FELLMANN Ferdinand Blumenbergiania
FELLMANN Ferdinand Blumenbergiania
FELLMANN Ferdinand Blumenbergiania
Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu erkennen, dass die höhere Macht in
der Fabel der Eros ist, der die Frau zur Verführerin macht. Der Wechsel ihres
körperlichen Zustandes entspricht dem des Meeres, das der Macht der Winde,
sprich: der sexuellen Erregung ausgesetzt ist. Warum Blumenberg in seiner
Glosse darauf nicht eingeht, lässt sich auf seine Überzeugung zurückführen,
dass im sexuellen Bereich ästhetische Distanz unmöglich sei. So hat er einmal
gesagt: „Im sexuellen Bereich weiß man, dass es sich immer nur ‚um dies und
nichts anderes‘ handelt. Das Anthropologische ist jederzeit im überreichlichen
Maße präsent, darum braucht es nur ‚ausgelöst‘ zu werden“ (Die nicht mehr
schönen Künste. Poetik und Hermeneutik III, München 1968, S. 614). Stärker
kann man das Anthropologische nicht verkürzen; die Erweiterung der
Sexualität zur Erotik kommt noch nicht in den Blick. Die typisch katholische
Sexualmoral der Nachkriegszeit, die erst durch die sexuelle Revolution der
1968er aufgelockert wird.
Die Frage, warum Blumenberg Szilasi, der seinerzeit in akademischen Kreisen allgemein bekannt
war, nicht erwähnt, ist nicht leicht zu beantworten. Es sind zwei Ebenen zu unterscheiden, die
wissenschaftliche und die weltanschauliche. Die wissenschaftliche betrifft den
phänomenologischen Wirklichkeitsbegriff. Szilasi expliziert in seiner Einführung Wirklichkeit im
Sinne der „Erkennbarkeit der Welt“, des Grundprinzips der Marxistischen Philosophie, mit der
Szilasi im kommunistischen Ungarn vertraut war. Auf dieser Linie plädiert Szilasi für einen
radikalen Empirismus oder Realismus, der das Gegebene adäquat wiedergeben soll. Ganz anders
Blumenberg. Sein Wirklichkeitsbegriff des in sich einstimmigen Kontextes von Erfahrungen
entspricht dem transzendentalen Idealismus Husserls. Dieser besagt, dass die Verstandesbegriffe
die Sinnesempfindungen so anordnen, dass das Bewusstsein immer einen verständlichen Text vor
sich hat. Oder in der Sprache von Robert Musil: Es gibt einen „Möglichkeitssinn“, der dem
Wirklichkeitssinn vorangeht und die Faktizität, die zunächst sinnlos erscheint, verständlich macht.
Man könnte in der heute modischen Terminologie die Position Blumenbergs „präfaktisch“ und die
Szilasis „postfaktisch“ nennen.
Auf weltanschaulicher Ebene spielt das persönliche Verhältnis Szilasis zu Heidegger eine zentrale
Rolle. Der Sohn Heideggers behauptet, dass sein Vater ein enges freundschaftliches Verhältnis zu
dem jüdischen Ehepaar Szilasi hatte. Das belegen Zusammenkünfte in Heideggers Hütte in
Todtnauberg. Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen Heidegger und
Szilasi Differenzen gab, sowohl weltanschaulich als auch persönlich. In einer neuen Szilasi-
Biographie heißt ein Kapitel „Die zerbrochene Gemeinschaft“ (Zoltan Szalai: Im Schatten
Heideggers. Einführung zu Leben und Werk von Wilhelm Szilasi, Freiburg 2017). Daraus wird
ersichtlich, dass das Verhältnis vielschichtig und kompliziert war, zumal Szilasis Ehefrau Lili
zeitweise eine intime Beziehung zu Heidegger hatte. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in
Freiburg ein Kampf zwischen Anhängern von Szilasi und denen von Heidegger, in dem die
philosophische Fakultät sich schließlich auf die Seite Heideggers geschlagen hat. Das kommt
darin zum Ausdruck, dass in den Freiburger Universitätsblättern Werner Marx, seit 1964
ordentlicher Nachfolger auf dem Lehrstuhl Heideggers, hoch gelobt wird, ohne zu erwähnen, dass
Szilasi den Lehrstuhl fünfzehn Jahre lang kommissarisch vertreten hat. Heidegger selbst hat
Szilasi sogar verdächtigt, für sein Lehrverbot mitverantwortlich zu sein.
Die Dominanz der Heideggerianer, damals hießen sie „Heideggeristen“, hat dazu geführt, dass
Szilasis realistische Weiterentwicklung der Phänomenologie Husserls in Fachkreisen bis heute
kaum wahrgenommen wird. Wahrscheinlich galt das auch für Blumenberg, der bekanntlich ein
ambivalentes Verhältnis zu Heidegger hatte. Heideggers „Existenzial“ genannte
Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-Seins, die Sorge, hat Blumenberg entdramatisiert. So kommt
er am Ende seiner Essay-Sammlung Die Sorge geht über den Fluß zu dem Schluss, nach
Heidegger gebe es keinen Grund mehr zur Sorge. Aber das ist offenkundig nur eine rhetorische
Pointe. Denn Selbsterhaltung, die für Blumenberg im Zentrum seines Menschenbildes steht, ist
auch bei ihm nicht frei von Sorge. Die Angst vor der Wirkungslosigkeit seiner Ideen hat ihn nach
dem Zusammenbruch der Ordinarienuniversität in den 1968er Jahren immer stärker
umgetrieben. Diskussionen mit Studierenden oder Kollegen ist er ausgewichen. Schließlich hat er
aus der Höhle seines Arbeitszimmers keinen Ausgang mehr gefunden.
In einem Aufsatz „Hans Blumenberg – Die Überlebenskunst eines Mythologen“ habe ich
geschildert, wie sein Vortrag die Hörer und Hörerinnen fasziniert hat (G. Gödde/ J. Zirfas (Hg.):
Lebenskunst im 20. Jahrhundert, Paderborn 2014, 215-228). So facettenreich die Lesbarkeits-
Metapher auch ist, sie bleibt zu theorielastig, um die implizite Erotik, die Blumenbergs geistiges
Profil kennzeichnet, sichtbar zu machen. Mit Metaphern verhält es sich wie mit Gleichnissen,
deren Botschaft laut Franz Kafka in der trivialen Aussage besteht, „dass das Unfaßbare unfaßbar
ist“. Daher sei es falsch, sich gegen Gleichnisse zu wehren; denn wer den Gleichnissen folgt, wird
selbst zum Gleichnis, so heißt es in Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Vieles deutet darauf hin,
dass auch Blumenberg als Metaphorologe selbst zur Metapher oder gar zum Mythos geworden
ist, an dem er sein Leben lang gearbeitet hat. So jedenfalls hat er sich selbst und so wird er auch
heute noch von seinen Verehrern wahrgenommen.
Ob Blumenberg damit den Kämpfen und Leiden seines eigenen Daseins entkommen ist, bleibe
dahingestellt. Es wird überliefert, der Verfechter der Neuzeit und Kämpfer gegen den
mittelalterlichen Willkür-Gott habe am Ende seines Lebens im Glauben Trost gefunden. Das mag
ein Gerücht sein, das von interessierter Seite verbreitet wird. Sicherlich ist Blumenberg nach dem
Krieg zur katholischen Kirche deutlich auf Distanz gegangen, da sie ihm in der Zeit der
nationalsozialistischen Verfolgung keinen Schutz gewährt hat. Aber dem religiösen Glauben hat er
nie abgeschworen (vgl. Uwe Wolff: „Der Mann, den alle schlagen, diesen schlägst Du nicht“ –
Hans Blumenbergs katholische Wurzeln. In: Communio Bd. 43 (2014), H. 3, 182–198). Er konnte
es auch nicht, wenn man bedenkt, wie nachhaltig ihn die „Weltverstrickung“ Gottes beschäftigt
hat. Blumenberg hatte als Mythologe ein ambivalentes Verhältnis zur Welt. Er fand die Welt
schnöde, beklagte oft ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber, hing aber an ihr als dem Medium der
Lesbarkeit. Was allerdings von Blumenbergs privater Lebenswelt wirklich lesbar ist, darüber
werden sich die Interpreten streiten, solange sie seinen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in
Marbach durchforsten.
Platons Höhlengleichnis ist lehrreich, aber abstrakt. Es sagt nicht, weshalb und wie die Menschen
in die Höhle gekommen sind. Es ist auch psychologisch vormodern, denn es entspricht nicht der
heutigen Erforschung unserer Innenwelt der Gefühle. Sehen wir im Blick nach innen nur
Schatten, die wir für die alleinige Wirklichkeit unseres Selbst halten? Eine beunruhigende Frage,
auf die es vielleicht doch eine Antwort gibt, die Platons strikte Gegenüberstellung von sinnlicher
und geistiger Welt überwindet. Schließlich gibt es neben dem Logos noch den Eros, der auch in
Platons Dialogen eine bedeutende Rolle spielt. In diesem Licht lässt Platons Höhlengleichnis eine
neue Deutung zu. Die Schatten, die wir Menschen sehen, sind die Reflexe unseres körperlichen
Selbst, die aber nicht nur Schein sind, sondern Ausdruck des Eros, dessen Feuer die Höhle
unserer Intimität erhellt.
Blumenberg, der eine Verschiebung der Metaphysik zur Anthropologie fordert, führt
Interpretationen des Höhlenmythos von Francis Bacon über Descartes und Kant bis zu
Wittgenstein vor. Am Ende formuliert er seine eigene Position im Anschluss an Arnold Gehlen als
Ausdruck der Selbsterhaltung. Dabei bleibt Blumenberg, dessen Auftreten von starker sinnlicher
Ausstrahlung geprägt war, im Rahmen der theoretischen Neugierde. Die Perspektive der
erotischen Kommunikation wird ausgespart. Darauf habe ich Blumenberg in Gesprächen schon
früh aufmerksam gemacht. Im Unterschied zum platonischen Gleichnis, das das Verlassen der
Höhle zum argen Weg der Erkenntnis macht, fungiert in Giambattista Vicos Neuer
Wissenschaft die Höhle als sinnlichen Bedeutungsraum. Die Höhle, in die sich die Urmenschen
flüchten, um den Unbilden der Außenwelt zu entgehen, ist der Ort, an dem die körperliche
Phantasie ihre symbolische Funktion entwickeln kann. In der Finsternis entstehen soziale Mythen,
die der theoretischen Erkenntnis an lebenspraktischer Bedeutsamkeit überlegen sind
(Fellmann, Das Vico-Axiom, 1976).
In diesem Sinne hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Ethnologe Leo Frobenius in seiner
Schrift Paideuma zwischen „Weltweite“ und „Welthöhle“ unterschieden und entsprechend beim
Lebensgefühl zwischen „Weitengefühl“ und „Höhlengefühl“. Beide Formen der Welterfahrung sind
gleichursprünglich, so dass es keinen Grund gibt, die Höhle zu verlassen. Der Innen und Außen
verbindende Weg, die paideia, die Blumenberg am Ende seiner Arbeit am Höhlenmythos
aufheben will, wird bei Frobenius vom paideuma im Liebesleben lokalisiert (L.
Frobenius, Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre,1921).
Eine extrem sinnliche Lokalisierung erfährt die Höhlenmetapher in Der Bau von Franz Kafka. Die
Höhle, so heißt es dort, befinde sich unter der Erde, und ihr Eingang ist mit Moos bedeckt: „…in
meinen Träumen schnuppert dort oft eine lüsterne Schnauze unaufhörlich herum. Ich hätte, wird
man meinen, dieses Eingangsloch zuschütten können…“ (F. Kafka, Beschreibung eines Kampfes,
S.132). Kafka schüttet das Eingangsloch aber nicht zu – wohl aus gutem Grund. Gustave Courbet
hat den tieferen Grund in seinem Bild Ursprung der Welt veranschaulicht.
Der bekannte Erforscher literarischer Höhlen, Rüdiger Zill, schreibt über den Regisseur Werner
Herzog Die Höhle der vergessenen Träume, wie sehr er von prähistorischen Malereien
beeindruckt war. Zill, der auch ein sensibler Metaphorologe ist, zeigt sich erstaunt darüber, dass
bei Blumenberg die prähistorischen Höhlen nicht vorkommen. Altamira und Lascaux erscheinen
nur in einer Nebenbemerkung, Lascaux wird darüber hinaus falsch datiert und bekommt dadurch
eine schiefe Rolle. Das sei umso erstaunlicher, als Felsmalereien eigentlich für Blumenbergs
anthropologische Interessen hätten aufschlussreich sein müssen (R. Zill, in: Werner Herzog. An
den Grenzen, 2015).
Warum Blumenberg darauf nicht eingeht, ergibt sich daraus, dass seine Höhlenthematik primär
erkenntnistheoretisch ausgerichtet ist. Entsprechend bleibt seine Höhle wie bei Plato ein
Konstrukt ohne körperliche Lokalisierung. Wo und wie man die Höhle findet, sagt Blumenberg
nicht. Anders Werner Herzog, der zeigt, wie der Höhleneingang „erschnüffelt“ werden muss.
Herzog behauptet, dass er die Schnüffelszene selbst erfunden habe. Allerdings nicht ganz, denn,
wie gesagt, die Schnupperszene findet sich schon bei Kafka. Damit dürfte klar sein, was die Höhle
anthropologisch bedeutet. Als Büchse der Pandora enthält sie eine ekstatische Wahrheit, die
Männer um den Verstand bringt und danach manchmal auch zur Einsicht. Die Ekstase erfasst alle
Sinne, und ihre Wahrheit ist nicht die des Logos, sondern des Eros!
Wie zu erwarten, nimmt in den Höhlenbildern von Strauß die Beziehung zwischen Mann und Frau eine zentrale
Stellung ein. Eine Sie und ein Er im Gespräch, oder die wankelmütige Cécile und ein "Ich", das dem Autor
ähnelt, unterhalten sich in der Körpersprache. Strauß ist seit jeher ein subtiler Interpret der unergründlichen
Liebesdynamik und aller zugehörigen Abgründe. Die Präzision seiner Beobachtung von Paar-Bindungen macht
ihn zu einem Psycho-Analytiker. Blumenberg ist auch ein Analytiker, aber in seinen Höhlenausgängen bleibt er
beim Trauma der Geburt stehen, das den von Freud beschworenen sexuellen „Wißtrieb“ überdeckt. Übrig bleibt
die karge Subjekt-Objekt-Spaltung, die zur Isolierung des erkennenden Subjekts führt. Insofern sind
Blumenbergs Höhlenausgänge eine Metapher seines eigenen theoretischen Egoismus. Am Ende seines
Schaffens hat sein Eros keinen Ausweg mehr aus der Höhle des Solipsismus gefunden.
Eros als Quelle der Legitimität
Die 1966 erschienene Legitimität der Neuzeit ist zweifellos das Buch, mit dem
Hans Blumenberg seinen Ruf als führender Philosoph in Deutschland begründet
hat. Mit der Verteidigung der Neuzeit als „legitim“ richtet sich Blumenberg
gegen Martin Heidegger, Romano Guardini, Karl Löwith u. a. Herausragend ist
die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, der in seiner Politischen
Theologie (1970) Blumenberg vorwirft, er verkehre den herkömmlichen
Gebrauch des Begriffs, der auf Tradition und Herkunft beruhe. Die
Rechtfertigung der Neuzeit könne nur als „Legalität“ im Sinne der positiven
Rechtssetzung bezeichnet werden.
Dolf Sternberger hat schon 1962 in Grund und Abgrund der Macht anhand des
Ost-West-Konflikts dargelegt, dass Legitimität ein universal gültiger Begriff ist
und dass es verschiedene Arten von Legitimität gibt. Offenkundig führt
Blumenberg ein neues Verständnis von Legitimität ein, demzufolge die Neuzeit
sich selbst legitimiert. Das entspricht Edmund Husserls Begriff der
„Selbstgegebenheit“, den Blumenberg anthropologisch zum Prinzip der
Selbstbehauptung erweitert hat. Doch Blumenbergs gleichzeitige Betonung der
Bedeutungsfülle der Welt verweist auf eine andere Quelle, nämlich auf Georg
Simmels Philosophie des Geldes, eines der Lieblingsbücher Blumenbergs, das
er als „Jahrhundertbuch“ in eine Reihe mit Freuds Traumdeutung und
Husserls Logischen Untersuchungen gestellt hat.
Die Kraft, aus der die Neuzeit ihre Legitimität bezieht, ist die Liebe, die neben
dem Hunger die Welt zusammenhält. Die spontane Liebe, die lange Zeit durch
gesellschaftliche Zwänge unterdrückt wurde, wie an Romeo und Julia
ersichtlich, hat erst im Laufe der Aufklärung Spielraum für soziale Entfaltung
bekommen. Georg Simmel hat diese Entwicklung an der Geschichte der Ehe
verdeutlicht. Allen Formen der Ehe sei zwar der generelle
„Fundamentalvorgang der physiologischen Paarung“ gemeinsam, aber er werde
zugleich „als das Intim-Persönlichste empfunden“, heißt es in
der Soziologie. Die Dialektik des Lebens resultiere aus der Polarität der
Geschlechter, in der Nähe und Distanz sich gegenseitig verstärken.
„Das Leben“, so kann man in Die geistige Gestalt Georg Simmels (1959) von
Margarete Susman lesen, „ist für Simmel schon lange bevor er sich zu ihm
bekannte, immer das Erste gewesen“. Das Ineinander von Leben und Form,
das Simmels Bild vom Menschen als unauflösliche Lebenseinheit zunehmend
geprägt hat, lässt sich durch keine rationale Lebensform vollständig auflösen.
So verhält es sich nach meiner Überzeugung auch mit Blumenbergs
Beschreibung des Menschen. Wie Simmel vom Baum der Erkenntnis zum Baum
des Lebens zurückfindet, wirkt auch bei Blumenberg der Eros im Hintergrund
stärker als der Logos; die sinnliche Metaphorik gibt seiner Reflexionsprosa ihr
besonderes Flair. Die Kraft des Eros als Legitimitätsquelle der Neuzeit ist in
allen späteren Schriften Blumenbergs, so verschieden ihre Themen auch sein
mögen, immer deutlich zu spüren.
Das Foto zeigt die Entstehung des Mythos Blumenberg, zumindest den Versuch
dazu. Der primäre Sinn der Portraitphotographie, nämlich das Abbild eines
realen Menschen, wird überlagert durch einen sekundären Sinn, der diesen
Menschen in etwas anderes verwandelt - in einen Autor, der unsterblich sein
will. Blumenbergs Portrait ist hoch stilisiert und zeigt die typische Pose des
Intellektuellen der Vorkriegszeit, wobei Max Scheler als Vorbild gedient hat.
Schelers Zigarette in der Hand hat sich Blumenberg beim Fototermin
verkniffen, da er als passionierter Zigarrenraucher nach eigenen Aussagen den
mit der Zigarette verbundenen Eindruck der Nervosität und Getriebenheit
vermeiden wollte.
Die Frage drängt sich auf, ob Blumenberg damit das Ziel seiner Arbeit am
eignen Mythos erreicht hat. Statt zum Mythos hat er sich eher zum Idol seiner
Anbeterinnen gemacht, von denen Sibylle Lewitscharow in ihrem
Roman Blumenberg aus Liebeskummer eine hat sterben lassen. Aber vielleicht
zeigt das Foto, dass der Autor sich selbst zu Lebzeiten als Star schon überlebt
hatte. Daran ändert auch nichts der verzweifelte Versuch seiner Nachkommen,
durch Fotos aus den jungen Jahren den realen Blumenberg wieder zum Leben
zu erwecken. Die neuen Fotos bleiben angesichts der Ikone des Übervaters
unbedeutend, sie setzen den Lesern keine andere Brille auf.
Blumenberg war sehr auf Geld erpicht. Er hat uns Assistenten ein dickes Handbuch gegeben, in
dem stand, was man als Hochschullehrer alles steuerlich absetzen kann. Er hat einen richtigen
Kleinkrieg mit dem Finanzamt geführt, in dem es darum ging, ob im privaten Arbeitszimmer ein
Schlafsofa stehen darf. Eine wirklich lustige Geschichte, über die wir uns todgelacht haben. Ob er
das Sofa auch für sein erotisches Leben benutzt hat, darüber hat er nur Andeutungen gemacht.
Immerhin war er in seinem Gefühlsleben ein Erotiker, wie er nicht im Buche steht.
Wie Simmel mit Geld umgegangen ist, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich sparsamer als mit
seiner Erotik. So bedeutsam das Geld im zwischenmenschlichen Verkehr auch ist, Simmels
Entwicklung zum Lebensphilosophen ist durch den Eros vorgezeichnet. Er hatte mit seiner
Geliebten ein uneheliches Kind, dem er nie begegnen wollte, weil er es nicht ertragen konnte, mit
der Verkörperung seiner unkontrollierten Sexualität konfrontiert zu werden. Die Sexualität
bezeichnet er in der Soziologie als das Allgemeinste und zugleich als das Intimste, ein
dialektisches Verhältnis, das die menschliche Existenz ausmacht. Das offizielle Bild, das die
Soziologen von Simmel entwerfen, geht darauf nicht ein, obwohl es der Schlüssel zum
Verständnis der Lebensanschauung Simmels ist.
Meine eigene Lebensphilosophie folgt der Linie des „erotischen Lebens“, auf das Simmel 1918
im Konflikt der Kultur eingeht. Ich habe das im Artikel „Sexualität“ im gerade bei Suhrkamp
erschienenen Simmel-Handbuch näher ausgeführt. In Blumenbergs Schriften ist das Sexuelle nur
latent vorhanden oder bleibt ganz ausgespart. Wahrscheinlich infolge der Nachwirkungen der
katholischen Sexualmoral, die ihn als jungen Priesterkandidaten geprägt hat.
Zur Erklärung habe ich zwei Hypothesen entwickelt. Die erste besagt, dass es sich um eine
subtile Form der Einschüchterung handelt. Blumenberg pflegte unbekannte Autoren oder
unbekannte Aspekte berühmter Autoren so selbstverständlich zu präsentieren, als müsse jeder
Gebildete damit vertraut sein. Mit dieser raffinierten Strategie hat Blumenberg die Hörer am
Philister-Schopf gepackt. Obwohl die Darlegungen für die meisten Hörer kein Thema waren,
haben sie doch gespannt zugehört. Damit haben sie ihr bildungsbürgerliches Gewissen beruhigt.
Ich glaube nach wie vor, dass diese Erklärung etwas Richtiges trifft, sie lässt aber eine Dimension
aus, die meine zweite Hypothese plausibler macht. Sie betrifft den faszinierenden Vortragsstil
Blumenbergs, der über die Unverständlichkeit vieler Inhalte hinweghalf. Der Kulturredakteur der
Westfälischen Nachrichten hat den Eindruck, den Blumenberg auf ihn gemacht hat, in einer Email
an mich prägnant so formuliert: „Ich weiß, ich habe ihn auch genossen. Das Unverstandene hat
oft den größeren Reiz, weil sich das Erkannte oft als bekannt verliert“. Allerdings hat nicht alles
Unverstandene einen besonderen Reiz. Es muss schon mit einer speziellen Form des Ausdrucks
verbunden sein, die beim Hörer die ‚Reizsamkeit‘ anspricht. Das war bei Blumenberg die
Sinnlichkeit, die sprachlich in seinem virtuosen Umgang mit Metaphern zum Ausdruck kam.
Blumenbergs Metaphorologie verweist auf die Tiefendimension des Bewusstseins, wo die religiöse
Frömmigkeit angesiedelt ist. Das hat das Münsteraner Publikum gespürt. Ich habe einmal einen
alten Bekannten, einen gläubigen Katholiken, gefragt, warum er am Freitag immer ins Schloss zu
Blumenbergs Vorlesung gehe. „Da fühle ich mich zuhause“. „Worüber hat er gesprochen?“ „Ich
glaube, es ging um einen alten Kirchenvater namens Origenes oder so ähnlich“. „Hast du das
verstanden?“ „Nicht wirklich.“ „Aber warum gehst du dann hin?“ „Wegen der Sprache.“ „Was
meinst du damit?“ „Seine katholische Rhetorik. Einfach wunderbar, wie in der Lamberti-Kirche.“
Das ist die Kirche mit den eisernen Körben der Wiedertäufer auf dem Prinzipalmarkt in Münster.
Eine aufschlussreiche Äußerung, die treffend beschreibt, was man Blumenbergs „Emanation“
nennen könnte. Ein langjähriger Vertrauter Blumenbergs hat mir bestätigt, dass es die sakrale
Aura des ‚Priesterphilosophen‘ war, welche die katholisch erzogenen Hörerinnen ansprach.
Dagegen fühlten sich protestantisch sozialisierte Hörer vom Blumenberg, in dessen
Rekonstruktion der Entstehung der Neuzeit Martin Luther keine Rolle spielt, eher abgestoßen.
Sein Auftreten war ihnen zu stilisiert und überladen.
Wir frühen Assistenten haben nie etwas vom katholischen Blumenberg wahrgenommen. Sein
Kampf gegen das mittelalterliche Gottesverständnis und seine Legitimation der Neuzeit als
Gegenentwurf zu Romano Guardinis Verkündung vom Ende der Neuzeit schließt aber nicht aus,
dass Blumenberg im Tiefsten doch gläubig war. Darüber ist heute ein heftiger Streit entbrannt,
den ich aber für unfruchtbar halte, da es den Parteien darum geht, sich selbst in Szene zu setzen.
Fakt ist lediglich, dass der späte Blumenberg auf seine Hörerinnen und Hörer die besagte quasi-
religiöse Wirkung ausgeübt hat.
Die Wirkung wäre wohl kaum eingetreten, wenn seine Seele nicht vom Glauben erfüllt gewesen
wäre. Allerdings nicht vom Glauben an den allmächtigen Gott der Christen, mit dem er gehadert
hat, auch nicht an den Gott der Philosophen, der den Zustand der Welt nicht rechtfertigen kann,
sondern vom Glauben an das Göttliche in der Lebenswelt. Blumenberg hat viel über den
Gottesbegriff räsoniert. Es geht dabei meist um die Rechtfertigung der Leiden, die der
Allmächtige zulässt. Unterschwellig aber geht es um die Frage nach dem irdischen Glück.
Blumenberg war in seiner Ethik dem Hedonismus Epikurs zugeneigt, den er über sein
Lieblingsbuch „De rerum natura“ von Lukrez verinnerlicht hatte. Dadurch stand seine
Lebensanschauung dem mythischen Gott der Liebe, dem Eros, nahe, den er als lichtspendenden
Weltschöpfer verstand.
Blumenberg hat zwar selten direkt über den Eros gesprochen, da ihn die Sexualität als das immer
Gleiche langweilte. Aber das Erotische kommt doch zur Sprache, häufig im Hinblick auf Sigmund
Freuds Konzept der Sublimierung, gelegentlich in seinen Kommentaren zu Arthur Schnitzler. In
den Tagebuchaufzeichnungen zu seiner gescheiterten Ehe gebraucht Schnitzler die Metapher der
‚Letzten‘ (Frau), von der er sagt: „Die Letzte kommt nie“. Dazu Blumenberg: „Erotisch ist lange
alles aus, wenn man noch den Ausgang fürchtet“. Blumenberg war ein übervorsichtiger,
furchtsamer Mensch. Die ihm eigene jüdische Gottesfurcht hat seine erotische Aura religiös
getönt. Sein ganzes Philosophieren war ein sinnlich-übersinnliches Gespräch, das in seinem
Nachlass endlos weitergeht. Ich jedenfalls nehme als gelernter „Erosoph“ an diesem Gespräch
mit Gelassenheit teil, da ich den Ausgang nicht mehr fürchte.
Blumenberg ist auf Fotos zu sehen, die der Film direkt präsentiert und verstärkt arrangiert. Das
erhöht die Sichtbarkeit, macht Blumenberg aber nicht anwesend. Auch der Versuch, ihn durch
Orte, an denen er sich aufgehalten hat, und durch Personen, mit denen er verkehrt hat, zu
vergegenwärtigen, führt nur begrenzt zum Ziel. Denn „gegenwärtig“ ist kein reales Prädikat,
sondern bezeichnet die Art, wie jemandem etwas mental präsent ist. Der Film vergegenwärtigt
Blumenberg lediglich denjenigen Zuschauern, die ihn persönlich gekannt haben und sich an ihn
erinnern. Für alle diejenigen, die Blumenberg nicht life erlebt haben, wird er durch den Film zwar
bekannt, aber nicht gegenwärtig, geschweige denn anwesend.
Was kann den abwesenden Philosophen im Medium Film anwesend machen? Stehen die Orte für
den Menschen? Haben die auftretenden Schüler und Verehrer den Abwesenden anwesend
gemacht? Wohl kaum, es bleibt bei der Selbstdarstellung der Protagonisten und beim Gerede
über Blumenberg. Wenn auch seine Stimme aus Mittschnitten seiner Vorlesungen ertönt, kommt
er selbst nicht wirklich zu Worte. Es bleibt eine Stimme aus dem Nichts. Hierin liegt die Paradoxie
der filmischen Darstellung. Der Film will Gedanken lebendig machen, als persönliche Äußerung
präsentieren, aber die Person bleibt abwesend. Die Worte klingen eigentümlich hohl, die Inhalte
verflüchtigen sich.
Was die Regie betrifft, hinterlässt der Film bei den wenigen, die Blumenberg noch aus
Begegnungen und Gesprächen kennen, ein Gefühl des Unbehagens. So jedenfalls geht es mir als
einem der letzten noch lebenden Assistenten der ersten Generation. Das Spurensuche-
Roadmovie auf Autobahnen verfehlt den Lebensstil Blumenbergs völlig. Die Szene von
neugierigen Begaffern eines Verkehrsunfalls ist keine adäquate Transposition von Blumenbergs
„Schiffbruch mit Zuschauer“. Auch der Porsche des Freundes, den der junge Blumenberg
bewunderte, ist kein Symbol seiner philosophischen Mentalität. Er fuhr gern Auto, das ist wahr,
am liebsten aber mit seinem alten DKW. Diesen bezeichnete er wegen des Leerlaufs seines
Zweitaktmotors selbstironisch als das für einen Philosophen angemessene Fortbewegungsmittel.
Um von seinem Wohnort Altenberge nach Münster und zurück zu fahren, ging es über
Landstraßen, auf denen er nur langsam fahren konnte. Und die Sonnenbrille war kein Zeichen
eines überzogenen Selbstwertgefühls, sondern er brauchte sie wegen seines Heuschnupfens.
Über meinem Schreibtisch hängt eine Vergrößerung des offiziellen Bildes, das zu Blumenbergs
Lebenszeit das einzig bekannte war: Big brother is watching you! In dem einen Bild, möchte ich
sagen, ist die ganze Philosophie von Blumenberg zusammengefasst, der nicht müde wurde zu
philosophieren, um nicht spurlos unterzugehen im Strom der Zeit. Spuren in der Welt zu
hinterlassen, war sein größter Wunsch. Das eine Bild hat dazu beigetragen, die Sonderstellung
Blumenbergs in der akademischen Szene sichtbar hervorzuheben. Aber davon hängt auf lange
Sicht seine Rezeption nicht ab. Blumenberg selbst hat immer betont, dass die Rezeption ein
Selbstläufer ist. Man müsse sie den Werken überlassen, die für sich selbst sprechen und die Leser
anspricht. Wenn dagegen die Rezeption durch interessierte Personen und Institutionen in eine
bestimmte Richtung gelenkt wird, dann läuft sie aus dem Ruder. Diesen Eindruck jedenfalls
macht der Film auf Kenner Blumenbergs. Ich bin davon überzeugt, dass man dem Philosophen
am ehesten gerecht wird, wenn man seine Theoreme kritisch weiterdenkt. Das versuche ich mit
meinen Blumenbergiana, auch wenn ich damit von der Fangemeinde als Störenfried und
Außenseiter angesehen werde.
Hier drängt sich mir ein Vergleich mit der „psychoanalytischen Bewegung“
Sigmund Freuds auf, mit dem sich Blumenberg intensiv beschäftigt hat. Er hat
an Freud die aufklärerische Seite hochgeschätzt. Allerdings ist Freuds Suche
nach Wahrheit, sein Vernunftglaube nicht ganz so rein, wie er selbst meinte.
Sie wurde gespeist aus seinem unbändigen Verlangen, anerkannt zu werden
und als Begründer der Psychoanalyse in die Geschichte einzugehen. Im
Gegensatz zu Freud hat sich Blumenberg von der Suche nach Wahrheit
verabschiedet und auf den Wirklichkeitsbegriff Edmund Husserls
zurückgezogen. Der „von der Phänomenologie explizierte Wirklichkeitsbegriff“,
so eine Formulierung Blumenbergs, verlangt keine streng definierten Begriffe,
sondern stützt sich auf Metaphern, die in ihrer Vieldeutigkeit leichter zu
handhaben sind als der Begriff. Doch auch Blumenbergs Beschreibung der
Lebenswirklichkeit geschah nicht allein um der Sache selbst willen, sondern
war von einem übermäßigen Verlangen angetrieben, bleibende Spuren zu
hinterlassen und von der Nachwelt als Begründer der Metaphorologie
anerkannt zu werden. Zwar hat sich Blumenberg politisch nie eingemischt,
indirekt aber war sein Schaffen auf geistige Weltveränderung, auf einen
zukünftigen ‚Weltglauben‘ ausgerichtet.
Dass Blumenberg mich intensiver und emotionaler als die übrigen Assistenten
wahrgenommen hat, dafür habe ich kürzlich eine überraschende Bestätigung
bekommen. Der Engelforscher Uwe Wolff, der Blumenberg persönlich kannte,
hat mir zwei Fotos eines halbierten Luftpostcouverts geschickt, von mir
handgeschrieben mit Blumenbergs Adresse auf der Vorderseite und meinem
Absender auf der Rückseite. Es ist das Couvert von einem Brief, den ich
Blumenberg am 22. März 1977 aus einem Krankenhaus in Ajaccio geschickt
habe, wo ich infolge eines schweren Verkehrsunfalls mit gebrochenen Beinen
lag. Auf meine Frage, wieso das Couvert so akkurat halbiert ist, hat mir Wolff
geantwortet:
Ich habe diese Auskunft an einen Kenner des Nachlasses von Blumenberg,
Rüdiger Zill vom Einstein-Forum in Potsdam, weitergeleitet. Von ihm habe ich
die subtile Antwort erhalten:
„Frei nach Italo Calvino: der halbierte Assistent? Na, wir wollen das mal nicht
psychoanalytisch deuten.“
Natürlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, es im Sinne von Freuds
Ödipuskomplex doch psychoanalytisch zu deuten. Das Ergebnis behalte ich
aber lieber für mich. Ich habe daraufhin Rüdiger Zill von meinem Film-Projekt
vorgeschwärmt, allerdings mit dem Vorbehalt, dass ich vielleicht verrückt sei.
Darauf hat er mir geantwortet:
„Nein, lieber Fellmann, verrückt sind Sie nicht, dass Sie Blumenbergs Erbe als
DER ASSISTENT lebendig halten wollen - halbiert oder nicht“.
Als „Erosoph“, wie ich mittlerweile tituliert werde, bin ich in der Tat halbiert -
Logos auf der einen Seite, Eros auf der anderen. Als Mensch aber fühle mich
noch ganz, insbesondere wenn ich, wie heute beim Betrachten alter Fotos, eine
sentimentale Reise in die gemeinsame Vergangenheit unternehme: Memories
are made of this. Ich weiß nicht, ob sich Blumenberg am leidvollen Ende seines
Lebens als ganzer Mensch gefühlt hat. Das weiß nur Gott, mit dem er gehadert
hat. Um nicht als Wiedergänger meines akademischen Mentors im Kino
herumzugeistern, habe vom ‚verrückten‘ Film-Projekt definitiv Abstand
genommen und lenke stattdessen meine Aufmerksamkeit auf Blumenbergs
Texte, die mich zum kritischen Weiterdenken anregen.
Neben Metaphern, die sich auf die Erkenntnistheorie beziehen, hat sich Blumenberg hinsichtlich
der Praxis mit „Daseinsmetaphern“ beschäftigt, insbesondere mit dem Schiffbruch, dem er ein
ganzes Buch gewidmet hat (Schiffbruch mit Zuschauer, 1979). Im Anhang heißt es: „Deshalb
wird eine Metaphorologie, will sie sich nicht auf die Leistung der Metapher für die Begriffsbildung
beschränken, sondern sie zum Leitfaden der Hinblicknahme auf die Lebenswelt nehmen, nicht
ohne die Einfügung in den weiteren Horizont einer Theorie der Unbegrifflichkeit auskommen“
(82f.). Zur Theorie der Unbegrifflichkeit ist es bei einem „Ausblick“ geblieben. Worauf der
Ausblick verweist, bleibt unbestimmt, nur die Nähe zu Sigmund Freuds psychoanalytischer
Aufdeckung des Unbewussten ist spürbar.
Mit dem Begriff „Metaphorologie“, den Blumenberg erfand, hat er das Minimum dessen erreicht,
was man noch Wissenschaft nennen kann. Über den Status der Metaphorologie haben wir oft
gesprochen. Heute ordne ich sie dem Geist der Utopie zu, mit dem sich Blumenberg unter dem
Titel „Utopische Utopien“ kritisch auseinandergesetzt hat (Begriffe in Geschichten, 1998. 100-
102). Dabei mokiert er sich über die „konkrete Utopie“, mit der Ernst Bloch den von Karl Marx
beschriebenen Endzustand der klassenlosen Gesellschaft verteidigt. So dürftig die Passage bei
Marx sich auch ausnimmt, sie trifft doch das reale Alltagsleben und ist daher so meta-utopisch
nicht, wie Blumenberg meint.
Blumenbergs Auffassung von Utopie unterscheidet sich von Thomas Morus, auf dessen Insel
Utopia die Wünsche des Individuums der Gemeinschaft untergeordnet sind. Darüber hat
Blumenbergs Mitarbeiter Karl-Heinz Gerschmann regelmäßig Seminare abgehalten. Wie einseitig
diese Perspektive war, wird deutlich, wenn man sie mit Karl Mannheims wissenssoziologisch
erweitertem Begriff der Utopie vergleicht. Mannheim hat Utopie mit Ideologie in Verbindung
gebracht und Wege zu „wirklicher Utopie“ aufgezeigt (Utopie und Ideologie,1929ff.). Demnach ist
Utopie die Sichtweise von Menschen, denen eine bessere Welt vorschwebt. Daher halte ich es
nicht für abwegig, Blumenbergs Metaphorologie der Gattung ‚Utopische Utopien‘ zuzuordnen. Für
ihn gab es keine ‚Pfade aus Utopia‘, wie sie der Soziologe Ralf Dahrendorf beschrieben hat. Die
Metaphorologie löst Kategorien in Vorstellungsbilder auf, die im „Absolutismus der Wirklichkeit“
keinen Ort haben.
Wie existentiell die Metaphorologie für Blumenberg war, hat mir seine harsche Reaktion gezeigt,
als ich die Meinung vertrat, dass in der systematischen Philosophie Metaphern durch klar
definierte Begriffe ersetzt werden sollten. Blumenberg hielt das für nicht möglich und auch nicht
für wünschenswert, denn in der Philosophie gehe es nicht um definitive Bedeutungen, sondern
um „Bedeutsamkeit“ - ein Prinzip, das Erich Rothacker seiner Kulturanthropologie zugrunde
gelegt hat. In diesem Sinne war Blumenbergs Erfindung der Metaphorologie Ausdruck seines
ausgeprägten Möglichkeitssinnes, der zu den negativen Utopien des 20. Jahrhunderts gehört.
Der utopische Charakter der Metaphorologie ist, soviel ich weiß, bisher nicht thematisiert worden,
wohl deshalb, weil Blumenbergs Ausführungen eine Qualität von Unbestimmtheit haben, die auf
seine Leser umso bestimmender wirkt. Die Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit
macht die Paradoxie der Metaphorologie aus, wobei die Gleichursprünglichkeit von vorstellendem
Bewusstsein und objektiven Gegenständen den Geist in ästhetischer Schwebe hält. Die
Metaphorologie wird zur Flucht aus der Kategorie, von Klarheit und Deutlichkeit als Kriterien der
Wahrheit ganz zu schweigen. Ein Jenseits der Metapher gibt es für Blumenberg nicht; seine
Betrachtung der Metapher ist wie die ‚absolute Metapher‘ selbst metaphorisch und nicht restlos
begrifflich auflösbar. Es bleibt also dabei: Metaphorologie ist keine strenge Wissenschaft wie
Husserls Logische Untersuchungen, auch keine radikale Sprachkritik wie
Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, sondern eine ästhetische Utopie.
Gespräche über das Thema Mythos habe ich mit Blumenberg wiederholt geführt, wobei ich auf
die besondere Rolle italienischer Denker hingewiesen habe. Zu Fontenelles De l’origine des
fables hatte ich ein Referat gehalten, aus dem später mein Aufsatz „Mythos und Moral bei
Giordano Bruno“ hervorgegangen ist. Darin heißt es, Bruno unterscheide sich von aufklärerischer
Mythenkritik dadurch, dass er bestimmte Formen kosmologischen Denkens positiv gelten lässt
(PH IV, 247). Blumenberg hat daraufhin in der Legitimität der Neuzeit (1966) den „Nolaner“ zur
Leitfigur der neuzeitlichen Epochenwende gemacht.
Ferner habe ich Vicos Scienza Nuova, der zufolge Mythen Aufschluss über die „Natur der
menschlichen Dinge“ geben, im Laufe meiner Arbeit am Vico-Axiom Blumenberg nahegebracht.
Er hat das in seinem Buch Arbeit am Mythos (1979) aufgenommen, allerdings ohne den
soziologischen Aspekt von Vicos Theorie des Mythos zu vertiefen (412ff.). Auch die Interpretation
von Georges Sorels Theorie des sozialen Mythos als „Endmythos“ (246-248) berücksichtigt den
Rückgriff auf Vico nicht. Ich habe das in meinem Aufsatz „Mythos in Institutionen: Vico und
Sorel“ (1988) nachgeholt.
Blumenberg hat den Mythos dem Dogma gegenübergestellt. Dem ist entgegengehalten worden,
dass der griechische Mythos durchaus dogmatisch war, da er den Herrschenden dazu diente,
bestimmte politische Verhältnisse zu legitimieren (PH IV, 534). Dass die Götter nicht nur
leichtlebig, sondern auch blutdürstig sind, hat Anatole France in seinem Roman von 1912
eindrucksvoll dargestellt. Das trifft auch auf den modernen Mythos zu, der dazu benutzt wird, auf
die kollektive Mentalität einzuwirken. Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts ist für
die Manipulierbarkeit des Mythos durch die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus ein
abschreckendes Beispiel.
Die ideologische Seite seiner Theorie des Mythos passt zur Biographie Blumenbergs, der als
junger Mann unter der totalitären Ideologie des Nationalsozialismus gelitten hat. Im Nachhinein
hat ihm der Mythos als defensive Denkform der Vergangenheitsbewältigung gedient. Mit dem
Mythos hat er sich auch gegen die Linksintellektuellen zur Wehr gesetzt, von der er sich in Form
der ‚Kritischen Theorie‘ von Habermas angegriffen fühlte. Darin ist er Ernst Jünger gefolgt,
dessen Marmorklippen Blumenberg als Beispiel anführt, wie jemand „durch reine Geistesmacht
Widerstand zu leisten“ in der Lage ist (Arbeit am Mythos, S. 15). Entsprechend habe ich
Blumenbergs Philosophieren als „Überlebenskunst eines Mythologen“ bezeichnet (Lebenskunst im
20. Jahrhundert, hrsg. von G. Gödde, Paderborn 2014, 215ff.). Insofern ist Blumenberg ein Beleg
dafür, dass Mythologie in Ideologie umschlägt, die sich die Wirklichkeiten, in denen Menschen
leben müssen, vom Leib hält – auch eine Form der ästhetischen Rechtfertigung der Welt.