei-
ne geringere Aufgabe zugemutet werden kann als die Beurteilung der
Mitteilbarkeit eines Gefhls a priori: Der Geschmack ist also das Ver-
mgen, die Mitteilbarkeit der Gefhle, welche mit gegebener Vorstellung
(ohne Vermittlung eines Begriffs) verbunden sind, a priori zu beurtei-
len.165
Auf dem gemeinsamen Grund der allgemein geteilten transzenden-
talen Struktur erffnet sich somit kein direkter Zugang zum Gegenber;
es wird kein Gedanke kommuniziert. Vielmehr wird die Befhigung zur
Vermittlung, zur Mitteilbarkeit der Gefhle, von jedem einzelnen im
Augenblick seines Urteilens eingefordert. Die Gemeinschaftlichkeit des
Gemeinsinns ist damit eine Setzung, die im voraus die Mglichkeit des
Geschmacksurteils ermglichen soll; niemals kann aber der Gemeinsinn
umgekehrt aus empirischen Geschmacksurteilen abgeleitet werden. Mit
dieser Umkehrung formuliert Kant die denkbar radikalste Antithese zur
britischen common-sense-Philosophie des 18. Jahrhunderts. Der sensus
communis in der Kantschen Version stiftet keinen Konsensus der urtei-
lenden oder erkennenden Subjekte und macht einen solchen auch nicht
fhlbar;166 vielmehr setzt er allein die Befhigung zur Mitteilung der
Gefhle und Urteile voraus und stiftet damit erst die Mglichkeit eines
jeden Konsenses und Dissenses.
Damit ergibt sich ein gewisser Widerspruch zwischen Kants Be-
schreibung des sensus communis in der Kritik der Urteilskraft und seinen
Ausfhrungen zur Verrcktheit in der Anthropologie. Kant suggeriert in
seiner Anthropologie einen direkten Zusammenhang zwischen dem
Wahnsinn und dem Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis)167
und deutet damit an, der sensus communis knnte den Wahnsinn abweh-
ren: Die Gemeinsamkeit des Urteilens knnte das Subjekt vor dem
Wahnsinn retten.168 Wenn aber der sensus communis in der Kritik der
Urteilskraft keine inhaltlich bestimmten moralischen Wertungen trans-
164 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 392 (KdU 40, B
161).
165 Ebd.
166 Graubner: Mitteilbarkeit und Lebensgefhl in Kants Kritik der Ur-
teilskraft (wie Anm. 152), S. 64.
167 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 535 (Anthropologie
50, B 151).
168 Vgl. Arendt: Das Urteilen (wie Anm. 158), S. 86.
86
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
169 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 457 (Anthro-
pologie 22, BA 58).
87
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ist die Krankheit der gestrten Vernunft. Der Seelenkranke berfliegt die
ganze Erfahrungsleiter und hascht nach Prinzipien, die des Probiersteins der Er-
fahrung ganz berhoben sein knnen und whnt das Unbegreifliche zu begrei-
fen. Die Erfindung der Quadratur des Kreises, des Perpetuum Mobile, die
Enthllung der bersinnlichen Krfte der Natur und die Befreiung des Geheim-
nisses der Dreieinigkeit sind in seiner Gewalt. [...] Diese vierte Art der Ver-
rckung knnte man systematisch nennen.173
88
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Vernunft, die sich keiner Grenze mehr bewusst ist und die ihre Prinzipien
als sinnlich gegeben wahrzunehmen whnt. Unbestreitbar ist der
Wahnsinn der Schwrmerei ebenfalls ein Wahnsinn der Zeichen, ein se-
miotisch grundierter Wahnsinn, denn er ist die Wahrnehmung (fr Kant)
niemals aktuell wahrnehmbaren Dingen und Zusammenhnge, die durch
eine halluzinierende Einbildungskraft suggeriert werden.175
Ein Schwrmer ist fr Kant, wie der Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes zeigt, jedoch allein derjenige, der mit einem gttlichen Wesen
zu kommunizieren vermeint, sondern auch derjenige, der glaubt, eine
Gemeinschaft mit einem anderen Wesen empirisch erfahren zu knnen.
In diesem Sinn ist die Schwrmerei als der exakte Gegenentwurf zum
Modell des sensus communis zu beschreiben wenn nicht die chronolo-
gische Folge der Schriften Kants eher die gegenteilige Annahme nahele-
gen wrde, nach welcher Kant den sensus communis als Antwort und
Reaktion auf die Schwrmerei entwickelt hat.
Der Fanatiker, schreibt Kant im Versuch ber die Krankheiten des
Kopfes,
Eine fanatische Politik ist demnach eine solche, die auf einer vermeint-
lichen unmittelbaren Eingebung beruht und demzufolge auf der berhe-
bung einer einzelnen Person ber alle von Kant festgelegten Grenzen
menschlichen Wissens. Insofern solche Eingebung fr Kant immer eine
vermeintliche Eingebung sein kann, muss sie eine tuschende, getusch-
te, wenn nicht gar vorgetuschte Eingebung sein. Wenn der solcherart
betrogene Mensch jedoch Talente hat wenn er sich also mitteilen
kann , dann ist er jedoch zugleich in der Lage, alle ihm erreichbaren
Menschen mit seiner Schwrmerei buchstblich anzustecken und sie
gleichfalls in Schwrmer zu verwandeln. Wenn bisweilen so gar der
Staat Verzuckungen erleidet, kann er zu einem Staat der Schwrmer
175 Vgl. Bernstein: Imagination and Lunacy in Kants First Critique and An-
thropology (wie Anm. 93), S. 150.
176 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 26).
89
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
177 Zur Geschichte des Begriffs Schwrmer vgl. Eric W. Gritsch: Luther
und die Schwrmer: Verworfene Anfechtung? In: Luther. Zeitschrift der
Luther-Gesellschaft 47 (1976), H. 3, S. 105-121; Anthony J. La Vopa:
The Philosopher and the Schwrmer: On the Career of a German Epithet
from Luther to Kant. In: Huntington Library Quarterly 60 (1997), S. 85-
115. Auch der englische Begriff Enthusiasm, fr den Schwrmerei im
18. Jahrhundert die gebruchliche bersetzung wurde, wurde im 17. und
18. Jahrhundert vor allem fr die Mitglieder einer unberschaubaren Zahl
protestantischer Sekten verwendet. Alexander Ross, in his A View of All
Religions of the World (1654) lists as enthusiasts the Adamites, Anabap-
tists, Antinomians, Brownists, Familists, Independents, Quakers, Ranters
and Socinians. By the late eighteenth century many people would also
have included the Methodists (Timothy Clark: The Theory of Inspira-
tion. Composition as a Crisis of Subjectivity in Romantic and post-Ro-
mantic Writing. Manchester, New York: Manchester University Press
1997, S. 63). Vgl. Lothar Kreimendahl: Humes Kritik an den Schwr-
mern und das Problem der wahren Religion in seiner Philosophie. In:
Aufklrung. Interdisziplinre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18.
Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 3 (1988), H. 1, S. 7-27.
90
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
178 Gotthold Ephraim Lessing: Ueber eine zeitige Aufgabe: Wird durch die
Bemhung kaltbltiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das,
was sie Enthusiasmus und Schwrmerei nennen, mehr Bses als Gutes
gestiftet? Und in welchen Schranken mssen sich die Antiplatoniker hal-
ten, um ntzlich zu seyn? In: ders.: Smtliche Werke. Hrsg. von Karl
Lachmann und Franz Muncker. Unvernderter photomechanischer Ab-
druck. Berlin, New York: de Gruyter 1979, Bd. 16, S. 293-301, hier: S.
297.
179 Orrin F. Summerell: Perspektiven der Schwrmerei um 1800. Anmerkun-
gen zu einer Selbstinterpretation Schellings. In: Platonismus im Idealis-
mus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie.
Hrsg. von Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell. Mnchen, Leip-
zig: Saur 2003, S. 139-173, hier: S. 152: Geschwrmt wird, wenn ein al-
ter Bienenstock einen jungen abstt oder ein junger Stock den alten ver-
lt. Diese Bedeutung des Schwrmens bestimmt die Metaphorik, die in
den Debatten des 18. Jahrhunderts eine tragende Rolle spielt. Die nur
scheinbar ungeordnete, zwar vernunftlose, gleichwohl aber nicht um-
sichtslose Bewegung der schwebenden Bienenmasse bzw. ihr Umherge-
trieben-Werden an erster Stelle ihr Ausfliegen zur Grndung eines neu-
en Staates, an zweiter Stelle ihre durcheinanderwimmelnde Fortbewe-
gung, z.B. zum Honig-Sammeln wird auf ein anderes Verhalten ber-
tragen, um dieses zu bestimmen.
91
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Streben nach etwas ist, das kategorial ber jede menschliche Gesellschaft
hinausgeht.180
Sptestens hier zeigen sich entscheidende Differenzen und Verschie-
bungen zwischen der Beschreibung des Wahnsinns bei Kant und bei
Rousseau. Wenngleich Kants Versuch ber die Krankheiten des Kopfes
und auch seine spteren Ausfhrungen zur Thematik auf den ersten Blick
mit den Kategorien und Schemata des franzsischen Vorbilds zu arbeiten
scheinen, verkehrt er Rousseaus Perspektive dennoch geradezu in ihr Ge-
genteil. Zwar bernimmt Kant von Rousseau die grundstzliche Ver-
bindung von Wahnsinn, Einbildungskraft und Sprache. Demzufolge sind
es auch fr Kant die gesellschaftlichen Instanzen der Vermittlung, wel-
che die Mglichkeit des Wahnsinns hervorbringen. Anders als Rousseau
beschreibt Kant jedoch an keiner Stelle die Utopie einer anderen, nicht
arbitrren und strungsfreien Kommunikation, in der sich die ideale
menschliche Gemeinschaft verwirklichen knnte. Die konsequente
Selbstironie Kants verweist vielmehr darauf, dass es einen Ort der wah-
ren Kommunikation und Gemeinschaft a priori nicht geben kann und
niemals gegeben hat.
Indem Kant keine Utopie einer nicht-reprsentativen Sprache mehr
beschreibt, werden in seinem Modell die Pathologien der Gesellschaft-
lichkeit wie der Wahnsinn berhaupt ubiquitr. Was Rousseau fr eine
Abweichung vom reinen Ursprung der Gemeinschaft hielt, wird fr Kant
der Ursprung der Gemeinschaftlichkeit berhaupt. Gleichzeitig ver-
schiebt sich damit das Verhltnis des Ich zur Gemeinschaft: Das Ich ist
keine in sich geschlossene Innerlichkeit, sondern, durch seine Einbil-
dungskraft und durch seine Sprache, immer schon alteriert, immer schon
Teil einer menschlichen Gemeinschaft. Dies ist es, wie Kant im Ab-
schnitt ber den Wahnsinn mit einem ironischen Verweis auf Rous-
seau illustriert, umso mehr, wenn es sich von der Gemeinschaft ausgesto-
en und verfolgt whnt.
Rousseaus Utopie einer Gemeinschaft jenseits der Missverstndnisse,
Tuschungen und Verblendungen der Gesellschaft erscheint aus dieser
Perspektive als der eigentlich bedrohliche Wahnsinn, weil sie die politi-
sche Sprengkraft in sich birgt, die Gesellschaft als Ganzes anzugreifen
und durch etwas anderes als eine Gesellschaft ersetzen zu wollen. Eine
reine Kommunikation und Mitteilung ist fr Kant ebenso unerreichbar
wie unvorstellbar. Wie das Ding an sich gehrt sie zur Sphre des Un-
endlichen, die dem endlichen Menschen a priori verschlossen bleibt. Der
180 Peter Fenves formuliert bndig: Schwrmer are the ones who cannot be-
long to any stable society because they want something more than so-
ciety (Peter Fenves: The Scale of Enthusiasm. In: Huntington Library
Quarterly 60 [1997], S. 117-152, hier: S. 121 [Funote 5]).
92
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
mu durch eine Blende geschtzt werden, durch die wir nicht hindurch kn-
nen, ohne in sie zu fallen ohne gnzlich von einem Objekt verschluckt zu
werden, das uns als Subjekte verlieren wrde. [...] Hinter der Grenze zeigt sich
das konturlose Gesicht des Ungeheueren [monstruoso] hervor oder auch das
unertrgliche Sich-Zeigen [mostrarsi] einer Welt ohne Grenzen; buchstblich
unweltlich, wie es eine Gemeinschaft nur sein kann, die absolut mit sich selbst
bereinstimmt, die indifferent ist gegenber jeglicher Differenz.181
Mit radikaler Konsequenz folgert Kant in der spteren Schrift ber Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloen Vernunft aus seiner Kritik
des Schwrmertums die vollstndige Ausschlieung von Inspiration und
Offenbarung fr die Theorie und Praxis der Religion. Die Frage der Reli-
gion, wie Gott verehrt (und gehorcht) sein wolle,182 stellt sich fr Kant
demnach in einer radikalen Ungewissheit. Da diese Frage fr die theore-
tische Vernunft prinzipiell nicht zu beantworten sein kann, muss die
praktische Vernunft die Antwort bernehmen. Entsprechend statuiert
Kant, dass die reine moralische Gesetzgebung, dadurch der Wille Got-
tes ursprnglich in unser Herz eingeschrieben ist, nicht allein die unum-
gngliche Bedingung aller wahren Religion berhaupt [ist], sondern sie
ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht.183 Hierin liegt das
zentrale Anliegen des Projekts der Vernunftreligion: Nicht die Moral
soll aus der Religion folgen, sondern umgekehrt muss jede religise
Handlung sich durch ihre bereinstimmung mit dem moralischen Urteil
legitimieren.184 Jede religise Praxis kann sich daher nur aus ihrer ber-
einstimmung mit der fr jeden Einzelnen autonom urteilenden Vernunft
93
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Der Fanatiker ist derjenige, der ein Mittel als unmittelbar ausweist. Aus
einer solchen (vermeintlich) gottgeflligen Absicht folgen nach Kant
notwendig lauter Verirrungen einer ber ihre Schranken hinausgehen-
den Vernunft.186 Indem der Fanatiker durch seinen Willen definiert
wird, etwas Vermitteltes als unmittelbar zu behaupten, verweist auch die
Beschreibung des Fanatismus bei Kant deutlich auf den Bereich der
Sprache. Die Sprache des Fanatikers und Schwrmers ist tuschend,
denn sie behauptet eine unmittelbare Kommunikation, die es innerhalb
der Grenzen der bloen Vernunft nicht geben kann.
Die Tuschung der Schwrmerei ist ein sprachlicher Akt. In seiner
Polemik Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philo-
sophie beschreibt Kant die Sprache seiner neuplatonischen Konkurren-
ten, welche durch Einflu eines hheren Gefhls philosophieren [...]
wollen,187 als einen spezifischen Ton. Die vornehmen Philosophen
des neuerdings erhobenen Tons sprechen, so Kant, nicht mehr in den
Kategorien des Wissens, Glaubens und Meinens; ihnen geht es um etwas
vllig anderes, welches gar nichts mit der Logik gemein hat, die kein
Fortschritt des Verstandes, sondern Vorempfindung (praevisio sensitiva)
dessen sein soll, was gar kein Gegenstand der Sinne ist: d.i. Ahnung des
bersinnlichen.188 Eine Ahnung ist allerdings a priori kein Gegenstand
185 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 821 (Religion, B
229).
186 Ebd., S. 704 (Religion, B 64).
187 Ebd., Bd. 3, S. 384 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
400).
188 Ebd., S. 385f. (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
404ff.).
94
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Da hierin nun ein gewisser mystischer Takt, ein bersprung (salto mortale)
von Begriffen zum Undenkbaren, ein Vermgen der Ergreifung dessen, was
kein Begriff erreicht, eine Erwartung von Geheimnissen, oder vielmehr Hinhal-
tung mit solchen, eigentlich aber Verstimmung der Kpfe zur Schwrmerei,
liege: leuchtet von selbst ein.189
Wie aber geschieht diese Verstimmung der Kpfe? Wie spricht man
ber eine Ahnung? Die Sprache der Mystiker, der sich vornehm ge-
benden Neuplatoniker ist figurativ: Sie ersetzt den Begriff durch die Me-
tapher. So fhrt Kant aus:
189 Ebd., S. 386 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A 407).
190 Ebd., S. 388f. (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
409ff.).
191 Vgl. Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen
Ton in der Philosophie [1983]. In: ders.: Apokalypse. bers. von Michael
Wetzel. Hrsg. von Peter Engelmann. 2. Aufl. Wien: Passagen 2000, S.
11-79, hier: S. 39f.
95
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die innere Erfahrung, und das Gefhl (welches an sich empirisch und hiemit
zufllig ist), wird allein durch die Stimme der Vernunft (dictamen rationis), die
zu jedermann deutlich spricht und einer wissenschaftlichen Erkenntnis fhig ist,
aufgeregt; nicht aber etwa durchs Gefhl eine besondere praktische Regel fr
die Vernunft eingefhrt, welches unmglich ist: weil jene sonst nie allgemein-
gltig sein knnte.193
Wenn es eine innere Stimme geben darf, dann nur die Stimme der
Vernunft, denn nur diese kann zu jedermann deutlich und also allge-
meingltig sprechen, whrend die Stimme des Gefhls zufllig ist und je-
der Verallgemeinerung entbehrt. In der Diktion des Abschnitts ber den
sensus communis aus der Kritik der Urteilskraft msste es heien, dass
die Vermischung der Stimme der Vernunft mit der des Gefhls sich
nicht von den Illusionen der subjektiven Privatbedingungen lsen
kann. Die metaphernreichen Ahnungen der Neuplatoniker geben vor,
eine bessere Auskunft ber das Wesen der Natur (Gttin Isis) als die
prosaische Vernunft geben zu knnen; sie ersetzen deren allgemeinglti-
ge und jederzeit deutliche Sprache allerdings durch das dunkle (Ora-
kel) Sprechen eines subjektiven und privaten Gefhls.
In dieser Privatisierung des philosophischen Urteils, welches dadurch
aufhrt, ein philosophisches Urteil zu sein, liegt zugleich die politische
Bedrohung der Schwrmerei. Wer moralische Gesetze aus einer Stim-
me des Orakels statt aus der Stimme der Vernunft ableitet, setzt seine
private Meinung als allgemeine Stimme des Gesetzes ein und ntigt alle
anderen dazu, der subjektiven Eingebung eines einzelnen zu folgen. Mit
anderen Worten neigt die Schwrmerei zu einer aristokratischen (vor-
nehmen) Politik, die sich in der Hierarchie zwischen Eingeweihten (mit
Zugang zur Stimme des Orakels) und Uneingeweihten (dem Volk)
192 Vgl. Detlef Thiel: Die Illusionen der Isis. Schleier zwischen Kant und
Derrida. In: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium
und Metapher. Hrsg. von Johannes Endres, Barbara Wittmann und Ger-
hard Wolf. Mnchen: Fink 2005, S. 309-330, hier. S. 322.
193 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 392 (Von einem
neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A 416f.).
96
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Die Bedeutung und Radikalitt von Kants Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes und der darin vorgenommenen Bewertung der Mit-Affektion
als politischer Bedrohung kann allerdings erst im Vergleich mit dem zeit-
genssischen Diskurs eingeschtzt werden. Allgemein wird man sagen
knnen, dass Kants Untersuchung der Rolle von Gefhlen insbeson-
dere dem des Mit-Gefhls eine Reaktion auf die von Kant aufmerksam
verfolgten Versuche insbesondere englischer Moralphilosophien dar-
stellt, ein moralisches Gefhl, einen moral sense zu statuieren. Dieser
sollte moralisches (gutes) Handeln einerseits auf die Unmittelbarkeit ei-
nes Gefhls begrnden statt auf reflektierenden Akten der Vernunft, an-
dererseits aber auch eine Grundlage politischen Verhaltens berhaupt
etablieren. Hierbei gert vor allem das Gefhl der Sympathie des Mit-
gefhls, der Einfhlung etc. in den Blickpunkt, wie sich insbesondere
anhand von Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759) zeigen
lsst, die mit einer ausfhrlichen Analyse der Sympathie als Vergesell-
194 Ebd., S. 388 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A 409).
97
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ist so elastisch fein und zart, und sein Nervengebude so verschlungen in alle
Theile seines vibrirenden Wesens, da er als ein Analogon der alles durchfh-
lenden Gottheit sich beinah in jedes Geschpf setzen und gerade in dem Maas
mit ihm empfinden kann, als das Geschpf es bedarf und sein Ganzes es ohne
eigene Zerrttung, ja selbst mit Gefahr derselben, leidet.196
Die Befhigung des Menschen zur Sympathie ist demnach eine Folge der
allgemeinen Sympathie, die die Natur fr alle ihre Teile empfindet und
die den Menschen noch fr pflanzliche Wesen fr Bume Mitleid
empfinden lsst: Auch an einem Baum nimmt unsre Maschiene Theil,
sofern sie ein wachsender grnender Baum ist; und es giebt Menschen,
die den Sturz oder die Verstmmelung desselben in seiner grnenden Ju-
gendgestalt krperlich nicht ertragen.197 Herder entwickelt ein Modell
der Natur, in der alles mit allem mitfhlt, indem sich nicht mehr nur
ein Mensch in den anderen hineinversetzt (wie noch bei Rousseau),
sondern in der ein Wesen mit dem anderen mitfhlt.
98
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
So sympathetisch webte die allgemeine Mutter, die alles aus sich nahm und
mit allem in der innigsten Sympathie mitfhlet, den menschlichen Krper. Sein
vibrirendes Fibernsystem, sein Theilnehmendes Nervengebude hat des Auf-
rufs der Vernunft nicht nthig; es kommt ihr zuvor, ja es setzet sich ihr oft
mchtig und widersinnig entgegen. Der Umgang mit Wahnsinnigen, an denen
wir Theil nehmen, erregt selbst Wahnsinn, und desto eher, je mehr sich der
Mensch davor frchtet.198
Der Mensch ist nur ein Element einer vollstndigen Verkettung der Le-
bewesen in einer einzigen Mit-Vibration, die ausdrcklich auch die Mg-
lichkeit des epidemischen Wahnsinns als Besttigung der grundstzlich
sympathetischen Struktur der gesamten Schpfung einschliet.
Kant stimmt mit seinem abtrnnigen Schler Herder berein, indem
auch er die Genese der Sympathie eher als eine krperliche Mit-Affek-
tion vermittelt durch die Quasi-Sinnlichkeit der Einbildungskraft
denn etwa als einen Vorgang der Identifikation eines Subjekts mit einem
anderen beschreibt. Trotz ihrer grundstzlich gegenlufigen Bewertung
dieses Vorgangs greifen damit sowohl Kant als auch Herder (im Gegen-
satz zu Lessing) auf die griechische Wortbedeutung von Mitleid zu-
rck: , was sich bersetzen lsst als Mit-Erleiden, in Mitlei-
denschaft gezogen werden, mit zugleich affiziert werden.199 Whrend
das Mitleid in Lessings (und Rousseaus) christlich geprgtem Verstnd-
nis durch den Anblick eines leidenden Menschen ausgelst wird, ist im
lteren Sinne des Wortes gerade nicht das Objekt der Sympathie der Aus-
lser des Gefhls, sondern eine uere Affektion. Entsprechend vern-
dert sich das Verhltnis der Personen zueinander: Whrend das Mitleid
bei Lessing prinzipiell binr (Mitleidender Bemitleideter) ausgerichtet
ist, verbindet die Sympathie fr Kant (und Herder) eine amorphe und
potentiell unendliche Masse (Haufen) von Personen ohne jede Ord-
nung miteinander. In diesem Sinne ist die Sympathie Kants eher ein
Zusammen-Gestimmtsein als das christlich gefrbte Mitleiden.
Die politische Gefahr des Wahnsinns, wie sie im Versuch dargestellt
wird, geht demnach nicht zuletzt von der Sympathie aus, welche Men-
schen zu blinden Sklaven von Einbildungen werden lsst. In den Beo-
bachtungen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen kommt Kant in
diesem Sinne auf das Mitleid zu sprechen und subsumiert es unter die
99
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
die leichtlich in ein warmes Gefhl des Mitleidens gesetzt wird, ist schn und
liebenswrdig [...]. Allein diese gutartige Leidenschaft ist gleichwohl schwach
und jederzeit blind. Denn setzet: diese Empfindung bewege euch, mit eurem
Aufwande einen Notleidenden aufzuhelfen, allein ihr seid einem andern schul-
dig und setzt euch dadurch auer Stand, die strenge Pflicht der Gerechtigkeit zu
erfllen, so kann offenbar die Handlung aus keinem tugendhaften Vorsatze ent-
springen, denn ein solcher knnte euch unmglich anreizen, eine hhere Ver-
bindlichkeit dieser blinden Bezauberung aufzuopfern.200
Die Neigung zum Mitleiden mag zwar eine schne und damit eher
dem weiblichen Geschlecht201 zuzutrauende Eigenschaft sein, aber da-
raus folgt ihre entscheidende Schwche: Sie ist ber die Sinnlichkeit ver-
mittelt, sie bezaubert, macht blind fr die eigentliche Pflicht, wel-
che wiederum nicht ber die Sinnlichkeit vermittelt ist, sondern durch die
Vernunft geboten wird. Diese wiederum gilt Kant als das Vermgen der
Prinzipien,202 als welches es nicht auf die sinnliche Affektion durch eine
empirische Wirklichkeit angewiesen ist, sondern schlechthin freie Set-
zungen vornimmt.
In der Metaphysik der Sitten (1797) unterscheidet Kant innerhalb der
Menschlichkeit (humanitas) als der Pflicht zum ttigen und vernnf-
tigen Wohlwollen zwei Grundformen: die sinnlich vermittelte Mittei-
lung und das von der praktischen Vernunft geforderte bloe Vermgen
der Mitteilung. Die Menschlichkeit, schreibt Kant,
kann nun in dem Vermgen und Willen, sich einander in Ansehung seiner Ge-
fhle mitzuteilen (humanitas practica) oder blo in der Empfnglichkeit fr das
gemeinsame Gefhl des Vergngens oder Schmerzens (humanitas aesthetica),
was die Natur selbst gibt, gesetzt werden. Das erstere ist frei und wird daher
teilnehmend genannt (communio sentiendi liberalis) und grndet sich auf prak-
tische Vernunft; das zweite ist unfrei (communio sentiendi illiberalis, servilis)
und kann mitteilend (wie die der Wrme oder ansteckender Krankheiten), auch
Mitleidenschaft heien; weil sie sich unter nebeneinander lebenden Menschen
natrlicher Weise verbreitet. Nur zu dem ersten gibts Verbindlichkeit.203
200 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 835 (Beobachtun-
gen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen, A 20).
201 Vgl. ebd., S. 851 (Beobachtungen ber das Gefhl des Schnen und Er-
habenen, A 49).
202 Ebd., Bd. 2, S. 312 (KrV B 356, A 299).
203 Ebd., Bd. 4, S. 394 (MdS, Tugendlehre 34, A 130).
100
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Kant subsumiert demnach das Mitleid der Sympathie und lehnt es als
solche ab, weil es unfrei ist: Es steckt ein Subjekt nach dem anderen
durch ein Gefhl an und verwandelt die Menschen potentiell in einen
wahnsinnigen und fanatischen Haufen. Die Teilnahme dagegen ist
eher ein Gefhl der Mitteilbarkeit als ein mitgeteiltes Gefhl; es umfasst
also ausschlielich die Kommunikabilitt der menschlichen Gemein-
schaft als reiner Mglichkeit. Die Teilnehmung bermittelt nicht ein
bestimmtes, determiniertes Gefhl, sondern nur Wille und Verm-
gen zur Mitteilung der Gefhle.204
Luft seine Beschftigung mit der Thematik des Wahns fr Kant also auf
den klassischen Gegensatz von Vernunft und Wahnsinn hinaus? Muss
man zu dem Schluss kommen, dass die reine Vernunft fr Kant die Si-
cherheit vor einem mit der Einbildungskraft identifizierbaren Wahnsinn
darstellt?
Der Versuch ber die Krankheiten des Kopfes legt diesen Schluss
keinesfalls nahe: Hier ist von einer ber den Wahn erhabenen Vernunft
keine Rede. Im Gegenteil ist der Text durchzogen von einer spezifischen
Identifikation des Autors mit seinem Gegenstand, einer Identifikation des
Philosophen mit dem Wahnsinn also. Die Ironie, mit der Kant etwa sein
eigenes Unternehmen zu Beginn des Versuchs ankndigt, muss jedem
entgehen, der sich nur fr seine Systematik interessiert. Kant geht von
der grundstzlichen Unterscheidung zwischen dem Naturzustand und
dem der ppigkeit der brgerlichen Verfassung aus, die den gesamten
Versuch strukturiert, und stellt dann fest, dass er, selbst wenn er auch im
Besitze der bewhrtesten Heilungsmittel gegen die Krankheiten des
Kopfes wre, er dennoch
101
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
nehmlich die rzte des ersteren, die sich Logiker nennen, sehr gut dem allge-
meinen Verlangen Gnge leisten.205
205 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 887f. (Versuch
ber die Krankheiten des Kopfes, A 14).
206 Ebd., S. 888.
207 Ebd., S. 890 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 17).
102
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Wer durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr er-
hitzt wird, als es andere nach ihrem matten und fters unedlen Gefhl sich vor-
stellen knnen, ist in ihrer Vorstellung ein Phantast. Ich stelle den Aristides un-
ter Wucherer, den Epiktet unter Hofleute und den Johann Jacob Rousseau unter
die Doktoren der Sorbonne. Mich deucht, ich hre ein lautes Hohngelchter,
und hundert Stimmen rufen: Welche Phantasten! Dieser zweideutige Anschein
von Phantasterei, in an sich guten moralischen Empfindungen, ist der Enthu-
siasmus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Groes ausge-
richtet worden.209
208 Thomas De Quincey: The Last Days of Immanuel Kant [1827]. In: ders.:
Collected Writings. Hrsg. von David Masson. Bd. 1-14. Edinburgh:
Adam and Charles Black 1889-1890, Bd. 4, S. 323-379, hier: S. 340.
209 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 25f.).
210 Vgl. Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwrmers. Theorie und
Darstellung des Schwrmers in Sptaufklrung und frher Goethezeit. In:
Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert.
DFG-Symposion 1992. Hrsg. von Hans-Jrgen Schings. Stuttgart, Wei-
mar: Metzler 1994 (Germanistische Symposien Berichtsbnde. 15), S.
469-498; Summerell: Perspektiven der Schwrmerei um 1800 (wie Anm.
179), S. 148-157.
103
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
WE may with good reason call every Passion Pannick which is raisd in a
Multitude, and conveyd by Aspect, or as it were by Contact or Sympathy.
Thus popular Fury may be calld Pannick, when the Rage of the People, as we
have sometimes known, has put them beyond themselves; especially where Re-
ligion has to do. And in this state their very Looks are infectious. The Fury flies
from Face to Face: and the Disease is no sooner seen than caught. [...] Such for-
211 Clark: The Theory of Inspiration (wie Anm. 177), S. 63. Vgl. Michael
Heyd: Be Sober and Reasonable. The Critique of Enthusiasm in the
Seventeenth and Early Eighteenth Centuries. Leiden, New York, Kln:
Brill 1995, S. 165ff.; Karl Tilman Winkler: Enthusiasmus und gesell-
schaftliche Ordnung. Enthusiasm im englischen Sprachgebrauch in der
ersten Hlfte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklrung. Interdisziplinre
Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wir-
kungsgeschichte 3 (1988), H. 1, S. 29-47.
104
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
ce has Society in ill, as well as in good Passions: and so much stronger any Af-
fection is for being social and communicative.212
Die Kehrseite des Sozialen und der Kommunikation ist die Gefahr der
Ansteckung. Die Kontakte innerhalb der Masse (Multitude) sind hoch-
gradig kontagis: allein durch den Blickkontakt bertrgt sich in ihr eine
einmal ausgebrochene Leidenschaft. Das Modell der Gesellschaft ist der
menschliche Krper, und Massenbegeisterungen sind nichts anderes als
soziale Fieberkrankheiten. Alle mit dem Fanatismus in der Geschichte
der Menschheit verbundenen Schrecken Bloodshed, Wars, Persecu-
tions and Devastations213 lassen sich als Pathologien der Gemein-
schaft verstehen, als eine Infektion des politischen Krpers, des Body-
Politick.214 Der Analogie zwischen Staatskrper und Organismus, die
keineswegs neu ist und die sich bereits bei Platon und Hobbes auffinden
lsst, entspricht diejenige von sozialer Unordnung und Krankheit. Aus
dieser Analogie folgt die weitere Argumentation: der klassischen medizi-
nischen Idee des Gleichgewichts zufolge kann nur die Balance der Krfte
zueinander Heilung bringen.215
Demgem pldiert Shaftesbury fr eine Medizin, die auf die Selbst-
heilungskrfte des Organismus vertraut.
The Human Mind and Body are both of em naturally subject to Commotions:
and as there are strange Ferments in the Blood, which in many Bodys occasion
an extraordinary discharge; so in Reason too, there are heterogeneous Particles
which must be thrown off by Fermentation. Shoud Physicians endeavour
absolutely to allay those Ferments of the Body, and strike in the Humours
which discover themselves in such Eruptions, they might, instead of making a
cure, bid fair perhaps to raise a Plague, and turn a Spring-Ague or an Autumn-
Surfeit into an epidemical malignant Fever.216
105
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
NOT only Visionarys and Enthusiasts of all kinds were tolerated, your Lord-
ship knows, by the Antients: but on the other side, Philosophy had as free a
course, and was permitted as a Ballance against Superstition. And whilst some
Sects, such as the Pythagorean and latter Platonick, joind in with the Supersti-
tion and Enthusiasm of the Times; the Epicurean, the Academick, and others,
were allowd to use all the Force of Wit and Raillery against it. And thus
matters were happily ballancd.217
Wit und Raillery, Witz und Spott sind also fr Shaftesbury die ein-
zigen sinnvollen Mittel gegen den Fanatismus. In seiner Forderung nach
good Humour218 spielt Shaftesbury die ganze Bedeutungsvielfalt des
Wortes Humour in der englischen Sprache zu Beginn des achtzehnten
Jahrhunderts aus: Saft, Laune, Gemtsverfassung, Stimmung,
Humor, Witz. Aber kein guter Humor knnte etwas gegen den En-
thusiasmus ausrichten, wenn nicht in diesem selbst das Potential der L-
cherlichkeit angelegt wre. Lcherlich ist der Enthusiasmus zunchst in
seiner uerlichkeit, als ausgebte Ttigkeit:
For the Bodys of the Prophets, in their State of Prophecy, being not in their
own power, but (as they say themselves) mere passive Organs, actuated by an
exterior Force, have nothing natural, or resembling real Life, in any of their
Sounds or Motions: so that how aukardly soever a Puppet-Show may imitate
other Actions, it must needs represent this Passion to the Life.219
106
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
107
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
I woud infer from all this, is, that ENTHUSIASM is wonderfully powerful and
extensive; that it is a matter of nice Judgment, and the hardest thing in the
world to know fully and distinctly; since even Atheism is not exempt from it.
[...] Nor can Divine Inspiration, by its outward Marks, be easily distinguishd
from it. For Inspiration is a real feeling of the Divine Presence, and Enthusiasm
a false one.223
222 Shaftesbury: Standard Edition (wie Anm. 212), Bd. II/1, S. 249.
223 Ebd., Bd. I/1, S. 372.
224 Ebd., S. 360.
108
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
about it: and a very small Foundation of any Passion will serve us, not
only to act it well, but even to work our-selves into it beyond our own
reach.225
Wenn diese Mglichkeit der Imitation und Sekundarisierung des
Enthusiasmus exakt die Bedingung seiner Mglichkeit berhaupt aus-
macht wenn sie in die Struktur seiner Wirkungsfhigkeit eingeschrie-
ben ist , dann muss es zwangslufig als unmglich erscheinen, zwischen
einem echten und einem falschen Gefhl gttlicher Prsenz zu unter-
scheiden. Die Unterscheidung zeigt sich in Shaftesburys Text als ebenso
notwendig wie unmglich. So schreibt Shaftesbury im Anschluss an die
Differenzierung zwischen Inspiration als echtem und Enthusiasmus
als falschem Gefhl:
But the Passion they raise is much alike. For when the Mind is taken up in Vi-
sion, and fixes its viewer either on any real Object, or mere Specter of Divinity;
when it sees, or thinks it sees any thing prodigious, and more than human; its
Horrour, Delight, Confusion, Fear, Admiration, or whatever Passion belongs to
it [...] will have something vast, immane, and (as Painters say) beyond Life. And
this is what gave occasion to the name of Fanaticism, as it was usd by the An-
tients in its original Sense, for an Apparition transporting the Mind.226
109
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
So that Inspiration may be justly calld Divine ENTHUSIASM: For the Word it
self signifies Divine Presence, and was made use of by the Philosopher whom
the earliest Christian Fathers calld Divine, to express whatever was sublime in
human Passions. This was the spirit he allotted to Heroes, Statesmen, Poets,
Orators, Musicians, and even Philosophers themselves. Nor can we, of our
own accord, forbear ascribing to a noble Enthusiasm, whatever is greatly per-
formd by any of These.229
229 Shaftesbury: Standard Edition (wie Anm. 212), Bd. I/1, S. 372.
230 Aristoteles: Werke in deutscher bersetzung (wie Anm. 32), Bd. 19, S.
250 (Problemata Physica, 953a). Vgl. zur ausfhrlichen Diskussion die-
ser Passage Fldnyi: Melancholie (wie Anm. 90), S. 14-58, sowie Wal-
ter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928]. 7. Aufl.
Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhr-
kamp Taschenbuch Wissenschaft. 225), S. 127f.
110
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
231 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 878 (Beobachtun-
gen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen, A 99).
232 Ebd., Bd. 5, S. 362 (KdU 29, B 121).
111
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
alles dessen beraubt, was sie den Sinnen empfehlen kann, sie alsdenn keine
andere als kalte, leblose Billigung und keine bewegende Kraft oder Rhrung
bei sich fhren wrde. Es ist gerade umgekehrt; denn da, wo die Sinne nichts
mehr vor sich sehen, und die unverkennliche und unauslschliche Idee der Sitt-
lichkeit dennoch brig bleibt, wrde es eher ntig sein, den Schwung einer un-
begrenzten Einbildungskraft zu migen, um ihn nicht bis zum Enthusiasm
steigen zu lassen, als aus Furcht vor Kraftlosigkeit dieser Ideen sie in Bildern
und kindischem Apparat Hlfe zu suchen.235
Wenn der Enthusiasm mit dem Wahnsinn, so ist die Schwrmerei mit dem
Wahnwitz zu vergleichen, wovon der letztere sich unter allen am wenigsten mit
dem Erhabenen vertrgt, weil er grblerisch lcherlich ist. Im Enthusiasm, als
112
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
113
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Kant hier aus, hat ihre wahre Bedeutung in der Reaktion der Zuschauer.
Der Enthusiasmus der Zuschauer in den Nachbarlndern Frankreichs
zeigt fr Kant die moralische Bedeutung der Revolution. Die Revolution
fhrt vor, dass Menschen den Lauf der Geschichte verndern knnen und
dass folglich eine Verbesserung der politischen Zustnde mglich ist.
Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen
haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern, schreibt Kant;
sie mag mit Elend und Greueltaten dermaen angefllt sein, da ein wohlden-
kender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmal unternehmend, glcklich aus-
fhren knnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschlie-
en wrde diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemtern aller Zu-
schauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilneh-
mung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren uerung
selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische An-
lage im Menschengeschlecht zur Ursache haben wird.238
238 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 358 (Der Streit der
Fakultten, A 143f.).
114
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
tion durch die Einbildungskraft verdanken, wie kann dann mit philoso-
phisch strenger Sicherheit zwischen beiden unterschieden werden?
In der Kritik der Urteilskraft scheint diese Unterscheidung fr Kant
ein lsbares Problem darzustellen. Er fhrt hier, neben einigen recht pro-
blematischen Unterscheidungen wie Affekt Leidenschaft und vor-
bergehender Zufall eingewurzelte brtende Leidenschaft die Diffe-
renz zwischen positiver und negativer Darstellung an, die Schwrmerei
und Enthusiasmus unterscheidbar werden lassen soll. So schreibt Kant
ber den Modus der Vergegenwrtigung der Idee des Guten durch den
Enthusiasmus:
Eine negative Darstellung ist in diesem Sinn eine solche, die keinen
Gegenstand darbietet, sondern allein die Unerreichbarkeit dieses Gegen-
standes. Es bleibt der Einbildungskraft berlassen, diesen in einem Akt
der enthusiastischen Entgrenzung dennoch vorzustellen. Die Vernichtung
der Sinnlichkeit regt, in einem erhabenen Moment, die Einbildungskraft
zu hchster Begeisterung und zur berschreitung aller Grenzen der Sinn-
lichkeit an. Aus diesem Grund betont Kant gleich an zwei Stellen seiner
Untersuchung des Erhabenen die besondere Erhabenheit des Bilderver-
bots.
Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das
Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder
dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist usw. Die-
ses Gebot allein kann den Enthusiasm erklren, den das jdische Volk in seiner
gesitteten Epoche fr seine Religion fhlte, wenn es sich mit andern Vlkern
verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflt.240
In seiner Begeisterung geht Kant so weit, den ersten Satz dieser Passage
einige Seiten der Kritik der Urteilskraft spter noch einmal variiert vor-
zubringen:
Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausge-
drckt worden, als in jener Aufschrift ber dem Tempel der Isis (der Mutter
115
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Natur): Ich bin alles, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier
hat kein Sterblicher aufgedeckt.241
Ich bin das, was sich nicht darstellt, nicht darbietet; Du kannst mich nicht
sehen und wirst es nie knnen, sagt der erhabenste Gedanke, welcher
der Gttin Isis in den Mund gelegt wurde. Negative Darstellung fhrt
in eine Paradoxie, denn die Darstellung wird dazu gezwungen, sich selbst
zu negieren und zu widersprechen. Die Stimme der Vernunft wrde in
diesem Sinne nur dann dem Gesetz der negativen Darstellung gehor-
chen, wenn sie schweigen wrde oder allenfalls ihre Unhrbarkeit
verknden wrde. Der doppelte Schritt des Erhabenen, welcher der Ver-
nichtung der sinnlichen Darstellung eine Entgrenzung der Einbildungs-
kraft zur Darbietung der Ideen folgen lsst, muss demnach jederzeit po-
tenziert werden. Solange die Ideen der Vernunft in der sinnlichen Welt
nicht dargestellt werden knnen, muss jede enthusiastische Darbietung
der Einbildungskraft das Gesetz der Undarstellbarkeit zugleich aussagen
und bertreten und also instabil bleiben.242
Kant hat diese Problematik durchaus bedacht. Eine mgliche Lsung
bietet sich in Kants Theorie des symbolischen Anthropomorphismus,
wie sie in den Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik (1783)
formuliert wird. Der Kontext ist hier die Frage, wie sich Sprache auf das
beziehen lsst, das der Erkenntnis durch den menschlichen Verstand a
116
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil blo auf das
Verhltnis einschrnken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen
Begriff selbst auer aller Erkenntnis liegt [...]. Denn alsdenn eignen wir dem
hchsten Wesen keine von den Eigenschaften an sich selbst zu, durch die wir
uns Gegenstnde der Erfahrung denken, und vermeiden dadurch den dogmati-
schen Anthropomorphismus, wir legen sie aber dennoch dem Verhltnisse
desselben zur Welt bei, und erlauben uns einen symbolischen Anthropomor-
phism, der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht.243
Symbolisch ist in diesem Sinn fr Kant eine Sprache, die um die Grenzen
des eigenen Wissens wei und die deshalb nur in der Form der Analogie
spricht, ohne eine Aussage ber die Objekte des Sprechens an sich tref-
fen zu wollen. Das symbolische Zeichen verspricht eine Auflsung der
Paradoxie der negativen Darstellung, indem es das Objekt der Darstel-
lung darbietet und gleichzeitig darstellt, dass es nur eine analogische und
also anthropomorphe Darstellung des Objekts geben kann. Insofern der
symbolische Anthropomorphismus nur die Sprache betrifft und nicht
das Objekt selbst, geht es Kant hier um eine philosophische Sprache,
die ihre eigene Figuralitt jederzeit ausstellt und damit ihre eigene epi-
stemologische Unsicherheit vorfhrt. With this distinction, kommen-
tiert Cathy Caruth,
Kant rests the entire weight of the critical system the full rigor of negative
thinking upon the capacity for a certain kind of figuration. Or rather, upon the
capacity of criticism to know this figuration, that is, to distinguish between the
dogmatic and and symbolic anthropomorphism, or to define the symbol
rigorously and completly. [...] The symbol, that is, always remembers that it is,
only, a symbol. It knows, one could say, that it posits.244
243 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 232f.
244 Cathy Caruth: Empirical Truths and Critical Fictions. Locke, Words-
worth, Kant, Freud. Baltimore, London: The Johns Hopkins University
Press 1991, S. 75f.
117
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Wer durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr er-
hitzt wird, als es andere nach ihrem matten und fters unedlen Gefhl sich vor-
stellen knnen, ist in ihrer Vorstellung ein Phantast. Ich stelle den Aristides un-
ter Wucherer, den Epiktet unter Hofleute und den Johann Jacob Rousseau unter
die Doktoren der Sorbonne. Mich deucht, ich hre ein lautes Hohngelchter,
und hundert Stimmen rufen: Welche Phantasten! Dieser zweideutige Anschein
von Phantasterei, in an sich guten moralischen Empfindungen, ist der Enthu-
siasmus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Groes ausge-
richtet worden.245
245 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 896 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 25f.).
118
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Die verschleierte Gttin, vor der wir beiderseits unsere Knie beugen, ist das
moralische Gesetz in uns, in seiner unverletzlichen Majestt. Wir vernehmen
zwar ihre Stimme, und verstehen auch gar wohl ihr Gebot; sind aber beim
Anhren in Zweifel, ob sie von dem Menschen, aus der Machtvollkommenheit
seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem anderen, dessen Wesen
ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch seine eigene Vernunft
spricht, herkomme.246
Wir hren die Stimme der Vernunft in uns, die wir der verschleierten
Gttin Isis zuschreiben. Diese Personifizierung ist aber der Ausdruck ei-
ner radikalen Unsicherheit, denn es ist unmglich zu bestimmen, wessen
Stimme tatschlich in unserem Kopf moralische Befehle verkndet. Um
verknden zu knnen, muss die Stimme diese Zweideutigkeit riskieren.
Entsprechend ist in Kants Texten kein Mangel an literarisierenden und
metaphorischen Personifizierungen des moralischen Gesetzes der
Schleier der Isis, die Stimme der Vernunft , welche der Logik der analo-
gischen Sprache folgen, die Kant bei den Neuplatonikern als Schwr-
merei anklagt. Entsprechend wird die Grenze zwischen Enthusiasmus
und Schwrmerei brchig und instabil, und niemand kann a priori zwi-
schen beiden unterscheiden.
Nur im Sinn der Unterscheidung Kants zwischen dogmatischem und
symbolischem Anthropomorphismus kann hier noch eine Differenz auf-
rechterhalten bleiben. Wenn der Schwrmer glaubt, mit einem hheren
Wesen zu kommunizieren oder eine sinnlich erfahrene Gemeinschaft zu
246 Ebd., Bd. 3, S. 395 (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton, A
423). Vgl. zu dieser Passage auch Fenves: Introduction: The Topicality of
Tone (wie Anm. 237), S. 31f.
119
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Denn da nach den Beobachtungen des Swifts ein schlecht Gedicht blo eine
Reinigung des Gehirns ist, durch welches viele schdliche Feuchtigkeiten, zur
Erleichterung des kranken Poeten, abgezogen werden, warum sollte eine elende
grblerische Schrift nicht auch dergleichen sein? In diesem Fall aber wre es
ratsam, der Natur einen anderen Weg der Reinigung anzuweisen, damit das
bel grndlich und in aller Stille abgefhrt werde, ohne das gemeine Wesen
dadurch zu beunruhigen.248
Der Versuch ber die Krankheiten des Kopfes enthllt in seinem letzten
Satz, dass er in erster Linie ein Versuch ist, den Kopf seines Verfassers
von den Krankheiten seines Kopfes zu reinigen. Es handelt sich nicht
zuletzt um einen Versuch ber die Krankheiten des Kantschen Kopfes,
ein Versuch ber den Wahnsinn ihres Autors.
Insofern Kant es unternimmt, seinen Wahn durch das Schreiben eines
Versuchs ber die Krankheiten des Kopfes zu purgieren, zu reinigen und
zu heilen, mndet seine Theorie in eine Interpretation der antiken Sfte-
lehre. So schreibt Kant:
247 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Schwab: Wit, Satire, and Low Hu-
mor in Early Kant (wie Anm. 10), S. 140f.
248 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 901 (Versuch ber
die Krankheiten des Kopfes, A 30).
120
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Ich habe die Gebrechen der Erkenntniskraft Krankheiten des Kopfes genannt,
so wie man das Verderben des Willens eine Krankheit des Herzens nennet. Ich
habe auch nur auf die Erscheinungen derselben im Gemte acht gehabt, ohne
die Wurzel derselben aussphen zu wollen, die eigentlich wohl im Krper liegt
und zwar ihren Hauptsitz mehr in den Verdauungsteilen, als im Gehirne haben
mag, wie die beliebte Wochenschrift, die unter dem Namen des Arztes
allgemein bekannt ist, es im 150. 151. 152ten Stcke wahrscheinlich dartut.249
249 Ebd., S. 900 (Versuch ber die Krankheiten des Kopfes, A 30).
250 Vgl. Fldnyi: Melancholie (wie Anm. 90), S. 61; Schings: Melancholie
und Aufklrung (wie Anm. 10), S. 70f.
251 Johann August Unzer: Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift. Neu-
este von dem Verfasser verbesserte und viel vermehrte Ausgabe. Sechster
Theil [1761]. Hamburg, Lneburg, Leipzig: Gotthilf Christian Berth
1769, S. 583 (150. Stck). Zum medizinhistorischen Kontext und zur
Wirkung des Arztes vgl. Stefan Bilger: ble Verdauung und Unarten des
Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727-1799). Wrz-
burg: Knigshausen & Neumann 1990, bes. S. 47ff.
252 Aristoteles: Poetik (wie Anm. 56), S. 19.
121
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die zwei Jahre nach dem Erscheinen des Versuchs ber die Krankheiten
des Kopfes nchste grere Schrift Kants, die 1766 publizierten Trume
eines Geistersehers, erlutert durch Trume der Metaphysik lassen sich
als eine konsequente Weiterentwicklung der im Versuch angelegten The-
men verstehen.
Wie bereits der Versuch, sind auch die Trume eines Geistersehers
ein hybrider Text, dessen Gattung sich nur schwer benennen lsst. Nahe-
liegend wre es, von einer Polemik zu sprechen, denn weite Teile des
Textes widmen sich einer scharfen Auseinandersetzung mit Kants Zeit-
genossen Emanuel Swedenborg, dem Geisterseher. Was aber ist ein
Geisterseher? Es lebt zu Stockholm ein gewisser Herr Schwedenborg,
schreibt Kant,
ohne Amt oder Bedienung [...]. Seine ganze Beschftigung besteht darin, da
er, wie er selbst sagt, schon seit mehr als zwanzig Jahren mit Geistern und ab-
geschiedenen Seelen im genauesten Umgange stehet, von ihnen Nachrichten
aus der andern Welt einholet und ihnen dagegen welche aus der gegenwrtigen
122
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
erteilet, groe Bnde ber seine Entdeckungen abfat und bisweilen nach Lon-
don reiset, um die Ausgabe derselben zu besorgen.253
Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fgen und
Gliedmaen, von berallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden,
so da als Fisch von hlicher Schwrze endet das oben so reizende Weib:
253 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 966 (Trume eines
Geistersehers, A 84).
254 Ebd., S. 967 (Trume eines Geistersehers, A 86).
255 Ebd., S. 958 (Trume eines Geistersehers, A 69).
256 Ebd., S. 967 (Trume eines Geistersehers, A 86).
257 Ebd., S. 968 (Trume eines Geistersehers, A 89).
258 Vgl. ebd., S. 923 (Trume eines Geistersehers, A 4).
259 Ebd., S. 921.
123
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
knntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zulie, euch das Lachen
verbeien, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemlde wre ein Buch
ganz hnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Trume von Kranken, erdich-
tet [velut aegri somnia, vanae fingentur species], so da nicht Fu und nicht
Kopf derselben Gestalt zugehren.260
Horaz trgt keineswegs ein Pldoyer gegen die Freiheit der Dichter vor,
darzustellen, was sie nur wollen [quidlibet audendi].261 Vielmehr geht
es in der Ars Poetica um eine Begrenzung der Einbildungskraft auf die
Darstellung des Mglichen und Wahrscheinlichen.
Der Verweis auf Horaz ist in den Trumen eines Geistersehers nicht
ohne Bedeutung: Indem Kant seiner Schrift ein Zitat des lateinischen Au-
tors voranstellt, verdeutlicht er, dass es ihm nicht darum geht, die Litera-
tur oder die Einbildungskraft als solche zu verdammen und statt ihrer ein
reines Denken, eine reine Philosophie (der ratio) zu installieren. Le-
diglich die bersteigerte, unkontrollierte und chimrische Ausbung
der Einbildung soll kritisiert werden im vollen Wortsinn der Kritik: un-
terschieden werden von einem gerechtfertigten Gebrauch. Swedenborg
ist dabei das Paradigma des Phantastischen: ist dieser, schreibt Kant,
wenn man ihm selbst glauben darf, der Erzgeisterseher unter allen Gei-
stersehern [...], so ist er auch sicherlich der Erzphantast unter allen
Phantasten, man mag ihn nun aus der Beschreibung derer, welche ihn
kennen, oder aus seinen Schriften beurteilen.262 Wenn Swedenborg ein
Phantast ist, dann lsst sich sein gesamtes Denken und Schreiben, sei-
ne gesamte Geisterseherei, als Verrckung verstehen.
Die Erzhlungen Swedenborgs sind demnach Phantastereien, Pro-
dukte einer verrckten, ma- und regellosen Einbildungskraft. Die von
Horaz entlehnte und noch den Titel der Abhandlung ber Swedenborg
bestimmende Metapher fr diese Produkte ist die des Traums: Sweden-
borgs Erzhlungen, so Kant, sind Trumereien. Als solche sind sie
aber nicht einfach unwahr. Sie sind so tuschend, dass sie dem Tru-
menden als vollstndig real erscheinen. Wenn das Subjekt nach Kant kei-
nen unmittelbaren und unvermittelten Zugriff auf die Realitt hat, wenn
sich seine Beziehung zu den ueren Dingen und zu sich selbst vielmehr
ausschlielich im Medium der Vorstellung gestaltet und d.h., als eine
Synthese von Sinnlichkeit und Verstand durch die Einbildungskraft nach
Magabe der durch die Einbildungskraft hervorgebrachten reinen For-
124
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
men der Anschauung Raum und Zeit , dann beinhaltet seine Realitt im-
mer schon eingebildete, getrumte oder gar phantastische Elemente.
Es gibt fr den Menschen keine Mglichkeit, a priori zu wissen, ob er
trumt oder wacht, ob er reale Dinge sieht oder Trumereien.
Folglich heit es in den Prolegomena zu einer jeden knftigen Meta-
physik in aller Deutlichkeit:
Der Unterschied aber zwischen Wahrheit und Traum wird nicht durch die Be-
schaffenheit der Vorstellungen, die auf Gegenstnde bezogen werden, ausge-
macht, denn die sind in beiden einerlei, sondern durch die Verknpfung dersel-
ben nach denen Regeln, welche den Zusammenhang der Vorstellungen in dem
Begriffe eines Objekts bestimmen, und wie fern sie in einer Erfahrung beisam-
men stehen knnen oder nicht.263
125
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Aristoteles sagt irgendwo: Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaft-
liche Welt, trumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne. Mich dnkt, man
sollte wohl den letzteren Satz umkehren und sagen knnen: wenn von verschie-
denen Menschen ein jeglicher seine eigene Welt hat, so ist zu vermuten, da sie
trumen.264
Wie der Schwrmer verstt der Trumer gegen alle Regeln des
Kantschen sensus communis: Er verlsst den Raum nachprfbarer Erfah-
rung und spricht ausschlielich subjektiv. In diesem Sinne spricht Kant
von den Privaterscheinungen265 Swedenborgs. Die Attribute, mit de-
nen Kant die Erzhlungen Swedenborgs belegt, lassen immer wieder das
gleiche Urteil anklingen: Trumerei, Phantasterei, Unsinn, Wahnsinn.
Mit dieser Diagnose knnte das Thema Swedenborg eigentlich bereits er-
ledigt sein. Seine gesammelten Werke acht Quartbnde voll Un-
sinn266 scheinen sich von vornherein eher als Objekt einer medizini-
schen denn als das einer philosophischen Untersuchung anzubieten. Da-
her, schreibt Kant, verdenke ich es dem Leser keineswegs, wenn er,
anstatt die Geisterseher vor Halbbrger der andern Welt anzusehen, sie
kurz und gut als Kandidaten des Hospitals abfertigt, und sich dadurch
allen weiteren Nachforschens berhebt.267
Doch so einfach macht Kant es sich offensichtlich nicht. Warum aber
hat sich Kant so ausfhrlich mit den Verrckungen des schwedischen
Autors auseinandergesetzt? Die Antwort, die Kant gibt, lautet: weil Swe-
denborgs wahnsinnige Visionen seiner eigenen Theorie von Gei-
stern268 auf eine fr Kant unangenehme Art und Weise nahekommt. In
den Schriften Swedenborgs, so Kant, findet sich
264 Ebd., S. 952 (Trume eines Geistersehers, A 58). Das Zitat stammt nicht
von Aristoteles, sondern von Heraklit (Fragment B 89).
265 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 981 (Trume eines
Geistersehers, A 113).
266 Ebd., S. 973 (Trume eines Geistersehers, A 98).
267 Ebd., S. 959 (Trume eines Geistersehers, A 72).
268 Ebd., S. 963 (Trume eines Geistersehers, A 79).
126
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
lie, oder, in Bildungen von Tropfstein, Mnche, Taufstein und Orgeln [...]; lau-
ter Dinge, die niemand sonsten sieht, als dessen Kopf schon vorher damit an-
gefllet ist.269
127
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Wenn wir uere Dinge auf unsere Bedrfnis [sic] beziehen, so knnen wir
dieses nicht tun, ohne uns zugleich durch eine gewisse Empfindung gebunden
und eingeschrnkt zu fhlen, die uns merken lt, da in uns gleichsam ein
fremder Wille wirksam sei, uns unser eigen Belieben die Bedingung von ue-
rer Beistimmung ntig habe. Eine geheime Macht ntiget uns, unsere Absicht
zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkr zu richten, ob dieses
gleich fters ungern geschieht, und der eigenntzigen Neigung stark widerstrei-
tet, und der Punkt, wohin die Richtungslinien unserer Triebe zusammenlaufen,
ist also nicht blo in uns, sondern es sind noch Krfte, die uns bewegen, in dem
Wollen anderer auer uns. Daher entspringen die sittlichen Antriebe, die uns oft
wider den Dank des Eigennutzes fortreien [...].276
Kant gibt hier eine dramatisierte Variante seiner Theorie des Alterisie-
rung. Es ist fr Kant nicht nur nicht ungewhnlich, sondern unvermeid-
128
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
lich, dass jedes menschliche Wesen (wir) in sich die Wirksamkeit ei-
nes gleichsam [...] fremden Willens versprt. Wie fremd ist allerdings
ein gleichsam fremder Wille? Mit dieser zugleich offenen und vagen
Formulierung scheint sich Kant in dieser Passage nicht entscheiden zu
knnen, ob er ber die Macht der Vernunft (und also ber das Modell des
Enthusiasmus) oder ber die sinnliche Affektion durch Sympathie (und
also das Modell der Schwrmerei) spricht. Es ist jedoch Kants philoso-
phischer Strenge zuzurechnen, dass er die problematische Differenzie-
rung zwischen Enthusiasmus und Schwrmerei hier zurcknimmt und
beide in einer allgemeinen Theorie der Geister behandelt. Der Enthu-
siasmus erscheint hier wortwrtlich als Begeisterung, als der Eingriff ei-
nes Geistes, von dem nicht einmal Formen und Konturen bekannt sind
und der folglich nur als geheime Macht bezeichnet werden kann.
Moralphilosophie ist alsdann nichts weiter als eine Fortsetzung der
Gothic Novel mit anderen Mitteln (und umgekehrt).277 Shaftesbury und
Horace Walpole finden sich damit in einer berraschenden Nhe wieder,
die vor Kant niemand wahrgenommen zu haben scheint. An diesem
Punkt wird die beunruhigende hnlichkeit, die Kant zwischen seinen
eigenen berlegungen und den Phantastereien Swedenborgs wahrge-
nommen hat, erkennbar: Sowohl Kant als auch Swedenborg gehen von
der Existenz einer unsichtbaren, immateriellen und moralischen
Welt neben der sichtbaren und materiellen Welt aus, und beide sehen den
Menschen prinzipiell als eine Person an, die in beiden Welten zugleich
lebt. Dadurch sehen wir uns, folgert Kant, in den geheimsten Beweg-
grnden abhngig von der Regel des allgemeinen Willens, und es ent-
springt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Ein-
heit und systematische Verfassung nach blo geistigen Gesetzen.278
Seiner allgemeinen Geringschtzung der Philosophie des moral sense
gem betont Kant ausdrcklich, dass seine Theorie des Geistes nicht
mit dieser zu verwechseln sei. So urteilt er: Will man diese in uns emp-
fundene Ntigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allge-
meinen Willen das sittliche Gefhl nennen, so redet man davon nur als
von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ur-
sachen derselben auszumachen.279 Wer aber nur von einer Erschei-
277 Zur Beziehung zwischen Kants Theorie des Geistes und Kleists Das
Bettelweib von Locarno vgl. etwa Thomas Dutoit: Ghost Stories, the Sub-
lime and Fantastic Thirds in Kant and Kleist. In: Colloquia Germanica 27
(1994), S. 225-254.
278 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 943 (Trume eines
Geistersehers, A 42).
279 Ebd., S. 943f. (Trume eines Geistersehers, A 42f.).
129
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
nung redet, ohne die Ursachen zu kennen, der trumt und dichtet, der
schreibt Literatur und keine Philosophie.
Die entscheidende Frage ist fr Kant nun, ob der wissenschaftliche
Standard, den der von ihm bewunderte Newton in die Physik einfhrte,
in der Metaphysik jemals erreicht werden kann:
So nannte Newton das sichere Gesetz der Bestrebungen aller Materie, sich ein-
ander zu nhern, die Gravitation derselben [...]. Gleichwohl trug er keine Be-
denken, diese Gravitation als eine wahre Wirkung einer allgemeinen Ttigkeit
der Materie ineinander zu behandeln, und gab ihr daher den Namen der Anzie-
hung. Sollte es nicht mglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe in
den denkenden Naturen [...] gleichfalls als die Folge einer wahrhaft ttigen
Kraft [...] vorzustellen [...]?280
130
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
ralischen und physischen Verhltnisse hier auf der Erde so befremdlich in die
Augen fallen.282
Die Differenz zwischen der geistigen und der physischen Existenz ist
mithin so sehr sie an platonische Dualismen von Leib und Seele erin-
nern mag eine frhe Version der fr Kants gesamtes Werk entscheiden-
den Erkenntnis ber die Endlichkeit. In der Kritik der reinen Vernunft
wird Kant die Endlichkeit als die Unfhigkeit des menschlichen Verstan-
des zur unmittelbaren Anschauung seiner Objekte beschreiben. Der Ver-
stand ist darauf angewiesen, die von der Sinnlichkeit gegebenen Daten zu
synthetisieren und zu analysieren, um erkennen zu knnen.284
282 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 944 (Trume eines
Geistersehers, A 44).
283 Ebd., Bd. 4, S. 270 (KdU, B LIII, A LI).
284 Vgl. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (wie Anm. 102),
S. 30.
131
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollstndige Wirkung in dem
leiblichen Leben der Menschen haben, wohl aber in der Geisterwelt nach pneu-
matischen Gesetzen. Die wahre Absichten, die geheime Beweggrnde vieler
aus Ohnmacht fruchtlosen Bestrebungen, der Sieg ber sich selbst, oder auch
bisweilen die verborgene Tcke bei scheinbarlich guten Handlungen, sind meh-
renteils vor den physischen Erfolg in dem krperlichen Zustande verloren, sie
wrden aber auf solche Weise in der immateriellen Welt als fruchtbare Grnde
angesehen werden mssen [...].285
285 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 944f. (Trume ei-
nes Geistersehers, A 44f.).
286 Ebd., S. 947 (Trume eines Geistersehers, A 49f.).
132
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
darf indessen nicht als eine so groe Hindernis angesehen werden, da sie alle
Mglichkeit aufhebe, sich bisweilen der Einflsse von Seiten der Geisterwelt so
gar in diesem Leben bewut zu werden. Denn sie knnen in das persnliche
Bewutsein des Menschen zwar nicht unmittelbar, aber doch so bergehen, da
sie nach dem Gesetz der vergesellschafteten Begriffe diejenige Bilder rege ma-
chen, die mit ihnen verwandt sein, und analogische Vorstellungen unserer Sin-
ne erwecken, die wohl nicht der geistige Begriff selber, aber doch deren Sym-
bolen sind.287
Die unsichtbare Welt der Geister wirkt nur mittelbar auf die sichtbare
Welt der Menschen. Als Instanz dieser Vermittlung wirken die verge-
sellschafteten Begriffe, die im Bewusstsein der leiblichen Menschen
Bilder rege machen, die mit denen der geistigen verwandt sind und
analogische Vorstellungen unserer Sinne erwecken. Statt der unzu-
gnglichen geistigen Begriffe selber kann der leibliche Mensch allein
deren Symbole haben, ihre Bezeichnungen, die immerhin eine analogi-
sche und also aufgrund von hnlichkeiten konstruierte Vorstellung er-
wecken. Folglich ist es die Sprache, welche die Geisterwelt mit der
leiblichen Welt verbindet. Diese untersteht Kant zufolge dem Gesetz
der vergesellschafteten Begriffe: Ihre Zeichen sind zwar sinnlicher und
also leiblicher Natur, aber sie erwecken Vorstellungen, die analog sind
zu den geistigen Begriffen, auf die sie verweisen. Abgeschiedene See-
len und reine Geister, folgert Kant,
knnen zwar niemals unsern ueren Sinnen gegenwrtig sein, noch sonst mit
der Materie in Gemeinschaft stehen, aber wohl auf den Geist des Menschen,
der mit ihnen in einer groen Republik gehrt, wirken, sich nach dem Gesetze
seiner Phantasei in verwandte Bilder einkleiden, und die Apparenz der ihnen
gemen Gegenstnde als auer ihm erregen.288
133
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Als das Gesetz der Phantasei kann unschwer das Gesetz der Asso-
ziation erkannt werden. Vergesellschaftete Begriffe sind assoziierte
Begriffe; Begriffe, die durch das Vermgen der Assoziation entstanden
sind.289 Die assoziierten Symbole vergesellschaften die leibliche und die
geistige Natur des Menschen miteinander und erlauben eine begeistern-
de, enthusiasmierende Einwirkung der Vernunft auf leibliche Menschen.
Nur als Symbol, als Zeichen, knnen geistige Vorstellungen auf leibliche
Wesen, es die Menschen sind, einwirken und sie fr diese empfnglich
machen. Nur die sprachlichen Zeichen erlauben es den geistigen We-
sen, sich ber den Umweg ihrer leiblichen Existenz gegenseitig zu affi-
zieren.
Insofern die menschlichen Doppelnaturen zwischen Physis und Mo-
ral nur durch sprachliche Zeichen eine Erinnerung an ihre geistige Natur
haben knnen, sind diese nicht nur vergesellschaftete Begriffe, sondern
zugleich vergesellschaftende Begriffe: Sie stellen die Mglichkeit einer
Vergesellschaftung zwischen mehreren Individuen her. Das Vermgen
der Assoziation, welches Kant hier als Vergesellschaftung eindeutscht,
assoziiert nicht nur Zeichen miteinander, sondern schafft kraft dieses Ak-
tes die Mglichkeit, dass verschiedene Wesen sich gegenseitig auf einer
geistigen Ebene begegnen, auch wenn sie nur auf leiblicher Ebene in
Kontakt treten knnen. Wenn aber smtliche Einflsse von Seiten der
Geisterwelt nur durch Symbole evoziert werden knnen, dann kann
auch die Beziehung zwischen geistiger und leiblicher Existenz innerhalb
eines Menschen nur durch eine Evokation analogischer Vorstellungen
geschehen. Die Frage, ob das Ich seine eigenen sprachlichen uerungen
beherrschen kann, ist somit nicht nur fr die Thematik der gesell-
schaftlichen Interaktion von Relevanz. Insofern Kant in den Trumen
eines Geistersehers die moralische Einwirkung des geistigen auf das
krperliche Ich als Resultat einer sprachlichen Handlung versteht,290 steht
hier ebenso der gesamte Raum der praktischen Vernunft zur Diskussion.
289 Ernst Mller sieht die vergesellschafteten Begriffe dagegen in der Tra-
dition der notiones communes, der angeborenen Begriffe der Scholas-
tik (vgl. Ernst Mller: sthetische Religiositt und Kunstreligion. In den
Philosophien von der Aufklrung bis zum Ausgang des deutschen Idea-
lismus. Berlin: Akademie 2004, S. 131). Die vergesellschafteten Be-
griffe sind demgegenber aber gerade nicht gemeinsam (commun),
denn in der Kluft zwischen moralischer und physischer Welt sieht
Kant den Ursprung fr alle Formen von Missverstndnissen und Tu-
schungen aller Art.
290 Wenngleich Kant in seinen spteren Texten von dem platonischen Dua-
lismus von Moral und Physis abrckt, beharrt er, wie auch immer im-
plizit, darauf, die Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft als eine
134
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Die Mglichkeit hievon knnen wir einiger maen dadurch falich machen,
wenn wir betrachten, wie unsere hhere Vernunftbegriffe, welche sich den gei-
stigen ziemlich nhern, gewhnlicher maen gleichsam ein krperliches Kleid
annehmen, um sich in Klarheit zu setzen. Daher die moralische Eigenschaften
der Gottheit unter den Vorstellungen des Zorns, der Eifersucht, der Barmher-
zigkeit, der Rache u.d.g. vorgestellt werden; daher personifizieren Dichter die
Tugenden, Laster oder andere Eigenschaften der Natur, doch so, da die wahre
Idee des Verstandes hindurchscheint [...].291
135
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Symbol nach dem Paradigma der Metapher begreift. Diese wird, im Zu-
sammenhang mit der Frage ihrer Angemessenheit, bereits in Aristoteles
Rhetorik mit der Metapher des Kleides beschrieben.292 Kants Aussage,
die Einflsse aus der Geisterwelt wrden nach dem Gesetz der verge-
sellschafteten Begriffe [...] analogische Vorstellungen im Bewusstsein
der krperlichen Menschen erwecken, verweist darauf, dass Kant die
Verwandlung des geistigen Inhalts in eine krperliche Form als einen
metaphorisierenden Prozess denkt.
Die nach der Analogie gebildete Metapher gilt in der aristoteli-
schen Rhetorik und in der folgenden rhetorischen Tradition als die gelun-
genste Form der Metapher.293 Ausdrcklich weist Kant darauf hin, dass
die bildliche Darstellung moralischer Eigenschaften in der Verkleidung
als menschliche Gefhle wesentlich die Praxis des Dichters ausmacht.
Das verbildlichende Potential der Metapher bringt fr Kant die Mglich-
keit hervor, Geister mit Geistern sprechen zu lassen.
Zwar wird das metaphorische Sprechen hier einen platonischen to-
pos anzitierend explizit nur dem Dichter zugesprochen, derjenigen
Person also, die seiner Einbildungskraft freien Lauf lassen kann, ohne in
bereinstimmung mit der Wahrheit sprechen zu mssen. Ausdrcklich
wird das bildliche Sprechen, das Einkleiden des Gedankens in ein
Bild, auch in der spteren Logik (1800) nur den ersten Philosophen
zugeordnet und damit zu einer archaischen, naiven Praxis erklrt, die
das Denken lngst berwunden hat:
brigens kleideten die ersten Philosophen alles in Bilder ein. Denn Poesie, die
nichts anderes ist, als eine Einkleidung der Gedanken in Bilder, ist lter als die
Prose. Man mute sich daher anfangs selbst bei Dingen, die lediglich Objekte
der reinen Vernunft sind, der Bildersprache und poetischen Schreibart bedie-
nen.294
Indem die Metapher aber das Paradigma des Zeichens und somit der
Sprache berhaupt darstellt, ist nicht nur das Verhltnis zwischen dem
292 Vgl. Aristoteles: Rhetorik. bers. von Franz G. Sieveke. 5. Aufl. Mn-
chen: Fink 1995 (UTB. 159), S. 171 (1405a): Man mu aber sowohl die
Epitheta als auch die Metaphern so auswhlen, da sie zueinander pas-
sen. [...] Man mu aber darauf achten, da wenn dem Jngling ein Pur-
purkleid pat, was sich dann in gleicher Weise fr den Greis schickt;
denn nicht das gleiche Kleid pat ihm. Vgl. zur Metapher des Kleids fr
Sprache: Wolfram Groddeck: Reden ber Rhetorik. Zu einer Stilistik des
Lesens. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 1995 (Nexus. 7), S. 14f.
293 Vgl. ebd., S. 191 (1411a).
294 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 451 (Logik, A 31).
136
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
geistigen und dem leiblichen Leben, sondern auch noch jedes philoso-
phische Wissen ber dieses Verhltnis auf analogische Vorstellungen
und also auf metaphorische Sprache angewiesen. Dies zeigt sich insbe-
sondere daran, dass die oben zitierte Passage nicht nur die Wirkung
analogischer Vorstellungen beschreibt, sondern diese auch selbst ver-
wendet. Indem Kant die Wirkung der geistigen Begriffe durch diejeni-
ge der ihnen nahen Vernunftbegriffe erklrt, beschreibt er die Wirkung
der Analogie durch eine Analogie, die Wirkung der Metapher durch eine
Metapher. Nicht ohne Zufall erweisen sich bei nherer Betrachtung smt-
liche Schlsselbegriffe der zitierten Passage Kleid, Klarheit, hin-
durchscheinen als kaum vermeidbare Metaphern der philosophischen
Sprache.
Die philosophische Zuverlssigkeit der Aussage, es gbe analogische
Vorstellungen zwischen der Sphre des Geistes und der des Krpers,
basiert demnach auf nichts anderem als einer Analogie derjenigen zwi-
schen Vernunftbegriffen und geistigen Begriffen. Wenn man aber,
wie Kant ausdrcklich schreibt, von einem Widerspruch zwischen der
geistigen und der krperlichen Sphre ausgehen muss, dann kann die
epistemologische Sicherheit der metaphorischen Analogien nicht allzu
hoch eingeschtzt werden. Der Widerspruch zwischen der moralischen
und der physischen Welt trennt alle hheren Vernunftbegriffe unwi-
derruflich von der unsinnlichen Welt der Vernunft ab. Wenn Kant be-
hauptet, sie wrden sich den geistigen Begriffen ziemlich nhern,
beweist die Metaphorik noch dieser Aussage das Gegenteil dessen, was
Kant sagt. Die Vernunftbegriffe sind, ebenso wie die ganze philoso-
phische Sprache Kants, keine Begriffe des Geistes, sondern solche des
krperlichen Menschen.
Die pure Mglichkeit von Metaphorik, von Ironie, Verstellung, kurz:
von Rhetorik in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit, verunklart die Transpa-
renz der Sprache und damit die Beziehung zwischen Geist und Kr-
per. Unter der Bedingung eines Widerspruchs zwischen der geistigen
und der krperlichen Welt kann kein sprechendes leibliches Wesen si-
cher sein, ob es einen Geist zum Ausdruck bringt, ob es etwas anderes
als das vermeintlich Intendierte sagt oder ob es nur sinnlose Silben stam-
melt. Die auf den ersten Blick unproblematischen analogischen ber-
tragungen Kants erweisen sich so als ungewisse Sprnge ber einen un-
berschaubar breiten Graben. Der Widerspruch zwischen beiden Welten
ermglicht es, dass, wie Kant schreibt, sowohl wahre Absichten, ge-
heime Beweggrnde als auch verborgene Tcke295 verschleiert, un-
sichtbar gemacht, ver- und entstellt und noch fr das eigene Ich uner-
137
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
138
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
ist: empirische Vorstellungen, die nach einander so oft folgten, bewirken eine
Angewohnheit im Gemt, wenn die eine erzeugt wird, die andere auch ent-
stehen zu lassen. [...] Diese Nachbarschaft geht fters sehr weit, und die Einbil-
dungskraft geht vom Hundertsten aufs Tausendste oft so schnell, da es scheint,
man habe gewisse Zwischenglieder in der Kette der Vorstellungen gar ber-
sprungen, obgleich man sich ihrer nur nicht bewut geworden ist, so da man
sich selbst fters fragen mu: wo war ich? von wo war ich in meinem Gesprch
ausgegangen, und wie bin ich zu diesem Endpunkte gelangt?298
298 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 477f. (Anthro-
pologie 28, B 82f., A 81f.).
299 Vgl. Hegel: Werke (wie Anm. 86), Bd. 10, S. 262f. (Enzyklopdie der
philosophischen Wissenschaften 455): Die sogenannten Gesetze der
Ideenassoziation haben besonders in der mit dem Verfall der Philosophie
gleichzeitigen Blte der empirischen Psychologie ein groes Interesse ge-
habt. Frs erste sind es keine Ideen, welche assoziiert werden. Frs ande-
re sind diese Beziehungsweisen keine Gesetze, eben darum schon, weil
so viele Gesetze ber dieselbe Sache sind, wodurch Willkr und Zufllig-
keit, das Gegenteil eines Gesetzes, vielmehr statthat; es ist zufllig, ob
das Verknpfende ein Bildliches oder eine Verstandeskategorie, Gleich-
heit und Ungleichheit, Grund und Folge usf. ist.
139
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
140
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Wenn wir uere Dinge auf unsere Bedrfnis beziehen, so knnen wir dieses
nicht tun, ohne uns zugleich durch eine gewisse Empfindung gebunden und
eingeschrnkt zu fhlen, die uns merken lt, da in uns gleichsam ein fremder
Wille wirksam sei, uns unser eigen Belieben die Bedingung von uerer Bei-
stimmung ntig habe. Eine geheime Macht ntiget uns, unsere Absicht zugleich
auf anderer Wohl oder nach fremder Willkr zu richten [...].302
141
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
142
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Ich wei wohl: da das Denken und Wollen meinen Krper bewege, aber ich
kann diese Erscheinung als eine einfache Erfahrung, niemals durch Zergliede-
rung auf eine andere bringen und sie daher wohl erkennen, aber nicht einsehen.
Da mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verstndlicher, als wenn je-
mand sagte, da derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurckhalten
knnte; der Unterschied ist nur dieser: da ich jenes erfahre, dieses aber nie-
mals in meine Sinne gekommen ist. [...] Alle solche Urteile, wie diejenige von
der Art, wie meine Seele meinen Krper bewegt, oder mit andern Wesen ihrer
Art jetzt oder knftig in Verhltnis steht, knnen niemals etwas mehr als Er-
dichtungen sein, und zwar bei weitem nicht einmal von demjenigen Werte, als
die in der Naturwissenschaft, welche man Hypothesen nennt [...].310
143
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ob nicht der poetische Geist, der den Ausdruck belebt, auch zuweilen in die
Philosophie des Vf. eingedrungen; ob nicht hier und da Synonymen fr Erkl-
rungen und Allegorien fr Wahrheiten gelten; ob nicht, statt nachbarlicher
bergnge aus dem Gebiete der philosophischen in den Bezirk der poetischen
Sprache, zuweilen die Grenzen und Besitzungen von beiden vllig verrckt
sein; und ob an manchen Orten das Gewebe von khnen Metaphern, poetischen
Bildern, mythologischen Anspielungen nicht eher dazu diene, den Krper der
Gedanken wie unter einer Vertgade zu verstecken, als ihn wie unter einem
durchscheinenden Gewande angenehm hervorschimmern zu lassen.312
Wiederum ist hier das Stilideal des philosophischen Denkens und Schrei-
bens das Durchscheinen der Wahrheit aus ihrem sprachlichen Ge-
wand. Aber auch in dieser Passage ist Kants Kritik der Rhetorik durch
und durch rhetorisch, ist seine Ablehnung der metaphorischen Sprache in
einer vollkommen metaphorischen Sprache (durchscheinen, hervor-
schimmern) vorgetragen. Kant war es, der zuerst erkannt hat, dass die
Grenzen und Besitzungen zwischen der philosophischen und der
poetischen Sprache vllig verrckt sind. Es mag wie ein sprachli-
311 Vgl. Manfred Khn: Kant. Eine Biographie. bers. von Martin Pfeiffer.
Mnchen: Beck 2003, S. 159.
312 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 799f. (Rez. zu Jo-
hann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit, A 154).
144
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
cher Lapsus erscheinen, dass Kant davon spricht, die Grenzen zwischen
Poesie und Philosophie seien verrckt worden, aber wenn man sich an
seine Ausfhrungen aus dem Versuch ber die Krankheiten des Kopfes
und in den Trumen eines Geistersehers erinnert, wird man die aueror-
dentliche Przision dieser Formulierung anerkennen mssen. Verrckt zu
sein bedeutet fr Kant genau der Zustand, in dem das Ich nicht mehr
sicher sein kann, ber seine eigene Sprache zu verfgen (und also philo-
sophisch sprechend, den Sinn seines Sprechens zu kontrollieren). Jeder-
zeit muss es vielmehr damit rechnen, dass seine Vorstellungen nichts an-
deres sind als irregulre Produkte einer wilden und unkontrollierbaren
(und deshalb poetischen) Einbildungskraft. Die Trume eines Geister-
sehers beschreiben diesen Zustand als die Verfassung des Ich berhaupt.
Damit stellt sich die Frage, wie Kant noch eine Abgrenzung gegen-
ber den Schwrmereien, dem Unsinn und Wahnsinn Sweden-
borgs vollziehen kann. Wie kann er Swedenborg vorwerfen, lediglich
Privaterscheinungen zu beschreiben, wenn jede metaphysische Unter-
suchung nur eine Erdichtung sein kann?
Die Kritik Kants an Swedenborg zielt bei genauem Hinsehen nicht
einfach auf den literarischen Charakter seiner Erzhlungen. Vielmehr
zielt Kants Argument darauf, dass Swedenborg zwar grundlegende An-
nahmen seiner eigenen Moralphilosophie teilt, aber den fr Kant ent-
scheidenden Widerspruch zwischen der unsichtbaren und der sichtba-
ren Welt zwischen Moral und Physis, zwischen Freiheit und Natur
zumindest fr seine eigene Person negiert. So schreibt Kant:
Alle Menschen stehen seiner Aussage nach in gleich inniger Verbindung mit
der Geisterwelt; nur sie empfinden es nicht, und der Unterschied zwischen ihm
und den andern besteht nur darin, da sein Innerstes aufgetan ist, von welchem
Geschenk er jederzeit mit Ehrerbietigkeit redet [...]. Er unterscheidet daher an
dem Menschen das uere und innere Gedchtnis. Jenes hat er als eine Person,
die zu der sichtbaren Welt gehrt, dieses aber kraft seines Zusammenhanges
mit der Geisterwelt. Darauf grndet sich auch der Unterschied des ueren und
inneren Menschen, und sein eigener Vorzug besteht darin, da er schon in die-
sem Leben als eine Person sich in der Gesellschaft der Geister sieht, und von
ihnen auch als eine solche erkannt wird.313
145
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Ein Geist liest in eines anderen Geistes Gedchtnis die Vorstellungen, die die-
ser darin mit Klarheit enthlt. So sehen die Geister in Schwedenbergen seine
Vorstellungen, die er von dieser Welt hat, mit so klarem Anschauen, da sie
sich dabei selbst hintergehen und sich fters einbilden, sie sehen unmittelbar
die Sachen, welches doch unmglich ist, denn kein reiner Geist hat die min-
deste Empfindung von der krperlichen Welt [...].315
146
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
Getreu dem Motto aus Horaz Ars Poetica sind die Trume eines Gei-
stersehers demnach zugleich eine bung in angewandter Literaturkritik
wie auch ein Entwurf von Kants eigenem literarischen Knnen. Kants
Kritik an Swedenborgs Geistererzhlungen verfolgt so ein doppeltes
Ziel: Zum einen geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen die
Metaphysik den Status einer Wissenschaft erwerben kann, so wie es der
Physik unter der Anleitung Newtons fr Kant gelungen ist. Zum anderen
geht es um die Frage nach der Mglichkeit der Abwehr populren Aber-
317 Roland Barthes: S/Z [1970]. bers. von Jrgen Hoch. 3. Aufl. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1998 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 687),
S. 133.
318 In diesem Sinn beschreibt Liliane Weissberg sie auch als Bildungsro-
man, den Kant ablehnen mu, weil sich die Hirngespinste der Ein-
bildung in ihm zu verfhrerisch zeigt (Liliane Weissberg: Catarcticon
und der schne Wahn. Kants Trume eines Geistersehers, erlutert durch
Trume der Metaphysik. In: Poetica. Zeitschrift fr Sprach- und Litera-
turwissenschaft 17 [1985], S. 96-116, hier: S. 103f.).
319 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 979 (Trume eines
Geistersehers, A 108).
147
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
denjenigen etwa, welcher die Ordnung der Dinge, so wie sie von Wolffen aus
wenig Bauzeug der Erfahrung aber mehr erschlichenen Begriffen gezimmert,
oder die, so von Crusius durch die magische Kraft einiger Sprche vom Denkli-
chen und Undenklichen aus nichts hervorgebracht worden, [...] so werden wir
uns bei dem Widerspruche ihrer Visionen gedulden, bis diese Herren ausgetru-
met haben.320
148
II. VELUT AEGRI SOMNIA (KANT)
mens sein. Die Wirksamkeit der Einbildungskraft als Kraft der Vermitt-
lung zwischen dem Geisterreich und dem der sichtbaren Welt zeigt
sich jederzeit in den Phnomenen des Wahnsinns, der sympathetischen
Vergemeinschaftung. Kant lehnt bestimmte Phnomene des kollektiven
Wahns als Aberglaube ab und muss dennoch ihre Wirkung anerken-
nen. So schreibt er:
Denn es ist zu allen Zeiten so gewesen und wird auch wohl knftighin so blei-
ben, da gewisse widersinnige Dinge, selbst bei Vernnftigen Eingang finden,
blo darum, weil allgemein davon gesprochen wird. Dahin gehren die Sympa-
thie, die Wnschelrute, die Ahndungen, die Wirkung der Einbildungskraft
schwangerer Frauen, die Einflsse der Mondwechsel auf Tiere und Pflanzen
u.d.g.323
So zhlt Kant die Sympathie zwar ebenso wie die vorgebliche schdli-
che Einwirkung der Einbildungskraft auf schwangere Frauen zu den wi-
dersinnigen Dingen, die ein Vernnftiger kaum glauben sollte. Im
gleichen Absatz zeigt sich jedoch, dass seine eigene Theorie der Einwir-
kung der Sprache auf Menschen grundlegend auf das Modell der sym-
pathetischen Einbildungskraft aufgebaut ist. Indem Kant den aufge-
zhlten Phnomenen ihren unmittelbar bernatrlichen Charakter
abspricht, erklrt er sie zu Produkten einer ausschweifenden und wil-
den Einbildungskraft was sie keinesfalls harmloser und weniger be-
drohlich macht.
In den Trumen eines Geistersehers zeigt sich demnach die gleiche
Paradoxie wie im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes. Die Bedin-
gung der Mglichkeit von Vergemeinschaftung das Vermgen der Mit-
teilung und Teilhabe: die Einbildungskraft bringt zugleich diejenigen
Pathologien hervor, die (als Trume dem Wachen) der Vergemein-
schaftung entgegenwirken: Tuschung, Verstellung, Wahnsinn. Wenn
die wie auch immer eingebildete Beeinflussung des anderen durch
das gesprochene Wort sich demnach aus der Struktur der Einbildungs-
kraft (und der Sprache) erklrt, dann ist es nur konsequent, wenn Kant
vor den wahnsinnstrchtigen Gefahren seines eigenen Textes warnt. So
bricht er seine Diskussion der Swedenborgschen Schilderungen des
Geisterreichs mit einer Bemerkung ab, die an die ironischen Gesten
des Versuchs erinnert:
Ich bin es mde, die wilden Hirngespinste des rgsten Schwrmers unter allen
zu kopieren, oder solche bis zu seinen Beschreibungen vom Zustande nach dem
Tode fortzusetzen. Ich habe auch noch andere Bedenklichkeiten. Denn ob
149
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die Trume eines Geistersehers enthalten nicht nur das Bekenntnis ihres
Autors, in den Schriften des Geistersehers eine beunruhigende hn-
lichkeit zu den eigenen berlegungen vorgefunden zu haben, sondern sie
sind zugleich basierend auf ihrer Theorie der Einbildung eine stetige
Gefhrdung, ihre Leser gleichfalls in Geisterseher zu verwandeln.
324 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 981 (Trume eines
Geistersehers, A 112).
150
III. Z W I S C H E N E N T H U S I A S M U S U N D
M E S M E R I S M U S : L I T E R A T U R , D E R A N D E R E
W A H N S I N N (E.T.A. H O F F M A N N )
Warum denke ich schlafend und
wachend so oft an den Wahnsinn?
(E.T.A. Hoffmann: Tagebcher, 06. Januar
1811)
Potenzierte Reflexion
gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeit-
alters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten
und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Fl-
geln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer
wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfa-
chen.1
151
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
2 Maurice Blanchot: Das Athenum [1969]. In: Romantik. Literatur und Phi-
losophie. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987
(edition suhrkamp. 1395), S. 107-120, hier: S. 110.
152
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Bekanntlich verzichtet Schlegel auf jede Definition der Ironie, denn ihr
Wesen wird fr ihn gerade dadurch bestimmt, durch nichts bestimmt wer-
den zu knnen. Schlegel geht ber die traditionelle Bestimmung der Iro-
nie als rhetorischer Trope A sagen und B meinen hinaus, indem er
Ironie als eine Eigenschaft von Sprache und des Verhltnisses von Spra-
che zum Sprechenden versteht. Zuallererst ist Ironie fr Schlegel nichts,
was ein Subjekt bewusst, als stilistisches Mittel, einsetzt, um sich zu
verstellen. Die Sokratische Ironie, schreibt Schlegel in den Kriti-
schen Fragmenten, ist die einzige durchaus unwillkrliche, und doch
durchaus besonnene Verstellung.3 Ironie wird so zu einem universalen
153
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Prinzip;4 sie ist nicht mehr an die Intention eines Autors gebunden, son-
dern ein Merkmal von Sprache berhaupt.
Gleichzeitig bezeichnet es eine Beziehung eines Ich zu sich selbst.
Sie ist die freieste aller Lizenzen, fhrt Schlegel im gleichen Fragment
fort, denn durch sie setzt man sich ber sich selbst weg.5 Diese Be-
hauptung lsst sich mit der traditionellen Perspektive auf die Ironie ver-
einbaren, nach welcher der Ironiker sich verstellt, eine Maske trgt der-
jenige also ist, der nicht sein wahres Ich zeigt, sondern ein erfundenes.
Schlegel denkt Ironie nicht als ein willkrliches Medium der Verstellung,
sondern eher als ein Prinzip der Beziehung zu sich selbst. Indem der Iro-
niker sich ber sich selbst hinwegsetzt, erschafft er ein zweites Ich und
verdoppelt sich dadurch. Es handelt sich jedoch dabei weder um einen
Prozess, den der Ironiker bewusst ausfhrt, noch um einen, den er wie
auch immer kontrolliert. Der Ironiker ist nur derjenige, der um die Ironie
wei, der sie als solche anerkennt.
Schlegel rumt ein, dass die Ironie ein Rtsel ist und bleiben muss:
Es ist gleich unmglich sie zu erknsteln, und sie zu verraten. Wer sie
nicht hat, dem bleibt sie auch nach dem offensten Gestndnis ein Rt-
sel.6 Ein Rtsel ist die Ironie vor allem deshalb, weil sie die Unterschei-
dung zwischen Scherz und Ernst untergrbt: In ihr soll alles Scherz und
alles Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt.7 Ironie ist
damit nicht, wie es die klassische rhetorische Theorie der Ironie an-
nimmt, einfach das Gegenteil von Ernst. Wenn in ihr alles Scherz und al-
les Ernst sein soll, fhrt sie vielmehr eine Ununterscheidbarkeit zwischen
Scherz und Ernst herbei: Jeder Ernst wird durch die Ironie scherzhaft und
jeder Scherz ernst.8
Etwas ironisch zu sagen, bedeutet demgem, in der Form eines not-
wendigen und jederzeitigen Widerspruchs der Sprache zu sich selbst zu
sprechen, die jeden Scherz auch als Ernst und jeden Ernst auch als
Scherz erscheinen lassen kann. Ironie ist die Form des Paradoxen,9
heit es im 48. Kritischen Fragment. Entsprechend umschreibt Schlegel
154
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
das Wesen der Ironie mit einer ganzen Reihe variierender Wortpaarun-
gen, die allesamt widersprchlich sind und im Fall des gleichzeitigen
Auftretens zu Paradoxien fhren mssen. In der Rede ber die Mytholo-
gie spricht Schlegel von einem wunderbaren ewigen Wechsel von En-
thusiasmus und Ironie, in einem Athenums-Fragment wiederum in Be-
griffen Fichtes von einem steten Wechsel von Selbstschpfung und
Selbstvernichtung.10 Insofern sich die Ironie nicht durch die Intention
eines Sprechenden beherrschen lsst, kann sie auch nicht auf eine dezi-
diert ironische Sprechweise begrenzt werden. Solange die Mglichkeit
von Ironie niemals ausgeschlossen werden kann, muss jede ernsthafte
Aussage damit rechnen, durch die ihr immer schon eigene Ironie gestrt
und in puren Scherz berfhrt zu werden. Statt einer Umkehrung der Po-
sitionen hebt sie die Gewissheit einer Position berhaupt auf.11
Ironie ist in Schlegels Konzept wesentlich die Bezeichnung fr eine
der Sprache eigene Macht, sich dem Willen desjenigen zu widersetzen,
der mit ihr operieren will. Sie kann, wie Schlegel in ber die Unver-
stndlichkeit schreibt, in einer ganzen Reihe von Fllen wild werden:
Wenn man ohne Ironie von der Ironie redet, wie es soeben der Fall war; wenn
man mit Ironie von der Ironie redet, ohne zu merken, da man sich zu eben der
Zeit in einer andren viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder
aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch ber die Unver-
stndlichkeit zu sein scheint; wenn die Ironie Manier wird, und so den Dichter
gleichsam ironiert; wenn man Ironie zu einem berflssigen Taschenbuche ver-
sprochen hat, ohne seinen Vorrat vorher zu berschlagen und nun wider Wille
Ironie machen mu [...]; wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr
regieren lt.12
Die Ironie ist so dasjenige an der Sprache, das sich gar nicht mehr re-
gieren lt, dasjenige, was a priori nicht der Kontrolle eines sprechen-
den Subjekts unterworfen ist. Ironische Sprache ist eine Sprache, die von
keinem Sprechenden beherrscht und reguliert wird. Die Ironie entwickelt
ein Eigenleben, sie tritt auf, wo man sie nicht vermutet und selbst dort,
155
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
wo der Dichter sie explizit nicht haben will (Wenn man ohne Ironie
von der Ironie redet). Sodann aber ist jede Sprache potentiell ironisch,
wird jeder Ernst potentiell von einem Scherz infiziert und umgekehrt je-
der Scherz von einem Ernst.
Insofern Ironie die Form des Paradoxen ist, wie Schlegel schreibt,
bezeichnet sie denjenigen Punkt, an dem die Logik jeder sprachlichen
Aussage zur vollstndigen Unlogik wird. Es fllt schwer, sich hier nicht
an Novalis Monolog (1798) zu erinnern, in welchem behauptet wird,
dass die Sprache sich blos um sich selbst bekmmert, weshalb es ein
lcherlicher Irrthum sei, da die Leute meinen sie sprchen um der
Dinge willen.13 Wenn die Sprache sich nur um sich selbst bekmmert,
liegt es allein in ihrer Macht und nicht in derjenigen eines Sprechers ,
zu bestimmen, was sie sagt und was nicht. Es ist eigentlich, schreibt
Novalis,
um das Sprechen und Schreiben eine nrrische Sache; das rechte Gesprch ist
ein bloes Wortspiel. [...] Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Ge-
heimni, da wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlich-
sten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten
sprechen, so lt ihn die launige Sprache das lcherlichste und verkehrteste
Zeug sagen.14
156
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Ironie ist in diesem Sinn das Wissen des Ich, dass es seine eigene
Sprache nicht beherrschen kann und das lcherlichste und verkehrteste
Zeug sagen muss, sobald es dies versucht. Damit ist sie ein transzenden-
talpoetisches Wissen ber die Grenzen des sprachlich Sagbaren und
Wissbaren par excellence. Demnach wre es ein Irrtum, zu behaupten,
die Ironie sei fr Schlegel ein medialer Bestandteil in der reflexiven Dia-
lektik des Ich.16 Wenn Schlegel jede Beziehung des Ich zu sich selbst
sprachlich denkt und wenn Ironie die Bezeichnung fr die Unfhigkeit
des Ich ist, ber seine eigene Sprache zu verfgen, dann ist Ironie kein
Element und kein Medium im Prozess der Reflexion, sondern vielmehr
die sprachliche Vorbedingung fr dessen notwendiges Scheitern.
Ironie ist dasjenige, was jede sichere Aussage ber sich selbst verhin-
dert, indem sie es schlagartig als das verkehrteste Zeug erscheinen lassen
kann. Sie bringt jeden Versuch, das eigene Selbst zu verstehen, notwen-
dig zum Scheitern, denn sie zeigt, dass das Ich noch nicht einmal die
Sprache verstehen kann, in der es diesen Versuch unternimmt. Unter die-
sen Bedingungen muss sich jede Beziehung des Ich zu sich selbst im-
mer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln
vervielfachen. Andererseits aber ist diese Distanzierung des Ich zu sich
selbst als ein Produkt der Ironie zu verstehen, insofern sie es dem Spre-
cher ermglicht, von seinen eigenen sprachlichen uerungen berrascht
zu werden oder sie unverstndlich zu finden und ihn so dazu bringt, sich
selbst zu einem kognitiven Objekt zu machen. Diese berraschung anti-
zipierend, verdoppelt sich der Sprechende gewissermaen, indem er Be-
obachtender und Beobachteter zugleich zu sein versucht. In einer spten
Vorlesung ber die Philosophie der Sprache und des Wortes bemerkt
157
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Schlegel, Ironie sei nichts andres, als dieses Erstaunen des denkenden
Geistes ber sich selbst.17
Indem Ironie die Beherrschbarkeit von Sprache durch etwaige Inten-
tionen des Sprechers negiert, ist sie die Eigenschaft von Sprache, die eine
Selbstreflexion des Ich ermglicht. Indem sie den Abschluss dieser Re-
flexion zugleich ins Unendliche hinausschiebt, verunmglicht sie diese
jedoch im gleichen Augenblick. Ironie ist damit nicht ein Beispiel fr
Schlegels allgemeine Theorie der Reflexion, sie ist vielmehr deren Figur
selbst, indem sie die Reflexion zugleich provoziert und verhindert.
Die Bedeutung der Reflexion fr Schlegel ist freilich nur vor dem Hinter-
grund seiner geschichtsphilosophischen Grundthesen zu verstehen, wie
sie bereits in seinem frhen Text ber das Studium der Griechischen
Poesie entfaltet werden. Der Unterschied zwischen Antike und Moderne
wird hier beschrieben als der Gegensatz zwischen natrlicher und
knstlicher Bildung.18
Schlegel bersetzt diese Differenz in die Unterscheidung zwischen
Zusammenhang und Zerstckelung: Whrend die Antike durch einen na-
trlich gegebenen Zusammenhang von Ich und Welt geprgt war, ist die
Moderne durch die Emanzipation des Verstandes geprgt, der beginnt,
die Dinge analytisch zu trennen, zu unterscheiden und zu kritisieren.
Poesie ist somit jeweils das Organ, in dem eine mentale Disposition
man ist versucht, zu sagen: ein Geist zum Erscheinen kommt. Die
Unterscheidung zwischen den leitenden Krften einer Epoche in der
Antike der natrliche Trieb, in der Moderne der Verstand begrndet die
unterschiedliche Art der historischen Entwicklung und Genese der jewei-
ligen Poesie. Indem Schlegel den Unterschied zwischen Antike und
Moderne als den zwischen Natur und Kunst beschreibt, muss er der
Antike jede Mglichkeit einer historischen Entwicklung absprechen.
Wenn das Wesen der antiken Kunst durch die Natur geprgt war, dann
158
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
ist das Modell ihrer Genese der Organismus: Wie eine Pflanze wchst
sie, entwickelt und vollendet sich, und muss schlielich verblhen. So
schreibt Schlegel:
Wenn der gesammte zusammengesetzte menschliche Trieb nicht allein das be-
wegende sondern auch lenkende Prinzip der Bildung, wenn die Bildung natr-
lich und nicht knstlich [...] ist; so entwickeln, wachsen, und vollenden sich alle
Bestandteile der strebenden Kraft, der sich bildenden Menschheit gleichmig,
bis die Fortschreitung den Augenblick erreicht hat, wo die Flle nicht mehr
steigen kann, ohne die Harmonie des Ganzen zu trennen und zu zerstren.19
Mit dem Auftreten des Verstandes schlielich ndert sich die Szenerie:
Die Ganzheit zerbricht, gleichzeitig wird eine offene Entwicklung mg-
lich. Der isolierende Verstand, schreibt Schlegel, fngt damit an, da
er das Ganze der Natur trennt und vereinzelt.20 In einer spteren Notiz
heit es bndig: Classisch = fix, s[yn]th[etisch]. Progressiv = bewegt,
anal[ytisch].21 Weil ihre Einheit nicht mehr natrlich, sondern knstlich
ist, hat allein die moderne Kunst Geschichte und Entwicklung und darf
so progressiv, fortschreitend, genannt werden.
Wenn die moderne (oder progressive) Kunst eine Einheit besitzt,
kann diese nicht mehr durch die Natur vorgegeben werden, sondern sie
muss durch den Verstand hergestellt werden. Der Verstand muss also
durch eine erneute analytische Operation, durch eine Rckwendung auf
sich selbst, die Einheit herzustellen suchen, die er selbst durch sein ana-
lytisches Wesen zerstrt hat. In diesem Sinne fordert Schlegel eine
Transzendentalpoesie, welche in jeder ihrer Darstellungen sich selbst
mit darstellen, und berall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein22
soll.
Im Fragment ber die progressive Universalpoesie heit es ent-
sprechend, die romantische Poesie knne am meisten zwischen dem
Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen
Interesse auf den Flgeln der poetischen Reflexion in der Mitte schwe-
ben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen
159
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
160
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Denn nach 1 ist Bewutseyn ein sich selbst IDEALITER setzen: EIN SEHEN, und
zwar EIN SICH sehen. In dieser Bemerkung liegt der Grund aller Irrthmer ande-
rer philosophischer Systeme, selbst des Kantischen. Sie betrachten das ICH als
einen SPIEGEL, in welchem ein Bild sich abspiegelt, nun aber sieht bey ihnen
der Spiegel nicht selbst, es wird daher ein 2ter SPIEGEL fr jenen SPIEGEL erfor-
dert u.s.f. Dadurch aber wird das Anschauen nicht erklrt, sondern nur ein AB-
SPIEGELN. Das Ich in der Wiss=Lehre hingegen ist kein Spiegel, sondern ein
Auge; es ist ein sich ABSPIEGELNDER SPIEGEL, ist Bild von sich; durch sein eige-
nes sehen wird das Auge (die INTELLIGENZ) sich selbst zum Bilde.26
161
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Welt zu und hebt in dieser Synopsis die Spaltung, welche die Reflexion
hervorrief, wieder auf. Freilich ist die Welt in dieser Synthese nur noch als
Schein da, und die innere Spaltung, die das Sich-zum-Objekt-Werden be-
deutet, kann aufgehoben werden nur in einer zweiten Reflexion. Da diese
in gleicher Weise nicht aufgeht, wird der Proze, als ein immer wieder
Potenzieren der Reflexion, fortgefhrt. Die Scheinhaftigkeit der Welt und
des eigenen Seins nimmt zu, die Reflexion wird immer leerer.
28 Schlegel: Literarische Notizen (wie Anm. 21), S. 42 (Nr. 205).
29 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik
[1919]. Hrsg. von Hermann Schweppenhuser. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1973 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 4), S. 17f. Vgl. Men-
ninghaus: Unendliche Verdopplung (wie Anm. 25), S. 36-38.
162
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
selbst niemals erreichen kann. Sie verbindet sich fr Schlegel daher kon-
sequent mit dem Begriff der Unendlichkeit. Eine Notiz Schlegels verbin-
det diese mit der wahren Ironie: Bei der wahren Ironie mu nicht
blo Streben nach Unendlichkeit, sondern Besitz von Unendlichkeit mit
mikrologischer Grndlichkeit in Phi[losophie] und P[oesie] verbunden,
da sein.30 Man muss kein grndlicher Kenner der Analytik des Erhabe-
nen in der Kritik der Urteilskraft sein, um zu bemerken, dass mikrologi-
sche Grndlichkeit sich mit dem Besitz von Unendlichkeit nur
schwerlich vertrgt. Ironie ist die Bewegung einer unendlichen Refle-
xion, und die Reflexion ber Ironie kann deshalb auf das Unendliche ver-
weisen. Ironie ist gleichsam die d[er] Unendlichkeit, d[er] Uni-
versalitt, vom Sinn frs Weltall,31 schreibt Schlegel in den Philosophi-
schen Fragmenten.
Ironie, schreibt Schlegel an anderer Stelle, ist klares Bewutsein
der ewigen Agilitt, des unendlich vollen Chaos.32 Ironie ist das Be-
wusstsein eines Chaos, welches das Selbst ist. Es ist also das Bewusst-
sein eines chaotischen Selbst und somit ebenso das Bewusstsein des
Chaos wie auch das Chaos des Bewusstseins. Wie Avital Ronell hervor-
hebt, ist Ironie damit trotz ihres unendlichen Charakters und tatschlich
gerade deswegen ein Bewusstsein menschlicher Endlichkeit.33
Wie vor ihm dasjenige Kants kreist Schlegels Schreiben somit um
den Gedanken der Endlichkeit. Ironie zeigt diese auf sowohl im Bereich
der theoretischen Philosophie in der Frage der Mglichkeit der Er-
kenntnis wie auch in dem der praktischen Philosophie in der Frage
der Mglichkeit einer Beziehung zum anderen. Ironie ist somit das Be-
wusstsein, dass die eigene Sprache sowohl in der Erkenntnis eines Ge-
genstandes wie auch in der Mitteilung einem anderen gegenber unzu-
reichend bleiben muss.
Darber hinaus und hierin treffen sich die beiden zuvor genannten
Sphren ist Ironie die Einsicht des Ich in die Unmglichkeit, ber sich
selbst eine valide Aussage treffen zu knnen. Insofern Schlegel im Ge-
folge Fichtes das Selbstbewusstsein als das Ergebnis eines sprachlichen
163
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Aktes des thetischen Urteils Ich bin34 denkt, bedeutet der Macht-
verlust des Subjekts ber seine eigene Sprache notwendig die Uner-
reichbarkeit des eigenen Selbst fr das Bewusstsein.35 Das Bewusstsein
der Ironie wei von einem Nichtbewusstsein: absolute irony is a cons-
ciousness of a non-consciousness, a reflection on madness from the insi-
de of madness itself,36 bemerkt Paul de Man. Wenn wahnsinnig zu sein
bedeutet, nicht zu wissen, was die eigene Sprache sagt, dann kann kein
Subjekt a priori sicher sein, nicht wahnsinnig zu sein, denn dieses Nicht-
wissen gehrt zu den Bedingungen der Mglichkeit des Sprechens ber-
haupt. Wenn jedes Sprechen als ein Sagen lassen bestimmt werden
muss, dann ist jeder Sprecher, in dem Moment, in dem er spricht, poten-
tiell wahnsinnig.
Wie aber stellt sich Schlegel das Auftreten der Ironie in einem litera-
rischen Text vor? Diese Frage kann am ehesten mit einem Verweis auf
seine Behandlung der Komdie beantwortet werden. In einer vielzitierten
Bestimmung bezeichnet Schlegel die Ironie als permanente Parekba-
se37 und damit mit dem Namen eines wichtigen Elements der antiken
Komdie. Die Parekbasis, bemerkt Schlegel in seiner Vorlesung ber
Die griechische Literatur (1803/1804) mit Blick auf die antike Komdie,
war eine gnzliche Unterbrechung und Aufhebung des Stckes, in
welcher, wie in diesem, die grte Zgellosigkeit herrschte und dem
Volk von dem bis an die uerste Grenze des Proszeniums heraustreten-
den Chor die grten Grobheiten gesagt wurden. Von diesem Heraustre-
ten () kommt auch der Name.38
Schlegel betont jedoch ausdrcklich, dass die antike Komdie trotz
der grten Zgellosigkeit ihrer Form, keinesfalls ohne Einheit sei:
34 Fichte: Smmtliche Werke (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 116 (Grundlage der
gesammten Wissenschaftslehre). Vgl. de Man: The Concept of Irony (wie
Anm. 16), S. 174f.
35 Wer im Gegensatz dazu behauptet, der Nachvollzug ironischer Konkre-
tion bringe nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern noch das Aktuali-
sierungsmoment reflexiver Verkehrung als solches in den Blick, hat von
der Struktur der Ironie bei Schlegel leider nur wenig begriffen (Andreas
Barth: Inverse Verkehrung der Reflexion. Ironische Textverfahren bei
Friedrich Schlegel und Novalis. Heidelberg: Winter 2000, S. 158).
36 Paul de Man: The Rhetoric of Temporality [1969]. In: ders.: Blindness and
Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Second Edition,
Revised. Minneapolis: University of Minnesota Press 1983 (Theory and
History of Literature. 7), S. 187-228, hier: S. 216.
37 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 18, S.
85.
38 Ebd., Bd. 11, S. 88 (Die griechische Literatur).
164
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Die alte Komdie ist damit die Manifestation einer absoluten Freiheit des
Verstandes, der hier ohne Rcksicht auf dasjenige, was als schicklich
oder anstndig galt,40 ohne Rcksicht auf vermeintlich sichere Wahrhei-
ten oder auch nur auf bereinstimmung mit sich selbst frei erfinden
konnte. So schreibt Schlegel, in der Komdie msse eine unendliche
Flle des Witzes dargestellt werden.41 Insofern das einzige Gesetz der
antiken Komdie die Gesetzlosigkeit ist und ihre einzige Form die Form-
losigkeit, ist sie fr Schlegel ganz durch und durch Poesie des
Witzes.42 Der Witz gilt in diesem Zusammenhang wie generell im 18.
Jahrhundert als das Organ des Verstandes, das Zusammenhnge und
hnlichkeiten hervorbringt und also (im Sinne der rhetorischen inventio)
die eigentlichen Mittel des Verstandes zuallererst erfindet.43
Das Unendliche des Witzes aber, schreibt Schlegel, liegt in der
hchsten Freiheit und Gesetzlosigkeit, in der unumschrnkten Willkr-
lichkeit, Ungebundenheit der Phantasie und Flle der Erfindung.44 Un-
endlichkeit verweist hier auf das Potential des Witzes, jede Be-
schrnktheit zu berwinden. Er befindet sich in einer ebenso stetigen wie
ziel- und regellosen Bewegung, die es ihm erlaubt, eine neue Anord-
nung und Kombination45 hervorzubringen, ohne von Vorgaben auch
und vor allem nicht von den eigenen beschrnkt zu sein. Insofern er
von allen Gesetzen und Banden frei gegeben wird, kann der Witz in
diesem Sinne gttlich46 genannt werden. Die unendliche Freiheit des
Witzes zu immer neuer Erfindung und Kombination ist die eines Gottes
wenn auch die eines Gottes, der nicht die Freiheit hat, sein Werk jemals
abschlieen und in Ruhe betrachten zu knnen.
Die Parekbase ist demzufolge die Unterbrechung eines Diskurses; ei-
ne Unterbrechung durch eine vllige Willkr, die sich die Freiheit
39 Ebd., S. 89.
40 Vgl. ebd., S. 90.
41 Ebd., S. 92.
42 Ebd., S. 93.
43 Vgl. Kap. II. 3.
44 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 11, S.
92 (Die griechische Literatur).
45 Ebd.
46 Ebd., S. 92f.
165
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Da finde ich nun eine groe hnlichkeit mit jenem groen Witz der romanti-
schen Poesie, der nicht in einzelnen Einfllen, sondern in der Konstruktion des
Ganzen sich zeigt, und den unser Freund uns schon so oft an den Werken des
Cervantes und des Shakespeare entwickelt hat. Ja diese knstlich geordnete
Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprchen, dieser wunderbare
ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie [...] scheinen mir schon selbst ei-
ne indirekte Mythologie zu sein.50
Der Hinweis auf die Autoren Cervantes und Shakespeare die bei Schle-
gel immer wieder als Beispiele literarischer Ironie genannt werden
macht deutlich, dass Schlegel nichts anderes als das ironische Bewusst-
sein als neue Mythologie beschreibt.
166
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Weder dieser Witz noch eine Mythologie knnen bestehen ohne ein erstes Ur-
sprngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflslich ist, was nach
allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern lt, wo der
naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrckten oder des Einfltigen
und Dummen durchschimmern lt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den
Gang und Gesetze der vernnftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wie-
der in die schne Verwirrung der Phantasie, in das ursprngliche Chaos der
menschlichen Natur zu versetzen, fr das ich kein schneres Symbol bis jetzt
kenne, als das bunte Gewimmel der alten Gtter.51
Die romantische Kunst ist so eine Rckkehr zum Wahnsinn der alten
Kunst, welche die Gesetze der vernnftig denkenden Vernunft auer
Kraft zu setzen wusste. Entsprechend geht es hier nicht einfach um die
Mglichkeit, Genie oder Inspiration zu simulieren und so einen kalku-
lierten Wahnsinn als Selbststilisierung des romantischen Schriftstellers
zu inszenieren.52 Diese Perspektive ist schon deswegen irrig, weil Schle-
gel, wie bereits ausgefhrt, an der Problematik der Ironie die Frage von
Poetologie im engeren Sinne wohl am wenigsten interessiert. Vor allem
aber ist der Wahnsinn, den Schlegel hier umschreibt, nicht einfach als
das Gegenteil der ratio oder des Verstandes zu verstehen. Insofern der
51 Ebd., S. 311f.
52 Vgl. etwa Wolfgang Lange: Der kalkulierte Wahnsinn. Innenansichten
sthetischer Moderne. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag
1992, S. 80f. Auf produktionssthetischer Ebene, schreibt Lange, ist
der Wahnsinn kein Schicksal oder ein Verhngnis, sondern Effekt eines
Kalkuls, der freiwillige Verzicht eines Intellektbesitzers auf seinen Besitz:
Intellektualabwesenheit als Ziel Wahnsinn als Methode (Ebd., S. 17).
Dazu lsst sich mit Langes eigenen Worten feststellen: Zwar ist das einst
gngige Vorurteil, wonach Genies sich stets am Rande des Wahnsinns
bewegen, immer noch gelufig, in der Regel aber neigt man dort, wo die
Kontamination von Kunst durch Wahnsinn sich als Problem stellt, im Be-
reich der Wissenschaft also, eher dazu, hier von einem Spiel mit dem
Wahnsinn zu sprechen, von einer Simulation ohne weitreichende Konse-
quenz (Ebd., S. 11). In die Tradition dieser Entschrfung des Wahnsinns
reiht sich Lange ohne Umstnde ein.
167
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
168
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Auch fr Foucault ist es die hier wie so oft durch die drei Namen Hl-
derlin, Nerval und Nietzsche reprsentierte Literatur, welche die
Unvernunft als Gegenzeit, als Strung, als Unterbrechung, als Einbruch
eines anderen erfahrbar machen kann. Sie unterbricht die austarierten
Differenzen, welche die Vernunft zwischen sich und dem Wahnsinn ge-
zogen hat, und bricht unzeitig in die scheinbar sichere Erfahrung einer
kontinuierlichen Geschichte ein. Von hier aus wird klar, dass es die Un-
vernunft ist, die es fr Foucault vermag, jene einfache Trennung von
Tag und Dunkelheit, zwischen Schatten und Licht, zwischen Traum und
Wachsein54 aufzuheben und einen erneuten Zugang zu jenem ebenso
asemantischen wie monotonen Gemurmel55 zu verschaffen, das aller
Sprache vorausgeht.
Wie Schlegel den Wahnsinn der antiken Poesie, so denkt Foucault
die draison wesentlich als ein Verhltnis des Sprechenden zur Sprache:
169
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
I I I . 2 D i e I r o n i e w a hn si n n i g e r K u n st
( D e r E i n si e d l e r S e r ap i o n )
Mit der Erzhlung ber den Einsiedler Serapion erffnet Hoffmann die
Erzhlungssammlung Die Serapionsbrder. Programmatisch ist die Er-
zhlung ber den Wahnsinnigen Serapion nicht nur der Beginn und
170
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Jeder prfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verknden un-
ternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden. Wenigstens strebe jeder recht
ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen
mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er
sich recht entzndet davon fhlt, die Darstellung ins uere Leben <zu> tra-
gen.61
171
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
62 Ebd.
63 Immanuel Kant: Werke in sechs Bnden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Bd. 1, S. 894 (Ver-
such ber die Krankheiten des Kopfes, A 22).
64 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S. 68.
65 Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imagina-
tionslehre als Prinzip seiner Erzhlkunst. Tbingen: Niemeyer 1971 (Stu-
dien zur deutschen Literatur. 24), S. 18; vgl. Norbert Miller: Ansichten
vom Wunderbaren. ber deutsche und europische Romantik. In: Kleist-
Jahrbuch 1 (1980), S. 107-148, hier: S. 130f.
66 So wird Theodors Erzhlung Die Fermate bescheinigt, sie sei nicht im ei-
gentlichsten Sinn [...] serapiontisch zu nennen, da er Bild und Gestalten die
172
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
thar auf die Tradition des poeta vates, des Kraft einer Vision sehenden
Dichtertheologen: gewi ist es, da man oft an der wirklichen Existenz
der Dichter eben so sehr zweifeln mchte als an der Existenz verzckter
Seher welche die Wunder eines hheren Reichs verknden!67
Wie aber ist es mglich, dass die Einbildungskraft beginnt, statt der
leiblichen Augen mit geistigen zu schauen? In Der Einsiedler Sera-
pion belehrt der phantasierende Eremit Serapion den verblfften Erzhler
Cyprian, dass dieser Vorgang alles andere als ungewhnlich sei. Cyprian
meint, den Einsiedler von seinem Wahn, ein antiker Mrtyrer zu sein,
kurieren zu mssen, und versorgt sich fr dieses Unternehmen mit jedem
greifbaren psychiatrischem Wissen (Ich las den Pinel den Reil alle
mglichen Bcher ber den Wahnsinn).68 Trotzdem Cyprian also mit
den neuesten Erkenntnissen der zeitgenssischen Psychiatrie gerstet
ist,69 hat sein Angriff auf die fixe Idee Serapions wenig Erfolg. Dieser
erteilt ihm vielmehr eine Belehrung in Transzendentalphilosophie.
Serapion behauptet, jede Wahrnehmung sei ein Akt der produktiven
Einbildungskraft, weshalb es keine objektive Realitt geben knne, an-
hand der sich eine fixe Idee als solche bezeichnen lsst. Gegen den
Einwand, er knne unmglich der Mrtyrer Serapion sein, denn dieser
sei vor vielen hundert Jahren70 gestorben, fhrt der Einsiedler aus, dass
die Zeit als ein Produkt der Einbildungskraft zu denken sei: Frs erste
ist die Zeit ein eben so relativer Begriff wie die Zahl und ich knnte Ih-
nen sagen, da, wie ich den Begriff der Zeit in mir trage, es kaum drei
Stunden oder wie Sie sonst den Lauf der Zeit bezeichnen wollen, her
sind, als mich der Kaiser Dezius hinrichten lie.71 Der Vorwurf, er bil-
de sich nur ein, die Ausgeburten seiner eigenen Phantasie im uern
173
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Leben wirklich vor sich zu sehen, erscheint ihm demgem als eine
der spitzfndigsten Albernheiten die es geben kann.72
Die Ausfhrungen Serapions sind zwar viel zitiert worden, kaum je
aber in den philosophischen Kontext gerckt worden.73 Man kann das
mit dem Vorurteil erklren, das Hoffmann als einen philosophisch desin-
teressierten Autoren ausweist.74 Nur so konnte bersehen werden, dass
die Diskussion ber Serapions Wahnsinn in nuce wesentliche zeitgens-
sische Positionen der philosophischen Debatte ber die erkenntnistheore-
tische Rolle der Einbildungskraft wiedergibt.
Dass die Wahrnehmungen nicht von den Sinnesorganen ausgehen, ist
eine wesentliche These der Kantschen Epistemologie. Kant zufolge ist
keine Wahrnehmung einer ueren Realitt mglich ohne die nicht ein-
fach passive (sondern notwendig zugleich aktive und passive) Leistung
der Einbildungskraft, welche die Zeit als eine reine Form der sinnlichen
Anschauung75 hervorbringt. Zeit ist, mit anderen Worten, nichts, was
ein Subjekt in der ueren Realitt vorfinden oder wahrnehmen knnte,
sondern sie ist umgekehrt die vom Erkenntnisvermgen des Subjekts her-
vorgebrachte Bedingung der Mglichkeit aller Wahrnehmung ber-
haupt.76
Indem sie mehrere verschiedene Vorstellungen in eine Folge bringt
sie ordnet, verknpft oder allgemein in Verhltnisse bringt , bewirkt
die Einbildungskraft eine Affektion des Subjekts durch sich selbst, die
zuallererst eine Fremdaffektion ermglicht.77 Durch die synthesis a priori
der Einbildungskraft werden die zunchst zusammenhangslosen Eindr-
cke in eine Sukzession und damit in die Ordnung der Erfahrbarkeit ge-
72 Ebd., S. 33.
73 Vgl. allenfalls den eher kursorischen Hinweis auf einen Zusammenhang
mit Kants Kategorienlehre bei Allen Thiher: Revels in Madness. Insanity in
Medicine and Literature. Ann Arbor: The University of Michigan Press
1999, S. 192.
74 Hoffmann hat Kants Vorlesungen wahrscheinlich nie besucht. An den Ge-
schicken dieser Philosophie hat er kaum Anteil genommen (Rdiger Sa-
franski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten [1984].
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 40). H. war,
von der Begabung wie von der juristischen Schulung her, ein auerordent-
lich scharfsinniger Kopf, fachphilosophisch aber wenig interessiert. Wh-
rend seines Studiums in Knigsberg scheint er Kant [...] geradezu aus dem
Weg gegangen zu sein (Gerhard R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart:
Metzler 1988 [Sammlung Metzler. 243], S. 119).
75 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 2, S. 79 (KrV 47, A 31).
76 Vgl. ebd., S. 78 (KrV B 46, A 30).
77 Vgl. ebd., S. 149 (KrV B 152f.).
174
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Ja was hrt was sieht, was fhlt in uns? vielleicht die toten Maschinen, die
wir Auge Ohr Hand etc. nennen und nicht der Geist? [...] Ist es nun also der
Geist allein, der die Begebenheiten vor uns erfat, so hat sich das auch wirklich
begeben, was er dafr anerkennt.80
Der Geist Serapions ist nicht nur der Sinn, in dem die anderen Sinne
zusammenkommen; er bestimmt sich emphatisch geradezu als spiritus
creator im biblischen Sinn als dasjenige Element, das den einzelnen
Sinnen berhaupt erst Leben zuweist und sie so erst zu Sinnen werden
lsst. Wahrnehmen und Erkennen im Sinne Serapions ist stets Schp-
fung, Erfindung und Kreation. Indem er es ist, der seine eigenen Sinne
belebt und der sie hren, sehen und fhlen lsst, ruht der Geist Se-
rapions gleichsam in sich und geniet den Kontakt zu seiner Auenwelt
in dem Glauben, sie sei gleichsam sein eigenes Geschpf.
Der Geist Serapions ist autark und unabhngig von anderen Gei-
stern und ihrer Sicht auf die Dinge. Wenn jeder Geist also der Schpfer
seiner eigenen Welt ist, kann es in der Tat nur eine der spitzfndigsten
175
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Tglich erhalte ich Besuche von den merkwrdigsten Mnnern der verschie-
densten Art. Gestern war Ariost bei mir, dem bald darauf Dante und Petrarch
folgten, heute Abends erwarte ich den wackern Kirchenlehrer Evagrus und
gedenke, so wie gestern ber Poesie, heute ber die neuesten Angelegenheiten
der Kirche zu sprechen.85
176
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Serapion erzhlte jetzt eine Novelle, angelegt, durchgefhrt, wie sie nur der
geistreichste, mit der feurigsten Phantasie begabte Dichter anlegen, durchfhren
kann. Alle Gestalten traten mit einer plastischen Rundung, mit einem glhen-
177
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
den Leben hervor, da man, fortgerissen, bestrickt von magischer Gewalt wie
im Traum daran glauben mute, da Serapion alles selbst wirklich von seinem
Berge erschaut.90
90 Ebd., S. 34.
91 Sokrates: Wenn du die Verse schn vortrgst und deine Zuschauer am
meisten hinreit [...]: bist du dann bei vlligem Bewutsein, oder gertst du
auer dich und glaubt deine begeisterte Seele, bei den Gegenstnden zu
sein, von welchen du sprichst, sie mgen nun in Ithaka sein oder in Troja
oder wo sonst sich das Gedicht aufhlt? / Ion: Welchen deutlichen Beweis
hast du mir aufgestellt, Sokrates! (Platon: Smtliche Werke. bers. von
Friedrich Schleiermacher. Auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter
F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plambck neu hrsg. von Ursula Wolf. Bd.
1-4. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, Bd. 1, S. 74 [Ion 535b-c]).
92 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schnen Knste. 2., unver-
nderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1792. Mit einer Einleitung von
Giorgio Tonelli. Bd. 1-4. Hildesheim, Zrich, New York: Olms 1994, Bd.
1, S. 350.
93 Dass die Verwandlung von gelesenen Buchstaben in gesehene Bilder ein
zentrales Element der Poetologie Hoffmanns ist, hat vor allem Friedrich
Kittler dargelegt. Vgl. zu diesem Komplex insgesamt Friedrich A. Kittler:
Aufschreibesysteme 1800 1900. 3., vollst. berarb. Aufl. Mnchen: Fink
1995, S. 138-158, sowie Friedrich Kittler: Die Laterna magica der Litera-
tur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien. In: Athenum. Jahrbuch
178
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Es ist nun die Frage zu stellen, was diese Beobachtungen ber den
Zusammenhang von Literatur und Wahnsinn fr die Dichtungstheorie
der Serapionsbrder besagen, wie sie im Anschluss an Cyprians Erzh-
lung formuliert wird. Wenn es im serapiontischen Prinzip darum geht,
dem dichterischen Vermgen eines Wahnsinnigen nachzueifern, dann
knnte man folgern, Hoffmanns Dichtungslehre sei nichts anderes als ei-
ne Poetik des Wahnsinns. Nicht wenige Kommentatoren sind zu diesem
Urteil gekommen. Als poetisches Vermgen gilt der Wahnsinn den Se-
rapionsbrdern,94 kann man lesen. Statuiert Lothar (und durch seinen
Mund: Hoffmann) den Wahnsinn als poetische Kraft und das serapionti-
sche Prinzip als eine Poetik des Wahnsinns?
179
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
95 Uwe Japp: Das serapiontische Prinzip. In: E.T.A. Hoffmann. Hrsg. von
Heinz Ludwig Arnold. Mnchen: edition text + kritik 1992 (Text + Kritik.
Sonderband), S. 63-75, hier: S. 63.
96 Platon: Smtliche Werke (wie Anm. 91), Bd. 1, S. 70 (Ion 532c).
97 Vgl. Peter Fenves: The Scale of Enthusiasm. In: Huntington Library Quar-
terly 60 (1997), S. 117-152, hier: S. 117f.
98 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: ber Dichter, Propheten, Dichterbe-
geisterung, Enthusiasmus, Theopneustie, und gttliche Einwirkung auf
Menschen berhaupt nach Platon [Studienheft Nr. 28, 1792]. In: Franz,
Michael: Schellings Tbinger Platon-Studien. Gttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1996 (Neue Studien zur Philosophie. 11), S. 283-305, hier: S.
288. Vgl. Orrin F. Summerell: Perspektiven der Schwrmerei um 1800.
Anmerkungen zu einer Selbstinterpretation Schellings. In: Platonismus im
Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philoso-
phie. Hrsg. von Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell. Mnchen,
Leipzig: Saur 2003, S. 139-173, hier: S. 146f.
180
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
sen, Formen und Ausdrucksmitteln99 sein soll, dann kann eine Poetik
des Wahnsinns kaum etwas anderes als sein als eine Poetik, die die voll-
stndige Unmglichkeit jeder Poetik, jedes sicheren Wissens ber die
Entstehung von Literatur also, behauptete. Eine Poetik des Wahnsinns
wre ein Oxymoron. Das serapiontische Prinzip, so kann man folgern,
kann nur dann eine Poetik des Wahnsinns entfalten, wenn es sich bei
dieser nicht mehr um etwas handelt, das in irgendeiner Weise Poetik
Lehre von der Produktion von Literatur genannt werden kann.
Dieser Widerspruch ist nur einer von mehreren, die aus der zentralen
Paradoxie der Serapionsgeschichte der strukturelle Umschlag eines Un-
vermgens in ein Vermgen folgen. Nachdem Cyprian von seiner Be-
gegnung mit dem Einsiedler berichtet hat und Lothar festgestellt hat, dass
just an diesem Tag der Namenstag Serapions zu feiern sei (Heute ist Se-
rapionstag!100), zgert er nicht, den eingebildeten Mrtyrer zum
Schutzpatron101 der Versammlung der Freunde zu ernennen. Wenn die
Serapionsbrder ausgerechnet den scheinbar verrckten Einsiedler Se-
rapion zu ihrem Schutzpatron erklren, dann grnden sie eine Ge-
meinschaft im Namen genau der Singularitt, die der Wahnsinn nach
Kant ist. Die Gemeinschaft der Serapionsbrder ist eine Gemeinschaft im
Namen der vollstndigen Vereinzelung und Singularisierung; eine Ge-
meinschaft im Geiste der Nichtgemeinschaft.
Es stellt sich die Frage, ob und wie der Zusammenhang zwischen Wahn-
sinn und Ironie, wie ihn bereits Schlegel andeutet, in Hoffmanns Texten
entwickelt wird. Es kann deshalb im Folgenden nicht darum gehen, sich
zu fragen, ob Hoffmann den Wahnsinn idealisiert oder verklrt102
hat oder nicht. Vielmehr soll versucht werden, ein bestimmtes Bild des
Wahnsinns zu beschreiben, das Hoffmanns Texte zugleich suggerieren
und ironisch brechen. Es gibt in Hoffmanns Texten immer zwei Perspek-
tiven auf den Wahnsinn, welche in einer ironischen Widersprchlichkeit
zueinander stehen.
181
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die erste Bedeutung des Wahnsinns bei Hoffmann ist das Bild des
Wahnsinns, wie es etwa der Selbstbeschreibung Serapions zu entnehmen
ist. Der Wahnsinnige ist demnach derjenige, der in einer anderen Welt
als die gewhnlichen Menschen lebt, weil ihm seine Phantasie Sphren
erschliet, die diesen fr immer verschlossen bleiben mssen. Diese erste
Perspektive auf den Wahnsinn entspricht damit der emphatischen
Knstler-Thematik und dem Diskurs des Enthusiasmus in Hoffmanns
Erzhlungen.103
Die Einsamkeit des enthusiastischen Knstlers ist diesem Diskurs zu-
folge das Ergebnis seiner Begabung, die gewhnliche Realitt zu trans-
zendieren, in die tiefste Tiefe104 zu schauen im Gegensatz zum
gewhnlichen Menschen, der oft genug nicht weiter zu schauen ver-
mag, als eben seine Nase reicht.105 Diese Einsamkeit folgt aus der Unf-
higkeit des normalen Menschen, die begeisterten Einsichten des
Wahnsinnigen zu teilen.106 Doch freilich, wie sollte ein Kind der Welt,
103 Vgl. Franz Loquai: Knstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt
am Main u.a.: Lang 1984 (Helicon. 4), S. 100: Alle zentralen Knstler-
gestalten Hoffmanns sind entweder von Melancholie oder Wahnsinn be-
fallen. [...] Im Unterschied zu den Normalbrgern ist bei allen diesen Fi-
guren, seien sie genuine Knstler oder Menschen mit Sinn fr die Poesie
[...], ein gesellschaftlicher Auenseiterstatus von entscheidender Bedeu-
tung. Die Knstler sehen sich auf Grund ihrer marginalen Stellung um
die Verbindlichkeit der Kunst gebracht, wohingegen die Philister mit ge-
knsteltem Verhalten den Verlust brgerlicher Integration nicht riskie-
ren. Allerdings ist zu bedauern, dass diese Analyse der Beziehung des
Knstlers zur Gesellschaft (wie viele andere Analysen auch) gnz-
lich die Perspektive der Knstlerfiguren einnimmt und ignoriert, dass die-
se in Hoffmanns Erzhlungen stets in ihrer ironischen Limitation darge-
stellt. Vgl. Karl Ludwig Schneider: Knstlerliebe und Philistertum im
Werk E.T.A. Hoffmanns [1967]. In: Die deutsche Romantik. Poetik, For-
men und Motive. Hrsg. von Hans Steffen. 4. Aufl. Gttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1989, S. 200-218; Altrud Dumont: Interimistisches
Provisorium Methodischer Wahnsinn: Das Interessante. Theorie und
narrative Praxis bei Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann. Stuttgart:
Heinz 1995, S. 180.
104 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
25 (Der Einsiedler Serapion).
105 Ebd., S. 28 (Der Einsiedler Serapion).
106 So schreibt Jean Paul in der Vorrede zu Quintus Fixlein: Der Held, das
Genie und jeder Mensch mit einem groen Entschlu oder auch nur ei-
ner perennierenden Leidenschaft (und wr es die, den grten Folianten
zu schreiben), alle diese bauen sich mit ihrer inneren Welt gegen die Kl-
te und Glut der uern ein, wie der Wahnsinnige im schimmern Sinn: je-
182
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
trgt es auch den besten Willen dazu in sich, den Gott geweihten Ana-
choreten begreifen knnen in seinem Tun und Treiben!,107 erklrt Sera-
pion das Unverstndnis Cyprians.
Der sprechende Hund Berganza aus Hoffmanns Nachricht von den
neuesten Schicksalen des Hundes Berganza beschreibt den Wahnsinni-
gen in diesem Sinn als eine Person, die gescholten wird, weil sie ei-
ne groe heiligen Idee verfolgt und durch diese das uere und tote
Leben durch die Kraft seines Inneren entzndet und belebt:
In gewissem Sinn ist jeder nur irgend exzentrische Kopf wahnsinnig und
scheint es desto mehr zu sein, je eifriger er sich bemht, das uere matte tote
Leben durch seine inneren glhenden Erscheinungen zu entznden. Jeden, der
einer groen heiligen Idee, die nur der hheren gttlichen Natur eigen, Glck,
Wohlstand, ja selbst das Leben opfert, schilt gewi der, dessen hchste Bem-
hungen im Leben sich endlich dahin konzentrieren, besser zu essen und zu trin-
ken, und keine Schulden zu haben, wahnsinnig, und er erhebt ihn vielleicht, in-
dem er ihn zu schelten glaubt, da er als ein hchst verstndiger Mensch jeder
Gemeinschaft mit ihm entsagt. So sprach oft mein Herr und Freund Johannes
Kreisler.108
de fixe Idee, die jedes Genie und jeden Enthusiasten wenigstens perio-
disch regiert, scheidet den Menschen erhaben von Tisch und Bett der Er-
de (Jean Paul: Smtliche Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Abteilung I:
Bd. 1-6. Abteilung II: Bd. 1-4. Frankfurt am Main: Zweitausendeins
1996, Abt. I, Bd. 4, S. 10f.).
107 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
34 (Der Einsiedler Serapion).
108 Ebd., Bd. 2/1, S. 125 (Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hun-
des Berganza).
183
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Daher der Wahnsinn ein nothwendiges Element, das aber nur nicht zum Vor-
schein kommen, nur nicht aktualisiert werden soll. Was wir Verstand nennen,
wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als ein
geregelter Wahnsinn. [...] Die Menschen, die keinen Wahnsinn in sich haben,
sind die Menschen von leerem, unfruchtbarem Verstand. Daher der umgekehrte
Spruch: nullum magnum ingenium sine quadam dementia; daher der gttliche
Wahnsinn, von dem Plato, von dem die Dichter sprechen. Nmlich, wenn die-
ser Wahnsinn durch Einflu der Seele beherrscht ist, dann ist er ein wahrhaft
gttlicher Wahnsinn, dann der Grund der Begeisterung, der Wirksamkeit ber-
haupt.112
184
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
ser Passage Lszl Fldnyi: Melancholie [1984]. bers. von Nora Tahy.
2., erw. Aufl. Berlin: Matthes & Seitz 2004, S. 288f.
113 Carl August Eschenmayer: Psychologie [1817]. Hrsg. von Peter Krum-
me. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1982, S. 261. Jedes Prin-
zip der Vernunft wre todt und ungebraucht, unsere ganze Kategorienta-
fel und unser Fundamentalwesen wre ein lebloses Fachwerk, wenn es
nicht durch den lebendigen Hauch der Phantasie begeistet, und das Prin-
zip zum Ideal der Konstruction erhoben wrde (ebd.).
114 Otto Nipperdey: Wahnsinnsfiguren bei E.T.A. Hoffmann. Diss. Kln
1957, S. 150.
115 Ebd., S. 149.
116 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 2/1, S.
92 (Don Juan).
185
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
186
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
den versteckten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft; und wenn
du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptetest, da es nur der Geist sei, der sehe,
hre, fhle, der Tat und Begebenheit fasse, und da also auch sich wirklich das
begeben, was er dafr anerkenne, so vergaest du, da die Auenwelt den in
den Krper gebannten Geist zu jenen Funktionen der Wahrnehmung zwingt
nach Willkr.117
Ist Serapion wahnsinnig, weil er die Auenwelt durch die Kreationen sei-
ner eigenen Phantasie ersetzt hat, oder liegt sein Wahnsinn gerade im
Gegenteil darin, dass er verga, wie die Auenwelt noch in seine
scheinbar innersten Gedanken eingreift? Die Ausfhrungen Lothars bil-
den ein Gegenmodell zu dem, was Serapion ber die Unabhngigkeit sei-
nes Geistes von der Materialitt der sinnlichen Wahrnehmung ausge-
sagt hat. Der Geist erscheint hier nicht mehr als der Souvern ber ei-
ne ohne ihn vollstndig leblose Welt, sondern vielmehr als eine Kraft,
die nicht unabhngig ist von einer anderen Kraft (des Auen), die wie
ein Hebel aus sein Inneres einwirkt und ihn zu den Funktionen der
Wahrnehmung gar nach Willkr zwingen kann. Die Metapher des
Hebels suggeriert, dass jene Kraft den Geist gleichsam zu einem
Teil einer Mechanik werden lsst, die auf bestimmte Einwirkungen eben-
so willenlos wie wiederholbar bestimmte Reaktionen folgen lsst.
Man knnte vermuten, dass Lothars Replik auf Serapions Betonung
der Phantasie fr die Beziehung des Geistes zu seiner Auenwelt eine
dramatisierte Variante eines Kantischen Arguments darstellt, welches die
Bedeutung der Einbildungskraft fr die Herstellung einer konsistenten
Erfahrung durchaus anerkennt, aber zugleich auf der notwendigen Rol-
le einer Auenwelt beharrt, die jeden Prozess der Erfahrung an-
stt.118 Wenn Lothar dem Geist die Aufgabe zuweist, den durch die
ueren Erscheinungen ausgelsten Kreis (in dem die innern Er-
scheinungen aufgehen) zu berfliegen [...] in dunklen geheimnisvol-
len Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten, erinnert die-
se Skizze an Kants Formulierung, die Synthesis als eine Wirkung der
Einbildungskraft sei eine blinde, obgleich unentbehrliche Funktion der
Seele.119 Trotz dieser Analogien ergibt Lothars Beschreibung der Ttig-
187
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
keit des Geistes letztendlich ein vllig anderes Bild als das der Trans-
zendentalen Synthesis bei Kant. Lothars Feststellung zielt nicht auf die
von Kant unter dem Begriff der Endlichkeit beschriebene Abhngigkeit
des menschlichen Erkennens von einer ihm vorgngigen Welt, sondern
beschreibt vielmehr eine aktive Einwirkung der Auenwelt auf das In-
nere des Geistes (den versteckten Hebel).
Lothars Beschreibung ergibt damit ein Bild des Wahnsinns, das kon-
trr ist zu dem von Serapion gezeichneten: eine zweite Bedeutung des
Wahnsinns in Hoffmanns Texten. Wahnsinn ist hier nicht mehr die Be-
zeichnung fr einen enthusiasmierten Geist, der unbeirrt eine groe
heilige Idee verfolgt, sondern gerade im Gegenteil der Name fr die
Abhngigkeit des Geistes von einem Auen. Whrend die erste Perspek-
tive auf den Wahnsinn in Hoffmanns Erzhlungen einen Diskurs des En-
thusiasmus hervorbringt, zeigt sich die zweite Perspektive in einem Dis-
kurs des Mesmerismus.
Diese nach ihrem Vordenker Franz Anton Mesmer benannte medizi-
nisch-philosophische Lehre faszinierte gegen Ende des 18. und Beginn
des 19. Jahrhunderts vor allem durch zwei Elemente. Zum einen insze-
nierte der therapeutische Rapport ein neues Modell von Intersubjektivi-
tt, indem er eine Einwirkung einer Psyche auf eine andere ohne eine an-
dere Vermittlung als den Blick des Magnetiseurs zu ermglichen schien.
Zum anderen gab es zahlreiche Spekulationen, inwiefern der somnabu-
le Zustand des mesmerisierten Patienten einen Zugang zur sonst uner-
reichbaren noumenalen Realitt erffnen knne.120 Beide Elemente kom-
men fr den Naturphilosophen Johann Wilhelm Ritter darin zusammen,
dass der magnetisierte Mensch durch den Verlust seiner eigenen Willens-
kraft die Anwesenheit eines Willens der Natur erfahren kann. Im
Schlaf, schreibt Ritter, sinkt der Mensch in den allgemeinen Organis-
mus zurck. Hier ist sein Wille unmittelbar der der Natur, und umge-
188
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
kehrt. Beide sind jetzt eins.121 Entsprechend gilt auch der knstliche
Schlaf der Somnabulen als ein Mittel, eine Einheit mit der Natur herzu-
stellen, die bewusst nicht zu erreichen ist: Im tierischen Magnetismus
kommt man aus dem Gebiete der Willkr heraus, und ganz herber in
das der Unwillkr, oder dem, wo der organische Krper sich wieder als
anorganischer verhlt, doch aber so beider Geheimnisse veroffenbart.122
Gegen diese Vorstellung eines Aufgehens des eigenen Willens in demje-
nigen der Natur beschreibt Hoffmann bereits in dem Fantasiestck Der
Magnetiseur die Beziehung zwischen Magnetiseur und Magnetisiertem
wesentlich als eine Machtbeziehung. Der Magnetiseur erscheint hier als
der Knig der Geister.123
In der Diskussion der Serapionsbrder ber den Mesmerismus ver-
lagert sich dagegen der Schwerpunkt des Interesses von der Analyse von
Machtbeziehungen zu dem Zusammenhang von Mesmerismus und Spra-
che. Der Serapionsbruder Theodor erzhlt, auf welche Weise er in
den Magnetismus hineingeriet.124 Diese Erzhlung beschftigt sich mit
der Frage, inwiefern die Magnetisierten im somnabulen Schlaf eine
Hellsicht erreichen knnen. Die kognitiven Fhigkeiten des Somnabu-
121 Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Phy-
sikers. Ein Taschenbuch fr Freunde der Natur [1810]. Hrsg. von Steffen
und Birgit Dietzsch. Leipzig, Weimar: Kiepenheuer 1984, S. 205.
122 Ebd., S. 205f.
123 Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 2/1, S.
213 (Der Magnetiseur). Vgl. Gtz Mller: Modelle der Literarisierung
des Mesmerismus. Mesmers Versuche, das Unbekannte zu erklren. In:
Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Hrsg. von Gereon Wolters.
Konstanz: Universittsverlag Konstanz 1988 (Konstanzer Bibliothek.
12), S. 71-86, hier: S. 73-76; Margarete Kohlenbach: Ansichten von der
Nachtseite der Romantik. Zur Bedeutung des animalischen Magnetismus
bei E.T.A. Hoffmann. In: Die deutsche literarische Romantik und die
Wissenschaften. Hrsg. von Nicholas Saul. Mnchen: Iudicium 1991, S.
209-233; Jrgen Barkhoff: Die Literarisierung des Mesmerismus bei
E.T.A. Hoffmann. Ein Heilkonzept zwischen Naturphilosophie, Technik
und sthetik. In: sthetik und Naturerfahrung. Hrsg. von Jrg Zimmer-
mann. Stuttgart-Bad Canstatt: frommann-holzboog 1996 (exempla
aesthetica. 1), S. 269-283; Ingrid Kollak: Literatur und Hypnose. Der
Mesmerismus und sein Einflu auf die Literatur des 19. Jahrhunderts.
Frankfurt am Main, New York: Campus 1997, S. 148f.; Odila Triebel:
Staatsgespenster. Fiktionen des Politischen bei E.T.A. Hoffmann. Kln,
Weimar, Wien: Bhlau 2003 (Literatur und Leben. 60), S. 72-82; Neu-
meyer: Magnetische Flle um 1800 (wie Anm. 119), S. 276-281.
124 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
320.
189
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die somnabule Dame fing abermals an zu reden, aber mit ganz verndertem
seltsam und wie ich gestehen mu, ber die Maen wohlklingendem Organ. Sie
sprach indessen in solch mystischen Worten und sonderbaren Redensarten,
da ich gar keinen Sinn herausfinden konnte, der Magnetiseur versicherte in-
dessen, sie sage die herrlichsten, tiefsten, lehrreichsten Dinge ber ihren Ma-
gen. Das mute ich nun freilich glauben. Von dem Magen abgekommen, wie
wiederum der Magnetiseur erklrte, nahm sie noch einen hhern Schwung. Zu-
weilen war es mir, als kmen ganze Stze vor, die ich irgendwo gelesen. Etwa
in Novalis Fragmenten oder in Schellings Weltseele.127
190
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
128 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 6, S. 530 (Anthropolo-
gie, BA 144). George Steiner zufolge ist diese Assoziation von Schwatz-
haftigkeit, Wahnsinn und Weiblichkeit Bestandteil einer uralten Topik.
In allen uns bekannten Kulturen behaupten Mnner, Frauen seien ge-
schwtzig und verschwendeten Wrter wie die Wahnsinnigen (George
Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des bersetzens. Zweite
Ausgabe [1992]. bers. von Monika Plessner. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 2004, S. 39).
129 So heit es in Eschenmayers Psychologie: Der magnetische Rapport ist
am strksten zwischen dem ungleichen Geschlecht. Da es offenbar hier
von dem geistigen Verhltni des Willens zur Gefhlseinheit und von
dem organischen Verhltni der Energie zur Receptivitt ausgeht, so
wird der Mann immer am strksten auf das weibliche Geschlecht wirken
(Eschenmayer: Psychologie [wie Anm. 113], S. 236).
191
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
In diesem Drama fungiert das Ich nicht als handelnde Figur (und auch
nicht als Autor), sondern ist allenfalls die Summe aller Handlungen.
Die zweite Perspektive auf den Wahnsinn ist im Unterschied zur ersteren
nicht mehr psychologisch zu nennen, denn sie fhrt die Phantasmen
des Wahns nicht mehr auf ein produzierendes Ich130 zurck, sondern
begreift das Ich allenfalls noch als eine leere Bhne, als bloes Me-
dium der Darstellung.131 Serapions romantische Hymne auf die Unab-
hngigkeit des schaffenden Geistes ist in dieser Perspektive nichts an-
deres als das Vergessen einer vlligen Abhngigkeit desselben von
einer Auenwelt, die den in den Krper gebannten Geist zu jenen
Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkr.
Whrend Serapion den Geist als eine reine aktive Kraft beschreibt,
ist er in Lothars Darstellung nur scheinbar aktiv und eigentlich voll-
kommen passiv und gelenkt. Sein aktives Potential erschpft sich darin,
dunkle geheimnisvolle Ahnungen hervorzubringen, er ist weitaus eher
das Organ einer vollstndigen Rezeptivitt und Passivitt. Die Einbil-
dungskraft, die im Modell Serapions noch das oberste Vermgen eines
sich selbst und seine Welt frei erschaffenden Geistes war, wird damit zu
einer Art von Doppelagent im Bewusstsein zu einer Macht, die nicht
nur schwer zu kontrollieren und zu bndigen ist, sondern von der noch
nicht einmal gesagt werden kann, in wessen Dienst sie steht.
In Hoffmanns Texten werden demnach zwei verschiedene Diskurse
ber den Wahnsinn ausgetragen. Zum einen ist Wahnsinn die Bezeich-
nung fr eine berschreitung der Erfahrung, die darauf zielt, das uere
matte, tote Leben durch [...] innere glhende Erscheinungen zu entzn-
den (Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza).
130 Friedrich A. Kittler: Das Phantom unseres Ichs und die Literaturpsy-
chologie: E.T.A. Hoffmann Freud Lacan. In: Urszenen. Literaturwis-
senschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. von Friedrich A.
Kittler und Horst Turk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 139-166,
hier: S. 143.
131 Insofern ist Friedrich Kittlers These zu widersprechen, Hoffmanns gan-
zes Werk sttze die psychologische Perspektive auf den Wahnsinn,
die diesen ausschlielich als das Ergebnis einer unbewuten Einwirkung
des Ich auf sich selbst deutet (Ebd., S. 142). Kittlers lacanesque Lektre
von Der Sandmann zeigt bereits, dass diese Perspektive in Hoffmanns
Texten nicht die einzige ist.
192
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
193
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Es ist ein eignes Geheimnis, da in dem Gemt des Knstlers oft ein Bild auf-
geht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare krperlose im leeren Luftraum trei-
bende Nebel, eben in dem Gemte des Knstlers erst sich zum Leben zu for-
men und ihre Heimat zu finden scheinen. Und pltzlich verknpft sich das Bild
mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zukunft, und stellt nur dar, was
wirklich geschah oder geschehen wird.132
Der Knstler ist somit derjenige, dem ein Bild aufgeht. Die Wendung
des aufgehenden Bildes, die sich bei Hoffmann immer wieder findet, ver-
weist darauf, dass die Begabung des Knstlers darin liegt, dass sich ihm
pltzlich eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft
darstellt, die er in einem Bild sichtbar werden lassen kann. Kunst ist nicht
ein feststehendes Werk, sondern stets ein Prozess, die Genese einer
Synthese.133 Obgleich Doge und Dogaresse um ein tatschliches Bild
kreist, spricht der Fremde hier von einem mentalen Bild, welches der
Knstler auch in einer anderen Form als im Medium der edlen Mal-
kunst darstellen kann. Wie bei Serapion ist diese Synthese belebend: so
wie die von Serapion erzhlten Figuren mit einem glhenden Leben
hervor treten, scheinen die im Bild erscheinenden Gestalten, zuvor un-
kennbare krperlose, im leeren Luftraum treibende Nebel, eben in dem
Gemte des Knstlers erst sich zum Leben zu formen.
Entscheidend ist, dass der Knstler in der Beschreibung des Frem-
den keineswegs der Souvern ber den knstlerischen Prozess ist, der in
ihm abluft. Wenn das Gemt des Knstlers derjenige Ort ist, an dem
zuvor unkennbare krperlose Nebel ihre Heimat zu finden scheinen,
dann ist in dieser Formulierung keine Aktivitt des Knstlers erkennen.
Sein Inneres wird zu dem Ort, an dem fremde Krfte auftreten und sich
132 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
430f. (Doge und Dogaresse).
133 Vgl. zum aufgehenden Bild Edgar Pankow: Medienwechsel. Zur Kon-
stellation von Literatur und Malerei in einigen Arbeiten E.T.A. Hoff-
manns. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 10 (2002), S. 42-57, hier: S. 46f.
194
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
eine Heimat suchen. Das Bild geht oft in dem Gemt des Knst-
lers auf, wobei der Knstler eher als das Medium dieses Geschehens er-
scheint denn als sein Gestalter. Hoffmann erzhlt seine Kunsttheorie als
eine Schauergeschichte, in der der Knstler das Opfer eines magnetisie-
renden Eingriffs ist, der keinen jemals erkennbaren Urheber hat.
Wenn die Ausgangssituation vieler Erzhlungen Hoffmanns darin
besteht, dass die jeweilige Hauptfigur nach der Auflsung eines Rtsels
suchen muss, dann befindet sie sich strukturell in der gleichen Lage wie
der Knstler, von dem der Fremde in Doge und Dogaresse spricht,
denn ihm wird aus zuvor unkennbaren krperlosen Gestalten ein Bild
aufgehen, er wird eine Synthese von einzelnen Daten zu einem vollstn-
digen Bild vollbringen. Sodann erbrigt sich, in Hoffmanns Texten ei-
gens Knstlererzhlungen ausmachen zu wollen, wie es immer noch oft
geschieht. Jede Erzhlung Hoffmanns ist eine Knstlergeschichte. Frei-
lich wre es schon falsch, zu behaupten, die Haupt- und Knstlerfigur
wrde die Synthese vollbringen und er wrde danach streben, sich ein
Bild aufgehen zu lassen. Wie das Zitat aus Doge und Dogaresse nahe-
legt, wird man nicht von einer aktiven und kontrollierten Suche nach der
Erkenntnis des Ganzen ausgehen knnen. Die Erzhlungen Hoffmanns
fhren immer wieder vor, dass ihre Hauptpersonen von einem berra-
schenden und berwltigenden Sinn eher angezogen und verzaubert wer-
den, als dass sie ihn kontrollieren und konstruieren.
I I I . 3 D as f r e m d e G e si c h t i m S p i e g e l
( D a s d e H au s )
195
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
So geschah es, da ich eines Tages, als ich wie gewhnlich zur Mittagsstunde
in der Allee lustwandelte, meinen Blick auf die verhngten Fenster des den
Hauses richtete. Da bemerkte ich, da die Gardine an dem letzten Fenster dicht
neben dem Konditorladen sich zu bewegen begann. [...] Ich ri meinen Opern-
Lang 1986, bes. S. 125-147) auf Das de Haus ein, allerdings bleibt am
Ende ihrer Analyse kaum mehr als der Eindruck umfassender Ratlosig-
keit, welche der Erzhlung selbst angerechnet wird (ebd., S. 146f.). Eine
hnliche Ratlosigkeit beherrscht auch die Anmerkungen Auhubers zu
Das de Haus (Friedhelm Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel.
E.T.A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin. Opladen: Westdeutscher
Verlag 1986, S. 75-80, hier: S. 79). Max Milner analysiert nicht die ge-
samte Erzhlung, zu einzelnen Sequenzen gelingen ihm aber interessante
Beobachtungen (Max Milner: Phantastik und Familienroman in Das de
Haus. In: Dimensionen des Phantastischen. Studien zu E.T.A. Hoffmann.
Hrsg. von Jean-Marie Paul. St. Ingbert: Rhrig Universittsverlag 1998
[Saarbrcker Beitrge zur Literaturwissenschaft. 61], S. 213-225). Wenig
mehr als eine Handlungsparaphrase bietet Ricarda Schmidt: Der Dichter
als Fledermaus bei der Schau des Wunderbaren. Die Poetologie des rech-
ten dichterischen Sehens in Hoffmanns Der Sandmann und Das de
Haus. In: Mutual Exchanges. Sheffield-Mnster Colloquium I. Hrsg.
von R. J. Kavanagh. Frankfurt am Main u.a.: Lang 1999, S. 180-192.
Claudia Lieb unternimmt eine semiotische Lektre des Textes, die aller-
dings fr die Thematik des Wahnsinns und deren Zusammenhang zur
Textstruktur wenig ergiebig ist. Vgl. Claudia Lieb: Und hinter tausend
Glsern keine Welt. Raum, Krper und Schrift in E.T.A. Hoffmanns Das
de Haus. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 10 (2002), S. 58-75.
135 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
166 (Das de Haus).
136 Ebd.
196
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
gucker heraus und gewahrte nun deutlich die blendend weie, schn geformte
Hand eines Frauenzimmers, an deren kleinem Finger ein Brillant mit unge-
whnlichem Feuer funkelte, ein reiches Band blitzte an dem in ppiger Schn-
heit gerndeten Arm. Die Hand setzte eine hohe seltsam geformte Krystallfla-
sche hin auf die Fensterbank und verschwand hinter dem Vorhange. Erstarrt
blieb ich stehen, ein sonderbar bnglich wonniges Gefhl durchstrmte mit
elektrischer Wrme mein Inneres, unverwandt blickte ich herauf nach dem ver-
hngnisvollen Fenster, und wohl mag ein sehnsuchtsvoller Seufzer meiner
Brust entflohen sein.137
197
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Akteur Theodor befindet sich zunchst in der gleichen Situation wie der
Leser seiner Geschichte, wenn er versucht, hinter die Geheimnisse des
Hauses zu kommen und die Bedeutung der verborgenen Zusammenhn-
ge zu erkennen. Die hermeneutische Aktivitt verdoppelt sich, denn
Hoffmann bietet dem Leser an, sich stets zu fragen, inwiefern die Per-
spektive Theodors von dessen Wnschen gelenkt oder durch die Beein-
flussung uerer Krfte gesteuert wird. Der Leser liest in Das de Haus
die Geschichte eines Lesers nicht ohne Grund wird Theodor zu Beginn
der Geschichte durch seine alte Neigung charakterisiert, sich an je-
dem ausgehngten Kupferstich, an jedem Anschlagzettel zu ergtzen.140
Der Leser der Geschichte Hoffmanns wird so zu einem Leser in Potenz,
er liest etwas darber, was ein Leser tut. Ob ein Leser jedoch jemand ist,
der etwas tut, ob Lesen eine Aktivitt oder aber der Raum einer Beein-
flussung ist, kann allerdings in der Passage, in der Theodor das Haus be-
obachtet, fraglich erscheinen. Theodor wird gleichermaen von dem Ge-
sehenen angezogen und bezaubert, wie er andererseits auch durch die
Aktivitt seiner eigenen Phantasie selbst erst dasjenige hervorbringt, was
ihn verzaubert. Unter diesem Gesichtspunkt knnen die verschiedenen
Beobachtungen durch das Fenster des den Hauses auch als wiede-
rum in der Terminologie Roland Barthes Seme verstanden werden: als
Verweise auf ein psychologisches Signifikat.141 Es geht demnach nicht
einfach darum, ein Rtsel zu lsen und es dadurch in die Ordnung des
Sinns zu berfhren. Der Leser von Das de Haus sieht die sich als Rt-
zhlung, sondern als ein Teil seiner Strukturation, als eine bedeutungs-
stiftende Einheit, die sich niemals zur Vollstndigkeit einer Bedeutung
oder Struktur wird zusammenfgen lassen. So schreibt Barthes: Es soll
ganz bewut nicht versucht werden, den Code und die fnf Codes unter-
einander zu strukturieren, damit die Multivalenz des Textes, seine partiel-
le Umkehrbarkeit Aufnahme findet. Es geht in der Tat nicht darum, eine
Struktur deutlich zu machen, sondern, so weit es geht, eine Strukturation
zu produzieren. [...] Was hier Code genannt wird, ist also keine Liste,
kein Paradigma, das es, gleich wie, zu rekonstruieren glte. Der Code ist
eine Perspektive aus Zitaten, eine Luftspiegelung von Strukturen (Ebd.,
S. 25).
140 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
165 (Das de Haus).
141 Barthes: S/Z (wie Anm. 139), S. 22. Der Unterscheidung zwischen dem
hermeneutischen Code und den Semen entspricht somit der frheren
Unterscheidung Barthes zwischen Funktionen und Indizien. Vgl. Ro-
land Barthes: Einfhrung in die strukturale Analyse von Erzhlungen
[1966]. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. bers. von Dieter Hor-
nig. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp. 1441), S.
102-143, hier: S. 111f.
198
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Zwar kann auch Theodor sich eine vernnftige Erklrung fr den Zu-
stand des Hauses vorstellen, aber diese Erklrung besitzt keine Anzie-
hung, keinen Reiz, und sie wrde dem Objekt jede Attraktion nehmen.
Seine Einbildungskraft zieht es vor, trotz der Mglichkeit einer einfa-
chen Erklrung nach einer Erklrung zu suchen, die nicht so sehr ver-
tieft als vielmehr verstrickt genannt werden msste.
So dacht ich, und doch wei ich selbst nicht wie es kam, da bei dem den
Hause vorberschreitend ich jedesmal wie festgebannt stehen bleiben und mich
in ganz verwunderliche Gedanken nicht sowohl vertiefen, als verstricken mu-
te. Ihr wit es ja alle, ihr wackern Kumpane meines frhlichen Jugendlebens,
ihr wit es ja alle, wie ich mich von jeher als Geisterseher gebehrdete und wie
mir nur einer wunderbaren Welt seltsame Erscheinungen ins Leben treten
wollten, die ihr mit derbem Verstande wegzuleugnen wutet!142
Die bei der Suche nach dem Grund der exzeptionellen Erscheinung ent-
stehenden Assoziationsketten fhren buchstblich zu einem Festbannen
des assoziierenden Subjekts: Es bleibt stehen, gert aus dem gemein-
samen Takt und Rhythmus, whrend Menschen mit derbem Verstand
das Wunderbare schlicht wegzuleugnen wissen und so an dem Haus
vorbergehen knnen. Theodor geht nicht mehr im Rhythmus der Mas-
se und geht schlielich berhaupt nicht mehr, sondern bleibt wie fest-
gebannt stehen, um ohne Unterlass auf das Objekt der Faszination zu
starren. Indem Theodors Erfahrung im Gegensatz zu dem eine konti-
nuierliche Erfahrung suggerierenden Vorberschreiten der anderen
Menschen nicht fortschreitet, deutet sich zugleich ein Macht- und
Kontrollverlust des betrachtenden Subjekts an: Es ist wie festgebannt
und verstrickt sich in ganz wunderliche Gedanken. Der Wahnsinn,
um den es hier von Anfang an geht, ist so eine Asynchronitt, eine St-
rung in der Gemeinsamkeit der Zeit. Theodors Selbstbezeichnung als
Geisterseher versieht sein Aus-dem-Takt-fallen mit einem kulturellen
142 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
166f.
199
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Code, indem es zugleich auf Kants Trume eines Geistersehers und auf
Schillers fragmentarischen Roman Der Geisterseher anspielt.
Theodors Modus der Erfahrung ist keine wogende Kontinuitt,
sondern eine betrachtende Versenkung ins Objekt, eine Versenkung, die
Hoffmann allerdings von Beginn an als pathologisch und obsessiv cha-
rakterisiert und damit deutlich von der Topik des philosophischen Stau-
nens absetzt. Theodor ist von dem seltsamen Objekt derart gebannt,
dass er buchstblich nicht mehr an ihm vorbergehen kann, sondern es
fixieren muss:
200
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Haus zunichte macht, fragt sich Theodor zum ersten Mal, ob die von der
Erscheinung des Hauses hervorgerufenen Phantasien ihn mglicherweise
in die Nhe des Wahnsinns gebracht haben: Dann dachte ich wieder:
Bist du nicht ein recht wahnsinniger Tor [...], schelten deine Freunde
dich nicht mit Recht einen berspannten Geisterseher?146
Was also bedeutet Wahnsinn in Das de Haus? Wahnsinn tritt in
Hoffmanns Erzhlung in seiner allgemeinsten Form als die Benennung
einer Sensibilitt auf, einer Disposition fr eine Erfahrung, welche die
gewhnlichen Grenzen der Erfahrung berschreitet. Wenn aber nur be-
stimmte Menschen zu dieser Belebung ihrer Wahrnehmung befhigt sind
und ihre Wahrnehmungen fr die Allgemeinheit unzugnglich bleiben,
werden die gewhnlichen Brger diesen Menschen unweigerlich mit
Misstrauen begegnen. Euch wird nun, sagt der Enthusiast in Das
Sanctus zum Kapellmeister, alles einmal gleich zur Oper und daher
kommt es denn auch, da die vernnftigen Leute, die die Musik behan-
deln wie einen starken Schnaps, den man nur dann und wann in kleinen
Portionen geniet zur Magenstrkung, Euch manchmal fr toll halten.147
Es ist demnach mglich, in der Thematisierung des Wahnsinns in diesen
Erzhlungen das Modell des Enthusiasmus wiederzufinden.
Das de Haus, so knnte man sagen, erzhlt die Geschichte einer
Phantasie, die ganz im Sinne des serapiontischen Prinzips beginnt,
mit geistigen statt mit leiblichen Augen zu schauen. Zugleich ist es aber
auch die Geschichte eines sich steigernden Wahnsinns, denn Theodor be-
ginnt, die Wirklichkeit durch Produkte seiner Einbildungskraft zu er-
setzen. Meine Fantasie war im Arbeiten,148 sagt Theodor ber seine
Bemhungen, sich der ertrumten Frau anzunhern. Der Kranke nimmt
entweder gar nichts von dem wahr, was um ihn herum vorgeht, oder er
nimmt die usseren Gegenstnde falsch war, und unterscheidet sie nicht
genau von den Phantomen, die seine Phantasie ausheckt,149 heit es in
Reils Rhapsodieen ber die Anwendung der psychischen Curmethode auf
Geisteszerrttungen (1803), jenem Buch, in dem Theodor sich selbst
wieder fand:
War es Absicht oder Zufall, da einer der Freunde, welcher Arzneikunde stu-
dierte, bei einem Besuch Reils Buch ber Geisteszerrttungen zurcklie. Ich
fing an zu lesen, das Werk zog mich unwiderstehlich an, aber wie ward mir, als
146 Ebd.
147 Ebd., S. 148f. (Das Sanctus).
148 Ebd., S. 174 (Das de Haus).
149 Reil: Rhapsodieen ber die Anwendung der psychischen Curmethode
(wie Anm. 69), S. 65.
201
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ich in allem, was ber fixen Wahnsinn gesagt wird, mich selbst wieder
fand!150
Wenn man erkennt, dass die narrative Struktur der Erzhlung nicht unab-
hngig ist von den Vorstellungen ihrer Hauptfigur; wenn mit anderen
Worten die Erzhlung so entschieden die Perspektive ihrer Figur ein-
nimmt, dass Phantasma und Realitt fr den Leser ununterscheidbar
werden mssen und Freuds Einsicht, da es im Unbewuten ein Rea-
littszeichen nicht gibt, so da man die Wahrheit und die mit Affekt be-
setzte Fiktion nicht unterscheiden kann,151 folglich auch fr die Erzh-
lungen Hoffmanns gelten muss , dann wird es mglich und ntig, durch
die Beschreibung der textuellen Organisation die Art und Weise des
Wahnsinns Theodors nher zu erkennen. Es wird zu fragen sein, wie
Theodors Einbildungskraft die verschiedenen Vorstellungen zu einer
Realitt kombiniert.
Ich kenne jemanden, dem jene Sehergabe, von der wir sprechen,
ganz vorzglich eigen scheint,152 sagt Hoffmanns Protagonist Franz in
der Rahmenhandlung der Erzhlung.
Daher kommt es, da er oft unbekannten Menschen, die irgend etwas ver-
wunderliches in Gang, Kleidung, Ton, Blick haben, Tagelang nachluft, da er
ber eine Begebenheit, ber eine Tat, leicht hin erzhlt, keiner Beachtung wert
und von niemanden beachtet, tiefsinnig wird, da er antipodische Dinge zusam-
150 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
181 (Das de Haus).
151 Sigmund Freud: Aus den Anfngen der Psychoanalyse. Briefe an Will-
helm Flie, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1950, S. 187 (Brief an Wilhelm
Flie, 21. 09. 1897).
152 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
164 (Das de Haus).
202
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
men stellt und Beziehungen heraus fantasiert, an die niemand denkt. Lelio rief
laut: Halt, halt, das ist ja unser Theodor [...].153
Wenn die Freunde Franz und Lelio dem Erzhler von Das de Haus,
Theodor, eine Sehergabe zuschreiben, dann aufgrund seiner spezifi-
schen Gabe zur Assoziation. Die derart begabte Person stellt Bezie-
hungen zwischen Vorstellungen (Dingen) ebenso wie zwischen
oft unbekannten Menschen her, die berraschend und unerwartbar
sind. Und tatschlich fhrt die Erzhlung immer wieder das Vermgen
Theodors vor, Dinge und Personen zu assoziieren. Die Wirkung des
den Hauses mitten in der Stadt wird entsprechend als Genese einer
Assoziierung oder vielmehr einer ganzen Kette von Assoziationen darge-
stellt.
Diese Assoziationsketten werden dadurch in Gang gesetzt, dass
Theodor versucht, durch einzelne Beobachtungen vor dem Haus ein voll-
stndiges Bild von der rtselhaften Bewohnerin zu erhalten. Theodor be-
gibt sich zum Konditor, um dort weitere Indizien eines Geheimnisses zu
erfahren. Die Aussagen des Konditors dienen smtlich als Indizien zur
Lsung eines Rtsels: In dem den Gebude soll es der allgemeinen
Sage zufolge hlich spuken;154 der Konditor habe von dort oft selt-
same Klagelaute155 gehrt und auch einen sonderbaren Gesang, der
mit der Stimme eines alten Weibes fremdlndische Tne (Mir war so,
als wrden franzsische Worte gesungen156) angestimmt habe. Geheim-
nisumwittert wirkt zudem die sonderbare Gestalt157 des Hausverwal-
ters, der den Laden des Konditors in dem Augenblick betritt, in dem der
Konditor von seinen Beobachtungen berichtet.
Der gesamte Raum der Erzhlung ist durchwoben von Gerchten, die
kaum ein stimmiges Bild von den Vorgngen in dem Haus ergeben. In
den Vordergrund gert so der Akt des Erzhlens, dessen Objekt das
Erzhlte in dem Nebel desjenigen verschwindet, ber das kein sicheres
Wissen verfgbar ist. Es gibt nicht nur die Instanz des fiktiven Erzhlers
Theodor und nicht nur das, was er von dem wiedergibt, was andere Fi-
guren berichten. Mein Bruder, sagt etwa der Konditor ber den eigen-
artigen Hausverwalter, ging ihm einmal zu Leibe wegen des wunderli-
chen Getns zur Nachtzeit, da sprach er aber sehr gelassen: Ja! die
Leute sagen alle, es spuke im Haus, glauben Sie es aber nicht, es tut nicht
153 Ebd.
154 Ebd., S. 170.
155 Ebd.
156 Ebd., S. 171.
157 Ebd.
203
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
wahr sein.158 Die Sprache des Gerchts stellt sich zwischen die Haupt-
figur und den Ort des Geheimnisses. Das Gercht scheint ohne Ursprung
zu sein, ohne die Mglichkeit, seine Herkunft aufzufinden; es ist voller
Irritationen, Widersprche, neuer Rtsel.159
Theodors Ziel ist es, aus diesen disparaten Sprachfetzen ein kohren-
tes Bild von den Vorgngen im Haus und den dort handelnden Figuren
zu formen; insofern ist er ebenso ein Schreibender wie ein Lesender (wie
jeder Lesende). Nachdem er den Laden des Konditors verlassen hat, be-
ginnt seine Phantasie, die gesammelten Daten zu verbinden, um eine
Vorstellung (ein Bild) des verborgenen Zusammenhangs zu erstellen.
Theodor verwandelt die sprachlichen Aussagen in den Zusammenhang
einer bildlichen Vision: Auf der Ebene des Phantasmatischen verschwin-
det das Zeichen zugunsten eines Sinns. Dieser ist ein Phantasma in genau
dem Sinn, wie Aristoteles das phantasma in seiner Untersuchung De me-
moria et reminiscentia definiert: als das Vorstellungsbild160 eines ver-
gangenen Sinneseindrucks, der so lebhaft und krftig wirken kann, dass
er mit einem gegenwrtigen sinnlichen Eindruck verwechselt werden
kann.161 Bei Hoffmann entwickelt das Phantasma schlielich eine Macht,
die das Konzept des Phantasmas im psychoanalytischen Diskurs antizi-
piert: Es wird zur stetigen Einwirkung einer nicht-gegenwrtigen, phan-
tastischen Kraft der Einbildung in die Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Da die Anwesenheit des Sinns sich mit der Vorstellung erotischer Er-
fllung verbindet, handelt es sich bei dem Phantasma notwendig um das
Bild einer attraktiven (buchstblich: anziehenden) Frau.162 Der Motor
204
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
und Antrieb der Einbildungskraft ist hier das Begehren, die erotische At-
traktion.163
Mute ich denn nicht die Erzhlung von dem seltsamen, schauerlichen
Gesange mit dem Erscheinen des schnen Arms am Fenster in Verbindung set-
zen? Der Arm sa nicht, konnte nicht sitzen an dem Leibe eines alten ver-
schrumpften Weibes, der Gesang nach des Konditors Beschreibung nicht aus
der Kehle des jungen blhenden Mdchens kommen. Doch fr das Merk-
zeichen des Arms entschieden, konnt ich leicht mich selbst berreden, da
vielleicht nur eine akustische Tuschung die Stimme alt und gellend klingen
lassen, und da eben so vielleicht nur des, vom Graulichen befangenen,
Konditors trgliches Ohr die Tne so vernommen.164
Das Aufgehen eines Bildes geschieht durch eine ganze Reihe von
Assoziationen, die sich als metonymische Verschiebungen die Zusam-
menstellung antipodischer Dinge beschreiben lassen. Der Arm wird
zum Merkzeichen, das auf ein junges blhendes Mdchen verweist,
woraus Theodor konsequent folgert, dass der Konditor die Stimme einer
205
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
alten Frau nur durch eine akustische Tuschung vernommen haben konn-
te. In einem weiterem Schritt beginnt Hoffmanns Protagonist, ein Bild zu
phantasieren, das aus zwei Personen besteht. Durch die metonymische
Zuordnung der disparaten Vorstellungen zu zwei Figuren ergibt sich die
Szene eines Dramas. Statt der unzusammenhngenden Worte erhlt Hoff-
manns Hauptfigur die Deutlichkeit und Evidenz, die das 18. Jahrhundert
nur dem sichtbaren Bild zubilligt.
Nun dacht ich an den Rauch, den seltsamen Geruch, an die wunderlich ge-
formte Krystallflasche, die ich sah, und bald stand das Bild eines herrlichen,
aber in verderblichen Zauberdingen befangenen Geschpfs mir lebendig vor
Augen. Der Alte wurde mir zum fatalen Hexenmeister, zum verdammten Zau-
berkerl, der vielleicht ganz unabhngig von der Grflich Sschen Familie ge-
worden, nun auf seine eigne Hand in dem verdeten Hause Unheilbringendes
Wesen trieb.165
Im Mittelpunkt der Obsession Theodors steht ein Bild: das Bild eines
herrlichen, aber in verderblichen Zauberdingen befangenen Geschpfs.
Der Begriff des Bildes wenn man denn von einem Begriff reden mag
ist mehrdeutig. Ein Bild kann hier sowohl ein Phnomen sein, eine
wunderliche Einzelheit, wie auch berblick auf den Zusammenhang der
Dinge untereinander.
Wenn Theodor das Bild jener buchstblich bezaubernden jungen
Frau vor Augen steht, handelt es sich dabei einerseits um ein Detail, eine
Einzelheit, die er im Fenster des Hauses sieht und die ihre Gestalt freilich
bereits seiner Phantasie verdankt. Andererseits handelt es sich dabei um
das von ihm ersehnte Bild, das alle Rtsel in einem zentralen Sinn auf-
lst: der jungen, schnen Frau, die im Haus gefangengehalten wird und
die auf den Retter (Theodor) wartet. Theodors Phantasie bringt einen Ro-
man hervor: ein Geschichte, die ihn selbst als Helden einer Befreiung
sieht. Hoffmanns Text formuliert eine Poetik der Lektre, derzufolge das
Lesen eines Textes in die Ganzheit eines geschauten Bildes berfhrt
206
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
werden soll, und ironisiert diese Poetik zugleich, indem er mit Theodor
die Verirrungen und den Wahn eines paradigmatischen Lesers vorfhrt.
Im Prozess der Einbildungen und Phantasmen ist das Bild damit an
zwei Stellen wirksam. Zum einen ist es das Ergebnis einer Synthese, die
verschiedene Einzelvorstellung zu einer Ganzheit der Ganzheit eines
temporren Verlaufs oder derjenige einer imaginierten Person verbin-
det, zum anderen ist es auch eine einzelne Vorstellung, die als Partikel
der Realitt (und nicht als Ergebnis einer Syntheseleistung) aufgenom-
men wird. Hoffmanns Protagonist Theodor ist so jederzeit potentiell zu-
gleich der Produzent und das Opfer seiner eigenen Phantasmen. Durch
die Einwirkung des phantasmatischen Bildes verfllt Theodor dem
Wahnsinn, aber die Notwendigkeit dieses Bildes entspringt der Struktur
von Erfahrung berhaupt. Wenn es die produktive Einbildungskraft ist,
welche die Kontinuitt der Erfahrung herstellt indem sie ein inneres
Bild pltzlich [...] mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zu-
kunft verknpft, dann ermglicht sie zugleich einen wahnhaften Riss in
der Zeit durch fixe Ideen und das Herausfallen des einzelnen aus der
kollektiven Zeit.
Nicht nur fr Serapion, sondern fr alle Protagonisten der Erzhlun-
gen Hoffmanns gilt, dass ihre Zeit immer ein Produkt ihrer Einbildungs-
kraft ist und insofern jederzeit eine Zeit des Traums, der Trumerei, des
Phantasmas und letztlich des Wahnsinns werden kann. Eine Verbindung
des Wahnsinns mit der durch die Einbildungskraft gebildeten Zeit deu-
tet Kant im Versuch ber die Krankheiten des Kopfes an, wenn er ber
die Mglichkeit des gestrten Erinnerungsvermgens spricht. Denn
dieses, schreibt Kant hier, tuschet den Elenden, der damit angefoch-
ten ist, durch eine chimrische Vorstellung wer wei was vor eines vor-
maligen Zustandes, der wirklich niemals gewesen ist.166 Wenn aber jede
Erinnerung als eine Reproduktion durch die Einbildungskraft nicht nur
ein eingebildetes Bild (ein Phantasma) darstellt, sondern notwendig po-
tentiell auch phantastisch ist (und also einen Zustand vorstellt, der
wirklich niemals gewesen ist), dann muss jeder Akt der Assoziation a
priori die Mglichkeit mit sich fhren, irregulr, irrefhrend, verfl-
schend und wahnsinnig zu sein.167
Dadurch, dass sich eine assoziierte Vorstellung einer aktuellen Vor-
stellung beigesellt, wird die kontinuierlich verlaufende Zeit durch dis-
kontinuierliche Elemente Erinnerungen, Vorahnungen, Phantasmen
und Wiederholungen aller Art gestrt. In dieser Strung der Zeit treffen
sich bei Hoffmann Narratologie und Wahnsinn. Immer wieder sucht ein
166 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 1, S. 897 (Versuch
ber die Krankheiten des Kopfes, A 26).
167 Vgl. Kapitel I. 5.
207
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
208
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
209
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
bruch und Riss einer anderen Zeit in die kontinuierliche Zeit verbindet
sich in Hoffmanns Erzhlungen immer wieder mit der Herstellung des
Bildes, der Synthese im Gemt der Akteure. Der Riss, mit dem die
Synthese in die Kontinuitt der Erfahrung einbricht, ist zugleich ein Em-
blem dafr, dass das synthetisierende Ich ber den Prozess der Synthe-
se keinerlei Kontrolle ausben kann. Im Gegenteil ist es dem Riss voll-
stndig ausgeliefert, insofern es seine Einheit und Ganzheit zuallererst
diesem prrationalen und disruptiven Akt verdankt.
210
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Eben so, wie der Arzt glaubte, fr mich nichts hinzufgen zu drfen, eben so
halte ich es fr ganz unntz, mich nun noch darber etwa zu verbreiten, in wel-
chem geheimen Verhltnis Angelika, Edmonde, ich und der alte Kammerdiener
standen, und wie mystische Wechselwirkungen ein dmonisches Spiel trie-
ben.180
Von hier aus gesehen erscheint die gesamte Geschichte als eine Ver-
flechtung wechselseitiger Beeinflussungen und Manipulationen. Wie
Neil Hertz schreibt, ist das Zusammenhandeln jedes beliebigen Figuren-
paares bei Hoffmann nicht so sehr als ein Ausdruck sinnvoller Zeichen
[...] dargestellt [...], sondern vielmehr als ein stets Hin- und Herflieen
starker Energien.181 Dass Theodor das weitere Fragen nach der Art die-
ser Relationen fr unntz erachtet, ndert nichts daran, dass in ihnen
der Schlssel zur Erzhlung liegt.
In seinem Aufsatz ber Das Unheimliche behandelt Freud auch die
energetischen Beziehungen zwischen den Akteuren Hoffmanns. Er be-
handelt diese Phnomene das Auftreten von Personen, die wegen ihrer
gleichen Erscheinung fr identisch gehalten werden mssen, oder die
Steigerung dieses Verhltnisses durch berspringen seelischer Vorgnge
211
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
von einer dieser Person auf die andere182 als Varianten des Doppel-
gngermotivs, und, auf der Ebene der psychologischen Systematik, als
Ich-Strungen. Als solche betrachtet, knnen diese Phnomene als Ich-
Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung183 beschrieben werden.
Der Diamant funkelt mir entgegen. [...] Ja! Sie war es, das anmutige, holdse-
lige Mdchen, Zug fr Zug! Nur schien ihr Blick ungewi. Nicht nach mir,
wie es vorhin schien, blickte sie, vielmehr hatten die Augen etwas todstarres,
und die Tuschung eines lebhaft gemalten Bildes wre mglich gewesen, htten
sich nicht Arm und Hand zuweilen bewegt.184
Um nicht zu sehr aufzufallen, setzt sich Theodor auf eine Bank vor dem
Haus und kann, ber die Lehne der Bank hinwegbeugend, [...] ungestrt
nach dem verhngnisvollen Fenster schauen.185 Unvermutet wird ihm
der Kauf eines Spiegels angeboten, und dieses optische Instrument wird
seine Obsession noch deutlich steigern:
182 Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. In: ders.: Gesammelte Werke.
Chronologisch geordnet. Hrsg. von Anna Freud u.a. Bd. 1-18. Frankfurt
am Main: S. Fischer 1940-1968, Bd. 12, S. 227-268, hier: S. 246.
183 Ebd.
184 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
176 (Das de Haus).
185 Ebd.
212
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
de Haus hinter mir, das Fenster und in den schrfsten deutlichsten Zgen die
holde Engelsgestalt meiner Vision. [...] Doch, indem ich nun lnger und ln-
ger das Gesicht im Fenster anblickte, wurd ich von einem seltsamen, unbe-
schreiblichen Gefhl, das ich beinahe waches Trumen nennen mchte, befan-
gen. Mir war es, als lhme eine Art Starrsucht nicht sowohl mein ganzes Regen
und Bewegen als vielmehr nur meinen Blick, den ich nun niemals mehr wrde
abwenden knnen von dem Spiegel.186
213
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
bel das Gemt des Knstlers in Doge und Dogaresse. Das Medium
dieser Heimsuchung ist dabei wiederum der Spiegel:
Den kleinen Taschenspiegel, der mir so tuschend das anmutige Bildnis re-
flektiert, hatte ich zum prosaischen Hausbedarf bestimmt. Ich pflegte mir vor
demselben meine Halsbinde fest zu knpfen. So geschah es, da er mir, als ich
einst dies wichtige Geschft abtun wollte, blind schien, und ich ihn nach be-
kannter Methode anhauchte, um ihn dann hell zu polieren. Alle meine Pulse
stockten, mein Innerstes bebte vor wonnigem Grauen! ja so mu ich das
Gefhl nennen, das mich bermannte, als ich, sowie mein Hauch den Spiegel
berlief, im blulichen Nebel das holde Antlitz sah, das mich mit jenem weh-
mtigen, das Herz durchbohrenden Blick anschaute!190
Die geliebte Frau, so suggeriert die Passage, kann jederzeit das Geschpf
von Theodors Phantasie sein. Wie in einer Parodie auf den gttlichen
Schpfungsakt ist es der Hauch seines Geistes, der das Spiegelbild zum
Leben erweckt, so dass es beginnt, seinen Schpfer mit jenem wehmti-
gen [...] Blick anzuschauen. Wenn Theodor meint, vom anderen ange-
schaut zu werden, tatschlich aber nur die Reflexion seines eigenen
Blickes wahrnimmt, dann ist der andere mglicherweise nichts anderes
als eine Projektion, eine tuschende Spiegelung, ein Phantasma.
Jener wehmtige, das Herz durchbohrende Blick der geliebten Frau
ist mglicherweise die in das Bild projizierte Wehmut Theodors, genhrt
von dem Wissen, nicht das Objekt, sondern nur ein Phantasma anzu-
schauen. Der Spiegel, kommentiert Max Milner, unterstreicht in er-
schreckender Weise den narzitischen Aspekt einer Liebe, welche den
Mangel, der jedem Begehren des Anderen anhaftet, nicht zu ertragen ver-
mag und die reale Welt auslscht, um die Allmacht eines in bertriebener
Weise Erfllung gewhrenden Imaginren an deren Stelle zu setzen.191
Diese Analyse bleibt unbefriedigend, weil sie zu entschieden die ra-
tionalistische Perspektive jenes nchternen Mannes einnimmt, der ne-
ben Theodor auf der Bank sitzt und sich ber dessen Phantastereien wun-
dert. In der Beziehung zwischen Theodor und dem Bild im Spiegel nichts
weiter sehen zu wollen als die Darstellung eines narzisstischen Phantas-
mas, hiee, um es mit Freud zu formulieren, hinter den Wahngebilden
in rationalistischer berlegenheit den nchternen Sachverhalt erken-
nen192 zu wollen.
214
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Die rationalistische Erklrung, die Vision der jungen Frau als das
Phantasma eines allmchtigen Subjekts zu verstehen, setzt eine Identi-
tt und Macht des Ich voraus, die in Hoffmanns Geschichte an keiner
Stelle behauptet wird. Das Ich wird in der Erzhlung nicht als das Zen-
trum einer phantasierten Struktur gesetzt, sondern erweist sich vielmehr
selbst als das Ergebnis eines Phantasmas. Insofern Theodors Blick in den
Spiegel nicht das eigene Selbst sichtbar werden lsst, sondern ein ande-
res, gehorcht er der Logik der sich verfehlenden Selbstreflexion, die
Schlegel als Struktur der Ironie beschrieben hat. Der Blick in den Spiegel
reflektiert nicht das eigene Selbst, sondern zeigt nur ein (fremdes) Ob-
jekt. Das reflektierte Gesicht tritt als das Gesicht des anderen hervor.
Hoffmann fhrt, mit anderen Worten, in der Geschichte des den Hau-
ses die Vorgngigkeit des Bildes vor dem bildenden Ich und die Vor-
gngigkeit des Prozesses der Reflexion vor dem reflektierenden Ich vor.
Insofern das reflektierende Ich seine eigene Identitt erst dem Ergebnis
eines reflexiven Aktes verdankt, den es weder antizipieren noch beherr-
schen kann, bleibt diese Identitt unverstndlich und fragil.
Indem er feststellt, dass das begehrte Mdchen sein eigenes Spiegel-
bild ist, erkennt Theodor, dass sein eigenes Ich phantasmatischer Natur
ist. Das Ich ist eine phantastische Vorstellung eines Ich. Es entspringt da-
mit, wie das Bild des begehrten Mdchens, einer projizierten Ver-
setzung, das von einer Zeit in die andere springt. Diese Erkenntnis ist im
Freudschen Sinne unheimlich, insofern sie eine Grenze zwischen dem
Ich und dem anderen innerhalb der Grenzen des Ich markiert. Das eige-
ne Ich wird alteriert, entfremdet.
Die junge Frau ist somit Theodor sie ist ein Objekt seiner Phanta-
sie; ihr Bild existiert als sein Phantasma. Das Bild, von dem sich
Theodor die Erfahrung von Ganzheit, Zusammenhang und Sinn ver-
spricht, ist demnach eine Projektion des eigenen Ich. Eine solche ist sie
im doppelten Sinne des Genitivs, denn sie entstammt nicht nur dem Ich
Theodors, sondern sie wirkt zugleich, durch einen Akt der Identifikation,
auf dieses zurck. Dadurch, dass er ein Bild der begehrten Frau phanta-
siert, findet Theodor zugleich seine eigene Identitt als derjenige, der be-
gehrt; als derjenige, der die gefangene Frau aus dem Haus rettet etc. Die
Phantasie entwickelt ein Drama, in dem sie dem Ich und der begehrten
Frau ihre Rollen und damit ihre Identitt zuweist.
Der Spiegel ist damit in Hoffmanns Erzhlung das Medium einer
narzisstischen Ich-Fiktion und Ich-Phantasmierung und zugleich das
Medium des Zerbrechens und der Dekonstitution dieses Ich, indem es
das Ich als anderes vorfhrt. Das zeigt sich deutlich in dem Moment, in
dem Theodor dem phantasierten Mdchen zum ersten Mal real begeg-
net. Wissen Sie wohl, da sich die Geheimnisse unseres den Hauses
215
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Ganz vertieft in Gedanken an die Geheimnisse, die mir der Graf entwickeln
wollte, hatte ich einer jungen Dame den Arm geboten und war mechanisch der
in steifem Zeremoniell sehr langsam daherschreitenden Reihe gefolgt. Ich fhre
meine Dame zu dem offnen Platz, der sich uns darbietet, schaue sie nun erst
recht an und erblicke mein Spiegelbild in den getreusten Zgen, so da gar
keine Tuschung mglich ist.195
Ich erblicke mein Spiegelbild: Die Sentenz ist doppelt lesbar; sie bein-
haltet eine quivokation.196 Sie bedeutet einerseits (elliptisch), ich er-
blicke das Bild der Frau, das ich in meinem Spiegel gesehen habe, die
Frau aus meinen Trumen, andererseits (literal), ich erblicke mein
Spiegelbild, das Bild, das ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue,
mich selbst. Eine Szene der Selbstaffektion: Zwar ist es klar, dass seine
Phantasie das Bild der jungen Frau geschaffen hat, doch erscheint
Theodor in der gesamten Szene vollkommen passiv. Hoffmann akzen-
tuiert diesen Umstand, indem er hervorhebt, Theodor sei der sehr lang-
sam daherschreitenden Reihe [...] mechanisch [...] gefolgt. Hoffmanns
Akteur verwandelt sich hier endgltig in eine jener Figurationen des Au-
tomatischen und Mechanischen, an denen sein Werk reich ist. Natrlich
spielt Hoffmann hier, wie auch bereits in einer Phrase aus der Szene vor
dem Fenster (ein sonderbar bnglich wonniges Gefhl durchstrmte mit
elektrischer Wrme mein Inneres197) wiederum auf den Mesmerismus
an, des kulturellen Paradigmas fr psychische Fernbeeinflussung.
Die Begegnung mit der begehrten Frau wird als die Geschichte einer
Identifikation erzhlt, in dem Sinne, in dem Lacan diese als eine beim
Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelste Verwandlung198
193 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
190 (Das de Haus).
194 Ebd.
195 Ebd.
196 Vgl. Barthes: S/Z (wie Anm. 139), S. 145f.
197 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
169 (Das de Haus).
198 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie
uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht fr den 16.
Internationalen Kongre fr Psychoanalyse in Zrich am 17. Juli 1949.
In: ders.: Schriften I. Ausgewhlt und hrsg. von Norbert Haas. bers. von
216
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
bestimmt. Mehr als hundert Jahre, bevor Lacan seine Theorie des Spie-
gelstadiums formuliert, fhrt Hoffmanns Das de Haus die Genese eines
imaginren Ich in der Beziehung zwischen Theodor und seinem Spiegel-
bild vor.199 Auch wenn es zunchst so wirken mag, als wrde die Ge-
schichte von nichts anderem erzhlen als von einem jener hoffmannesken
romantischen Phantasten, der an einem Begehren nach einer ertrumten
Frau scheitern und sich dann in einer Traumwelt verliert,200 zeigt sich in
der symbolischen Dramatik der Beziehungen zwischen den Figuren eine
Erkenntnis ber das Phantasmatische und das Imaginre, das Theodors
Ich ausmacht.
Wenn man in diesem Sinne die Begegnung der Hoffmannschen
Hauptfigur mit ihrem Spiegelbild als die Geburt eines imaginren Ich
versteht, kann dies zugleich helfen, die temporale (Un-)Struktur des
Pltzlichen, Brchigen, Zuflligen und also Unzeitigen in der Geschichte
zu erklren. Die Geschichte des Balls (der zahlreichen Gesellschaft)
nimmt diese diskontinuierlichen Momente in nuce wieder auf: Theodor
sieht das Bild der jungen Edmonde von Z. in seiner traumartigen Vision
(die er im Fenster des den Hauses wiedererkennt), bevor er ihr auf
dem Ball das erste Mal tatschlich begegnet. Die Versptung der Be-
gegnung gegenber dem ersten Sehen wird hier dramaturgisch verstrkt,
indem Theodor Edmonde erst erkennt, nachdem er ihr bereits den Arm
geboten hat und scheinbar vollstndig willenlos gefolgt war. Diese Dis-
kontinuitten knnen nunmehr auf den Vorgang zurckgefhrt werden,
in dem das Subjekt Theodor sein eigenes Ich erst in dem Umgang mit
seinem Spiegelbild erfindet und phantasiert.
Die Kohrenz des Ich ist demnach die Folge einer heterogenen Be-
ziehung eines Subjekts zu seiner Vorstellung von dem anderen und
damit zugleich zu seiner Vorstellung von seinem Ich wie auch die Fol-
Rodolphe Gasch, Norbert Haas, Klaus Laermann und Peter Stehlin. Ol-
ten, Freiburg i. Br.: Walter 1973, S. 61-70, hier: S. 64. Eine trgerische
Selbstidentifikation mit dem Ideal-Ich, formuliert Friedrich Kittler, er-
setzt das Subjekt durch denjenigen Anblick, den das Begehren des Ande-
ren zum Objekt hat. [...] Als Objekt des Begehrens der Anderen [...] ent-
steht also die imaginre Einheit Ich (Kittler: Das Phantom unseres
Ichs und die Literaturpsychologie [wie Anm. 130], S. 152f.)
199 Vgl. dagegen Lieb: Und hinter tausend Glsern keine Welt (wie Anm.
134), S. 69.
200 Vgl. James M. McGlathery: Madness in German Romanticism. In: The-
matics Reconsidered. Essays in Honor of Horst S. Daemmrich. Hrsg. von
Frank Trommler. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1995 (Internationale For-
schungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. 9),
S. 187-199, hier: S. 196.
217
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die Begegnung Theodors mit seinem Spiegelbild spiegelt selbst die rest-
liche Handlung der Erzhlung, insbesondere die Dynamik der Beziehun-
gen zwischen den Figuren. Die Bilder, die Theodor von der Figur der
Edmonde/Edwine wie auch von ihrer mutmalichen Mutter, der Grfin
Angelika von Z. entwickelt, knnen ebenso wie die daraus hervorge-
henden energetischen Einflsse auf seine Psyche als Folgen jener ur-
sprnglichen Ich-Spaltung, Ich-Teilung und Ich-Verdopplung beschrie-
ben werden, die zuallererst die Genese eines Ich ermglicht. Wenn man
die Handlung der Erzhlung rekapituliert, mag man versucht sein, der Fi-
gur der Mutter (der im Haus gefangenen, wahnsinnigen alten Frau) die
Rolle jenes Anderen zuzuschreiben, dessen Begehren Theodor wirklich
begehrt und welche die eigentliche Figur hinter dem Phantasma der
jungen Frau ist. Der Text legt diese Perspektive insofern nahe, als er in
der Szene des zweiten Eindringens Theodors in das Haus vorfhrt, wie
das Phantasma des Mdchens in die Gestalt der alten, wahnsinnigen Frau
bergeht.
Rasend vor drstendem Liebesverlangen strzte ich auf die Tr; sie wich mei-
nem Druck [...]. Starkduftendes Rucherwerk wallte in blauen Nebelwolken auf
mich zu. Willkommen willkommen, ser Brutigam die Stunde ist da, die
Hochzeit nah! So rief laut und lauter die Stimme eines Weibes, und eben so
wenig, als ich wei, wie ich pltzlich in den Saal kam, eben so wenig vermag
ich zu sagen, wie es sich begab, da pltzlich aus dem Nebel eine hohe jugend-
liche Gestalt in reichen Kleidern hervorleuchtete. Mit dem wiederholten gellen-
den Ruf: Willkommen, ser Brutigam, trat sie mit ausgebreiteten Armen
201 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 2/2, S.
73 (Elixiere des Teufels).
218
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
mir entgegen und ein gelbes, von Alter und Wahnsinn grlich verzerrtes
Antlitz starrte mir in die Augen. Von tiefem Entsetzen durchbebt wankte ich
zurck; wie durch den glhenden, durchbohrenden Blick der Klapperschlange
fest gezaubert, konnte ich mein Auge nicht abwenden von dem grulichen alten
Weibe [...].202
Wieder und wieder die gleichen Oppositionen: der bergang von einer
mnnlich codierten Aktivitt (Eindringen in das Haus, Durchbrechen
der Tr in drstendem Liebesverlangen) zu einer weiblich codierten
Passivitt (festgezaubert sein, angestarrt werden). Pltzlich, auerhalb
jeder kontinuierlicher Kausalitt, befindet sich Theodor im Saal, und
ebenso pltzlich tritt ihm die Gestalt der begehrten Gestalt entgegen.
Wie in der Szene, in der Theodor die Hand der Frau im Fenster des Hau-
ses sieht, tritt die begehrte Gestalt aus einem undurchsichtigen Nebel her-
vor. Sowohl die blauen Nebelwolken als auch das starkduftende Ru-
cherwerk verweisen indem sie die Nhe von Rauch und Rausch be-
merken lassen auf das Halluzinatorische der Szene.203
Kaum ist die begehrte Gestalt der jungen Frau erschienen, ver-
wandelt sie sich hier jedoch in die gefrchtete Gestalt eines grulichen
alten Weibes, wie der Leser spter erfhrt, die Grfin Angelika von
Z.. Einen Moment spter geschieht die gleiche Verwandlung noch ein-
mal in die andere Richtung, und Theodor meint, hinter der Maske des
alten und hsslichen Gesichts die Zge des begehrten Mdchens er-
kennen zu knnen: Sie trat nher auf mich zu, da war es mir, als sei das
scheuliche Gesicht nur eine Maske von dnnem Flor, durch den die
Zge jenes holden Spiegelbildes durchblickten.204 Gleich einem Vexier-
bild scheinen sich beide Gesichter fr einen Moment ineinander zu ver-
schrnken, und Theodor scheint, in der Gestalt vor ihm beide Gesichter
zugleich erkennen zu knnen. Sptestens in dieser Szene lst sich also
die anfngliche Charakterisierung Theodors ein, nach welcher er antipo-
dische Dinge zusammenstellt.
Es mag naheliegend erscheinen, aus dieser Szene zu schlieen, die
Gestalt der alten Frau sei die Wahrheit der jungen, und der bergang von
der schnen Figur zur hsslichen sei das Auftauchen Theodors aus dem
219
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Ich verstummte. Nur der Engelsblick, den die holdseligen Augen des Md-
chens mir zuwarfen, half mir wieder auf. Ihr wit, wie man bei derlei Gelegen-
heit die geistigen Fhlhrner ausstrecken und leise, leise tasten mu, bis man
die Stelle findet, wo der angegebene Ton wieder klingt. So macht ich es und
fand bald, da ich ein zartes, holdes, aber in irgendeinem psychischen berreiz
verkrnkeltes Wesen neben mir hatte.207
205 Vgl. Heiko Christians: ber den Schmerz. Eine Untersuchung von Ge-
meinpltzen. Berlin: Akademie 1999, bes. S. 72-111.
206 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
190 (Das de Haus).
207 Ebd., S. 191.
220
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
221
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Hoffmanns Geschichte berichtet jedoch nicht nur ber die Macht des
Imaginren, sondern sie zeigt auch dessen Struktur auf und also: seine
Zeit. Einerseits wird vorgefhrt, inwiefern die Kontinuitt der Zeit und
nach Kant ist das Subjekt nichts anderes als diese208 imaginr, d.h. in
einem diskontinuierlichen Akt der Einbildung geschaffen ist. Anderer-
seits ist es die Bedingung der Mglichkeit dieser imaginren Zeitgebung,
dass das Phantasma, sobald es existiert, keiner Macht des Subjekts unter-
steht und jederzeit in seiner Erfahrung auftauchen und diese unterbrechen
kann.
Eine Warnung vor der Macht des Phantastischen spricht in aller
Deutlichkeit die Anekdote aus Theodors Jugend aus, die einzige Mit-
teilung, die der Text ber die Vergangenheit seines Akteurs liefert.
Das Drama der Identifikation Theodors mit der in seinem Spiegel auftau-
chenden Gestalt erhlt hier ihre Urszene. Zunchst hat die Geschichte aus
Theodors Kindheit die Funktion, seine Person nher zu charakterisie-
ren, die Kohrenz eines psychologischen Zusammenhangs zu suggerie-
ren: Theodor ist derjenige, der schon in seiner Jugend dazu geneigt war,
ein Trumer im Wachen zu sein, Gespenster zu sehen etc.
Insofern die Szene aus Theodors Kindheit freilich eine spezifische
Form des Phantasierens, die Identifikation, behandelt, stellt sie zugleich
ein Drama der Adoleszenz dar. Wenn der Spiegel, vor dem Theodor ger-
ne stehenbleibt, gerade der groe Spiegel in seines Vaters Zimmer
ist, dann ist es die dipale Identifikation mit seinem Vater, welche die
Wartfrau verbieten will. Das Ammenmrchen soll die Rume des
208 Vgl. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (wie Anm. 79), S.
191f.
209 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
177f. (Das de Haus).
222
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
223
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
224
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
217 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
194 (Das de Haus).
218 Ebd.
219 Ebd.
220 Ebd., S. 195 (Hervorhebung von mir, O. K.).
221 Ebd.
225
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
226
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
nen, der auch ihn selbst beherrscht. Dies wre eine Identifikation mit der
Identifikation, ebenso, wie die Geschichte des Grafen (und diejenige
Theodors) die Macht des Erzhlens das Imaginre und Phantastische
behandelt.
So bemerkt Doktor K. gegen Ende der Erzhlung: brigens mag
ich jetzt nicht verhehlen, da ich mich nicht wenig entsetzte, als ich,
nachdem ich mich mit Ihnen in magnetischen Rapport gesetzt, ebenfalls
das Bild im Spiegel sah. Dass dies Bild Edmonde war, wissen wir nun
beide.227 Das Wissen, um das es hier geht (dass die junge Frau Ed-
monde ist), beruht jedoch auf nichts anderem als der Evidenz einer Er-
zhlung auf dem Medium des Phantastischen und Imaginren und
bleibt insofern strukturell eine Tuschung und Verblendung. Jeder Blick
in den Spiegel zeigt ein fremdes Gesicht, insofern er zuallererst ein
Gegenber inauguriert, anhand dessen berhaupt Eigenheit und
Fremdheit hervorgebracht werden knnen. Der Blick in den Spiegel er-
mglicht es, ich zu sagen, aber diese Aussage ist zugleich die wahn-
hafte Folge einer trgerischen Identifikation mit einem fremden Ge-
sicht. Diese Macht des Imaginren, ihre Kraft, im Spiegel ein frem-
des Gesicht erscheinen zu lassen, fhrt Hoffmanns Geschichte vor.
227 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 3, S.
198 (Das de Haus).
228 Den wenigen Studien zu der Erzhlung gelingt es kaum, deren Struktur
erschpfend zu beschreiben. Der Aufsatz von Bernhild Boie konzentriert
sich ausschlielich auf das Motiv der mechanischen Figur (Bernhild
Boie: Die Sprache der Automaten. Zur Autonomie der Kunst. In: Collo-
quia Germanica 51 [1981], S. 284-297). Die Studie OBriens zu Die Au-
tomate ist anregend (William Arctander OBrien: E.T.A. Hoffmanns cri-
tique of Idealism: Psychology, allegory and philosophy in Die Automate.
227
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
[W]ie sind wir doch so bitter getuscht worden!, ruft Ludwig nach dem
ersten Besuch beim Professor X. aus: wo sind die Aufschlsse, nach denen
wir trachteten, wie blieb es mit der lehrreichen Unterhaltung, in der uns der
weise Professor erleuchten sollte, wie die Lehrlinge zu Sais?231
Es liegt nahe, die ausbleibende Enthllung des Rtsels als einen Moment
der narrativen Struktur der Erzhlung zu begreifen. Dieser Eindruck wird
dadurch verstrkt, dass es schwer fllt, nur zu benennen, worin eigentlich
228
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
das zentrale Rtsel der Erzhlung liegt. Der Beginn der Erzhlung lsst
eine Geschichte erwarten, die um die Auflsung des Rtsels des spre-
chenden Trken zentriert ist: Der redende Trke machte allgemeines
Aufsehen, ja er brachte die ganze Stadt in Bewegung, denn Jung und Alt,
Vornehm und Gering, strmte vom Morgen bis in die Nacht hinzu, um
die Orakelsprche zu vernehmen, die von den starren Lippen der wun-
derlichen lebendigtoten Figur den Neugierigen zugeflstert wurden.232
Schon der erste Satz entfaltet ein Spiel verschiedener Oppositionen,
welche die Geschichte rasch komplexer gestalten. Zunchst einmal der
offensichtliche Skandal der lebendigtoten Figur, einer schieren Un-
mglichkeit, solange die Gegenberstellung von lebendig und tot
nicht zulsst, dass ein Wesen beides zugleich ist oder einen dritten Zu-
stand zwischen beiden einnimmt. Die Kreuzung der Unterscheidung zwi-
schen lebendig und tot wird insbesondere dadurch markiert, dass
das mechanische Wesen spricht, indem es den neugierigen Beobachtern
ber starre Lippen seine Orakelsprche zuflstert. Der Besitz von
Sprache ist allerdings, ebenso wie das Verfgen ber eine Stimme, wel-
che Worte zuflstern kann, in der gesamten philosophischen Tradition
des Abendlands schlechthin dasjenige, das den Menschen im Unterschied
zum Tier und zur Maschine definiert.
Bereits der erste Satz der Erzhlung kann bei seinen Lesern somit
durchaus jene eklatanteste Konfusion233 hervorrufen, welche Peter von
Matt in der Erzhlung insgesamt am Werk sieht. Dieser Eindruck ver-
strkt sich noch, da es im Lauf der Erzhlung zunehmend fragwrdig
wird, ob das Rtsel um den sprechenden Trken wirklich deren Thema
ist. Nachdem Hoffmann eine ausfhrliche Beschreibung und Prosopogra-
phie der mechanischen Figur (eine wahrhaft orientalisch geistreiche
Physiognomie234) gegeben hat, schildert er einige vergebliche Versuche,
die Mechanik der Figur zu verstehen. Wie das de Haus, so ist die Fi-
gur des sprechenden Trken von einem diskursiven Raum des Gerchts
und des Geschwtzes umgeben, in dem die Meinungen und Urteile ber
die Natur des rtselhaften Dings umherschweifen: Man erschpfte sich
in Vermutungen ber das Medium der wunderbaren Mitteilung, man un-
tersuchte Wnde, Nebenzimmer, Gert, alles vergebens.235
In dieser Situation einer alles umgreifenden Fama betreten Hoff-
manns Hauptakteure, die beiden Freunde Ludwig und Ferdinand, die
Szene. Diese suchen nicht mehr nach der mechanischen Struktur des
229
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Trken, sondern nach der Art und Weise, wie die mechanische Figur
eine Verbindung zwischen Personen herstellt. Die komplexe Konstruk-
tion des sprechenden Trken wird nun als ein Manver der Ablenkung
von dem wahren Geheimnis gewertet (Seine [...] Figur ist etwas ganz
Untergeordnetes236). Das wirkliche Geheimnis, so vermutet Ferdinand,
liegt in dem menschlichen Wesen, welches die Figur des Trken als
Medium gebraucht, und in der geistigen Macht dieses unbekannten
menschlichen Wesens, vermge dessen es in die Tiefe des Gemts des
Fragenden zu dringen scheint.237 Das Modell der Mechanik wird ersetzt
durch ein hermeneutisches Modell der Kommunikation, der Relation ver-
schiedener Individuen zueinander.
Wenn die mechanische Figur nur die Aufmerksamkeit des Betrach-
ters von einer Kontaktaufnahme durch ein menschliches Wesen ablenken
soll, dann gilt es, nach dem Wesen hinter dem Automaten und nach der
Art und Weise der Relation jener verborgenen Figur zu den Besuchern
des sprechenden Trken zu fragen. Diese Frage stellt sich umso eher,
als der Besuch Ferdinands und Ludwigs bei der mechanischen Figur of-
fenbart, dass diese um die Vorgeschichte Ferdinands eine scheinbar
hoffnungslose Liebe zu einer Sngerin wei. Ludwig kann sich dieses
Wissen nur durch das Potential des Wesens hinter der Maschinerie er-
klren, sich mit uns in einen solchen geistigen Rapport zu setzen, dass
es unsere Gemtsstimmung, ja unser ganzes inneres Wesen auffat.238
Der Terminus Rapport zeigt, dass hier abermals, wie im gesamten
uvre Hoffmanns, der Mesmerismus das Modell fr die Energiestrme
zwischen den Figuren liefert.
Durch die Suche nach dem Ursprung und der Identitt dieser Macht
hinter der Mechanik erhlt die Erzhlung eine neue Wendung. Der von
einem ltlichen Mann239 als Schpfer des Automaten in die Diskussion
gebrachte Professor X. fhrt zwar bereitwillig seine musikproduzie-
renden Automaten vor, enttuscht die Freunde aber durch seine markt-
schreierische Art,240 was ihn eher als einen dubiosen Scharlatan241
und weniger als einen Meister mesmeristischer Knste erscheinen lsst.
Die beiden Freunde verlassen enttuscht das Anwesen des Professors und
fhren im Gehen einen lngeren Dialog ber das Wesen der Musik und
die Bedeutung der Mechanik fr diese. Dabei kommen sie, scheinbar oh-
ne Absicht, wieder zurck zum Haus des Professors X. und glauben
230
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Dieser knappe berblick ber die Handlung gengt, um das Ausma der
Konfusion in Die Automate zu begreifen. Doch es gilt, die im An-
schluss an die Erzhlung im Kreis der Serapionsbrder geuerte Recht-
fertigung Theodors zu beachten, die Erzhlung sei nur ein Fragment.245
Die merkwrdige Historie vom redenden Trken sei sogar von Haus
aus fragmentarisch, fhrt Theodor fort. Ich meine, die Fantasie des
Lesers oder Hrers soll nur ein paar etwas heftige Rucke erhalten und
dann sich selbst beliebig fortschwingen.246
242 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
427 (Die Automate).
243 Ebd.
244 Lothar Pikulik: E.T.A. Hoffmann als Erzhler. Ein Kommentar zu den
Serapions-Brdern. Gttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S.
121: Ob auch im Falle Ferdinands eine Macht manipulierend in sein Le-
ben eingreift und ob zu seinem Heil oder Unheil; welcher Zusammen-
hang zwischen Professor X. und der Sngerin und zwischen diesen und
dem Automaten besteht; was es mit dem russischen Offizier fr eine Be-
wandtnis hat und in welchem Verhltnis alle diese Personen zu Ferdinand
stehen, das bleibt ungeklrt.
245 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
427.
246 Ebd., S. 427f.
231
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
232
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
252 Vgl. OBrien: E.T.A. Hoffmanns critique of Idealism (wie Anm. 228), S.
385.
253 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
403.
233
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
hof zurckkehrten, erwartete uns schon der kstliche Punsch, [...] den wir
uns [...] wacker schmecken lieen, so da ohne eigentlich berauscht zu
sein, mir doch alle Pulse in den Adern hmmerten und schlugen.254 Es
folgt mit einer nicht nur fr Hoffmanns Erzhlungen, sondern generell
fr die phantastische Narration charakteristischen subtilen sprachlichen
Modalisierung255 der bergang in eine Sphre, in der real Geschehe-
nes und Eingebildetes fr den Akteur wie fr den Leser nicht zu tren-
nen sind: Es war mir, als wrde in dem Nebenzimmer leise gespro-
chen.256 Die folgende Szene fhrt vollends in den Bereich des Phantasti-
schen. Ferdinand hrt nun einige leise Akkorde eines Fortepianos und
die herrliche gttliche Stimme eines Weibes.257 Die Reaktion Ferdi-
nands auf die nun erklingenden Tne ergibt sich aus dem Vokabular des
Enthusiasmus, der Ekstase:
Wie soll ich es denn anfangen, dir das nie gekannte, nie geahnete Gefhl nur
anzudeuten, welches die langen bald anschwellenden bald verhallenden T-
ne in mir aufregten. Wenn die ganz eigentmliche, nie gehrte Melodie ach
es war ja die tiefe, wonnevolle Schwermut der inbrnstigen Liebe selbst wenn
sie den Gesang in einfachen Melismen bald in die Hhe fhrte, da die Tne
wie helle Krystallglocken erklangen, bald in die Tiefe hinabsenkte, da er in
den dumpfen Seufzern einer hoffnungslosen Klage zu ersterben schien, dann
fhlte ich, wie ein unnennbares Entzcken mein Innerstes durchbebte, wie der
Schmerz der unendlichen Sehnsucht meine Brust krampfhaft zusammenzog,
wie mein Atem stockte, wie mein Selbst unterging in namenloser, himmlischer
Wollust. Ich wagte nicht, mich zu regen, meine ganze Seele, mein ganzes Ge-
mt war nur Ohr. Schon lngst hatten die Tne geschwiegen, als ein Trnen-
strom endlich die berspannung brach, die mich zu vernichten drohte.258
234
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Der Schlaf mochte mich doch zuletzt bermannt haben, denn als ich von dem
gellenden Ton eines Posthorns geweckt auffuhr, schien die helle Morgensonne
in mein Zimmer, und ich wurde gewahr, da ich nur im Traume des hchsten
Glcks, der hchsten Seligkeit, die fr mich auf der Erde zu finden, teilhaftig
worden.259
Der bergang zwischen realem Erleben und Traum kann hier kaum
bestimmt werden. Bis wohin bezieht sich Ferdinands Schilderung auf die
Realitt, und ab wann auf einen Traum? Dass sich diese Frage nicht
beantworten lsst, ist der narrativen Subtilitt dieser Passage zuzurech-
nen.
Diese Unentscheidbarkeit affiziert noch die Szene, die nach diesem
Einschub erzhlt wird. Erst nach der Feststellung Ferdinands, nur im
Traum des hchsten Glcks [...] teilhaftig geworden zu sein, wird die
235
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Ein herrliches blhendes Mdchen war in mein Zimmer getreten; es war die
Sngerin und sie sprach zu mir mit gar lieblicher, holdseliger Stimme: So
konntest du mich dann wieder erkennen, lieber, lieber Ferdinand! aber ich wu-
te ja wohl, da ich nur singen durfte, um wieder ganz in dir zu leben; denn
jeder Ton ruhte ja in deiner Brust, und mute in meinem Blick erklingen.
Welches unnennbare Entzcken durchstrmte mich, als ich nun sah, da es die
Geliebte meiner Seele war, die ich schon von frher Kindheit an im Herzen ge-
tragen, die mir ein feindliches Geschick nur so lange entrissen, und die ich
Hochbeglckter nun wieder gefunden.260
Obwohl hier ausdrcklich von einem Wiedererkennen die Rede ist, han-
delt es sich um die erste Begegnung Ferdinands mit der Sngerin. Dies
wird einige Stze spter eingestanden: Nun ich erwacht war, mute ich
mirs eingestehen, da durchaus keine Erinnerung aus frher Zeit sich an
das holdselige Traumbild knpfte ich hatte das herrliche Mdchen zum
ersten Male gesehen.261 Dieser Satz wiederum wiederholt die enttusch-
te Geste des Erwachens, die der Satz vor der Schilderung des Treffens
mit der Sngerin zum Ausdruck bringt.
Ist diese Wiederholung des Aufwachens ein Zeichen fr einen nun
endgltigen bergang in die Sphre des Wachseins, nachdem eine
Rckblende nochmals den Augenblick des hchsten Glcks memo-
riert hatte? Genauso gut wre es mglich, von einem zweiten Aufwachen
zu sprechen, welches allerdings das erste als eine Fortfhrung des
Traums bestimmt. Wenn allerdings die erste Szene des Erwachens unter
dem Verdacht steht, nur ein Element eines fortgesetzten Traums zu sein,
dann muss fortan jedes Erwachen unter diesem Verdacht stehen auch
diese zweite Szene. Dieser Verdacht wird gestrkt durch Hoffmanns Hin-
weis, Ferdinand agiere wie ein Trumender.262
Genau in der Mitte der Geschichte Die Automate berichtet Ferdinand
somit, wie aus seinem Leben ein fortwhrender Traum und er ein Tru-
mer im Wachen wurde. Die Logik dieses Traums lsst sich als die Kon-
stitution einer Synthese beschreiben. Diese Synthese geschieht sowohl
236
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
auf der semiotischen wie auf der temporalen Ebene: Das aus dem Traum
entstandene und ihn als solchen bestimmende Phantasma verbindet zu-
gleich verschiedene Zeichen zu einem Sinn (indem sie im Gesang die
schwermtige Inbrunst der Liebe selbst erkennen will) und verschie-
dene Zeitpunkte zu dem Zusammenhang einer Geschichte. Wiederum ist
die Leistung der Synthese die Verwandlung von Wrtern in ein Bild, von
textuellen Fragmenten in den Zusammenhang des Geschauten.
Die Verbindung beider Ebenen zeigt sich in aller Deutlichkeit in der
Beschreibung der ersten Begegnung Ferdinands mit der Sngerin. Der
erste Satz der Szene verbindet die Erscheinung der jungen Frau (Ein
herrliches blhendes Mdchen) mit dem zuvor gehrten Gesang und er-
klrt sie dadurch zum Ursprung des Gehrten: es war die Sngerin.
Die Macht der Metonymie assoziiert zu der (in der Szene davor geschil-
derten) Wollust Ferdinands deren Urheberin, die dann in der Gestalt ei-
nes begehrenswerten Objekts (herrliches blhendes Mdchen) in Er-
scheinung tritt. Diese Assoziation bewirkt den Schein eines Wiederer-
kennens: der Synthese des gegenwrtigen Eindrucks mit einem vergan-
genen. Die Assoziation erscheint dann als eine Erinnerung (die Geliebte
meiner Seele), die sich erst spter als ertrumt herausstellen wird. Erst
in einem weiteren Schritt wird diese irrige Erinnerung zu einer drama-
tischen Handlung ausgeweitet (die mir ein feindliches Geschick nur so
lange entrissen und die ich Hochbeglckter nun wieder gefunden), wel-
che an den Verlauf eines hellenistischen Romans erinnert.
Wie die Einbildungskraft die Gegenwart, eine ertrumte Vergangen-
heit und eine als Wunsch herbeiphantasierte Zukunft miteinander ver-
bindet, hat Freud in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren
beschrieben:
Man darf sagen: eine Phantasie schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den
drei Zeitmomenten unseres Vorstellens. Die seelische Arbeit knpft an einen
aktuellen Eindruck, einen Anla in der Gegenwart an, der imstande war, einen
der groen Wnsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinne-
rung eines frheren, meist infantilen, Erlebnisses zurck, in dem jener Wunsch
erfllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche
sich als die Erfllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die
Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinne-
rung an sich trgt.263
263 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren [1908]. In: ders.: Ge-
sammelte Werke (wie Anm. 182), Bd. 7, S. 211-223, hier: S. 217f.
237
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Als sie aus der Haustre trat, wandte sie sich um und sah zu mir herauf.
Ludwig! es war die Sngerin! es war das Traumbild der Blick des himm-
264 So zieht das Fernrohr der Phantasie, schreibt Jean Paul, einen bunten
Diffusionsraum um die glcklichen Inseln der Vergangenheit, um das ge-
lobte Land der Zukunft. [...] Noch grer ist die phantasierende Kraft,
wenn sie auswrts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblick
oder Teige ihrer Gebilde macht. [...] bei rauschenden Freudenfesten, auf
Bllen, auf nchtlichen Freudengelagen schmckt sich jeder Augenblick
mit dem Widerschein des nchsten knftigen; und solange dies dauert,
vermengen wir den sen Durst des Herzens mit dem Trank (Jean Paul:
Smtliche Werke [wie Anm. 106], Abt. I, Bd. 4, S. S. 197).
238
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
lischen Auges fiel auf mich, und es war mir, als trfe der Strahl eines Krystall-
tons meine Brust wie ein glhender Dolchstich, da ich den Schmerz physisch
fhlte, da alle meine Fibern und Nerven erbebten und ich vor unnennbarer
Wonne erstarrte. Schnell war sie im Wagen der Postillion blies wie im ju-
belnden Hohn ein munteres Stckchen.265
Diese zweite Sequenz des Wiedererkennens ist bis ins Detail eine Va-
riante der ersten. Mehr oder weniger wrtlich werden bestimmte topische
Elemente der romantischen Liebe wiederholt (Schmerz, unnennbare
Wonne). Einige charakteristische Elemente aus der vorigen Traumse-
quenz werden exakt wiederholt, insbesondere der Krystallton als Mar-
kierung des Augenblicks des Wiedererkennens und der Klang des Post-
horns, welcher die jeweilige Sequenz beendet. Durch die nur geringfgig
variierte Wiederholung einer ganzen Sequenz bietet nun sich auch dem
Leser der Geschichte der Effekt des Wiedererkennens an, der den Inhalt
der Szene ausmacht.
Der Zusammenhang zwischen dem Phantastischen und der Wieder-
holung zeigt sich hier deutlicher als in anderen Szenen der Erzhlung.
Einerseits besteht dieser Zusammenhang darin, dass Hoffmann das Phan-
tastische stets als die Wiederholung einer unbewussten Programmie-
rung der Akteure darstellt, in der eine Vorgeschichte unerkannt aus-
agiert wird. Nichts anderes wird Freud als das Unheimliche bezeich-
nen.266 Gleichzeitig erweist sich in Die Automate die Vorgeschichte,
das Wiederholte, als eine phantastische Projektion, die das Wiederholte
im Akt des Wiederholens vor Augen stellt. Tatschlich wiederholt wird
nur der (vermeintliche) Akt der Wiederholung, was dem Leser jede Mg-
lichkeit nimmt, zwischen Traum und Realitt zu unterscheiden. Zu-
gleich vermittelt diese Struktur den Eindruck einer umfassenden Un-
heimlichkeit, in der jedes Element als unerklrliche Wiederkehr des
lngst Bekannten wirkt. Dieser Effekt des lngst Bekannten ist nicht
zuletzt das Ergebnis intertextueller Verweise: Der Kristallton verweist
auf andere Erzhlungen Hoffmanns (Das de Haus, Der goldne Topf),
das Signal des Posthorns ist ein Topos der romantischen Lyrik.
Innerhalb dieser grundstzlichen Wiederholungsstruktur zeigen sich
allerdings auch Differenzen zwischen den beiden Szenen des Wiederer-
kennens. Das erste Zusammentreffen spielt in einem als Traum gekenn-
zeichneten Zustand, das zweite jedoch lsst den Traum in die Realitt
eintreten und damit jede Realitt als potentiell traumartig erkennen.
265 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
406f. (Die Automate).
266 Vgl. Kittler: Das Phantom unseres Ichs und die Literaturpsychologie
(wie Anm. 130), S. 149. Vgl. Kap. III. 3.
239
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Gleichzeitig ndert sich damit der Status der Sngerin. Wird in dem
Traum der ersten Begegnung mit dem imaginativen Wiedererkennen der
Sngerin eine gefundene Vergangenheit erfunden, so in der zweiten
Begegnung eine verlorene, die es wiederzufinden gilt. Ferdinand malt ein
Portrt der Sngerin, um es als Medaillon stets auf bloer Brust267
bei sich zu tragen, und bestimmt das Bild der Sngerin als sein Inne-
res, das auch bei vollstndiger Nichtbereinstimmung mit dem realen
Auen seine Gltigkeit bewahrt. Getreulich wollte ich es [das Ge-
heimnis meines Herzens, O. K.] fortan in mir tragen und nie mehr lassen
von der, die nun die Ewiggeliebte meiner Seele worden, sollte ich sie
auch nimmer wieder schauen.268
Die phantasmatische Geburt des begehrten Objekts und des eigenen
Ich, die in so vielen Erzhlungen Hoffmanns im Mittelpunkt der Hand-
lung steht, wird damit in Die Automate als der Prozess einer Dramatisie-
rung beschreibbar, welche temporale Zusammenhnge stiftet. Dass die
Phantasierung der Sngerin fr Ferdinand in diesem Sinn zugleich die
Identitt des eigenen Ich hervorbringt, zeigt der subtile Einsatz des
Spiegelmotivs im Zusammenhang mit der Figur. Nachdem Ferdinand
von der ersten Begegnung mit der Sngerin berichtet hat, erzhlt er nun
von seinem Besuch bei dem sprechenden Trken.
Als ich zu dem Trken hintrat, fragte ich, der Geliebten meines Herzens den-
kend: Werde ich knftig noch einen Moment erleben, der dem gleicht, wo ich
am glcklichsten war? Der Trke wollte, wie du bemerkt haben wirst, durchaus
nicht antworten; endlich, als ich nicht nachlie, sprach er: die Augen schauen in
deine Brust, aber das spiegelblanke Gold, das mir zugewendet, verwirrt meinen
Blick wende das Bild um! [...] Das Bild lag wirklich so auf meiner Brust, wie
es der Trke angegeben; ich wandte es unbemerkt um, und wiederholte meine
Frage, da sprach die Figur im dstern Ton: Unglcklicher! in dem Augenblick,
wenn du sie wieder siehst, hast du sie verloren!269
267 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
407 (Die Automate).
268 Ebd.
269 Ebd., S. 407f. (Die Automate).
270 Ebd., S. 398.
240
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Damit wird es mglich, sich der Figur des Automaten zuzuwenden und
seine Rolle im Spiel der Projektionen und Phantasmen, das Die Automate
durchzieht, zu beschreiben.
Was ist ein Automat? Zuallererst, so lautet die Antwort der Hoff-
mannschen Erzhlung, ist er eine nachahmende Wiederholung ohne See-
le, eine mechanische Imitation des Ich. Hoffmanns Akteur Ludwig ur-
teilt apodiktisch: Mir sind [...] alle solche Figuren, die dem Menschen
nicht so wohl nachgebildet sind, als das Menschliche nachffen, diese
wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens, im
hchsten Grade zuwider.271 Der Automat ahmt nicht einfach nach, son-
dern er fft nach; er parodiert und persifliert das Objekt seiner Nachah-
mung gerade durch dadurch, dass er seine Nachahmbarkeit beweist.
Wenn das Menschliche das Objekt eines Nachffens werden kann, ist
es dem Verdacht ausgesetzt, seinerseits nicht original, sondern ein me-
chanisches Imitat (und also seinerseits ein Automat) zu sein. Dieser im-
plizite Vorwurf des Nachffenden ist es, der Ludwig alles Mechanische
als unheimlich und grauenhaft erscheinen lsst.272
241
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Hier wird nur auf die Notwendigkeit der Verknpfung der Begebenheiten in
einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen,
man mag das Subjekt, in welchem dieser Ablauf geschieht, automaton materia-
le, da das Maschinenwesen durch Materie, oder mit Leibnizen spirituale, da es
durch Vorstellungen betrieben wird, nennen, und wenn die Freiheit unseres
Willens keine andere als die letztere (etwa die psychologische und komparati-
ve, nicht transzendentale, d.i. absolute zugleich) wre, so wrde sie im Grunde
nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er ein-
mal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.275
273 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Ju-
gendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg, Mnchen: Alber 1975
(Symposium. 49), S. 98.
274 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
401 (Die Automate).
275 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 63), Bd. 4, S. 222 (KpV, A
173f.).
242
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Der Bratenwender wird zum Symbol eines Wesens, das niemals frei
handelt, denn jede seiner Handlungen wird kausal durch ein vorherge-
hendes Aufziehen bestimmt. Ein solcher Bratenwender ist jedes
menschliche Wesen, das ber keine transzendentale Freiheit verfgt,
d.h. ber die Befhigung zu einer Handlung, die nicht als die Wirkung ei-
ner vorhergehenden Handlung bestimmt werden kann und deren Verur-
sachung daher auerhalb der Zeitfolge steht.276 Da die Verursachung ei-
ner freien Handlung notwendigerweise auf einer blo noumenalen Ebene
geschieht, muss ein Bratenwender einem Wesen mit Vernunft auf der
phnomenalen Ebene ebenso unheimlich wie grauenhaft gleichen.
Den Schrecken dieses mimetischen Unheimlichen spielt Hoffmanns Die
Automate durch.
Wie aber kann ein Automat seine grauenhafte Vortuschung des
Lebendigen erreichen? Diese Frage macht das eigentliche Geheimnis der
Geschichte ber Die Automate aus. Die Erzhlung fhrt mehrere vergeb-
liche Versuche vor, die mechanische Konstruktion des sprechenden Tr-
ken zu durchschauen. Die technische Konstruktion des Automaten ver-
rt sein Geheimnis jedoch nicht, und somit betreten die beiden Freunde
Ludwig und Ferdinand die Szenerie. Sie entwickeln, wie bereits referiert,
ihre Theorie einer mesmeristischen Suggestion der Lebendigkeit durch
eine dritte, verborgene Person. Diese Theorie ist es, die sie dazu antreibt,
im Professor X. eine machtvolle Figur des Magnetiseurs und Strip-
penziehers sehen zu wollen. Ob er diese Rolle tatschlich einnimmt, lsst
die Geschichte offen. Whrend der Professor in seinem ersten Auftreten
eher als ein marktschreierischer Scharlatan denn als ein machtvoller Ma-
nipulator erscheint, tritt er in seinem zweiten Erscheinen nachdem die
beiden Freunde in seinem Garten die Stimme der Sngerin gehrt zu
haben meinen durchaus als eine Figur auf, die nicht nur ber ein ber-
legenes Wissen, sondern auch ber magische Krfte zu verfgen scheint:
Aber welch ein Erstaunen, ja welch ein inneres Grausen durchdrang sie, als
sie den Professor X. erblickten, der mitten im Garten unter einer hohen Esche
stand. Statt des zurckschreckenden ironischen Lchelns, mit dem er die Freun-
de in seinem Hause empfing, ruhte ein tiefer melancholischer Ernst auf seinem
Gesicht, und sein himmelwrts gerichteter Blick schien wie in seliger Verkl-
rung das geahnete Jenseits zu schauen, was hinter den Wolken verborgen, und
von dem die wunderbaren Klnge Kunde gaben, welche wie ein Hauch des
Windes durch die Luft bebten. Er schritt langsam und abgemessen den Mittel-
gang auf und nieder, aber in seiner Bewegung wurde alles um ihn her rege und
276 Vgl. die Anmerkungen zu Kants Diskussion der Freiheit bei Giovanni B.
Sala: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar. Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 211-221.
243
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
lebendig, und berall flimmerten krystallne Klnge aus den dunklen Bschen
und Bumen empor und strmten vereinigt im wundervollen Konzert wie Feu-
erflammen durch die Luft ins Innerste des Gemts eindringend, und es zur
hchsten Wonne himmlischer Ahndungen entzndend.277
Der vermeintliche Scharlatan erfhrt hier nichts geringeres als seine Apo-
theose. Ebenso wie der Professor hier gttliche Zge eines bermenschli-
chen Wesens (wie in seliger Verklrung) annimmt, ist sein Garten
nunmehr eine allegorische Wiederholung der biblischen Grten Eden und
Gethsemane.278 Gleichzeitig bedient die Szene das Register des Magi-
schen, indem durch die Bewegung des Professors alles um ihn her rege
und lebendig, also buchstblich beseelt wird. Nicht nur die beiden Beo-
bachter, aus deren Perspektive die Szene geschildert wird, scheinen von
dem Auftreten des Professors geradewegs verzaubert; auch die Sprache
bildet den Akt der Verzauberung mimetisch ab, indem sie poetisch wird
und Alliterationen aneinanderreiht (kristallne Klnge, Bschen und
Bumen, Feuerflammen).
Zugleich wiederholt sich hier der Effekt der Musikalitt, der in den
Begegnungen Ferdinands mit der Sngerin das Bild der geliebten Frau
geformt hatte: die metonymische Assoziation von Tnen zum phantasti-
schen Bild ihres Urhebers. Dieser Effekt wird in den sprachlichen As-
soziationen sozusagen performativ nachgebildet: Die mesmeristische
Kraft des Professors (oder der Sngerin) wiederholt sich im betont
poetischen Ausdruck weswegen man, streng genommen, sagen kann,
dass sich hier die Wiederholung wiederholt. Indem mit den kristallnen
Klngen explizit der Kristallton aus der ersten Begegnung mit der
Sngerin zitiert wird, wird berdies eine Verbindung zwischen dem
Professor und der Sngerin suggeriert, deren genaue Art und Weise
freilich unklar bleibt. Auch zu der Figur des Automaten ergibt sich eine
Korrespondenz, denn die Formel, um den Professor werde alles [...] re-
ge und lebendig, variiert den ersten Satz der Erzhlung, demzufolge der
sprechende Trke die ganze Stadt in Bewegung brachte.
Es ergibt sich demnach ein nahezu unauflsbares Geflecht aus Wie-
derholungen, Korrespondenzen und Parallelismen. Viele Zusammenhn-
ge werden suggeriert, aber die genaue Art der Verbindung wird nicht zu-
letzt durch diese Vielheit der Verweisungen unmglich zu bestimmen.
Was bedeutet die Assoziation der Figuren der Sngerin und des spre-
chenden Trken zu der des Professors X.? bt er als Magnetiseur
277 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
424f.
278 Vgl. OBrien: E. T. A. Hoffmanns critique of Idealism (wie Anm. 228),
S. 383.
244
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
oder Magier Macht ber sie aus, oder ist sie gar auch eines seiner Ge-
schpfe, ein Automat? Oder verweisen diese Verbindungen darauf, dass
auch der Professor ein mechanisches Wesen ist? Wer hier eine eindeutige
Lsung erkennen will, beginnt zu phantasieren. Die Passage beschreibt
somit nicht nur den Vorgang des Phantasierens, des Trumens im Wa-
chen; sie ldt den Leser dazu ein, eine Flle von Korrespondenzen und
Parallelen zu sehen und diese als Sprungbrett fr eine Aktivitt der as-
soziierenden Einbildungskraft zu gebrauchen.
Indem jedes Zeichen ein anderes Zeichen wiederholt, verweist es im-
mer auch auf dieses und zeigt auf diese ihm vorausgehende Spur. Die
Zeichen, die den Protagonisten in Hoffmanns Texten begegnen, sind da-
mit allegorisch. Als allegorische Zeichen verweisen sie nicht einfach auf
einen Referenten, sondern immer auch auf etwas anderes: Auf das erste
Erscheinen eines analogen Zeichens und auch auf die Wiederholbarkeit
der Zeichen. Die Autoreflexivitt der Hoffmannschen Texte entspricht in
diesem Sinne der Struktur der Allegorie.
Daraus folgt, dass es keine Erstlektre der Texte Hoffmanns geben
kann. Der Eindruck, der Hoffmanns Erzhlungen als so repetetiv und for-
melhaft erscheinen lsst, wird dadurch bewirkt, dass sie Wiederholungen
von Wiederholungen vorfhren und so jede Lektre zu einer bereits wie-
derholten Lektre machen. Indem jedes Zeichen immer auch auf etwas
anderes, einen verborgenen Zusammenhang, zu verweisen scheint, sieht
sich der Leser dazu bewegt, diese Aktivitt (oder Passivitt) der Figuren
zu wiederholen und seinerseits die Enthllung eines Geheimnisses zu er-
warten. Freilich fhrt Die Automate auch vor, wie diese Bettigung der
Assoziierung und Analogisierung im Falle des Protagonisten Ferdinand,
der wiederum ein paradigmatischer Leser ist, zur Ausbildung einer regel-
rechten Wahnwelt und also in einen zerrtteten Seelenzustand279
fhrt.
Es bleibt damit unmglich zu entscheiden, ob der erste Auftritt des
Professors, der ihn als einen unangenehmen Scharlatan vorfhrt, oder der
zweite, der ihn als ein magisch wie magnetisch bewandertes Wesen
zeigt, die Wahrheit zeigt. Mglich ist es allerdings, die Logik zu be-
schreiben, die zur Apotheose des Professors in seinem zweiten Auftritt
fhrt. Die beiden Protagonisten Ferdinand und Ludwig sehen unver-
mittelt den Zusammenhang zwischen den Figuren der Sngerin und des
Professors und entwickeln daraufhin das Phantasma des mchtigen Pro-
fessors. Das Phantasma stellt so eine Szenerie seines eigenen Ursprungs
vor: Indem der Professor als ein Magier und Magnetiseur vorgestellt
279 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
427 (Die Automate).
245
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Ich mu gestehen, fuhr Ludwig fort, da die Figur gleich beim Eintreten mich
lebhaft an einen beraus zierlichen knstlichen Nuknacker erinnerte, den mir
einst, als ich noch ein kleiner Knabe war, ein Vetter zum Weihnachten verehrte.
Der kleine Mann [...] verdrehte jedesmal mittelst einer innern Vorrichtung die
groen aus dem Kopfe herausstehenden Augen, wenn er eine harte Nu knack-
te, was denn so etwas possierlich Lebendiges in die ganze Figur brachte, da
ich stundenlang damit spielen konnte, und der Zwerg mir unter den Hnden
zum wahren Alrunchen wurde.281
246
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Mio ben ricordati / savvien chio mora, / quanto quest anima / fedel tam. /
Lo se pur amano / le fredde ceneri / nel urna ancora / tader!283
Das Zitat aus der Oper Alessandro nellIndie ist auf zwei Ebenen lesbar.
Auf den ersten Blick scheint es sich um ein wenig originelles Exempel
einer Topik der dramatischen Liebe zu handeln. Wenngleich diese Zeilen
im Kontext der Oper, aus der sie entnommen sind, einen ausschlielich
metaphorischen Sinn gehabt haben mgen, erhalten sie im neuen Kontext
der Geschichte Die Automate eine unheimliche Wrtlichkeit. In dieser
Wrtlichkeit erscheint die Sngerin als ein weiteres jener Standbilder
eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens.284 Ferdinand liest die
Worte der Sngerin nicht als Aussage ber ewige Liebe, sondern als
ein Versprechen. Als solches verspricht der Gesang der Sngerin einen
umfassenden Einblick in den mysterisen Zusammenhang, vermge
dessen sich das Zuknftige dem Gegenwrtigen anreiht: Es ist das Ver-
sprechen einer umfassenden Synthese, eines Sinns, der gleichzeitig den
zeitlichen Zusammenhang der disparaten Momente und die Referenz sei-
ner semiotischen Komponenten auf ein reales Signifikat verspricht. In-
sofern verkndet die Arie der Sngerin nicht nur ein Leben nach dem
Tod, sondern ebenso eine Prsenz (des Sinns) in seiner vollstndigen Ab-
wesenheit und die Verheiung von Realitt fr das Phantasma. Dieses
Versprechen der Sngerin ist es, welches Ferdinand daran glauben
282 Vgl. OBrien: E.T.A. Hoffmanns critique of Idealism (wie Anm. 228), S.
377.
283 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
405 (Die Automate).
284 Ebd., S. 399.
247
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
248
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Was aber folgt aus dieser Mglichkeit, die Sngerin mit dem Auto-
maten zu identifizieren? Wie bereits festgestellt wurde, sind beide Figu-
ren als Ich-Verdopplungen der Protagonisten zu begreifen. Beide sind
mechanisch, insofern sie bloe Projektionen des Lebendigen auf einer
leeren Leinwand des Nicht-Lebendigen sind. Wie nachffende Wieder-
gnger agieren sie nur scheinbar als autonome Figuren, sind aber tatsch-
lich abhngig von einem Mechanismus der Projektion und Identifikation,
der ihnen Lebendigkeit zukommen lsst. Hoffmanns Geschichte lsst
keinen Zweifel daran, dass dieser Prozess des Zusammenspiels von Pro-
jektion, Identifikation und Verlebendigung nicht einfach ein vermeid-
barer Irrtum, sondern der basale Mechanismus ist, aufgrund dessen die
Protagonisten temporale Synthesen und damit die phantasmatische Iden-
titt eines Ich hervorbringen knnen.
Wenn aber das imaginre Ich das Ergebnis einer automatischen
Produktion und das produzierende Ich ein Automat ist, dann sind nicht
nur die Figuren der Sngerin und des sprechenden Trken als Auto-
maten zu bestimmen. Insofern er sich selbst durch die Identifikation mit
einem seelenlosen Doppelgnger bestimmt, erleidet auch Ferdinand eine
Automation. Konsequent ironisch fhrt Hoffmanns Erzhlung vor, wie
Ferdinand in den Momenten, in denen er eine Synthese der fragmen-
tierten Eindrcke zu einer Ganzheit zu erreichen meint, sich in den Fnge
der Selbsttuschung verstrickt. Die Erinnerung an die vermeintlich
schon von frher Kindheit an geliebte Sngerin ist ebenso das Ergeb-
nis einer Projektion wie die vermeintliche Weisheit des Professors, von
dem sich die beiden Freunde eine Auflsung aller Geheimnisse erwarten.
Insofern er unter einem umfassenden Wiederholungs- und Verdopp-
lungszwang agiert, wird er in diesen Momenten selbst zu einem mecha-
nischen Wesen. In diesem Sinn wird an zwei Schlsselstellen der Hand-
lung eher beilufig auf Ferdinands mechanische Art der Fortbewegung
hingewiesen: mechanisch raffte ich mich auf und eilte ans Fenster;291
Mechanisch gehe ich in die Kirche und trete ein.292 Automatisiert wird
Ferdinands Handeln von Vorstellungen und Zusammenhngen gelenkt,
die seinem Bewusstsein a priori unerreichbar sind. Die Struktur des Wie-
derholungszwangs wird damit auf der Ebene der Narration als die Bedro-
hung der Mechanisierung und Automatisierung angesprochen.
Die Automate erzhlt damit nicht einfach vom Scheitern der Versu-
che der Protagonisten, eine Lsung aller Rtsel zu finden. Die Erzhlung
stand verstand er diese Sprache nur sehr wenig und am wenigsten konnte
er sie reden (Eschenmayer: Psychologie [wie Anm. 113], S. 240).
291 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
406 (Die Automate), Hervorhebung von mir, O.K.
292 Ebd., S. 426, Hervorhebung von mir, O.K.
249
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
fhrt vielmehr vor, wie endliche Wesen, die in ihre eigene Zeitlichkeit
eingebunden bleiben, bei dem Versuch, eine abschlieende Synthese al-
ler Zusammenhnge ihres Lebens zu erstellen, notwendigerweise schei-
tern mssen. Hoffmanns Geschichte ist insofern zugleich von Haus aus
fragmentarisch und unabschliebar: sie kennt kein Ende und leitet, wie
die Ironie fr Schlegel, zur Vorstellung von Unendlichkeit.
Die Automate fhrt vor, wie seine Protagonisten auf der Suche nach
einem Zusammenhang ihrer Erfahrung in die Macht derjenigen Phantas-
men geraten, die genau diesen Zusammenhang immer wieder zerstren.
Der Akteur von Die Automate handelt mechanisch, als ein Nachtwandler
am hellichten Tag. In diesem Sinn hat Reil in seinen Rhapsodieen ber
die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrttungen,
die Hoffmann in Das de Haus erwhnt, den Nachtwandler als einen
Automat beschrieben, dessen Handlungen von ungewussten und unbe-
wussten Vorstellungen ferngesteuert werden.293
Die eigentliche Pointe der Geschichte besteht freilich darin, dass sie nicht
nur einen Hauptakteur hat, sondern auch diese Rolle verdoppelt prsen-
tiert. Ferdinands Freund Ludwig zeigt sich immer wieder skeptisch ge-
genber den in der Handlung auftretenden mechanischen Figuren, und
ihm ist es vorbehalten, der mechanischen Kunst des Professor X. eine
dezidiert romantische sthetik entgegenzustellen, die nicht selten als
Hoffmanns eigentliche Meinung verstanden wurde. Schon die Verbin-
dung des Menschen mit toten das Menschliche in Bildung und Bewe-
gung nachffenden Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat fr mich
etwas drckendes, unheimliches, ja entsetzliches,294 stellt Ludwig fest.
Die falsche Kunst des Professors fft das Menschliche nach, sie ist es
nicht. Ludwig assoziiert das Mechanische mit der Vorstellung von Nach-
ahmung und Reprsentation und setzt dem eine nicht-mechanische Kunst
entgegen, die auf die Intensitt des Gefhls statt auf Darstellung setzt.
Die nicht-mechanische Musik ermgliche, so Ludwig, im vollkommen-
293 Vgl. Reil: Rhapsodieen ber die Anwendung der psychischen Curmetho-
de (wie Anm. 69), S. 10. Vgl. Manfred Schneider: Das Grauen der Beo-
bachter: Schriften und Bilder des Wahnsinns. In: Bild und Schrift in der
Romantik. Hrsg. von Gerhard Neumann und Gnter Oesterle. Wrzburg:
Knigshausen & Neumann 1999 (Stiftung fr Romantikforschung. 6), S.
237-253, hier: S. 242.
294 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
418 (Die Automate).
250
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
251
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Insofern Das de Haus und Die Automate sich schon auf den ersten
Blick hneln und demselben Genre zuzurechnen sind (der unheimli-
chen Geschichte), knnte man versucht sein zu denken, die bisher ge-
troffenen Aussagen ber die Verbindung von Erzhlstruktur, Wiederho-
lungstechnik und der Darstellung des Wahnsinns seien nur fr diese
Art Erzhlung im uvre Hoffmanns zutreffend. Einige Ausfhrungen zu
Doge und Dogaresse, einer auf den ersten Blick eher novellistischen
Erzhlung, die in der Forschung ebenfalls nur geringe Beachtung gefun-
den hat,305 sollen das Gegenteil beweisen.
304 Ebd.
305 Es existieren nur sehr wenige Studien zu Doge und Dogaresse. Zu nen-
nen ist zuerst die Arbeit von Johannes Wiele (Johannes Wiele: Vergan-
252
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Es ist ein eignes Geheimnis, da in dem Gemt des Knstlers oft ein Bild auf-
geht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare krperlose, im leeren Luftraum trei-
bende Nebel, eben in dem Gemte des Knstlers erst sich zum Leben zu for-
men und ihre Heimat zu finden scheinen. Und pltzlich verknpft sich das Bild
mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zukunft, und stellt nur dar, was
wirklich geschah oder geschehen wird.306
Wie bereits ausgefhrt wurde, umschreiben diese Stze nicht nur die
Konstitution der Hoffmannschen Knstler-Akteure, sondern ebenso
die Grundstruktur seiner Erzhlungen.307 Wie aber verhlt es mit der Er-
zhlung Doge und Dogaresse, die ber keine Knstler-Figur verfgt
und deren Struktur auf den ersten Blick von dem bisher beschriebenen
Schema abzuweichen scheint?
Die Handlung der Geschichte weist diese auf den ersten Blick als ein
Beispiel historischer Novellistik aus. Mit wenigen Stzen fasst Lothar Pi-
253
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
kulik nicht nur die Handlung der Erzhlung zusammen, sondern skizziert
zugleich die beiden gelufigsten Lektren derselben:
Man kann die Geschichte auf zweierlei Art lesen. Erstens als historische Er-
zhlung [...]. Da geht es auf der einen Seite um Politik: um die Verteidigung
Venedigs gegen seine Feinde, die Wahl des Dogen, um Verschwrung und die
Wiederherstellung der alten Ordnung. In diese Staatsaktionen ist das private
Glck und Unglck dreier Personen verflochten: Annunziatas, die Bodoeri sei-
nem Machtehrgeiz zuliebe dem alten Falieri verkuppelt; Antonios, der in An-
nunziata die Jugendgeliebte wiedererkennt, sich als Pflegesohn des an den Ma-
chenschaften Bodoeris beteiligten Nenolo entpuppt und in die Verschwrung
gegen die Signorie verwickelt wird; Margarethes, der durch die Folter entstell-
ten Amme Antonios, die die Verbindung zwischen den beiden Liebenden her-
stellt. [...] Damit wird bereits deutlich, da man die Erzhlung auch auf eine
zweite Art lesen kann: als symbolische Erzhlung, in der das Historische nicht
um seiner selbst willen dargestellt ist, sondern als Medium eines tieferen Sinns,
auch einer tiefen Gemtsbewegung.308
Wie vermag ich dir denn, Alte, diesen Augenblick des Erwachens zu be-
schreiben! Die Wut der Krankheit hatte mir alle Erinnerung des Vergangenen
gnzlich geraubt. Gleich als wre in die todstarre Bildsule pltzlich der
308 Pikulik: E.T.A. Hoffmann als Erzhler (wie Anm. 244), S. 126-128.
309 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
434 (Doge und Dogaresse).
254
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Wie Ferdinand in Die Automate befindet sich Antonio auf der Suche
nach einem Zusammenhang, einer Synthese, welche die einzelnen Bil-
der zur Kontinuitt einer Geschichte verbinden kann. Insofern, der Lo-
gik der Phantasmen in Hoffmanns Texten entsprechend, nur durch diese
Assoziationen auch Verbindungen zwischen den handelnden Figuren er-
geben knnen, ist die Zusammenhangslosigkeit der Zeit fr Antonio not-
wendig auch ein trostloses Alleinstehen in der Welt.
Analog zu der bereits in anderen Erzhlungen Hoffmanns beschrie-
benen Logik der Synthesen ist es auch in Doge und Dogaresse jedoch
keineswegs so, dass sie von dem synthetisierenden Subjekt bewusst und
kontrolliert vollzogen werden. Der Zusammenhang stellt sich her, und
die Akteure sehen sich dazu gezwungen, ihn auszusprechen.
Wie in einem fernen dunklen Spiegel erschaue ich oft knftige Er-
eignisse und beinahe ohne eignen Willen, in mir oft selbst unverstnd-
lichen Redensarten das, was ich erschaut, auszusprechen, zwingt mich
dann die unbekannte Macht, der ich nicht zu widerstehen vermag.311 So
spricht die alte Margareta, die sich damit einerseits (im Rahmen des kul-
turellen Codes) als eine clairvoyante ausweist, als eine zur somnabulen
Hellsicht begabte Person. Andererseits weist sie sich (im Rahmen der
narrativen Ordnung) als eine Vermittlungsfigur aus, welche Zusammen-
hnge nicht nur schaut, sondern auch ausspricht, und die damit Figuren
in Verbindung bringen kann.
In einer fr Hoffmann eher seltenen Variante der Ironie wird diese
Behauptung, Zusammenhnge erschauen zu knnen, durch eine intertex-
tuelle Relation relativiert. Die Formulierung Wie in einem fernen dunk-
len Spiegel erschaue ich ist eine Anspielung auf den 1. Korintherbrief
des Paulus: Wir sehen jtzt durch einen Spiegel in einem tunckeln wort /
Denn aber von angesicht zu angesichte. Jtzt erkenne ichs stckweise /
Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin (1. Kor.
13,12). Whrend Paulus also das Sehen durch einen Spiegel in einem
dunklen Wort als ein stckweises Sehen beschreibt, welches durch ein
Sehen von Angesicht zu Angesichte ersetzt werden muss, wird das Schau-
255
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
en wie in einem fernen dunklen Spiegel durch die alte Frau geradezu
umgekehrt als die Methode zum Erreichen eines ganzen Sehens bewertet.
Indem sie sich als eine Schauerin bezeichnet, kann die Figur der
Margareta in der Ordnung der Erzhlung als eine Vermittlerfigur be-
schrieben werden. Sie vermittelt Antonio einen Zugang zu seiner Ver-
gangenheit, indem sie sich als seine Amme ausweist. Tonino, lispelte
nun die Alte ganz leise, Tonino, wenn du so in mein verschrumpftes Ant-
litz schaust, dmmert denn gar keine leise Ahnung in deinem Innern auf,
da du mich wohl in frher, frher Zeit gekannt haben knntest!312
Nachdem die alte Margareta Antonio derart eine Erinnerung an eine fr-
here Zeit suggeriert hat, beginnt nun auch seine Einbildungskraft, Bilder
von dieser Zeit hervorzubringen. In einer Variante der wiederholten
Struktur der Hervorbringung des Bildes des Anderen erkennt Antonio in
der ihm gegenbertretenden Alten nicht die verlorene Geliebte, son-
dern die ehemalige Amme: Ja du bist die Margareta, die mich nhrte,
die mich hegte und pflegte, ich wute es ja schon immer, aber der bse
Geist verwirrte mir die Gedanken.313
Aber welcher dunkle Zauber ist es, der Antonios Selbst be-
herrscht? Entsprechend der Logik der narzisstischen Selbsterfindung in
Hoffmanns Texten handelt es sich hierbei um nichts anderes als das
Phantasma des Ich. Antonio ist nicht vllig ohne Erinnerung, er trgt
den unverstndlichen Nachklang einer glcklichen Vergangenheit in
sich, der nun, in der Begegnung mit der Alten, die sich ihm als seine
frhere Amme ausweist, eine ganze Geschichte hinzuassoziiert werden
kann. Wie sein Pendant Ferdinand aus Die Automate ist Antonio auf der
Suche nach einer Ganzheit, welche Kontinuitt und Zusammenhang nicht
nur in seine Erinnerung, sondern auch in die Identitt seiner Person zu
bringen verspricht.
Schweig, Alte, unterbrach sie Antonio, schweig, noch etwas ist es, was mir
mein Leben verkmmert, mich rastlos verfolgt, was mich ber kurz oder lang
rettungslos verderben wird. Ein unaussprechliches Verlangen, eine mein Inner-
stes verzehrende Sehnsucht nach einem Etwas, das ich nicht zu nennen, nicht
zu denken vermag, hat, seitdem ich im Spital zum Leben erwachte, mein gan-
zes Wesen erfat. Wenn ich als ein Armer, Elender, ermdet, zerschlagen von
der mhseligen Arbeit Nachts auf dem harten Lager ruhte, dann kam der Traum
und go, mir in lindem Suseln die heie Stirn fchelnd, alle Seligkeit irgend
eines glcklichen Moments, in dem mir die ewige Macht die Wonne des Him-
mels ahnen lie und dessen Bewutsein tief in meiner Seele ruht, in mein Inne-
res. [...] Alles Sinnen, alles Forschen ist vergebens, ich kann es nicht ergrnden,
256
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
was mir frher im Leben so Hochherrliches geschah, dessen dunkler, ach mir
unverstndlicher Nachklang mich mit solcher Seligkeit erfllt, aber wird diese
Seligkeit nicht zum brennendsten Schmerz, [...] wenn ich erkennen mu, da
alle Hoffnung verloren ist, jenes unbekannte Eden wieder zu finden, ja es nur
zu suchen?314
Sind gem der Logik der Phantasmen in Hoffmanns Texten die asso-
ziierten Zusammenhnge nicht nur die Verbindungen von Ereignissen,
sondern immer auch die zwischen Figuren, so ist es nicht verwunderlich,
dass Antonios Erinnerung, durch das Auftauchen der Amme angesto-
en, nunmehr beginnt, sich zugleich an das Objekt jenes unaussprech-
lichen Verlangens nach einem Etwas und an das eigene Ich zu erinnern.
Die Erinnerung an die Amme bringt die Vorstellung des eigenen Ich
und das Bild der schon in der Kindheit geliebten Frau hervor, die sich als
die Dogaresse Annunziata herausstellt:
Da streckte ich mde vom Springen und Laufen an einem Abend, als schon
die Sonne zu sinken begann, mich hin unter einen groen Baum und starrte hi-
nauf in den blauen Himmel. Mag es sein, da der wrzige Geruch der blhen-
den Kruter, in denen ich lag, mich betubte, genug meine Augen schlossen
sich unwillkrlich und ich versank in trumerisches Hinbrten, aus dem mich
ein Rauschen, gleich als fiele ein Schlag dicht neben mir in das Gras, erweckte.
Ich fuhr auf in die Hhe; ein Engelskind mit himmlischem Antlitz stand neben
mir, schaute in holder Anmut lchelnd auf mich herab und sprach mit ser
Stimme: Ei, mein lieber Knabe, wie schliefst du so schn, so ruhig, und doch
war dir der Tod so nahe, der bse Tod. Dicht neben meiner Brust erblickte ich
eine kleine schwarze Schlange mit geborstenem Haupt, das Kind hatte das gifti-
ge Tier mit dem Zweige eines Nubaums erschlagen, in dem Augenblick, als es
zu meinem Verderben sich heranringeln wollte. Da erbebte ich in sem
Schauer [...] ich sank nieder auf die Knie, ich erhob die gefalteten Hnde.
Ach, du bist ja ein Engel des Lichts, den der Herr sandte, mich zu retten vom
Tode. So rief ich, das holde Wesen streckte aber beide Arme nach mir aus und
lispelte, indem hheres Rot auf seinen Wangen leuchtete: Ach du lieber Knabe,
ich bin ja kein Engel, ein Mdchen, ein Kind wie du! Da vergingen die Schau-
der in namenloses Entzcken, das mich mit sanfter Glut durchstrmte ich
stand auf wir schlossen uns in die Arme [...]. Nun rief eine silberhelle Stimme
durch den Wald: Annunziata Annunziata! Ich mu nun fort, du herzlieber
Knabe, die Mutter ruft, so lispelte das Mdchen, ein unsglicher Schmerz
durchfuhr meine Brust. [...] Annunziata! rief es aufs neue, und das Mdchen
verschwand im Gebsch! [...] Wenige Tage nachher wurde ich hinausgestoen
aus dem Hause. Vater Blaunas sagte mir, als ich es nicht lassen konnte, von
dem Engelskinde zu reden, das mir erschienen und dessen se Stimme ich zu
257
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
vernehmen glaubte in dem Rauschen der Bume, in dem Gelispel der Quellen,
in dem ahnungsvollen Sausen des Meers ja, da sagte mir Vater Blaunas, das
Mdchen knnte niemand anders gewesen sein, als Nenolos Tochter Annun-
ziata [...]. O Mutter Margareta. Hilf Himmel! Diese Annunziata es ist
die Dogaressa!315
Die Szene erscheint geradezu als eine Wiederholung der Begegnung Fer-
dinands mit der Sngerin aus Die Automate. Hier wie dort wird die Se-
quenz eingeleitet mit der Erzhlung des Einschlafens, dem ein Aufwa-
chen folgt. Dieses wird allerdings als eine mgliche Fortsetzung des
Traums bestimmt, indem die Begegnung mit dem jungen Mdchen,
die auf das trumerische Hinbrten folgt, sich als traumartig erweist.
Markiert wird dies durch eine alliterierende und also poetische und
mrchenhafte Sprache, die an die Szenerie im Garten des Professor X.
erinnert (ser Stimme, so schn, so ruhig, der Tod, der bse
Tod). Die junge Annunziata kann so als eine Figur aus einem Traum
verstanden werden, als eine Wiedergngerin der Sngerin aus Die Au-
tomate.
Die zeitliche Struktur dieses Traums ist hier allerdings, im Gegensatz
zur komplexen Strukturierung der Begegnung mit der Sngerin in der
vorhergehenden Geschichte, vereinfacht. Eine realistische Lektre, wo-
nach Antonio sich einfach an eine tatschliche Begebenheit aus seiner
Kindheit erinnert, nachdem er der nunmehrigen Dogaresse begegnet ist,
wird keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil: Ausdrcklich streut
Hoffmann Informationen und Datierungen ein, welche eine Begegnung
von Antonio und Annunziata in ihrer Kindheit mglich erscheinen las-
sen. Bertuccio Nenolo war der Pflegevater316 Antonios, der ihn auf sei-
nem Landhause bei Treviso aufgezogen hat. Zugleich aber ist Nenolo,
wie der Leser einem Gesprch zwischen Marino Falieri und dem Intri-
ganten Marino Bodoeri entnehmen kann, der Vater Annunziatas. Bodoeri
berichtet Falieri, dass er Annunziata, nachdem den wilden barschen Ne-
nolo der Krieg ins Meer verlockte, in tiefer Einsamkeit auf meiner Vil-
la in Treviso317 erziehen lie. Die Vertreibung Antonios aus dem Hause
Nenolos nach dessen vermeintlichen Tod kann dann zeitlich koinzidieren
mit dem Erscheinen Annunziatas in Treviso. Die beiden Passagen, die
Erinnerung Antonios und das Gesprch zwischen Bodoeri und Falieri,
besttigen sich gegenseitig und versichern sich wechselseitig einer ber-
einstimmung mit der Realitt. Der realistische Code ist in Doge und
Dogaresse derjenige der Genealogie und der Chronologie: Es werden
258
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Spuren darber verstreut, wer mit wem verwandt ist und wann sich wel-
ches Geschehen ereignet hat. Die Spuren dieser Codes aufsammelnd, teilt
der Leser die Anstrengungen Antonios, seine Vorgeschichte herauszu-
finden: Gibt es denn Spuren des spurlos Verschwundenen?318
Neben diesem realistischen Netz von sich gegenseitig besttigen-
den Korrespondenzen und bereinstimmungen gibt es allerdings auch,
wie bereits in dem Zitat aus dem Buch Pikuliks angedeutet wurde, ein
symbolisches Netz. Im Unterschied zu den realistischen Codes der
Genealogie und Chronologie kann der symbolische Code nicht auf die
Einheit und Kohrenz einer Geschichte gebracht werden. Die symboli-
schen Konnotationen treten jedoch nicht einfach zu den realistischen
hinzu, als wren sie etwas, was der Leser ignorieren knnte. Ihre Logik
ist nicht nur fragmentarisch, sondern ebenso fragmentierend: Die disso-
ziativen Spuren der Symbolik stren und verstreuen zuletzt auch die
scheinbar bruchlos zusammenhngenden Indizien des realistischen Co-
des.
Gibt es einen systematischen Unterschied zwischen den realisti-
schen und den symbolischen Codes? Diese Frage muss, im Blick auf
Doge und Dogaresse wie auch auf andere Texte Hoffmanns, entschieden
verneint werden. Beide Arten der Codierung entwerfen ein Netz von
Konnotationen und Zusammenhngen, und beide Arten von Codierung
bestimmen das, was in Hoffmanns Texten Realitt genannt werden
kann. Hoffmanns Erzhlungen stellen, wie bereits anhand von Das de
Haus und Die Automate gezeigt wurde, niemals nur eine (wie auch im-
mer rtselhafte) Version der Realitt dar sie fhren ihre Protagonisten
immer als Leser der Realitt vor und verwischen dabei die Unterscheid-
barkeit zwischen tatschlichen Vorkommnissen und ihrer Reprsenta-
tion in der Vorstellung der Protagonisten. Auf diese Weise gelingt es, die
Macht der Fiktion und des Fiktionalen, das die Akteure in einen gefhrli-
chen Wahn zu ziehen droht, nicht nur zu erzhlen, sondern zugleich auch
vorzufhren, fr den Leser des Textes erfahrbar zu machen. Die Ver-
dopplung dieser Ebene ergibt einen umfassenden Effekt des Unheimli-
chen: Korrespondenzen, Analogien und unwahrscheinliche Zusammen-
hnge erscheinen nun nicht mehr blo den enthusiastischen Akteuren
Hoffmanns, sondern auch einem noch so auf Nchternheit erpichten Le-
ser Hoffmanns.
259
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die Supposition
Die Azirkularitt des Sinns als Wahnsinn
Ebenso horchten die Griechen auf das Gemurmel der Quellen und fragten,
was das zu bedeuten habe; die Bedeutung aber ist nicht die objektive Sinnigkeit
der Quelle, sondern die subjektive des Subjekts selbst, welches dann weiter die
Najade zur Muse erhebt. Die Najaden oder Quellen sind der uerliche Anfang
der Musen. Doch der Musen unsterbliche Gesnge sind nicht das, was man
hrt, wenn man die Quellen murmeln hrt, sondern sie sind die Produktionen
des sinnig horchenden Geistes, der [sie] in seinem Hinauslauschen in sich
selbst produziert.319
319 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke
von 1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 12,
S. 289 (Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte). Vgl. Werner
Hamacher: Prmissen. Zur Einleitung. In: ders.: Entferntes Verstehen.
Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1998 (edition suhrkamp. 2026), S. 7-48, hier: S. 13f.
260
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Musen und Najaden als eine umwegige Beziehung zu sich selbst dekla-
riert. Der Gesang der Musen ist fr Hegel ein Hinauslauschen in sich
selbst, in welchem der griechische Geist seinen eigenen Sinn in das
Gemurmel supponiert und es in einem zweiten Schritt wieder he-
raushrt als die Sinnigkeit der Quelle. In dieser zirkulren Bewegung
des Sinns, der ihn von seiner Voraussetzung in einem absolut andern
zum andern seiner selbst und weiter zu sich fhrt,320 stellt das Horchen
der Griechen auf das Gemurmel der Quellen eine Urszene Hegelscher
Subjektivitt dar. Sie wiederholt das dialektische Drama des Aus-sich-
heraus-Gehens und Zu-sich-Zurckkommens, das, wie Hegel in seiner
Enzyklopdie ausfhrt, die Intelligenz ausmacht.321 Das voraussetzende
Hineinlegen des Sinns und das anschlieende Hinauslauschen des-
selben aus dem Gemurmel der Quellen entspricht der generellen Struk-
tur des Zeichens bei Hegel, in der, wie Derrida meint, das Aussichhi-
nausgehen [...] der obligate Weg einer Rckkehr zu sich selbst322 ist.
Trotzdem Hoffmann die Erscheinung Annunziatas an das Horchen
Antonios auf das Rauschen der Bume, das Gelispel der Quellen,
sowie auf das ahnungsvolle Sausen des Meers bindet, folgt die Er-
scheinungsweise der begehrten Frau in Hoffmanns Geschichte nicht dem
Hegelschen Schema von voraussetzender Supposition und vermittelter
Rckkehr des Sinns zum sinnstiftenden Subjekt. Die Bewegung des
Sinns ist in Hoffmanns Texten nicht auf die Ordnung eines Aus-sich-he-
raus und Zu-sich-zurck zu bringen. Die Erscheinungen des Sinns sind
nicht auf ein produzierendes Subjekt und nicht auf eine produzierende
Subjektivitt zurckzufhren dies suggeriert zwar die Topik des Enthu-
siasmus in Hoffmanns Texten, aber diese wird stets ironisch gebrochen
und durchkreuzt. In ihrer Unheimlichkeit durchkreuzen diese Sinnpar-
tikel die Unterscheidung zwischen innen und auen und zwischen
selbst und fremd; sie sind nicht in die Bewegung von einem Subjekt
zu sich zurck einzuordnen.
Die Selbstheit des Selbst, die Hegel fr die hinauslauschenden
Griechen durch die Supposition, die Voraussetzung eines Sinns in das
Sinnlose garantiert sieht, ist in Hoffmanns Texten eine leere Einbildung,
der Effekt eines narzisstischen Phantasmas. Zwar organisiert sich das
Ich auch in Hoffmanns Texten, wie dasjenige der Griechen Hegels, in
261
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ist in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten
Dissonanzen durchgeht, Mode geworden und hat einen Humor der Abscheu-
lichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zuwege gebracht, in der sich
[Ernst] Theodor [Amadeus] Hoffmann z. B. wohlgefiel.324
262
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
Es ist mglich, Doge und Dogaresse nur als eine historische Novelle und
Liebesgeschichte zu lesen, aber diese Lektre verweigert sich dem kom-
plexen Spiel der Phantasmen und Bezauberungen, welches die Geschich-
te inszeniert. Den Phantasmen der Figuren korrespondieren die auf ein
phantasmatisches Signifikat verweisenden symbolischen Codes der Er-
zhlung. Willst du mich betren, entsetzliches Weib, da irgend ein
wahnsinniges Streben mich in den Abgrund schleudert?,325 fragt Anto-
nio die alte Margareta und fasst mit dieser nur scheinbar rhetorischen
Frage seine ganze Geschichte zusammen, denn tatschlich handelt Doge
und Dogaresse von einer Betrung (und Selbstbetrung), die den Figuren
ein wahnsinniges Streben eingibt und sie in den Abgrund schleudert.
Dieser Abgrund betritt im letzten Satz der Erzhlung buchstblich die
Szene (Da streckte das Meer, die eiferschtige Witwe des enthaupteten
Falieri, die schumenden Wellen wie Riesenarme empor, erfate die Lie-
benden und ri sie samt der Alten hinab in den bodenlosen Ab-
grund!326).
Der Abgrund, das telos der Geschichte, ist wiederum mehrfach co-
diert: Man kann ihn als eine moralische Allegorie verstehen, der die
Untreue Annunziatas und Antonios bestraft. Gleichermaen knnte
man ihn als Element einer romantischen Liebestopik verstehen, in der
nur ein gemeinsamer Tod die Liebe der beiden Protagonisten verwirk-
licht. Als dritte Mglichkeit bietet es sich allerdings an, den Abgrund, in
den die Figuren am Schluss hineingerissen werden, als die Verwirkli-
chung des Abgrundes zu verstehen, in den Antonio befrchtet, durch ein
wahnsinniges Streben hineingezogen zu werden. Der Abgrund stellt,
als die allegorische Prsentation des Phantasmatischen berhaupt, den
Wahnsinn des wahnsinnigen Strebens dar, dem nicht nur Antonio, son-
dern mit ihm smtliche Figuren der Erzhlung verfallen. Er ist dann das
Phantasma des Phantasmas, die phantastische Darstellung des Phantasti-
schen: buchstblich eine mise-en-abyme.
Alle Figuren der Erzhlung lassen sich durch die Phantasmen charak-
terisieren, die sie von sich selbst und den anderen entwickeln und die ihr
Handeln in einen schlussendlichen Abgrund lenken. Ein phantasmati-
sches Objekt (fr Antonio) ist insbesondere Annunziata, deren Stimme
Antonio aus dem Gelispel der Quellen und dem ahnungsvollen Sau-
sen des Meeres herauszuhren meint. Die Figur der Annunziata wird
durch eine Vielzahl verschiedener Codierungen gestaltet, die sie abwech-
325 Hoffmann: Smtliche Werke in sechs Bnden (wie Anm. 58), Bd. 4, S.
451f. (Doge und Dogaresse).
326 Ebd., S. 482 (Hervorhebung von mir, O. K.).
263
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
selnd als eine Art Jungfrau nach christlichem Modell erscheinen lsst
(Annunziata, die Verkndigte), als Engel (Engel des Lichts) oder
aber als Naturwesen (das Hren ihrer Stimme im Sausen des Meeres),
das Antonio in das biblische Paradies (jenes unbekannte Eden327)
versetzen kann. Ein ebenso phantasmatisches Objekt ist Annunziata aber
auch fr Marino Falieri. Whrend in der Beziehung zwischen Antonio
und Annunziata die Figur der Margareta vermittelt, tritt zwischen Falieri
und Annunziata der Intrigant Marino Bodoeri als die dritte Figur, die das
Begehren berhaupt erweckt. Die Vermittlung ist nicht ohne Eigennutz
und zeigt, dass in Hoffmanns venezianischer Erzhlung nicht nur die Lie-
besgeschichte, sondern auch die politische Handlung von der Struktur
der Phantasmen und Einflsterungen bestimmt wird. Annunziata ist die
Tochter von Franzeska, der Nichte Bodoeris, und da dieser mancherlei
Ursache haben mochte seine Nichte als Dogaressa an Falieris Seite zu se-
hen,328 stellt er Falieri gegenber seine Enkelin als das schnste Erden-
kind dar, das nur zu finden.329
Bodoeri fing nun an, heit es weiter,
das Bild eines Weibes zu entwerfen und wute die Farben so geschickt zu
mischen und so lebendig aufzutragen, da des alten Falieri Augen blitzten, da
er im ganzen Gesicht rter und rter wurde, da die Lippen sich spitzten und
schmatzten als gensse er ein Glslein feurigen Syrakuser nach dem andern.330
264
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
dung bereits den sinnlichen Genuss, den der Intrigant Bodoeri ihm gera-
de erst versprochen hat. Die Unterredung zwischen Bodoeri und Falieri
beschreibt also, parallel zu derjenigen zwischen Antonio und Margareta,
einen Eintritt in die Welt des Phantastischen und des Phantasmatischen.
Die Intrige gelingt, der Doge ist begeistert: Ich will sie sehen, ich will
sie sehen, rief der Doge.331
Als ein Bild, das den Mnnern lebhaft und leibhaftig vor Augen steht,
wird Annunziata zum Inbegriff des begehrten Objekts. Die Vorstellung
der begehrenswerten Frau lsst die mediale Distanz zwischen Sprache
und Bild im Phantasma verschwinden: Das gesprochene Wort wird un-
mittelbar in ein Bild umgesetzt. In dieser Energie der Darstellung kann
der Kern des Phantastischen bei Hoffmann gesehen.332 Das Begehren der
Protagonisten Hoffmanns, die Identitt des eigenen Ich zu erlangen und
das begehrte Objekt zu erreichen, wird durch das Bestreben des Erzhlers
verdoppelt, dem Leser gleichfalls eine Vorstellung vom Erzhlten zu ver-
mitteln und so auch ihn in den Austausch der phantastischen Energien
einzubeziehen. Eine solche Einmischung des Erzhlers, wie sie nicht sel-
ten ist bei Hoffmann, findet sich in Doge und Dogaresse in einer Be-
schreibung Annunziatas.
Es war in der Tat ein wunderlich Schauspiel, den alten Dogen Marino Falieri
zu sehen mit seiner blutjungen Gattin. Er, zwar stark und robust genug, aber
mit greisem Bart, tausend Runzeln im braunroten Gesicht, mit mhsam zurck-
gebogenem Nacken, pathetisch daher schreitend; Sie, die Anmut selbst, from-
me Engelsmilde im himmlisch schnen Antlitz, unwiderstehlichen Zauber im
sehnschtigen Blick, Hoheit und Wrde auf der offnen lilienweien von dunk-
len Locken umschatteten Stirne, ses Lcheln auf Wang und Lippen, das
Kpfchen geneigt in holder Demut, den schlanken Leib leicht tragend daher
schwebend ein herrliches Frauenbild, heimatlich in anderer hherer Welt.
Nun, ihr kennt wohl solche Engelsgestalten, wie sie die alten Maler zu erfassen
und darzustellen wuten. So war Annunziata.333
265
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
266
III. ZWISCHEN ENTHUSIASMUS UND MESMERISMUS (E.T.A. HOFFMANN)
gant Bodoeri, der alte Falieri und auch der gerade erst wiederauferstan-
dene Nenolo hingerichtet:
Die Formulierung, der Anblick der Leichen sei ein Schauspiel gewe-
sen, fllt auf. Tatschlich wird der Begriff in der Erzhlung wiederholt
verwendet und markiert jeweils eine hervorgehobene Szene (das aller-
herrlichste Schauspiel,341 ein wunderlich Schauspiel,342 ein wunder-
lich seltsames Schauspiel343). Indem ihr Scheitern zum Schauspiel wird,
zeigt sich die unfreiwillige Komik des Handelns der Verschwrer und In-
triganten. Ihr Streben nach Macht war, mit den Worten Antonios, ein
wahnsinniges Streben, insofern es eigenen Einflsterungen und Sug-
gestionen folgte, welche von der Wirklichkeit schnell widerlegt wurden.
Da alle Figuren durch das Phantasma bestimmt werden, das ihnen
vor Augen steht, wird auch die Dogaresse nicht nur als Objekt der Phan-
tasmen beschrieben. Glaubt man dem Bericht der alten Amme Marga-
reta, so erinnert auch sie sich an die Begegnung mit Antonio in ihrer
Kindheit. Die Vermittlung, die sie zwischen Antonio und Annunziata
bernimmt, verluft also in beide Richtungen: Sie bewirkt nicht nur die
Erinnerung des jungen Mannes, sondern auch die der jungen Frau. So be-
richtet Margareta:
Nachdem ich den neuen Verband gemacht, blickte sie mich an mit vor Freude
leuchtenden Augen. Da sprach ich: Ei gndige Frau Dogaressa, Ihr habt ja auch
schon einmal einen Knaben gerettet, da Ihr die kleine Schlange ttetet, die ihn
stechen wollte zum Tode als er schlief. Tonino! da httest du sehen sollen
wie, als leuchte ein Strahl des Abendrots hinein, das blasse Antlitz sich schnell
frbte wie die Augen funkelndes Feuer blitzten. Ach ja, Alte, sprach sie,
ach ja ich war noch ein Kind auf meines Vaters Landhause. Ach es war
267
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ein holder lieber Knabe o wie gedenk ich noch seiner es ist mir, als sei seit
der Zeit mir gar nichts Glckliches mehr begegnet.344
Die Szene der Supposition verdoppelt sich: Sowohl Antonio als auch An-
nunziata versuchen, ihr Leben nach dem Muster eines Traums zu gestal-
ten. Gegen Ende der Erzhlung scheinen Traum und Wirklichkeit tat-
schlich bereinzukommen: Antonio strzte hin zu ihr; er bedeckte ihre
Hnde mit glhenden Kssen, er rief die Geliebte mit den sesten, zrt-
lichsten Namen. Da schlug sie die holden Himmelsaugen langsam auf,
sie sah Antonio [...], drckte ihn an ihre Brust benetzte ihn mit heien
Trnen kte seine Wangen seine Lippen.345 Die Bedingung der
Mglichkeit dieser wechselseitigen Anagnorisis liegt freilich darin, dass
beide Figuren durch dasselbe wahnsinnige Streben bestimmt werden.
Nichts anderes als ein gemeinsam geteiltes wahnsinniges Streben
ist es, das Antonio und Annunziata zu ihrem vermeintlichen Glck fin-
den lsst. Damit niemand diese vermeintliche Szene des Glcks fr das
letzte Wort der Erzhlung halten kann und auf die Idee kommen mag,
dass die durchgngige Ironie Hoffmanns hier durch die Realisierung ei-
ner bereinstimmung und Harmonie zwischen Traum und Realitt,
zwischen Bild und Wirklichkeit abgelst wrde, reit Hoffmann die
beiden Liebenden nur eine Seite spter in exakt den Abgrund, in den An-
tonio sich schon im Gesprch mit Margareta durch ein wahnsinniges
Streben hineingerissen gesehen hat. O mein Antonio! o meine An-
nunziata! So riefen sie des Sturms nicht achtend, der immer entsetz-
licher tobte und brauste. Da streckte das Meer [...] die schumenden
Wellen wie Riesenarme empor, erfate die Liebenden und ri sie samt
der Alten hinab in den bodenlosen Abgrund!346 Als Abgrund ist der
Wahnsinn die Ironie, welche eine Vereinbarkeit von Traum und Wirk-
lichkeit suggeriert und zugleich von der Unvereinbarkeit beider wei.
Was sich im allgemeinen Diskurs Hoffmanns als enthusiastisches bzw.
mesmeristisches Sprechen ber den Wahnsinn differenzieren lsst, wird
in seinen Erzhlungen durch eine ironische Erzhlstruktur zusammenge-
fhrt.
268
IV. T H I S D R E A M I N G , T H I S S O M N A B U L I S M
(C A R L Y L E )
In 32 der Vorschule der sthetik (1804) kommt Jean Paul auf die Hu-
moristische Totalitt zu sprechen. Jean Paul setzt voraus, dass sowohl
Satire als auch Humor grundstzlich durch destruktive Energie be-
stimmt sind. Satire und Humor klagen an: Sie weisen auf Fehler, Irrtmer
und Verrcktheiten hin. Whrend der gemeine Satiriker jedoch ein
paar wahre Geschmacklosigkeiten und sonstige Verste aufgreifen und
an seinen Pranger befestigen mag, nimmt der Humorist [...] fast lieber
die einzelne Torheit in Schutz, den Schergen des Prangers aber samt al-
len Zuschauern in Haft, weil nicht die brgerliche Torheit, sondern die
menschliche, d.h. das Allgemeine sein Inneres bewegt.1 Darin liegt die
Totalitt des Humors: Er richtet sich auf das Allgemeine, nicht, wie
die Satire, auf das Besondere.
1 Jean Paul: Smtliche Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Abteilung I: Bd. 1-
6. Abteilung II: Bd. 1-4. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1996, Abt. I,
Bd. 5, S. 125 (Vorschule der sthetik).
269
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Der Unterschied zwischen Satire und Humor ist in diesem Sinn vor
allem eine Unterscheidung der eigenen Position. Die Satire geht von der
Position einer gesetzten Ordnung aus (das Wortfeld des Prangers, der
Haft lsst das juristische Gesetz anklingen) und zeigt Abweichungen
von dieser Ordnung auf. Der satirische Witz fungiert als eine Art Staats-
anwalt: Er entdeckt Verste gegen die Ordnung und zeigt eine Unord-
nung auf, wo Ordnung herrschen sollte. Der Humor hingegen verlsst
diese sichere Position: Indem er niemanden anprangert, sondern den
Schergen des Prangers samt allen Zuschauern in Haft nimmt, ist es die
Ordnung selbst, die er anklagt. Damit geschieht mehr als nur eine sym-
metrische Umkehrung der Anprangerung einer einzelnen Geschmacklo-
sigkeit durch den Satiriker, denn der Humor richtet sich nicht nur gegen
diejenigen, die andere wegen eines Verstoes gegen die Ordnung ankla-
gen, sondern gegen die Mglichkeit dieser Anklage berhaupt, gegen das
Prinzip der Ordnung.
Der Humor, als das umgekehrt Erhabene, schreibt Jean Paul, ver-
nichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit
der Idee.2 Indem Humor die Totalitt aller Endlichkeit, jeder Ord-
nung und jeden Sinns angreift und vernichtet, stellt es wie das Erha-
bene (in Jean Pauls Interpretation) eine Beziehung zwischen dem Unend-
lichen und dem Endlichen her. Das Erhabene stellt, auf der einen Seite,
als das angewandte Unendliche3 einen paradoxen Kontrast zwischen
der endlichen Natur eines Zeichens und der unendlichen Idee des Be-
zeichneten dar (hierin folgt Jean Paul recht nahe der Analytik des Erha-
benen in der Kritik der Urteilskraft)4 und versucht so, Unendlichkeit
darstellbar zu machen. Der Humor dagegen stellt, auf der anderen Seite,
den Gegensatz zwischen der endlichen Erscheinung und der unendlichen
Idee der Erscheinung dar und vernichtet das Endliche damit. Es geht
im Humor nicht um die Darstellung eines nicht darstellbaren Unendli-
chen im Endlichen, sondern um die berwindung des Endlichen durch
seine berbietende Kontrastierung mit einem Unendlichen.
Im Gegensatz zum Erhabenen, welches versucht, das Unendliche im
Endlichen sichtbar zu machen und deswegen auf ein Verschwinden des
Endlichen zielt, bietet der Humor Endliches und Unendliches zugleich
dar, um ihre Spannung hervortreten zu lassen. Jean Paul beschreibt die-
ses Zugleichsein disparater Elemente als einen raschen Wechsel, als eine
2 Ebd.
3 Ebd., S. 106.
4 Vgl. vor allem Immanuel Kant: Werke in sechs Bnden. Hrsg. von Will-
helm Weischedel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983,
Bd. 5, S. 365 (KdU 29, B 124).
270
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
gleichsam einen Ausdruck der Welt-Verachtung kann man bei mancher Mu-
sik, z. B. der Haydnschen, vernehmen, welche ganze Tonreihen durch eine
fremde vernichtet und zwischen Pianissimo und Fortissimo, Presto und Andan-
te wechselnd strmt. Etwas zweites hnliches ist der Skeptizismus, welcher
[...] entsteht, wenn der Geist sein Auge ber die frchterliche Menge kriegeri-
scher Meinungen um sich her hinbewegt; gleichsam ein Seelen-Schwindel,
welcher unsere schnelle Bewegung pltzlich in die fremde der ganzen stehen-
den Welt umwandelt.5
5 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 132 (Vorschule
der sthetik).
6 Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Ge-
staltung. Tbingen: Niemeyer 1960 (Hermea. 6), S. 150.
271
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Wie berhaupt die Vernunft den Verstand (z. B. in der Idee einer unendlichen
Gottheit), wie ein Gott einen Endlichen, mit Licht betubt und niederschlgt
und gewaltttig versetzt: so tut es der Humor, der ungleich der Persiflage den
Verstand verlsset, um vor der Idee fromm niederzufallen. Daher erfreuet sich
der Humor oft geradezu an seinen Widersprchen und Unmglichkeiten, z.B. in
Tiecks Zerbino, worin die handelnden Personen sich zuletzt nur fr geschriebne
und fr Nonsense halten, und wo sie der Leser auf die Bhne und die Bhne
unter den Prebengel ziehen.7
Der Konflikt zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit zeigt sich hier als
derjenige zwischen Vernunft und Verstand: der Streit der Fakultten in
der Version Jean Pauls. Insofern der Humor ein Selbst dazu bringt, sich
fr eine fiktionale Figur und fr Nonsense zu halten und damit seine
eigene Identitt zu negieren, ist dieser Konflikt letztlich nichts anderes
als Wahnsinn. Von Anfang an, nicht erst als Seelen-Schwindel, ist Hu-
mor Verrcktheit. Jean Paul verweist auf diesen Zusammenhang fortlau-
fend. So schreibt er im Anschluss an seine einleitende Bestimmung des
Humors: Es gibt fr ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern
nur Torheit und eine tolle Welt.8 Wenn der Humor aber eine Totalitt
ist und sich folglich nicht nur auf die Person des Humoristen, sondern
auch noch auf sich selbst beziehen muss, dann konstatiert er nicht nur die
Tollheit der Welt, sondern auch die eigene Tollheit. Humor ist inso-
fern der Superlativ der Tollheit. Da lacht der Mensch, denn er sagt:
Unmglich! Es ist viel zu toll,9 heit es in 34 der Vorschule der
sthetik. Im folgenden Paragraphen ber die Humoristische Sinnlich-
keit spricht Jean Paul den Zusammenhang zwischen Humor und Wahn-
sinn explizit an.
Insofern als ein solcher Jngster Tag die sinnliche Welt zu einem zweiten
Chaos auseinanderwirft blo um gttlich Gericht zu halten , der Verstand
aber nur in einem ordentlich eingerichteten Weltgebude wohnen kann, indes
die Vernunft, wie Gott, nicht einmal im grten Tempel eingeschlossen ist :
insofern liee sich eine scheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnsinn
denken, welcher natrlich, wie der Philosoph knstlich, von Sinnen und von
Verstande kommt und doch wie dieser Vernunft behlt; der Humor ist, wie die
Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates.10
7 Ebd., S. 131.
8 Ebd., S. 125.
9 Ebd., S. 132.
10 Ebd., S. 139f.
272
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Humor ist fr Jean Paul Wahnsinn, aber dieser Wahnsinn ist etwas ande-
res als das einfache Gegenteil der Vernunft.11 Wenn er die sinnliche
Welt zu einem zweiten Chaos auseinanderwirft, ist Humor nicht ein-
fach eine Umkehrung der Ordnung, sondern die Destabilisierung der
Ordnung; er vollzieht nicht einfach einen Positionswechsel, sondern ei-
nen Schritt in die Positionslosigkeit. Humor wirft den Humoristen in je-
nen grenzenlosen, unendlichen Raum der Vernunft, in dem nur ein Gott
sich auskennen kann, um von dort aus ber die Grenzen und Verirrungen
des endlichen Raums Gericht halten zu knnen. Der Humorist kann aber
nicht die sichere und externe Position eines Gottes einnehmen, sondern
er muss die Endlichkeit in der Endlichkeit zerstren und kann allenfalls
ex negativo eine Vorstellung der Unendlichkeit erhalten. Daraus ergibt
sich eine unbequeme Position fr den Humoristen. Insofern Humor nie-
mals an einem Ort stillstehen kann auch und gerade nicht an dem extra-
mundanden Ort der grenzenlosen Vernunft , sondern sich jederzeit
durch eine frchterliche Menge kriegerischer Meinungen um sich her
bewegen muss, bis er zu einem Seelen-Schwindel fhrt, ist die Einsicht
in die Grenzen des Endlichen trotz der Assoziierung des Humoristen mit
der gttlichen Vernunft vor allem eine Einsicht in die Grenzen des eige-
nen Ich.
Da im Humor das Ich parodisch heraustritt,12 schreibt Jean Paul:
Es tritt hervor und teilt sich in den endlichen und unendlichen Faktor13
seiner selbst, um seine eigene Endlichkeit und Limitation zu sehen. Man
wird allerdings nicht bersehen knnen, dass auch das Heraustreten des
Ich aus sich selbst es dem Selbst nicht erlaubt, einen ruhigen, gar un-
endlichen Standpunkt einzunehmen, von dem aus es seine endliche Sei-
te betrachten knnte.14 Fr einen Augenblick in die Hhe der unendli-
chen Vernunft gehoben, muss der Humorist, wie jene Person aus
Tiecks Zerbino vor allem erkennen, dass sein Ich nichts mehr als das Er-
11 Vgl. auch Gerd Held: Menstruum universalis oder das flchtige Salz des
Komischen. Zur Auflsung der Form bei Jean Paul. In: Das Paradoxe. Lite-
ratur zwischen Logik und Rhetorik. Festschrift fr Ralph-Rainer Wuthe-
now zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Carolina Romahn und Gerold Schip-
per-Hnicke. Wrzburg: Knigshausen & Neumann 1999, S. 35-47, hier:
S. 43.
12 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 135 (Vorschule
der sthetik).
13 Ebd., S. 132.
14 Vgl. Gtz Mller: Jean Pauls sthetik und Naturphilosophie. Tbingen:
Niemeyer 1983, S. 233.
273
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
erklrt durch die Totalitt sich die humoristische Milde und Duldung gegen
einzelne Torheiten, weil diese alsdann in der Masse weniger bedeuten und be-
schdigen, und weil der Humorist seine eigne Verwandtschaft mit der Mensch-
heit sich nicht leugnen kann; indes der gemeine Sptter, der nur einzelne ihm
fremde abderitische Streiche des gemeinen und gelehrten Wesens wahrnimmt
und aufzhlt, im engen selbstschtigen Bewutsein seiner Verschiedenheit als
Hippozentaur durch Onozentauren zu reiten glaubend desto wilder von sei-
nem Pferde herab die Kapuzinerpredigt gegen die Torheit hlt, als Frh- und
Vesperprediger in hiesiger Irrenanstalt der Erde.16
Schliet der gemeine Sptter sich selbst vom Irrsinn aus und fordert eine
Irrenanstalt fr die Abderiten um sich, erkennt der Humorist die ganze
Erde als eine einzige Irrenanstalt, in der auch er ein Insasse bleiben muss.
In dieser Totalisierung des Wahnsinns schliet Jean Paul an Kants Aus-
fhrungen ber die Verrcktheit im Versuch ber die Krankheiten des
Kopfes an.17 Ferner knpft Jean Pauls Konzept des Humors, wie schon
das Wort des parodischen Heraustretens des Ich im Humor und der
Bezug auf Tieck zeigt, an Schlegels Beschreibung der Ironie als perma-
nenter Parekbase18 an. Auch Kants Schreibweise im Versuch ber die
Krankheiten des Kopfes weist notwendigerweise bedingt durch die Ein-
sicht in den Zusammenhang von Sprache und Wahnsinn eine ironi-
sche oder humoristische Selbstbezglichkeit auf, aber erst Schlegel
verbindet diese Schreibpraxis mit dem literarischen, aus der antiken Ko-
mdie berlieferten Modell der Parekbase. Im gleichen Mae, wie Ironie
fr Schlegel grundstzlich Wahnsinn ist,19 verlsset Jean Pauls Humor
15 Vgl. zur sprachlichen Verfatheit des Ich in Schlegels Theorie der Ironie
auch Kap. III. 1.
16 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 128 (Vorschule
der sthetik).
17 Vgl. zur Absolutierung des Wahnsinns bei Kant vor allem Kap. II. 4.
18 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst
Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. [Bis-
her:] Bd. 1-14, Bd. 16-23. Paderborn u.a.: Schningh, Zrich: Thomas
1958-1995, Bd. 18, S. 85 (Zur Philosophie, Nr. 668).
19 Vgl. Kap. III. 1.
274
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Die beste Literatur, so muss man folgern, ist schlechte Literatur. Gleich
dem verzerrten Bild eines Hohlspiegels gibt sich das schlechte Buch als
eine Entstellung des von ihr Dargestellten (der Idee) zu erkennen. Wie
ein Hohlspiegel stellt die schlechte Literatur die Endlichkeit verzerrt
dar, aber insofern diese Endlichkeit selbst nrrisch und also verkehrt,
verdreht und verzerrt ist, vernichtet sich die Feindin der Idee zur
Freude des halb-wahnsinnigen Swift. Die Verzerrung des Endlichen in
der endlichen Darstellung macht indirekt die Unendlichkeit der Idee
darstellbar, denn die Zerrissenheit der nrrischen Endlichkeit er-
laubt es dem Leser, vom Dargestellten berhaupt abzusehen und dasjeni-
ge zu genieen, was er sich denkt. Humor erlaubt so eine Beziehung
zur Unendlichkeit (der Idee), indem sich in ihm die endlichen Zeichen in
einen zerreienden und vernichtenden Widerspruch zueinander begeben
und sich so wechselseitig negieren. Aus der Vernichtung der endlichen
Zeichen des endlichen Verstandes durch sich selbst ergibt sich indirekt
ein Genuss fr die unendliche Vernunft. Es geht hier folglich nicht allein
darum, dass in dem freien Entschlu, das Mangelhafte zu tun, [...] eine
Erhebung ber den Mangel lge, weil es in dem Autor das Bewut-
20 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 131 (Vorschule
der sthetik).
21 Vgl. Katrin Seebacher: Poetische Selbst-Verdammnis. Romantikkritik der
Romantik. Freiburg i.Br.: Rombach 2000 (Cultura. 13), S. 83f.
22 Jean Paul: Smtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 5, S. 125 (Vorschule
der sthetik).
275
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
I V . 2 D i e d r e i B c he r i n S a r t o r Re s ar tu s
Die Allerley-Wissenschaft
23 Mller: Jean Pauls sthetik und Naturphilosophie (wie Anm. 14), S. 231f.
24 Vgl. Ren Wellek: Carlyle und die deutsche Romantik [1929]. In: ders.:
Konfrontationen. Vergleichende Studien zur Romantik. bers. von Rolf
Dornbacher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964 (edition suhrkamp. 82),
S. 42-90, hier: S. 65-84; J. W. Smeed: Thomas Carlyle and Jean Paul Rich-
ter. In: Comparative Literature 16 (1964), S. 226-253; Peter Allan Dale:
Sartor Resartus and the Inverse Sublime: The Art of Humorous Decon-
struction. In: Allegory, Myth, and Symbol. Hrsg. von Morton W. Bloom-
field. Cambridge, London: Harvard University Press 1981 (Harvard En-
glish Studies. 9), S. 293-312.
276
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
ein nicht mit einem Namen bezeichneter englischer Editor sich vor die
Aufgabe gestellt sieht, a new Book from Professor Teufelsdrckh of
Weissnichtwo25 ber die Philosophie der Kleidung (Die Kleider ihr
Werden und Wirken) nicht nur zu besprechen, sondern es auch zu ber-
setzen, zusammenzufassen, zu kritisieren, zu erklren und zu kommentie-
ren. ber den Autor dieses Werks erfhrt der Leser im dritten Kapitel des
ersten Buchs genaueres. Professor Diogenes Teufelsdrckh ist, by title
and diploma, Professor der Allerley-Wissenschaft, or as we should say in
English, Professor of Things in General.26 Was aber ist das Fachgebiet
eines Professors, der fr Dinge berhaupt, fr die Allerley-Wissen-
schaft und also fr schlechthin Alles zustndig zu sein behauptet? Ist ei-
ne Wissenschaft von Allem nicht per se die Parodie einer Wissenschaft?
Der hybride Anspruch, ber schlechthin Alles, ber die Gesamtheit aller
Dinge, Wissen besitzen zu wollen, scheint notwendigerweise zu komi-
scher Selbstberschtzung und zu delirierender Beliebigkeit und absolu-
ter Zerstreuung jedes Wissens zu fhren. Der Anspruch des deutschen
Professors, fr die Dinge berhaupt zustndig zu sein, erinnert in die-
sem Sinn an die vielzitierte uerung Carlyles, er wolle a kind of Sati-
rical Extravaganza on Things in General verfassen; it contains more
of my opinions on Art, Politics, Religion, Heaven, Earth and Air, than all
the things I have yet written.27 Der Professor der Allerley-Wissen-
schaft erscheint aus dieser Perspektive zunchst wie eine irrsinnige
Witzfigur, nicht mehr als ein Anlass fr eine endlose Reihung satirischer
Bemerkungen. The Science of Things in General Method or Mad-
ness?,28 lautet von Anfang an die Frage.
Demgegenber darf nicht bersehen werden, dass Allerley-Wissen-
schaft eine nicht unzutreffende Beschreibung fr das Programm einer
universellen Transzendentalphilosophie ist, wie es zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in Deutschland formuliert wird. Nachdem Kant die Philoso-
phie nicht mehr ber die Zustndigkeit fr ein Gebiet des Wissens (etwa:
Moralphilosophie oder sthetik), sondern allein durch das Wissen ber
277
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
die Grenzen des eigenen Wissens bestimmt,29 ndert sich auch die Rolle
der Philosophie in der Architektur der Universitt. In seinem Deducirten
Plan einer zu Berlin zu errichtenden hheren Lehranstalt (1807) weist
Fichte der Philosophie keine geringere Aufgabe zu als die, schlechthin
alle geistigen Ttigkeiten mit dem kritischen Auge der Vernunft zu pr-
fen und zu verstehen, d.h. in die Gesamtheit eines Systems zu bringen.
So schreibt Fichte:
Nun ist dasjenige, was die gesammte geistige Thtigkeit, mithin auch alle be-
sonderen und weiter bestimmten Aeusserungen derselben wissenschaftlich er-
fasst, die Philosophie: von philosophischer Kunstbildung msste sonach den
besonderen Wissenschaften ihre Kunst gegeben, und das, was ihnen bisher
blosse, vom guten Glck abhngende Naturgabe war, zu besonnenem Knnen
und Treiben erhoben werden; der Geist der Philosophie wre derjenige, wel-
cher zuerst sich selbst, und sodann in sich selber alle anderen Geister verstn-
de [...].30
Nicht nur sich selbst, sondern in sich selber alle anderen Geister zu
verstehen: Darin liegt fr Fichte die unermessliche Aufgabe der Philoso-
phie, die ein buchstblich ungeheures philosophisches Selbstbewusst-
sein erfordert. Wo Kant die Philosophie noch vor allem ber das Wissen
der (eigenen) Grenzen bestimmen wollte, wird die Disziplin bei Fichte
schlechthin grenzenlos. Damit kein Zweifel an der Zustndigkeit der Phi-
losophie fr buchstblich Alles bleiben kann, setzt Fichte noch ausdrck-
lich hinzu: wenn nur wirklich der philosophische Geist und die Kunst
des Philosophirens entwickelt ist, so wird ganz von selbst diese sich ber
die gesammte Sphre des Philosophirens ausbreiten, und diese in Besitz
nehmen.31 Und im folgenden Paragraphen 19 heit es, nun mit aller
Deutlichkeit: Mit diesem also entwickelten philosophischen Geiste, als
der reinen Form des Wissens, msste nun der gesammte wissenschaftli-
che Stoff in seiner organischen Einheit auf der hheren Lehranstalt auf-
gefasst und durchdrungen werden, also dass man genau wsste, was zu
ihm gehre oder nicht, und so die strenge Grenze zwischen Wissenschaft
und Nichtwissenschaft gezogen wrde.32 Fichtes Plan fr die zu grn-
29 Vgl. Cathy Caruth: Empirical Truths and Critical Fictions. Locke, Words-
worth, Kant, Freud. Baltimore, London: The Johns Hopkins University
Press 1991, S. 61.
30 Johann Gottlieb Fichte: Smmtliche Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann
Fichte. Bd. 1-11. Berlin: de Gruyter 1971, Bd. 8, S. 122 (Deducirter Plan,
16; Hervorhebung von mir, O. K.).
31 Ebd., S. 124 (Deducirter Plan, 18; Hervorhebung von mir, O. K.).
32 Ebd., S. 125 (Deducirter Plan, 19).
278
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
279
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
and water-transport of all kinds has grown more commodious. Of Geology and
Geognosy we know enough: what with the labours of our Werners and Huttons,
what with the ardent genius of their disciples, it has come about that now, to
many a Royal Society, the Creation of a World is little more mysterious than
the Cooking of a Dumpling; concerning which last, indeed, there have been
minds to whom the question, How the apples were got in, presented difficul-
ties.37
280
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
39 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 4), Bd. 6, S. 530 (Anthropologie
49, BA 144).
40 William Shakespeare: Gesamtwerk. Englisch und Deutsch. bersetzung
von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. Hrsg. von L. L. Sch-
cking. Bd. 1-6. Augsburg: Weltbild Verlag 1996, Bd. 4, S. 109 (Hamlet II,
2).
281
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
282
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Mglichkeit von Bedeutung nur auf der Ebene der Wrter, indem er ver-
schiedene Modelle des Bedeutens vorfhrt und reflektiert. Wie im Fall
des halbwahnsinnigen Swift, der ein Buch liest und sich dabei ein an-
deres denkt, ergibt sich diese Thematisierung der Mglichkeit des Be-
deutens auch in Carlyles Roman durch eine Multiplikation der Bcher im
Buch.
Kann das Verhltnis der ersten beiden Bcher in Sartor Resartus, dasje-
nige zwischen dem Buch Sartor Resartus des fiktiven Herausgebers und
Teufelsdrckhs Buch Die Kleider ihr Werden und Wirken, tatschlich in
erster Linie als Rsum oder Kommentar verstanden werden? Neben den
283
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
It were a piece of vain flattery to pretend that this Work on Clothes entirely
contents us; that it is not, like all works of Genius, like the very Sun, which,
though the highest published Creation, or work of Genius, has nevertheless
284
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
black spots and troubled nebulosities amd its effulgence, a mixture of insight,
inspiration, with dulness, double-vision, and even utter blindness.48
Der Verdacht, in den Texten des deutschen Metaphysikers nicht nur die
Sonne des Genies, sondern auch blanken Unsinn und Wahnsinn vorzu-
finden und also berhaupt keinen sinnvollen Text vor Augen zu haben,
sondern words, words, words , verlsst den Herausgeber im Laufe sei-
ner Arbeit nicht. Bedrohlich ist dieser Verdacht deswegen, weil sich
nicht nur die Begeisterung oder das Genie des Professors als konta-
gis erweist, sondern ebenso auch seine Verwirrung und seine Verrckt-
heit. Durch die Beschftigung mit der Sprache des deutschen Philoso-
phen in Unordnung gebracht, verliert auch die Sprache des englischen
Editors jeden Sinn und Zusammenhalt und droht, seine Leser in Eng-
land gleichfalls anzustecken:
48 Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 141: Singular Teufelsdrckh, would thou hadst
told thy singular story in plain words! [...] Nothing but innuendos, figurati-
ve crotchets: a typical Shadow, fitfully wavering, prophetico-satiric; no
clear logical Picture.
49 Ebd., S. 204.
285
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die Beziehung zwischen dem Editor und seiner Arbeit des Schreibens
ber ein ihm vorausgehendes und vorliegendes Konvolut von Papieren
und einem Buch wiederholt jene Beziehung, die innerhalb des Buches
(des Professors) zwischen dem Professor Teufelsdrckh und einem wie-
derum ihm vorausgehenden Buch statthat. Der Akt des Erzhlens wird
somit nicht nur einmal, sondern gleich auf zwei Ebenen als ein proble-
matisches Unternehmen dargestellt. Das Buch der Natur, das Buch der
Dinge ist dasjenige Buch, auf welches das Schreiben des Professors sich
genau in dem Mae bezieht, wie das Schreiben des Editors sich auf
seines. In diesem Sinn parodieren und persiflieren sich die Probleme des
Schreibens bei beiden Personen wechselseitig. Wie der Herausgeber vor-
gibt, eine geraffte Version eines ihm vorliegenden, ungleich umfassen-
deren Buchs wiederzugeben, so bezieht sich auch dieses wiederum auf
ein anderes Buch, das nicht geschrieben, sondern allenfalls gedacht
werden kann. Im dem Natural Supernaturalism betitelten Kapitel des
dritten Bandes erhebt sich die Diktion Teufelsdrckhs zu einer geradezu
prophetischen, tatschlich aber eher transzendentalprophetischen Empha-
se:
We speak of the Volume of Nature: and truly a Volume it is; whose Author
and Writer is God. To read it! Dost thou, does man, so much as well know the
Alphabet thereof? With its words, Sentences, and grand descriptive Pages, poe-
tical and philosophical, spread out through Solar Systems, and Thousands of
Years, we shall not try thee. It is a Volume written in celestial hieroglyphs, in
the true Sacred-Writing; of which even Prophets are happy that they can read
here a line and there a line. As for your Insititutes, and Academies of Science,
they strive bravely; and, from amid the thick-crowded, inextricably intertwisted
hieroglyphic writing, pick out, by dextrous combination, some Letters in the
286
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
vulgar Character, and therefrom put together this and the other economic Reci-
pe, of high avail in Practice. That Nature is more than some boundless Volume
of such Recipe, or huge, well-nigh inexaustible Domestic-Cookery Book, of
which the whole secret will, in this wise, one day, evolve itself, the fewest
dream.51
287
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
nigsten hinaus, denn er wei, was jene nur trumen. Insofern es die Mg-
lichkeit prophetischer Einsicht in das Geheimnis der Natur von einer
bereits erreichten Einsicht zu bewerten scheint und dabei Transzenden-
talprophetie mit Begeisterung verbindet, scheint sein Wissen jenseits
menschlicher Endlichkeit zu sein. Die prekre Behauptung eines Wissens
ber das Unendliche liegt bereits in der Metapher vom Buch der Natur
begrndet, die bekanntlich eine lange philosophische und literarische
Tradition besitzt und die Carlyle vor allem aus dem Umkreis der Autoren
bekannt gewesen ist, die gemeinhin als Romantiker bezeichnet werden.
Die Frage nach der Lesbarkeit natrlicher Zeichen wird in einigen na-
turphilosophischen Reflexionen Goethes gestellt, vor allem aber in Nova-
lis Fragmenten.52 Hier zeigt sich die Problematik der Lesbarkeit freilich
ungleich komplexer, als es die griffige Formel des Buchs der Natur
suggeriert. Wenn die sichtbare Welt eine Mitteilung Gottes an die
Menschen sein soll, ist sie bereits in dem Moment entstellt und unver-
stndlich geworden, in dem sie nur als Buchstaben erscheinen kann. Un-
ter der Bedingung der Arbitraritt der Zeichen ist auch das Buch der Na-
tur nur ein Buch und keineswegs ein verstndlicher Geist. So schreibt
Novalis:
Alles, was wir erfahren ist eine Mittheilung. So ist die Welt in der That eine
Mittheilung Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist
Gottes verstndlich war. Wir sind beym Buchstaben stehn geblieben. Wir ha-
ben das Erscheinende ber der Erscheinung verlohren. Formularwesen.53
52 Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt [1981]. 4. Aufl. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 592), S.
214-266; Hartmut Bhme: Denn nichts ist ohne Zeichen. Die Sprache der
Natur: Unwiederbringlich? In: ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp. 1470), S. 38-66. Vgl. zu Nova-
lis Fragmenten als Vorlage fr die Semiotik in Sartor Resartus auch Ri-
chard W. Hannah: Novalis, Carlyle and the Metaphysic of Semeiosis. In:
Deutsche Romantik and English Romanticism. Hrsg. von Theodore G.
Gish und Sandra G. Frieden. Mnchen: Fink 1984 (Houston German Stu-
dies. 5), S. 27-41.
53 Novalis: Werke, Tagebcher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg.
von Hans-Joachim Mhl und Richard Samuel. Bd. 1-3. Mnchen, Wien:
Hanser 1978, Bd. 3, S. 383 (Vorarbeiten 1798). Vgl. Blumenberg: Die Les-
barkeit der Welt (wie Anm. 53), S. 256f.
288
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Beziehung hervor, die Novalis als Schriftsteller wie als Philosoph zur
Natur hatte. Przise formuliert ist es fr Carlyle bemerkenswert, dass No-
valis berhaupt eine Beziehung zur Natur hatte, welche fr ihn eher eine
vernehmliche Stimme denn ein Objekt nchterner Betrachtung gewesen
sei. Dass Carlyle hier ausdrcklich erwhnt, die Natur sei fr Novalis
veil und Garment des bersinnlichen gewesen, lsst dessen Schrif-
ten durchaus als eine Inspiration fr Teufelsdrckhs Philosophie der
Kleidung erscheinen.
He loves Nature with a singular depth; nay, we might say, he reverences her,
and holds unspeakable communings with her: for Nature is no longer dead, ho-
stile Matter, but the veil and mysterious Garment of the Unseen; as it were the
Voice with which the Deity proclaims himself to man. These two qualities,
his pure religious temper, and heartfelt love of Nature, bring him into true
poetic relation both with the spiritual and the material World, and perhaps
constitute his chief worth as Poet.54
Was Novalis von der Verstndlichkeit der Natur nurmehr in der Vergan-
genheitsform spricht, bersetzt sich fr Carlyle in den Prsens. Die Lie-
be zur Natur erweckt diese zum Leben, sie ist nicht mehr ein toter Ge-
genstand, sondern eine sprechende Stimme. In seiner Hinwendung zur
Natur bringt sich der Poet in eine Relation zu einer Entitt, die erst in
dieser Hinwendung berhaupt erst zum Subjekt und damit zum mgli-
chen Teil einer Relation wird.
Die Rede vom Garment of the Unseen, die an die traditionelle For-
mel des Buchs der Natur anschliet, ist in diesem Sinn nicht einfach ei-
ne Metapher, sondern eher eine Metatrope, eine transzendentale Trope.
Sie wird nicht durch eine gegebene oder wie auch immer erkannte hn-
lichkeit ermglicht, sondern sie erffnet erst einen Raum, innerhalb des-
sen hnlichkeiten, Vergleiche und also Lesbarkeit und Verstndlichkeit
statthaben knnen. Wenn alle sichtbaren Dinge veil und Garment
sind, ist ihre Sinnhaftigkeit und Verstndlichkeit a priori dadurch garan-
tiert, dass sie Produkte eines Wesens sind, das als Hersteller von Schleier
und Kleid mit endlichen Kategorien der Ttigkeit und Produktion be-
schreibbar und begreiflich wird. Das sprachliche Zeichen und das mate-
rielle Ding werden einander a priori hnlich und ineinander bersetzbar,
insofern das letztere wie das erstere als die uerung eines sich mittei-
lenden Wesens begriffen wird. In diesem Sinn schreibt Teufelsdrckh:
One Bible I know, of whose Plenary Inspiration doubt is not so much as
54 Thomas Carlyle: Novalis [1829]. In: ders.: Critical and Miscellaneous Es-
says. Bd. 1-3. London: Chapman and Hall 1899-1904, Bd. 1, S. 421-467,
hier: S. 444.
289
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
possible; nay with my own eyes I saw the Gods-Hand writing it: thereof
all other Bibles are but Leaves, say, in Picture-Writing to assist the
weaker faculty.55
Bereits Hamann notiert in Ueber die Auslegung der Heiligen Schrift
kurz und bndig die Profession Gottes als Schriftsteller: Gott ein
Schriftsteller!56 Der Anthropomorphismus dieser Metatrope ist es, die
Kant zu einer deutlichen Ablehnung gefhrt hat. Auf das Verstndnis der
gesamten materiellen Welt als signifikant geht er in der Anthropologie,
im Abschnitt ber das Zeichen, ein. Hier heit es: Die wirklichen, den
Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit Schwedenborg) fr bloes
Symbol einer im Rckhalt verborgenen intelligiblen Welt ausgeben ist
Schwrmerei.57 Wer behauptet, die Dinge der Welt seien als Zeichen
lesbar, unterstellt ihnen eine Sinnhaftigkeit, ber die innerhalb der Gren-
zen der menschlichen Endlichkeit keine Aussage zu treffen ist. Nur der
Schwrmer derjenige, der die in den Kantschen Kritiken gezogenen
Grenzen der Vermgen habituell berschreitet58 behauptet, etwas zu
wissen, das dem menschlichen Wissen a priori entzogen ist.
Es kann hier nicht um die Frage gehen, ob Carlyle seinen fiktiven
Professor nun als Schwrmer darstellt oder nicht. Die Lektre von Sar-
tor Resartus lsst seine Leser niemals vergessen, dass die handelnden
Gestalten keine Personen aus Fleisch und Blut sind, sondern fiktionale
Konstrukte, nach deren geistiger Gesundheit zu fragen mig sein muss.
Ein angemessenes Verstehen des Romans darf entsprechend nicht nur
nach der Philosophie Teufelsdrckhs oder seiner Ideologie fragen,
sondern muss auch die Stellung der Figur im symbolischen Gefge der
Narration untersuchen. Sartor Resartus ist ein Roman ber das Schreiben
und die Mglichkeit des Schreibens: Nicht nur der Editor ist wesent-
lich ein Schreibender, der fortlaufend ber das Schreiben reflektiert, son-
dern auch Teufelsdrckh, der wiederum Gott als Autor und sein Werk,
die Welt, als Schrift beschreibt. Die anthropomorphistische Analogie
zwischen Schriftsteller und Gott erffnet, wie zu zeigen versucht wurde,
ein Feld der hnlichkeiten, innerhalb dessen Sprache in eine adquate
Beziehung zur Welt gebracht werden kann. Im Feld dieser Analogie, so
lautet das Versprechen Teufelsdrckhs, kann Sprache Bedeutung und
55 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 147 (Hervorhebung von mir, O.
K.).
56 Johann Georg Hamann: Smtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. von Josef Nadler. Bd. 1-6. Wien: Thomas-Morus-Presse im Herder-
Verlag 1949-1957, Bd. 1, S. 5 (Ueber die Auslegung der Heiligen Schrift).
57 Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 4), Bd. 6, S. 498 (Anthropologie
35, BA 107).
58 Vgl. Kap. II. 3.
290
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Sinn haben, um mehr zu sein als das unsinnige und verrckte Gestammel
von words, words, words.
Wenn es eine Analogie zwischen Schriftsteller und Gott gibt, dann
ist sie allerdings jederzeit in beide Richtungen lesbar. Einerseits folgt aus
der Analogie: Gott ist ein Schriftsteller, insofern seine Werke geschriebe-
ne Zeichen sind, die fr die Menschen lesbar sind. Andererseits folgt
aber auch: Der Mensch wird in dem Moment zu einem Gott, in dem er
zum Stift greift und sinnvolle Worte notiert. Indem er aus dem Nichts he-
raus eine Ordnung hervorbringt, gleicht der schreibende Mensch dem
schpferischen Gott. In diesem Sinn fhrt Carlyles Metaphysiker Teu-
felsdrckh ausdrcklich eine Analogie zwischen dem Ergreifen des Stif-
tes und dem schpferischen Fiat Gottes aus:
Hast thou not a Brain, furnished, furnishable with some glimmerings of Light;
and three fingers to hold a Pen withal? Never since Aarons Rod went out of
practice, or even before it, was there such a wonder-working Tool: greater than
all recorded miracles have been performed by Pens. For strangely in this so
solid-seeming World, which nevertheless is in continual restless flux, it is
appointed that Sound, to appearance the most fleeting, should be the most
continuing of all things. The WORD is well said to be omnipotent in this world;
man, thereby divine, can create as by a Fiat. Awake, arise! Speak forth what is
in thee; what God has given thee, what the Devil should not take away.59
59 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 150f. Vgl. Miller: Hieroglyphi-
cal Truth in Sartor Resartus (wie Anm. 50), S. 16f.
291
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
der sprechende Mensch sich selbst in die Position eines Gottes begibt
und seinen eigenen Sinn beglaubigt.
Diese Lsung lsst sich freilich schon durch den Versuch verunsi-
chern, die Passage auf sich selbst anzuwenden. Tatschlich hat der Pas-
sus, in dem Teufelsdrckh die Macht des Wortes als gttliches Fiat
beschwrt, nur wenig hnlichkeit mit einem derart kraftvollen Wort.
Teufelsdrckh bereitet die Beschwrung des Wortes Fiat nicht nur me-
tonymisch durch das Brain, furnished, furnishable with some glimme-
rings of Light vor und sichert sie zustzlich durch den Vergleich mit
dem biblischen Stab Aarons ab. Zugleich wird die schpferische Kraft
des Wortes, genau besehen, nicht festgestellt, sondern eher gefordert. Die
schpferische Macht wird nicht konstatiert, sondern imperativisch einge-
klagt: Awake, arise! Speak forth what is in thee. Indem Teufelsdrckhs
eigene Sprache hier in hyperbolischer Grozgigkeit auf das Arsenal rhe-
torischer Mittel und nicht auf die herrschende Macht gttlicher Befehle
zurckgreift, erinnert sein Sprechen weitaus eher an die zahlreichen und
vergeblichen words, words der Metaphysiker und Wissenschaftler als
an das gttliche WORD. Der Wortreichtum und die Wortflle der Aus-
sage durchbrechen die Mglichkeit, an den Inhalt der Aussage zu glau-
ben. Was Walter Benjamin ber Robert Walser sagt, beschreibt auch
Teufelsdrckhs Wortflle: Kaum hat er die Feder in die Hand genom-
men, bemchtigt sich seiner eine Desperadostimmung. Alles scheint ihm
verloren, ein Wortschwall bricht aus, in dem jeder Satz nur die Aufgabe
hat, den vorigen vergessen zu machen.60 In diesem Sinn bemerkt auch J.
Hillis Miller, Sartor Resartus sei one of the noisiest books among the
classics of English Literature.61
Wre dieser Widerspruch einfach dem schlechten Stil oder der In-
konsequenz Carlyles anzulasten, dann htte er eine rein akzidentielle Be-
deutung und wre nicht weiter der Rede wert. Interessant wre dieser
Widerspruch erst dann, wenn sich zeigen liee, dass er aus der Kleider-
und Symboltheorie des Buchs notwendig hervorgeht und auch in ihr
selbst am Werke ist. Die sich selbst widersprechende Darstellung des
Textes wre dann nicht mehr der Ausdruck schriftstellerischer Schlam-
pigkeit, sondern im Gegenteil der einer rigorosen Konsequenz. Es wird
also ntig sein, die Symboltheorie Teufelsdrckhs in Grundzgen nach-
zuvollziehen.
292
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
IV. 3 Symbole
293
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
All visible things are Emblems; what thou seest is not there on its own
account; strictly taken, is not there at all: Matter exists only spiritually, and to
represent some Idea, and body it forth. Hence Clothes, as depicable as we think
them, are so unspeakably significant. Clothes, from the Kings-mantle down-
wards, are Emblematic, not of want only, but of a manifold cunning Victory
over Want. On the other hand, all Emblematic things are properly Clothes,
thought-woven or hand-woven: must not the Imagination weave Garments, vi-
sible Bodies, wherein the else invisible creations und inspirations of our Reason
are, like Spirits, revealed, and first become all-powerful [...]?66
294
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Wiederum, wie bereits in der Rede ber die Zauberkraft des Wortes, geht
es um Macht und Kraft. Hier allerdings geht es um die Kraft, welche es
erst ermglicht, von einer magischen Macht der Wrter zu sprechen: die
Einbildung als Kraft, die Einbildungskraft (imagination). Sie ist diejeni-
ge Kraft, die Dinge mit einer Bedeutung versieht, indem sie sie als Ver-
krperung einer Idee, eines Zeichens betrachten kann. Als Verkrpe-
rung ist das Kleid in diesem Sinn ebenso ein Emblem wie das Emblem
ein Kleid ist. Die gesamte sichtbare Welt ist ein Produkt der Einbildungs-
kraft und wird bevlkert von ihren Spirits und Inspirations, von ihren
Geistern und Begeisterungen. Die Einbildungskraft verbindet ein Wort
mit einer Bedeutung, indem sie es mit einer Vorstellung verbindet. Um-
gekehrt kann der Sinn eines Wortes nichts anderes sein als die mit ihm
verbundene Vorstellung. Die Wrter geben den Menschen die Vorstel-
lung, in einer sinnvollen und sinnhaften Welt zu leben, aber diese ist not-
wendigerweise eine Welt des Phantasmas, des Geistes und der Geister,
der Einbildungen und des Traums.
Keinem Wort kann eine Wahrheit zukommen, welche die Ebene des
Vorstellbaren und damit des Eingebildeten und Phantastischen ber-
schritte. Diesen Gedanken expliziert Teufelsdrckh im Zusammenhang
mit seiner Kritik an den Dogmen der bisherigen Metaphysik, die nichts
als words, words hervorbringe. Dass der Sinn jedes Wortes an die Sphre
des Phantastischen und Geisterhaften gebunden bleibt, fhrt er hier bei-
spielhaft an der Bedeutung des Wortes Here vor: Again, Nothing can
act but where it is: with all my heart; only WHERE is it? Be not the slave
of Words: is not the Distant, the Dead, while I love it, and long for it, and
mourn for it, Here, in the genuine sense, as truly as the floor I stand
on?67 Obzwar die einzige explizite Erwhnung Hegels in Sartor Resar-
tus darin besteht, dass der Editor seinem Professor eine Widerlegung
von Hegel and Bardili zutraut, welche er beide, strangely enough, [...]
included under a common ban,68 ist zumindest diese Passage ber das
Here unschwer als eine Paraphrase des ersten Kapitels der Phnome-
nologie des Geistes zu erkennen. Im Abschnitt ber die sinnliche Ge-
wiheit sind es die deiktischen Begriffe Dieses und Hier, die fr
Hegel die Unzulnglichkeit bloer sinnlicher Evidenz beweisen.69
67 Ebd., S. 43.
68 Ebd., S. 12.
69 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Wer-
ke von 1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 3, S.
85: Das Hier ist z. B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahr-
heit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier
ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst verschwin-
295
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
So that is this so solid-seeming World, after all, were but an air-image, our ME
the only reality: and Nature, with its thousandfold production and destruction,
but the reflex of our own inward Force, the phantasy of our Dream; or what
the Earth-Spirit in Faust names it, the living visible Garment of God.70
Dass die Ausfhrungen Teufelsdrckhs zum Traum und zum Dasein als
Traum mehr als eine wilde Aneinanderreihung einschlgiger Zitate aus
Novalis Die Lehrlinge zu Sas (die Phantasie ihres Traumes71), Goe-
thes Faust (der Gottheit lebendiges Kleid72) und Shakespeares The
Tempest (We are such stuff / As Dreams are made of; and our little Life
/ Is rounded with a sleep73) beinhalten, zeigt indes ein anderer Ab-
schnitt.
Hier geht es zentral um das Verhltnis der Sprache zur Welt, und die-
ses Verhltnis beschreibt Teufelsdrckh als Traum. In diesem Traum, in
dieser Phantasmagorie und in diesem Somnabulismus ergibt sich ein
Zwischenstadium, eine Mitte zwischen dem unsinnigen und irrsinnigen
Sprechen der Metaphysiker und Wissenschaftler (die nur words, words
ohne jede Bedeutung von sich geben) und dem demiurgischen Anspruch
eines Autors, dessen Worte kraft seines gttlichen Seins Wahrheit sind.
296
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
297
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
stnden zugleich eine Traumtheorie und der Traum einer Theorie sein
ein Schatten, den man nicht mit einer Substanz verwechseln sollte.
Diese Aussage muss noch auf den Passus anwendbar sein, in dem sie
getroffen wird. We sit as in a boundless Phantasmagoria and Dream-
grotto, schreibt Teufelsdrckh, und markiert mit dem as nicht einfach
das Folgende als ein Gleichnis, eine Metapher oder eine Allegorie, son-
dern weitaus eher die epistemologische Unsicherheit, die jeder sprachli-
chen Aussage ber die Welt aufgrund ihres notwendigerweise symboli-
schen Charakters zukommen muss. Teufelsdrckhs Symboltheorie ist so
zugleich eine Traumtheorie und der Traum von einer Theorie, eine ge-
trumte Theorie. Wer in diesem Traum wandelt und denkt, er knne sei-
ne linke Hand von der rechten unterscheiden, irrt sich und beweist, wie
tief er schlft. Teufelsdrckh zitiert dagegen die klassische Formulierung
der (sokratischen) Ironie (yet they only are wise who know they know
nothing) und berfhrt sie auf den Stand romantischer Ironie, indem
er verdeutlicht, dass noch das Wissen ber das eigene Nichtwissen kei-
nesfalls Wissen ist, sondern gleichfalls nur ein Traum. In dieser Para-
doxie und Aporie vernichtet sich um den Begriff Jean Pauls wieder
aufzunehmen die Sprache selbst und weist sich in ihre Schranken. Die
Einsicht in diese Schranken der eigenen Sprache und damit der Mglich-
keiten menschlicher Erkenntnis und menschlichen Denkens berhaupt,
hierin folgt die Symboltheorie Teufelsdrckhs der Jean Paulschen Theo-
rie des Humors, ist die einzige Mglichkeit, indirekt und negativ ei-
nen Bezug zum Unendlichen und bersinnlichen zu erhalten.
Die Passage ber die Phantasmagorien und Traumgrotten, wel-
che das Leben auf Erden sind, ist demnach, wie so viele Passagen in Sar-
tor Resartus, gleichzeitig eine Erluterung und eine Demonstration der
Symboltheorie Teufelsdrckhs. Der Text entwickelt die Symboltheorie
nicht einfach, sondern fhrt sie gleichzeitig aus und vor.
298
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
For it is here that Fantasy with her mystic wonderland plays into the small
prose domain of Sense, and becomes incorporated therewith. In the Symbol
proper, what we can call a Symbol, there is ever, more or less distinctly and di-
rectly, some embodyment and revelation of the Infinite; the Infinite is made to
blend itself with the Finite, to stand visible, and as it were attainable, there. By
Symbols, accordingly, is man guided and commanded, made happy, made
wretched. He every where finds himself encompassed with Symbols, recogni-
sed as such or not recognised: the Universe is but one vast Symbol of God; nay,
if thou wilt have it, what is man himself but a Symbol of God, is not all that he
does symbolical; a revelation to Sense of the mystic god-given Force that is in
him; a Gospel of Freedom, which he, the Messias of Nature, preaches, as he
can, by act and word?77
299
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
sichtslos, hier mehr als nur ein paar Hinweise auf die Konstellation abge-
ben zu wollen, in die Teufelsdrckhs Symboltheorie sich einschreibt.
Whrend Symbol und Allegorie noch Mitte des 18. Jahrhunderts
synonym als Mittel der Darstellung und Bezeichnung verstanden wurden,
avanciert das (ursprnglich) theologische Konzept des Symbols gegen
Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den kunstphilosophischen
Bemhungen Goethes und durch sie, zum Gegenbegriff des rhetorischen
Begriffs der Allegorie. Das Symbol wird in diesen berlegungen zum
paradoxen Fall eines Zeichens, das kein Zeichen mehr ist, da es mit dem
Bezeichneten zusammenfllt. Das Symbol, fasst Gadamer zusammen,
meint den Zusammenfall von sinnlicher Erscheinung und bersinnlicher
Bedeutung, und dieser Zusammenfall ist, so wie der ursprngliche Sinn
des griechischen Symbolon und sein Fortleben im terminologischen Ge-
brauch der Konfessionen, keine nachtrgliche Zuordnung, sondern die
Vereinigung von Zusammengehrigem.80 Aus diesem Grund folgert
Schelling in seiner Philosophie der Kunst (1802/1803):
die Mythologie berhaupt und jede Dichtung derselben insbesondere ist weder
schematisch noch allegorisch, sondern symbolisch zu begreifen. Denn die For-
derung der absoluten Kunstdarstellung ist: Darstellung mit vlliger Indifferenz,
so nmlich, da das Allgemeine ganz das Besondere, das Besondere zugleich
das ganz Allgemeine ist, nicht es bedeutet.81
300
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Let but the Godlike manifest itself to Sense; let but Eternity look, more or less
visibly, through the Time-Figure (Zeitbild)! Then is it fit that men unite there;
and worship together before such Symbol; and so from day to day, and from
age to age, superadd to it new divineness.86
Das externe Symbol lsst demnach allenfalls das Schimmern einer gttli-
chen Idee erscheinen, weil es zufllig und ohne einen notwendigen Be-
zug zum Dargestellten ist, whrend das Gttliche sich im internen Sym-
bol selbst den Sinnen prsentiert. Erhlt ersteres seine Bedeutung durch
einen zuflligen Akt eines Menschen, so wird letzteres offenbar durch
ein gttliches Wesen gestiftet. Interne Symbole sind all true works of
Art,87 vor allem aber religise Zeichen. Hier bezieht sich Teufelsdrckh
insbesondere auf das Leben Jesu:
If thou ask to what height man has carried it in this matter, look on our divi-
nest Symbol: on Jesus of Nazareth, and his Life, and his Biography, and what
followed therefrom. Higher has the human Thought not yet reached: this is
Christianity and Christendom; a Symbol of quite perennial, infinite character;
whose significance will ever demand to be anew inquired into, and anew made
manifest.88
85 Ebd., S. 169.
86 Ebd.
87 Ebd.
88 Ebd.
301
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
89 Hegel: Werke (wie Anm. 69), Bd. 13, S. 395 (Vorlesungen ber die sthe-
tik I). Vgl. zur Parallele zwischen der Symboltheorie Teufelsdrckhs und
der Hegels auch Miller: Hieroglyphical Truth in Sartor Resartus (wie
Anm. 50), S. 8f.
90 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 143.
91 Ebd.
302
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
tung nicht so sehr ein direktes Produkt und eine direkte Manifestation des
Gttlichen durch sich selbst als vielmehr eine schriftliche Darstellung
des Gttlichen durch einen Menschen. Der Ursprung der Religion wie
der menschlichen Gemeinschaft ist in diesem Sinne jederzeit die Schrift,
die es vermag, das Gttliche berzeugend und wirksam in Worte zu fas-
sen.
Aus diesem Zusammenhang erklrt sich die Emphase, mit der Schrei-
ben im gesamten Text Carlyles aufgeladen ist. Be no longer a Chaos,
but a World, or even Worldkin. Produce! Produce! Were it but the piti-
fullest infinitesimal fraction of a Product, produce it in Gods name!,92
fordert sich Teufelsdrckh gegen Ende seiner Sinnsuche selbst auf, und
die Formel, er wolle in Gottes Namen produzieren, muss in diesem Zu-
sammenhang wrtlich verstanden werden: Der schreibende Mensch pro-
duziert in Gottes Namen, wenn es ihm gelingt, an den Sinn des eigenen
Schreibens zu glauben. Die Arbeit, zu der Teufelsdrckh sich auffordert,
kann demgem keine andere sein als die des Schreibens. Teufels-
drckhs Lob des Symbols wird demgem von einem Lob des Buches
begleitet:
Wondrous indeed is the virtue of a true Book. Not like a dead City of stones,
yearly crumbling, yearly needing repair; more like a tilled Field, but then a spi-
ritual Field: like a spiritual Tree, let me rather say, it stands from year to year,
and from age to age (we have Books that already number some hundred-and-
fifty human ages); and yearly comes its new produce of Leaves (Commentaries,
Deductions, Philosophical, Political Systems; or were it only Sermons, Pam-
phlets, Journalistic Essays), every one of which is talismanic and thaumaturgic,
for it can persuade men.93
92 Ebd., S. 149.
93 Ebd., S. 132.
94 Vgl. Werner Hamacher: pleroma zu Genesis und Struktur einer dialektis-
chen Hermeneutik bei Hegel. In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Der
Geist des Christentums. Schriften 1796-1800. Mit bislang unverffent-
303
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
But there is no Religion? reiterates the Professor. Fool! I tell thee, there is.
Hast thou well considered all that lies in this immeasurable froth-ocean we
name LITERATURE? Fragments of a genuine Church-Homiletic lie scattered
there, which Time will assort: nay, fractions even of a Liturgy could I point out.
And knowest thou no Prophet, even in the vesture, environment, and dialect of
this age? None to whom the Godlike had revealed itself, through all meanest
and highest forms of the Common; and by him been again prophetically
revealed: in whose inspired melody, even in these rag-gathering and rag-bur-
ning days, Mans Life again begins, were it but afar off, to be divine? Knowest
thou none such? I know him, and name him Goethe.95
Die Parallele und Analogie zwischen Gott und Schreiber, die Carlyles
gesamten Text durchzieht, kulminiert hier in der Behauptung einer direk-
ten Identitt zwischen dem Godlike und Goethe. Was zunchst wie ein
bloes Wortspiel wirken knnte, erscheint im Zusammenhang der Be-
ziehung des intrinsischen Symbols zur Schrift als eine logische Konse-
quenz. Schreiben bringt Sinn hervor, Zusammenhnge, Prophezeiung,
Homiletik und Liturgie. Wenn sich in der durch diesen Zusammenhang
304
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
96 Ebd., S. 44.
305
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ist auf nichts zurckbeziehbar. Sie ist ein abrupter, beziehungsloser Akt, der in
seiner Unbezogenheit ohne Bedeutung und Sinn ist. Dass es Sprache gibt, ist
nicht verstehbar. Jeder Sprechakt hat insofern, als in ihm die Sprache selbst
sich setzt, an dieser Abruptheit teil. Jedes Sinngefge verdankt sich letztin-
stanzlich einem Setzungsakt, der ohne Sinn ist und das Gefge dadurch auf-
reit, da er sich auf keine Weise in dieses integrieren lt.98
Aus dieser Paradoxie des Sinns folgt zunchst, dass die Unterscheidung
zwischen intrinsischen und extrinsischen Symbolen kollabiert und in sich
zusammenbricht.99 Das intrinsische Symbol ist gleichermaen nicht
durch das Gttliche selbst bestimmt wie das extrinsische nicht durch den
Menschen. Die Externalitt noch des inneren Symbols zeigt sich in Teu-
felsdrckhs Ausfhrungen beispielhaft bereits an dem Punkt, an dem er
die Zeitlichkeit und Vergnglichkeit des Symbols einrumen muss. So
schreibt Teufelsdrckh:
But, on the whole, as Time adds much to the sacredness of Symbols, so like-
wise in his progress he at length defaces, or even desevrates them; and Sym-
bols, like all terrestrial Garments, wax old. Homers Epos has not ceased to be
true; yet it is no longer our Epos, but shines in the distance, if clearer and clea-
rer, yet also smaller and smaller, like a receding star.100
306
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
Insofern das Symbol nichts weiter als ein irdisches Kleid des Unendli-
chen ist, ist es nichts anderes als ein Bestandteil der Traumgrotte, wel-
che das Leben auf Erden zu einem wachen Traum, einem Somnabulis-
mus macht.
Daraus folgt, dass Teufelsdrckhs Symboltheorie ihre Herkunft nicht
allein und nicht in erster Linie von derjenigen Goethes ableiten kann,
sondern weitaus eher von derjenigen Kants. In den Prolegomena zu einer
jeden knftigen Metaphysik fhrt Kant das Konzept des symbolischen
Anthropomorphismus ein, der keine Aussagen ber Gott an sich zu tref-
fen wagt, sondern allein ber die Beziehung zwischen Gott und der Welt
spricht.101 Der Modus des symbolischen Sprechens ist fr Kant ein sol-
cher, der ber die Grenzen seines eigenen Wissens und Sprechens wei.
Dieses Sprechen versucht, im Sprechen bewusst zu sein, dass es nur ein
analogisches Sprechen ber den Gegenstand zu sein und nichts ber den
Gegenstand an sich auszudrcken vermag.102
In diesem Sinn ist das Symbol fr Teufelsdrckh durch die Dopplung
von Verbergen und Zeigen, von Schweigen und Sprechen bestimmt ist.
In a Symbol, schreibt Teufelsdrckh, there is concealment and yet re-
velation: here, therefore, by Silence and by Speech acting together, co-
mes a doubled significance.103 Das Symbol verbirgt und verschweigt,
insofern es das Produkt (und insofern auch eine Reprsentation) des Un-
endlichen zu sein vorgibt, welches es nicht sein kann. Es ist keine ber-
tragung und keine Metapher, insofern die Analogie zwischen der Sphre
des Endlichen und der des Unendlichen jederzeit nicht mehr als eine
Tuschung und ein Traum ist. Teufelsdrckhs Theorie des Symbols ist
nicht nur eine Theorie des Kleids, sondern zugleich der Verkleidung, der
Enthllung und Verhllung.104
101 Vgl. Kant: Werke in sechs Bnden (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 232f.
102 Vgl. auch Kap. II. 4 sowie zu Kants Schwierigkeit, zwischen figurativer
und nichtfigurativer Sprache also zwischen symbolischem und dogma-
tischem Anthropomorphismus zu unterscheiden: Kap. I. 5.
103 Carlyle: Sartor Resartus (wie Anm. 25), S. 166.
104 Darin ist sie einer Germanistik berlegen, die in ebenso blinder wie epi-
gonaler Goetheverehrung die Essenz der Textilmetaphorik immer noch
darin sieht, ein Symbol im Sinne Goethes zu sein: bedeutungsvolle
Anschaulichkeit aus einer [...] vielfachen Verknpfung (Daniel Fulda:
Der Wahrheit Schleier aus der Hand der Dichtung. Textilmetaphern als
Vehikel und Reflexionsmedium sthetisch-wissenschaftlicher Transfe-
renzen um 1800. In: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als
Medium und Metapher. Hrsg. von Johannes Endres, Barbara Wittmann
und Gerhard Wolf. Mnchen: Fink 2005, S. 165-184, hier: S. 165).
307
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
308
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
which Understanding can take no cognisance, except a false one. The elder Ja-
cobi, who indeed is no Kantist, says once, we remember: It is the instinct of
Understanding to contradict Reason.106
I V . 4 b e r s e t z u n g u n d W a hn si n n
An authentic Demon-Empire
Daily and nightly does the Editor sit (with green spectacles) deciphering these
unimaginable Documents from their perplex cursiv-schrift; collating them with
309
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
the almost equally unimaginable Volume, which stands in legible print. Over
such a universal medley of high and low, of hot, cold, moist and dry, is he here
struggling [...] to build a firm Bridge for British travellers. Never perhaps since
our first Bridge-builders, Sin and Death, built that stupendous Arch from Hell-
gate to the Earth, did any Pontifex, or Pontiff, undertake such a task as the pre-
sent Editor. For in this Arch too, leading as we humbly presume, far otherwards
than that great primeval one, the materials are to be fished up from the welte-
ring deep, and down from the simmering air, here one mass, there another, and
cunningly cemented, while the elements boil beneath: nor is there any superna-
tural force to do it with; but simply the Diligence and feeble thinking Faculty of
an English Editor, endeavouring to evolve printed Creation out of a German
printed and written Chaos, wherein, as he shoots to fro in it, gathering cluthing,
piecing the Why to the far-distant Wherefore, his whole Faculty and Self are
like to be swallowed up.109
310
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
311
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
from him will never come real visibility and speech. Thou must descend to the
Mothers, to the Manes, and Hercules-like long suffer and labour there, wouldst
thou emerge with victory into the sunlight. [...] O, it is a business, as I fancy,
that of weltering your way through Chaos and the murk of Hell! Green-eyed
dragons watching you, three-headed Cerberuses not without sympathy of
their sort! [...] For in fine, as Poet Dryden says, you do walk hand in hand with
sheer madness, all the way who is by no means pleasant company! You look
fixedly into Madness, and her undiscovered, boundless, bottomless Night-em-
pire; that you may extort new Wisdom out of it, as an Eurydice from Tartarus.
The higher the Wisdom, the closer was its neighbourhood and kindred with me-
re Insanity; literally so; and thou wilt, with a speechless feeling, observe how
highest Wisdom, struggling up into this world, has oftentimes carried such tinc-
tures and adhesions of Insanity still cleaving to it hiter! All works, each in their
312
IV. THIS DREAMING, THIS SOMNABULISM (CARLYLE)
degree, are a making of Madness sane; truly a religious operation; which can-
not be carried on without religion.113
Die Nhe der Weisheit zum schieren Wahnsinn erscheint hier freilich
weniger bedrohlich als in den Notizen des Herausgebers von Sartor Re-
sartus. Der Wahnsinn ist ein steter Begleiter des Arbeitenden und Schaf-
fenden (er geht mit ihm hand in hand), aber er ist letztlich dasjenige,
das durch die Arbeit in Gesundheit transformiert und verwandelt werden
kann. Arbeit ist nunmehr dasjenige, das den Wahnsinn in Nicht-Wahn-
sinn verwandelt, nicht mehr etwas, das selbst vom Wahnsinn affiziert ist
und die Gesundheit bedrohen kann. Whrend hier die Religion den Glau-
ben an die Gesundheit der Arbeit retten kann, bleibt dem verzweifelten
Herausgeber in Sartor Resartus nur die vage Hoffnung auf sein eigenes,
schwaches Vermgen, das er keineswegs mit einer bernatrlichen Kraft
verwechselt sehen will (nor is there any supernatural force to do it
with).
In diesem Sinn spricht Teufelsdrckh von dem Wahnsinn, der in der
Seele des Weisesten wohnt und unter seiner Welt als sein dunkles Funda-
ment haust:
Notable enough too, here as elsewhere, wilt thou find the potency of Names;
which indeed are but one kind of such Custom-woven, wonder-hiding gar-
ments. Witchcraft, and all manner of Spectre-work, and Demonology, we have
now named Madness, and Diseases of the Nerves. Seldom reflecting that still
the new question comes upon us: What is Madness, what are Nerves? Ever, as
before, does Madness remain a mysterious-terrific, altogether infernal boiling
up of the Nether Chaotic Deep, through this fair-painted Vision of Creation,
which swims thereon, which we name the Real. Was Luthers Picture of the
Devil less a reality, whether it were formed within the bodily eye, or without it?
In every wisest Soul, lies a whole world of internal Madness, an authentic De-
mon-Empire; out of which, indeed, his world of Wisdom has been creatively
built together, and now rests there, as on its dark foundations does a habitable
flowery Earth-rind.114
Unterhalb dessen, was wir die Vision der Schpfung, der Wirklichkeit
nennen, haust der Wahnsinn als die Einsicht darin, dass jede Vorstellung
der Wirklichkeit nur eine sprachliche Konstruktion der Einbildungskraft
ist, in der ein Teufel ebenso wirklich und mchtig sein kann wie ein D-
mon.
313
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Here, however, we gladly recall to mind that once we saw him laugh; once
only, perhaps it was the first and last time in his life; but then such a peal of
laughter, enough to have awakened the Seven Sleepers! It was of Jean Pauls
doing: some single billow in that vast world-Mahlstrom of Humour, with its
Heaven-kissing coruscations, which is now, alas, all congealed in the frost of
Death!117
314
V. D I E V E R R C K T H E I T DES SINNS. NACHWORT
Was dem gesunden Menschenverstand
Wahnsinn dnkt, hat in Hegel auch fr jenen
lichte Momente. Von ihnen her kann der
gesunde Menschenverstand Hegel sich nhern,
wofern er es sich nicht aus Ha verbietet, wie
ihn freilich Hegel selbst in der Differenzschrift
als jenem Menschenverstand eingeboren
diagnostizierte.
(Theodor W. Adorno: Skoteinos oder Wie zu
lesen sei)1
1.
Schon frh beginnt die Philosophie, Sprache als ein Medium wahrzuneh-
men, welches Gedanken nicht einfach transportiert, sondern das die
Formung dieser Gedanken wesentlich bestimmt und wesentlich limitiert.
Dies beginnt nicht erst mit Nietzsches Reflexionen ber die Sprache im
auermoralischen Sinne. Einen systematisch grundierten Zweifel an der
Mglichkeit philosophischer Erkenntnis im Medium der Sprache trgt
bereits Hegel vor. So kritisiert Hegel in der Vorrede zur Phnomenolo-
gie des Geistes vehement den Dogmatismus der Denkungsart im Wissen
und im Studium der Philosophie, der nichts anderes sei als die Mei-
nung, da das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat ist oder auch
der unmittelbar gewut wird, bestehe.2 Zweifellos setzt Hegel im Um-
kehrschluss auf die Mglichkeit eines Satzes, der nicht unmittelbares,
sondern vermitteltes Wissen ermglicht: Nichts anderes ist seine dialekti-
sche Methode. Die elementare Methode der Philosophie besteht Hegel
1 Theodor W. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei. In: ders.: Drei Stu-
dien zu Hegel [1963]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (Suhrkamp Ta-
schenbuch Wissenschaft. 110), S. 84-133, hier: S. 88f.
2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von
1832-1845 neu ed. Ausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel. Bd. 1-20. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 3, S. 41 (Ph-
nomenologie des Geistes).
315
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
zufolge darin, die Gegenstnde ihres Wissens nicht als feststehende Ge-
genstnde zu begreifen und ihre Objekte eben nicht als Objekte, son-
dern als lebendige, in sich vernderliche Wesenheiten. Die Philosophie
dagegen, schreibt Hegel,
betrachtet nicht [die] unwesentliche Bestimmung, sondern sie, insofern sie we-
sentliche ist; nicht das Abstrakte oder Unwirkliche ist ihr Element und Inhalt,
sondern das Wirkliche, sich selbst Setzende und in sich Lebende, das Dasein in
seinem Begriffe. Es ist der Proze, der sich seine Momente erzeugt und durch-
luft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus.3
Wenn das Wahre fr Hegel damit nichts anderes ist als der bacchan-
tische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist,4 dann muss es ihm
umso problematischer erscheinen, dass die traditionelle Form philosophi-
schen Wissens das Urteil als einfache und unvermittelte Aussage ber
eine vermeintliche Wahrheit eine Nchternheit aufweist, die diesem
Taumel in keiner Weise angemessen erscheint.
Es ist aber nicht schwer einzusehen, da die Manier, einen Satz aufzustellen,
Grnde fr ihn anzufhren und den entgegengesetzten durch Grnde ebenso zu
widerlegen, nicht die Form ist, in der die Wahrheit auftreten kann. Die Wahr-
heit ist die Bewegung ihrer an sich selbst; jene Methode aber ist das Erkennen,
das dem Stoffe uerlich ist.5
Das Urteil als die traditionelle Form des philosophischen Denkens er-
scheint in dieser Perspektive als grundstzlich fragwrdig, denn in seiner
Form (x ist y) liegt bereits eine Objektivierung und Abstraktion, die
dem bacchantischen Taumel des Begriffs entgegensteht. Die alte Me-
taphysik, schreibt Hegel in der Enzyklopdie, habe nicht untersucht, ob
solche Prdikate an und fr sich etwas Wahres seien, noch ob die Form
des Urteils Form der Wahrheit sein knne.6 Hegel, so kommentiert
Adorno, demonstrierte, da Begriff, Urteil, Schlu, unvermeidliche In-
strumente, um mit Bewutsein eines Seienden berhaupt sich zu ver-
sichern, jeweils mit diesem Seienden in Widerspruch geraten; da alle
3 Ebd., S. 46.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 47.
6 Ebd., Bd. 8, S. 94 (Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften,
28).
316
V. NACHWORT
Der philosophische Satz, weil er Satz ist, erweckt die Meinung des gewhnli-
chen Verhltnisses des Subjekts und Prdikats und des gewhnlichen Verhal-
tens des Wissens. Dies Verhalten und die Meinung desselben zerstrt sein phi-
losophischer Inhalt; die Meinung erfhrt, da es anders gemeint ist, als sie
meinte, und diese Korrektion seiner Meinung ntigt das Wissen, auf den Satz
zurckzukommen und ihn nun anders zu fassen.8
Diese Korrektion kann jedoch nicht in der Form eines simplen Urteils,
einer einfachen Feststellung gemacht werden, da diese wieder in die
Form des gewhnlichen Verhaltens des Wissens zurckfallen und die
grammatische Suggestion der Objektivitt eher sttzen als zerstren
wrde. Da die Form des Satzes aufgehoben wird, mu nicht nur auf
unmittelbare Weise geschehen, nicht durch den bloen Inhalt des Sat-
zes,9 ergnzt Hegel deshalb. Sondern diese entgegengesetzte Bewe-
gung mu ausgesprochen werden; sie mu nicht nur jene innerliche
Hemmung, sondern dies Zurckgehen des Begriffs in sich mu darge-
stellt sein.10
Gegen die traditionelle philosophische Sprache des einfachen Urteils
und des Schlusses setzt Hegel eine anspruchsvolle Arbeit des Begriffs,
die jederzeit eine durch einen Begriff geleistete Arbeit (seine immer wie-
der neue Kontextualisierung und Verwirklichung) ist und eine Arbeit, die
ein Leser am Begriff und also in der Lektre des philosophischen Textes
zu leisten hat. Das Verstndnis eines Satzes setzt das Verstndnis eines
zuvor oder danach geschriebenen Satzes notwendig voraus und modi-
fiziert es zugleich: Die Bewegung des Begriffs in sich verlangt eine be-
317
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
In Ansehung der eigentlichen Philosophie sehen wir fr den langen Weg der
Bildung, fr die ebenso reiche als tiefe Bewegung, durch die der Geist zum
Wissen gelangt, die unmittelbare Offenbarung des Gttlichen und den gesun-
den Menschenverstand, der sich weder mit anderem Wissen noch mit dem ei-
gentlichen Philosophieren bemht und gebildet hat, sich unmittelbar als ein
vollkommenes quivalent und so gutes Surrogat ansehen, als etwa die Zichorie
ein Surrogat des Kaffees zu sein gerhmt wird,14
318
V. NACHWORT
319
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ge als auch seiner Erfllung in seinem Herzen21 sicher ist, sieht Hegel
nichts als Dummheit, Verwirrung und Unsinn. Die traditionelle, von He-
gel mit dem gewhnlichen Verstand assoziierte Form des philosophi-
schen Urteils x ist y ist zwar in sich notwendigerweise schlssig
und sinnvoll: Der Satz ist seinem Wesen nach normal,22 schreibt Derri-
da in einem nur scheinbar anderen Zusammenhang. Fr Hegel und auf
eine etwas andere Art und Weise auch fr Derrida ist diese Normalitt
jedoch charakterisiert durch den Mangel, durch eine fehlende Einsicht in
die begrenzte Wahrheit der eigenen Einsichten.
Indem Hegels eigene Sprache versucht, diesem Mangel zu entgehen
und die feste Struktur von Subjekt und Prdikat zugunsten eines bac-
chantischen Taumels der Begriffe und der Erkenntnis abzulsen, wird
sie fr den ungebten Leser nur schwer zugnglich. So kann, wie Adorno
es beschreibt, der gesunde Menschenverstand, den Hegel als irrig und
irrsinnig ablehnte, die Texte Hegels wiederum schlicht als Wahnsinn
begreifen,23 und selbst kanonische Philosophen haben diesen Verdacht
gegen Hegel gehegt. ber die Hegelsche Afterweisheit schimpft je-
denfalls Schopenhauer in Ueber die Universitts-Philosophie, ihr
Grundgedanke sei der absurdeste Einfall gewesen, eine
auf den Kopf gestellte Welt, eine philosophische Hanswurstiade [...] und ihr
Inhalt der hohlste, sinnleerste Wortkram, an welchem jemals Strohkpfe ihr
Genge gehabt, und [...] ihr Vortrag, in den Werken des Urhebers selbst, der
widerwrtigste und unsinnigste Gallimathias [...], ja an die Deliramente der
Tollhusler erinnert.24
2.
21 Ebd.
22 Jacques Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns [1964]. In:
ders.: Die Schrift und die Differenz. bers. von Rodolphe Gasch. 7. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 177), S. 53-101, hier: S. 87.
23 Vgl. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei (wie Anm. 1), S. 88f.
24 Arthur Schopenhauer: Werke in fnf Bnden. Nach den Ausgaben letzter
Hand hrsg. von Ludger Ltkehaus. Zrich: Haffmanns 1988, Bd. 4, S. 146
(Ueber die Universitts-Philosophie).
320
V. NACHWORT
entdeckt [...], dass er im Moment des Sprechens nicht stets in derselben Weise
im Inneren seiner Sprache aufgehoben ist; dass sich an der Stelle des sprechen-
den Subjekts der Philosophie dessen offenkundige und geschwtzige Identitt
von Plato bis Nietzsche niemand in Frage gestellt hatte eine Leere auftat, in
der sich eine Vielzahl sprechender Subjekte verbinden und wieder lsen, kom-
binieren und ausschlieen.27
321
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
31 Ebd., S. 75.
32 Ebd., S. 76.
33 Alexandre Kojve: Hegel. Eine Vergegenwrtigung seines Denkens. Kom-
mentar zur Phnomenologie des Geistes [1947]. Mit einem Anhang: Hegel,
Marx und das Christentum. Hrsg. von Iring Fetscher. bers. von Iring Fet-
scher und Gerhard Lehmbruch. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 97), S. 148.
322
V. NACHWORT
Zur selben Zeit, da die Krankheit einsetzt, erscheint im Werk eine Vernde-
rung, die [...] etwas Einzigartiges und Auergewhnliches hervorbringt, das ei-
ne ungeahnte Tiefe und Bedeutung offenbart. [...] Es scheint, als ob sich in be-
stimmten Kranken eine metaphysische Tiefe offenbare. Alles verluft so, als ob
sich im Leben dieser Wesen vorbergehend etwas offenbare, das Schaudern,
Grauen und Seligkeit erregt.34
Die Krankheit, der Wahnsinn ist das uere Anzeichen fr den Einblick
in die metaphysische Tiefe, der sich dem Kranken gewhrt. Wahnsinn
erscheint in dieser Perspektive als eine berwindung der engen
menschlichen Horizonte;35 als eine buchstbliche Entgrenzung, als Ver-
lust der klaren und engen Konturen, die die gesellschaftliche Normalitt
setzen und limitieren. Wahnsinn ist fr Blanchot die Erfahrung einer d-
monischen Existenz, diese Tendenz, auf ewig ber sich hinauszu-
gehen.36 Das Motiv der berschreitung ist aus diesem Grund noch fr
Foucaults Behandlung des Wahnsinns von entscheidender Bedeutung.
323
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ist jetzt der Bezug zum Unmittelbaren, zum Unbestimmten: dem Offenen, aus
dem die Mglichkeit entspringt, das aber das Unmgliche, Menschen wie Gt-
tern Untersagte ist, das Heilige. Der Dichter hat gewi nicht die Macht, das
Nicht-Mitteilbare mitzuteilen, aber in ihm durch den Bezug den er zu den
Gttern, zu dem, was es an Gttlichem in der Zeit gibt, zur Tiefe des reinen
Werdens unterhlt wird das Nicht-Mitteilbare zu dem, was Mitteilung erst
mglich macht.37
37 Ebd., S. 26.
38 Ebd., S. 17.
39 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns
im Zeitalter der Vernunft [1961]. bers. von Ulrich Kppen. 12. Aufl.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 39), S. 12f.
324
V. NACHWORT
die Sprache verspricht, sie verspricht sich, es gehrt jedoch auch zu ihrem
Wesen, da sie sich sogleich zurckzieht und widerruft, da sie sich auflst und
da sie ihre eigene Ordnung zerstrt, da sie entgleist und den Faden nicht
mehr findet, da sie wie eine Irre redet, da sie sich selbst beschdigt und ver-
flscht.44
325
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
45 Jacques Derrida: Punktierungen die Zeit der These [1990]. In: Einstze
des Denkens. Hrsg. von Hans-Dieter Gondek und Bernhard Waldenfels.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissen-
schaft. 1336), S. 19-39, hier: S. 29.
46 Vgl. Hans-Dieter Gondek und Bernhard Waldenfels: Derridas performative
Wende. In: Einstze des Denkens. Hrsg. von Hans-Dieter Gondek und
Bernhard Waldenfels. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Ta-
schenbuch Wissenschaft. 1336), S. 7-18.
47 Vgl. Richard Rorty: Dekonstruieren und Ausweichen. In: ders.: Eine Kul-
tur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays. bers. von Joachim Schul-
te. Stuttgart: Reclam 1993, S. 104-146.
48 Vgl. Outi Pasanen: Derrida In and Out of Context: On the Necessity to
Know Why Derrida?. In: MLN 118 (2004), S. 1298-1310, hier: S. 1300f.
49 Vgl. Derrida: Limited Inc a b c (wie Anm. 42), S. 61.
326
V. NACHWORT
3.
As Michel Foucault has shown, the treatment of mental illness may be seen to
mirror cultural ideologies. Literature, however, may provide alternative per-
spectives, and may set against the notions of asylum and confinement an inte-
rest in probing the state of the mind and the nature of mental illness as a funda-
mental aspect of the human condition.51
50 Jacques Derrida: Ein Wahnsinn muss ber das Denken wachen. In:
ders.: Auslassungspunkte. Gesprche. bers. von Karin Schreiner und Dirk
Weissmann. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 1998, S. 343-
368, hier: S. 367.
51 Corinne Saunders und Jane Macnaughton: Introduction. In: Madness and
Creativity in Literature and Culture. Hrsg. von Corinne Saunders and Jane
Macnaughton. Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2005, S. 1-15,
hier: S. 3.
327
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Der literarische Wahnsinn als die Wahrheit der conditio humana: Die
Kategorien Foucaults dienen der Kulturwissenschaft offensichtlich nicht
mehr zur Kritik an den Humanwissenschaften. Die Gegenbersetzung
der Wahrheit des Wahns und seiner Ausgrenzung durch die Philosophie
(oder durch die Kultur) ist zum Klischee geworden.
Demgegenber versucht die vorliegende Arbeit eine neue Perspekti-
ve einzunehmen. Es wird vielmehr versucht, zu zeigen, dass die philoso-
phische Perspektive auf den Wahnsinn nicht a priori als ausschlieend
und ebenso wenig die literarische Perspektive auf das Phnomen a
priori als antiphilosophisch und irrationalistisch zu verstehen ist.
Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildet der semiotische
Begriff des Wahnsinns, wie er von Kant formuliert wurde. Indem Kant
Wahnsinn als die Verwechslung einer Vorstellung (der Einbildungs-
kraft) mit der Gegenwart einer Sache selbst definiert, bestimmt er ihn
fundamental als Produkt der Einbildungskraft und des von ihr inaugurier-
ten Raums der Zeichen. Wahnsinn wird in diesem Modell mglich durch
einen Akt der Verdopplung der gesamten Wirklichkeit durch ihre men-
tale Reprsentation und Darstellung durch die Einbildungskraft. Auch
wenn Kant den Begriff des Zeichens in diesem Zusammenhang nicht
verwendet, kann diese Bestimmung des Wahnsinns semiotisch genannt
werden. Der Wahnsinn ist eine Krankheit des Zeichenvermgens, des
Bezeichnens und also des Zeichens. Kants Versuch ber die Krankheiten
des Kopfes und seine anderen Ausfhrungen zum Thema beschreiben
eine Pathologie des Zeichens. Die Mglichkeit des Wahnsinns folgt
demnach aus der Struktur des Zeichens und also aus der Grundlage der
Gemeinschaft, der Sozialitt und jeder Form der Entwicklung der Gat-
tung Mensch. Kants Position zum Wahnsinn ist demnach denkbar weit
entfernt von dem, was man mit Foucault als Ausschluss bezeichnen
knnte. Von Anfang an spielt Kant mit der Mglichkeit des eigenen
Wahnsinns.
Gerade weil die Mglichkeit des Wahnsinns niemals a priori ausge-
schlossen werden kann, stellt er fr Kant aber durchaus eine Bedrohung
dar. Wahnsinn ist in erster Linie eine politische Gefahr; er bedroht das
Gemeinwesen und die Gemeinschaft, deren Grundlage (die Einbildungs-
kraft, das semiotische Vermgen) zugleich die Bedingung seiner Mg-
lichkeit ist. Dies geschieht im Fall des Schwrmers, der meint, eine un-
mittelbare Beziehung zu den Mchten des Himmels zu besitzen. Die
Gegenfigur zum Schwrmer ist fr Kant der Enthusiast. Kant definiert
Enthusiasmus als einen zweideutigen Anschein von Phantasterei,52 und
328
V. NACHWORT
fgt hinzu, es sei niemals ohne denselben in der Welt etwas Groes aus-
gerichtet worden.53 Zweideutig ist der Enthusiasmus, weil er den An-
schein von Phantasterei besitzt: der Enthusiast sieht wie der Phantast
Abwesendes als anwesend, er hrt Stimmen, die andere nicht hren (die
Stimme der Vernunft in seinem Kopf). Ohne den Enthusiasmus ist nie-
mals etwas Groes ausgerichtet worden, aber er ist dennoch eine Form
des Wahnsinns.
Aufgrund dieser Zweideutigkeit bleibt die Unterscheidung zwischen
der Schwrmerei, der bedrohlichen Seite des Wahnsinns, und dem En-
thusiasmus, dem Wahnsinn der Vernunft, ebenso dringend wie hchst
problematisch. Die Differenz ist nicht zuletzt textuell: Die Tuschung der
Schwrmerei ist auch ein sprachlicher Akt. Die Sprache der Mystiker,
der sich vornehm gebenden Neuplatoniker ist beispielsweise wesent-
lich figurativ: Sie ersetzt den Begriff durch die Metapher und suggeriert
so eine Erfahrung des Unerfahrbaren durch eine Ahnung. In dieser
schwrmerischen Suggestion, so legt Kant nahe, sind die Texte der Neu-
platoniker allenfalls Literatur, nicht aber Philosophie.
Die Philosophie entkommt dem figuralen Sprechen jedoch nie. Kant
will diese Unmglichkeit keinesfalls leugnen. Die Schreibweise, die er
dem Diskurs der Schwrmer entgegensetzt, versucht dementsprechend
nicht, eine eigentliche Schreibweise unter Verzicht auf rhetorische Ele-
mente der Sprache zu entfalten. In Kants Texten ist es schlielich das
Verfahren einer negativen Darstellung, welches die Grenze zur
Schwrmerei absichern soll. Eine negative Darstellung ist der Kritik
der Urteilskraft zufolge eine solche, die keinen Gegenstand darbietet,
sondern allein die Unerreichbarkeit dieses Gegenstandes ausspricht und
es der Einbildungskraft berlsst, diesen in einem Akt der enthusia-
stischen Entgrenzung dennoch vorzustellen. Dies kann allerdings nur um
den Preis geschehen, die Mglichkeit des eigenen Wahnsinns jederzeit
einrumen zu mssen, wie es in Kants Versuch ber die Krankheiten des
Kopfes auch jederzeit geschieht.
Der von Kant beschriebene Zusammenhang zwischen der Struktur
des Zeichens und dem Wahnsinn wird fr die Konzeption der Literatur
bei Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann inspirierend. Das Zeichen
gilt auch Schlegel in seiner Struktur als notwendig potentiell wahnsinnig.
Schlegels Beschreibung der Ironie als einer Unbeherrschbarkeit des
Sinns nimmt Foucaults Analyse der Abwesenheit eines Werks und
ebenso Derridas Ausfhrungen zur Aporetik des Sinns vorweg.
Die fr Schlegel kennzeichnenden Merkmale der Ironie die Logik
der unendlichen Reflexion sowie die daraus folgende Einsicht in die not-
53 Ebd.
329
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
330
V. NACHWORT
331
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
ne Instanz, kein Gott und kein Mensch kann die bereinstimmung eines
Zeichens mit seinem Referenten versichern, da diese Voraussetzung
selbst im Medium des Sinns und damit der Sprache geschehen mss-
te und seinerseits wieder einer Voraussetzung bedrfte.
Jeder sprachliche Akt erschafft sich damit selbst erst die eigene
Grundlage, die durch keine Voraussetzung gegeben sein kann. Teufels-
drckhs Symboltheorie umkreist diese Selbstvoraussetzung des Wortes.
Das Symbol verbirgt und verschweigt, insofern es das Produkt (und inso-
fern eine Reprsentation) des Unendlichen zu sein vorgibt, was es nicht
sein kann. Wie Humor fr Jean Paul dasjenige endliche Zeichen ist, das
sich im Konflikt mit anderen endlichen Zeichen selbst vernichtet und
dadurch negativ und indirekt auf etwas Unendliches verweist, ist das
Symbol fr Teufelsdrckh eine negative Bezeichnung, die durch ihre ei-
gene Vernichtung auf das Unbezeichenbare verweist. Die Einsicht in die
Grenzen des Darstellbaren in die Grenzen der Traumgrotte des Le-
bens ist aber jederzeit zugleich eine Einsicht in die Grenzen des eige-
nen Verstandes und des eigenen Vermgens. Aus diesem Grund besitzt
die Erfahrung des Unendlichen fr Teufelsdrckh eine notwendige Nhe
zum Wahnsinn.
Wie der Enthusiasmus fr Kant und E.T.A. Hoffmann, so ist auch
der Wahnsinn Teufelsdrckhs ein Wahnsinn der Vernunft, welche das
Unendliche zu greifen versucht und in einen notwendigen Konflikt mit
der endlichen Instanz des Verstandes gert. Dieser Enthusiasmus ist es,
der die Macht des intrinsischen Symbols ebenso wie das singulre WORT
des gottgleichen Autors fr den Moment eines Traums evident erschei-
nen lsst. Es ist demnach die Form des Wahnsinns, welche die Kraft des
Symbols begrndet, das gesamte Feld der Gesellschaft und der Kommu-
nikation zu begrnden.
4.
332
V. NACHWORT
tur und literarischer Sprache, nicht allein im Sinne der Behauptung einer
enthusiastischen oder manischen dichterischen Inspiration, sondern
auch in der Beschreibung einer Erfahrung der Unverfgbarkeit und Un-
beherrschbarkeit der Sprache fr den Sprechenden und des Schreibens
fr den Schreibenden.
Auch in den Texten E.T.A. Hoffmanns zeigt sich der Zusammenhang
von Wahnsinn und Literatur auf einer ganz anderen Ebene als nur auf der
topischen des enthusiastischen Knstlertums. Hoffmann fhrt seine
Akteure immer wieder als Leser und Schreibende (eines Zusammen-
hangs in ihrem Erleben) vor, die von den Ereignissen um sie verwirrt und
betrt werden knnen. Literatur ist hier essentiell ber Literatur, sie be-
handelt die Mglichkeit und Unmglichkeit, das Gelingen und Nicht-Ge-
lingen einer umfassenden Synthese und eines umfassenden Sinns. Sie ist
damit zugleich dasjenige Medium, in dem die Erfahrung des Sinns und
des Ohne-Sinns, des Wahnsinns kommunizierbar gemacht wird, ohne
sie (die Erfahrung) ihrerseits gewaltsam in das Medium eines eindeutigen
Sinns bringen zu mssen.
Die Beziehung zwischen den hier verhandelten Textkorpora ist dem-
nach nicht die eines Widerspruchs zwischen einer rationalistischen Phi-
losophie und einer (mglicherweise gar subversiven) Literatur. Meine
Arbeit versucht vielmehr zu zeigen, dass ein radikal neues Konzept von
Sinn und Wahnsinn in philosophischen Texten zu literarischen Ef-
fekten fhren kann (Kants ironisches Spiel mit der Mglichkeit seines ei-
genen Wahnsinns). Gleichzeitig ist es ntig, literarische Texte philoso-
phisch ernst zu nehmen, auch dort, wo dies bisher nicht ausreichend ge-
schehen ist, wie im Fall der Erzhlungen Hoffmanns und Carlyles. In den
Texten Kants wird erstmals die Idee eines anderen Wahnsinns, eines to-
talen Wahnsinns entwickelt, der nicht mehr als komplementrer Gegen-
satz zu einer eindeutig gesunden und normalen ratio gedacht werden
kann, sondern der in der Struktur des Zeichens und also: der Einbil-
dungskraft, der Sprache und der Gesellschaftlichkeit berhaupt wirk-
sam ist. Sowohl Hoffmann als auch Carlyle schlieen, jeder auf seine
Weise, an diese Analytik des anderen Wahnsinns an und spielen mit der
semiotischen Verfasstheit nicht nur ihrer eigenen Texte, sondern auch
noch der in ihr konstituierten Wirklichkeit. Als Zeichensysteme knnen
beide strukturell dem Wahn verfallen: Eine Verrcktheit des Sinns.
Selbstverstndlich ist die hier getroffene Auswahl der Texte bis zu
einem gewissen Grad notwendigerweise kontingent. Es gibt eine Reihe
von Texten, die durchaus auch im hier skizzierten thematischen und in-
haltlichen Rahmen zu behandeln gewesen wren. Hier wren etwa die
Erzhlungen Heinrich von Kleists zu nennen. Die Erzhlung Michael
Kohlhaas beispielsweise wird durch einen sich enthemmenden und radi-
333
DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
54 Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bnden. Hrsg. von Siegfried
Streller. 4. Aufl. Berlin: Aufbau 1995, Bd. 3, S. 37 (Michael Kohlhaas).
55 Ebd., S. 43.
56 Ebd., S. 14.
57 Ebd., S. 457 (ber die allmhliche Verfertigung).
58 Lzsl F. Fldnyi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wrter. bers. von
Akos Doma. Mnchen: Matthes & Seitz 1999, S. 503.
59 Vgl. Bernhard Greiner: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants:
Studien zu Goethe und Kleist. Berlin: E. Schmidt 1994.
334
V. NACHWORT
nysische sich jenseits des apollinischen Scheins bewegt und also jen-
seits der Scheidung von Zeichen und Bezeichnetem berhaupt. Der dio-
nysische Mensch verlernt Gehen und Sprechen und damit die elemen-
taren Kulturtechniken, die das Menschliche definieren; statt dessen gibt
er in seiner Ekstase nur mehr tierische (und gttliche) Tne von sich:
Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen
Abgrenzungen, die Noth, Willkr oder freche Mode zwischen den Menschen
festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fhlt sich
Jeder mit seinem Nchsten nicht nur vereinigt, vershnt, verschmolzen, son-
dern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wre und nur noch in Fetzen
vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend us-
sert sich der Mensch als Mitglied einer hheren Gemeinsamkeit: er hat das Ge-
hen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lfte empor-
zufliegen. Aus seinen Gebrden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere
reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tnt auch aus ihm etwas Ueber-
natrliches: als Gott fhlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzckt und er-
hoben, wie er die Gtter im Traume wandeln sah.60
Der Mensch kann sich in seiner Noth vermge der Sprache nicht mehr zu er-
kennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefhlten
Zustande ist die Sprache berall eine Gewalt fr sich geworden, welche nun
wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich
nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verstndigen und zu einem Werk
zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der
reinen Wortklnge, und in Folge dieser Unfhigkeit, sich mitzutheilen, tragen
dann wieder die Schpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-
Verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nthen entsprechen, sondern
eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe.61
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DIE VERRCKTHEIT DES SINNS
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 2006 von der Johann Wolf-
gang-Goethe Universitt Frankfurt am Main als Dissertation angenom-
men. Ich danke meinem Doktorvater Werner Hamacher (Frankfurt am
Main/New York) fr seinen buchstblich unermdlichen Einsatz und sei-
ne Ermutigung, sich auf ein schwieriges Thema einzulassen. Heiko Chri-
stians (Potsdam) danke ich fr seine magebliche intellektuelle und psy-
chologische Untersttzung.
Kelly Baker Josephs und Melanie D. Holm (Rutgers University) dan-
ke ich fr die Einladung, Teile von Kapitel 2 (ber Shaftesburys und
Kants Konzept des Enthusiasmus) auf der Jahrestagung der ACLA im
Mrz 2006 in Princeton vorzustellen und zu diskutieren.
Fr Hilfe, Hinweise und Gesprche danke ich: Andrea Diller, Martin
Doll, Andrea Eckert, Janine Hauthal, Michaela Putzke und Daniel Ul-
brich. Ich danke auerdem meinen Eltern, Christa Kohns-Ludes und Wil-
helm Kohns, sowie Mathilde Ptz, die mir jeder auf seine Art und
Weise entscheidend geholfen haben.
Achim Geisenhanslke (Regensburg) und Georg Mein (Luxemburg)
danke ich fr die Aufnahme des Buchs in die von ihnen herausgegebene
Reihe Literalitt und Liminalitt.
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