FELLMANN Ferdinand Blumenbergiania

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Blumenbergiana

Hans Blumenberg gehört zu den bedeutendsten deutschen Philosophen des 20.


Jahrhunderts. Seine Bücher zählen mittlerweile zu den Klassikern der Moderne.
Viele Titel enthalten Schlüsselbegriffe, die Blumenberg „Daseinsmetaphern“
genannt hat: „Lesbarkeit“, „Schiffbruch“, „Zuschauer“, „Höhlenausgänge“ u.a.
Um das geistige Erbe meines akademischen Lehrers lebendig zu halten, werde
ich die wichtigsten Daseinsmetaphern fortschreiben nach dem Motto: mit
Blumenberg gegen Blumenberg. Die kritische Form des Umgangs entspricht
dem Selbstverständnis des Meisters, der sich selbst gegenüber immer auf
Distanz geblieben ist und Kritik als Zeichen der Anerkennung aufgefasst hat. In
diesem Sinne erscheinen in lockerer Folge Beiträge, um meine Verbundenheit
mit Hans Blumenberg zum Ausdruck zu bringen und seiner Beschreibung des
Menschen gerecht zu werden.

• Blumenbergiana I: Schiffbruch ohne Zuschauer


• Blumenbergiana II: Lesbarkeit oder Lebbarkeit?
• Blumenbergiana III: Höhleneingänge und Höhlenausgänge
• Blumenbergiana IV: Eros als Quelle der Legitimität
• Blumenbergiana V: Das Bildnis des Hans Blumenberg
• Blumenbergiana VI: Geld und Leben
• Blumenbergiana VII: Der Reiz des Unverstandenen
• Blumenbergiana VIII: Der abwesende Philosoph
• Blumenbergiana IX: Blumenberg und die Zukunft der Gesellschaft
• Blumenbergiana X: Der halbierte Assistent
• Blumenbergiana XI Metaphorologie als Utopie
• Blumenbergiana XII Mythologie als Ideologie
Schiffbruch ohne Zuschauer
Hans Blumenberg hat den Begriff „Daseinsmetapher“ in den philosophischen
Diskurs eingeführt. Das ist ein hilfreiches Instrument bei der Beschreibung des
Menschen. Denn unser Lebensgefühl, unser Selbstverständnis, das Martin
Heidegger „Dasein“ genannt hat, lässt sich nicht direkt in Worte fassen. In der
Artikulation unserer Befindlichkeiten sind wir auf Metaphern angewiesen, die
auf einen normativ-wertenden Horizont verweisen.

In seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) hat Blumenberg neben


der hermeneutischen Funktion der Metapher keine Strukturanalyse der
Metapher vorgelegt. Er knüpft an den Symbolbegriff aus Kants Kritik der
Urteilskraft an. Die Metapherntheorien der analytischen Philosophie (Max Black
u. a.) finden keine Berücksichtigung. Auch die semantischen Differenzierungen
der strukturalen Linguistik bleiben unberücksichtigt. Ihm geht es allein um die
Übertragung von Anschauungsbildern eines Gegenstands auf einen anderen.
So z. B. bei der Metapher „die Wiese lacht“, wo der Eindruck, den eine Wiese
bei Sonnenschein macht, dem Ausdruck eines strahlenden Gesichts entspricht.
Blumenberg hat die Metapher unter den Begriff der Unbegrifflichkeit
subsummiert, deren Theorie allerdings bei ihm nur ein Ausblick bleibt. Hier
wäre das Paradox herauszustellen, dass Schriftsteller, um präzise zu sein, auf
Metaphern angewiesen sind. 

Blumenbergs Lieblingsparadigma einer Daseinsmetapher ist der Schiffbruch. Er


interpretiert den Schiffbruch im Hinblick auf das plus ultra der theoretischen
Neugierde, die oft in Katastrophen endet, was die Menschen allerdings nicht
davon abhält, immer wieder Grenzen zu überschreiten. Was sich daraus für die
Moral ergibt, nennt Blumenberg „Überlebenskunst“. Dabei spielt der Zuschauer
eine Rolle, die nach dem Vorbild von Lukrez zwischen Anteilnahme und
Selbsterhaltung schwankt – die typische Einstellung des Schaulustigen (vgl.
Christoph Hönig: Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt, Würzburg 2000).

So aufschlussreich der kognitive Zugang auch ist, im allgemeinen Verständnis


überwiegt bei der Rede vom Schiffbruch die lebenspraktische Seite. Mit
Schiffbruch bezeichnen wir gescheiterte Projekte, die nicht mehr zu reparieren
sind. Dabei geht es nicht nur um subjektive Vorstellungen und Wünsche,
sondern um den realen Bestand der Dinge, um das Faktische, das nicht zu
ändern ist. Dazu heißt es bei Joseph Conrad in Lord Jim, der tragischen
Geschichte eines Matrosen, der durch sein Fehlverhalten Schiffbruch erleidet:
„…es gibt so viele Schiffbrüche, wie es Menschen gibt“ (Frankfurt a. M. 1986,
S. 138). Besonders grausam sind Schiffbrüche, bei denen es keine Zuschauer
gibt. Ein solcher wird in Lord Jim mit allen seinen emotionalen Abgründen des
Beteiligten geschildert. Die exzentrische Position des Menschen angesichts der
Faktizität lässt laut Conrad nur eine Form der Behandlung zu: dem Sein vor
dem Tun den Vortritt lassen (S. 238) und dem Traum folgen, usque ad
finem (S. 240).
Unter den emotionalen Aspekten des Schiffbruchs als Daseinsmetapher steht
die Liebe an erster Stelle. Das tragende Element ist das Meer im Wechsel von
Stille und Bewegtheit: Der Liebe und des Meeres Wellen, wie es bei Grillparzer
heißt. Das Fließen des Wassers und das Wehen der Winde lassen Werden und
Vergehen spüren. Marcel Proust beispielsweise braucht Metaphern aus dem
Bereich des Fließens, um das Leblose zu beseelen. Für den Zusammenhang
von Sexualität und Liebe in Anspielung auf Boot, Schiff, Wasser und Meer
ließen sich aus der Literatur und der bildenden Kunst unzählige Beispiele
anführen.

Es ist erstaunlich, wie Blumenberg die erotische Transgression aus der


Schiffbruchmetapher ausblendet. Ein frappierendes Beispiel ist
„Meeresbeschimpfung“, mit der Die Sorge geht über den Fluß beginnt. In der
Fabel des Äsop wird geschildert, wie ein Schiffbrüchiger das Meer beschimpft,
weil es durch sein liebliches Aussehen den Menschen anlockt, um ihn dann ins
Verderben zu stürzen. In der Antwort schiebt das Meer in Gestalt eines Weibes
die Schuld auf die Winde, die über sie herfallen und zu wilden Wogen
aufwühlen. Blumenberg nennt die Fabel enttäuschend, weil das Wasser mit der
Erde gleichgesetzt wird und die Winde keine „Erderschütterer“ sind. Mit diesem
Namen bezieht sich Blumenberg auf Prometheus, der zu den Titanen gehört.
Ärgerlich ist für Blumenberg Äsops Moral der Geschichte, die besagt, dass man
Täter nicht verantwortlich machen kann, wenn höhere Mächte im Spiel sind. 

Es bedarf keiner großen Phantasie, um  zu erkennen, dass die höhere Macht in
der Fabel der Eros ist, der die Frau zur Verführerin macht. Der Wechsel ihres
körperlichen Zustandes entspricht dem des Meeres, das der Macht der Winde,
sprich: der sexuellen Erregung ausgesetzt ist. Warum Blumenberg in seiner
Glosse darauf nicht eingeht, lässt sich auf seine Überzeugung zurückführen,
dass im sexuellen Bereich ästhetische Distanz unmöglich sei. So hat er einmal
gesagt: „Im sexuellen Bereich weiß man, dass es sich immer nur ‚um dies und
nichts anderes‘ handelt. Das Anthropologische ist jederzeit im überreichlichen
Maße präsent, darum braucht es nur ‚ausgelöst‘ zu werden“ (Die nicht mehr
schönen Künste. Poetik und Hermeneutik III, München 1968, S. 614). Stärker
kann man das Anthropologische nicht verkürzen; die Erweiterung der
Sexualität zur Erotik kommt noch nicht in den Blick. Die typisch katholische
Sexualmoral der Nachkriegszeit, die erst durch die sexuelle Revolution der
1968er aufgelockert wird.

Wie steht es mit der Lebenskunst im Hinblick auf den Schiffbruch?


Blumenbergs Überlebenskunst durch Flucht in literarische Selbstdarstellung
lässt erkennen, wie sehr auch er vom Eros getrieben ist, ihn aber nicht real
ausleben kann oder will. Es bleibt beim „impliziten Eros“, wie ich Blumenbergs
geistiges Profil nennen möchte. Darin liegt etwas vom tragischen Lebensgefühl,
das in der Adenauer-Ära die Eliten umtrieb. Das hat sich im Zeitalter der
anderen Moderne geändert: Der Mensch begegnet den schicksalhaften
Lebenserfahrungen, dem Werden und Vergehen mit postfaktischer
Gelassenheit. Diese wird seit jeher im Wappen von Paris, der Stadt der Liebe,
im Bild eines im Wasser treibenden Bootes sinnfällig: Fluctuat nec mergitur.
Das entsprechende Lebensgefühl hat Hölderlin in seinem
Gedicht Mnemosyne zum Ausdruck gebracht: „Uns wiegen lassen, wie auf
schwankendem Kahne der See…“.

Lesbarkeit oder Lebbarkeit?


In seinem Buch Die Lesbarkeit der Welt (1981) vertritt Hans Blumenberg die These, dass die Welt
ein semiotischer Raum ist, in dem kein Ereignis und kein Faktum dem Betrachter unverständlich
bleiben. Er schließt damit ausdrücklich an den Bonner Philosophen Erich Rothacker an, der den
Topos vom Buch der Natur begriffsgeschichtlich verortet hat. Blumenberg ist mit seiner „Theorie
der Unbegrifflichkeit“ einen Schritt weiter gegangen und hat „Lesbarkeit“ als Metapher für die
Erfahrung der Wirklichkeit eingeführt. Das erinnert an Wilhelm Szilasi, ein Ungar jüdischer
Abstammung, der ab 1947 in Freiburg den Lehrstuhl Heideggers vertreten hat. Szilasi hat eine
Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls (Tübingen 1959) geschrieben, in der er
Husserl gegen Heideggers Fundamentalontologie verteidigt. Und zwar in einer Weise, die der
Verhaltensforscher Konrad Lorenz in seiner Naturgeschichte menschlichen Erkennens, Die
Rückseite des Spiegels, unübertrefflich geschildert hat: „Wie der Freiburger Philosoph Wilhelm
Szilasi in seiner durch geringe Beherrschung der deutschen Sprache zu lapidarer Größe
gezwungenen Ausdrucksweise zu sagen pflegte: ‚Gibt es nicht ein Ding an sich, gibt es viele
‚Dinge-ansiche.‘“ In Szilasis Phänomenologie-Einführung findet sich die Formel „Lesbarkeit der
Welttexte“ (S. 91), so dass es nahe liegt, hier die Vorlage für Blumenbergs Konzept zu sehen.

Die Frage, warum Blumenberg Szilasi, der seinerzeit in akademischen Kreisen allgemein bekannt
war, nicht erwähnt, ist nicht leicht zu beantworten. Es sind zwei Ebenen zu unterscheiden, die
wissenschaftliche und die weltanschauliche. Die wissenschaftliche betrifft den
phänomenologischen Wirklichkeitsbegriff. Szilasi expliziert in seiner Einführung Wirklichkeit im
Sinne der „Erkennbarkeit der Welt“, des Grundprinzips der Marxistischen Philosophie, mit der
Szilasi im kommunistischen Ungarn vertraut war. Auf dieser Linie plädiert Szilasi für einen
radikalen Empirismus oder Realismus, der das Gegebene adäquat wiedergeben soll. Ganz anders
Blumenberg. Sein Wirklichkeitsbegriff des in sich einstimmigen Kontextes von Erfahrungen
entspricht dem transzendentalen Idealismus Husserls. Dieser besagt, dass die Verstandesbegriffe
die Sinnesempfindungen so anordnen, dass das Bewusstsein immer einen verständlichen Text vor
sich hat. Oder in der Sprache von Robert Musil: Es gibt einen „Möglichkeitssinn“, der dem
Wirklichkeitssinn vorangeht und die Faktizität, die zunächst sinnlos erscheint, verständlich macht.
Man könnte in der heute modischen Terminologie die Position Blumenbergs „präfaktisch“ und die
Szilasis „postfaktisch“ nennen.

Auf weltanschaulicher Ebene spielt das persönliche Verhältnis Szilasis zu Heidegger eine zentrale
Rolle. Der Sohn Heideggers behauptet, dass sein Vater ein enges freundschaftliches Verhältnis zu
dem jüdischen Ehepaar Szilasi hatte. Das belegen Zusammenkünfte in Heideggers Hütte in
Todtnauberg. Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen Heidegger und
Szilasi Differenzen gab, sowohl weltanschaulich als auch persönlich. In einer neuen Szilasi-
Biographie heißt ein Kapitel „Die zerbrochene Gemeinschaft“ (Zoltan Szalai: Im Schatten
Heideggers. Einführung zu Leben und Werk von Wilhelm Szilasi, Freiburg 2017). Daraus wird
ersichtlich, dass das Verhältnis vielschichtig und kompliziert war, zumal Szilasis Ehefrau Lili
zeitweise eine intime Beziehung zu Heidegger hatte. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in
Freiburg ein Kampf zwischen Anhängern von Szilasi und denen von Heidegger, in dem die
philosophische Fakultät sich schließlich auf die Seite Heideggers geschlagen hat. Das kommt
darin zum Ausdruck, dass in den Freiburger Universitätsblättern Werner Marx, seit 1964
ordentlicher Nachfolger auf dem Lehrstuhl Heideggers, hoch gelobt wird, ohne zu erwähnen, dass
Szilasi den Lehrstuhl fünfzehn Jahre lang kommissarisch vertreten hat. Heidegger selbst hat
Szilasi sogar verdächtigt, für sein Lehrverbot mitverantwortlich zu sein.

Die Dominanz der Heideggerianer, damals hießen sie „Heideggeristen“, hat dazu geführt, dass
Szilasis realistische Weiterentwicklung der Phänomenologie Husserls in Fachkreisen bis heute
kaum wahrgenommen wird. Wahrscheinlich galt das auch für Blumenberg, der bekanntlich ein
ambivalentes Verhältnis zu Heidegger hatte. Heideggers „Existenzial“ genannte
Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-Seins, die Sorge, hat Blumenberg entdramatisiert. So kommt
er am Ende seiner Essay-Sammlung Die Sorge geht über den Fluß zu dem Schluss, nach
Heidegger gebe es keinen Grund mehr zur Sorge. Aber das ist offenkundig nur eine rhetorische
Pointe. Denn Selbsterhaltung, die für Blumenberg im Zentrum seines Menschenbildes steht, ist
auch bei ihm nicht frei von Sorge. Die Angst vor der Wirkungslosigkeit seiner Ideen hat ihn nach
dem Zusammenbruch der Ordinarienuniversität in den 1968er Jahren immer stärker
umgetrieben. Diskussionen mit Studierenden oder Kollegen ist er ausgewichen. Schließlich hat er
aus der Höhle seines Arbeitszimmers keinen Ausgang mehr gefunden.

In einem Aufsatz „Hans Blumenberg – Die Überlebenskunst eines Mythologen“ habe ich
geschildert, wie sein Vortrag die Hörer und Hörerinnen fasziniert hat (G. Gödde/ J. Zirfas (Hg.):
Lebenskunst im 20. Jahrhundert, Paderborn 2014, 215-228). So facettenreich die Lesbarkeits-
Metapher auch ist, sie bleibt zu theorielastig, um die implizite Erotik, die Blumenbergs geistiges
Profil kennzeichnet, sichtbar zu machen. Mit Metaphern verhält es sich wie mit Gleichnissen,
deren Botschaft laut Franz Kafka in der trivialen Aussage besteht, „dass das Unfaßbare unfaßbar
ist“. Daher sei es falsch, sich gegen Gleichnisse zu wehren; denn wer den Gleichnissen folgt, wird
selbst zum Gleichnis, so heißt es in Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Vieles deutet darauf hin,
dass auch Blumenberg als Metaphorologe selbst zur Metapher oder gar zum Mythos geworden
ist, an dem er sein Leben lang gearbeitet hat. So jedenfalls hat er sich selbst und so wird er auch
heute noch von seinen Verehrern wahrgenommen.

Ob Blumenberg damit den Kämpfen und Leiden seines eigenen Daseins entkommen ist, bleibe
dahingestellt. Es wird überliefert, der Verfechter der Neuzeit und Kämpfer gegen den
mittelalterlichen Willkür-Gott habe am Ende seines Lebens im Glauben Trost gefunden. Das mag
ein Gerücht sein, das von interessierter Seite verbreitet wird. Sicherlich ist Blumenberg nach dem
Krieg zur katholischen Kirche deutlich auf Distanz gegangen, da sie ihm in der Zeit der
nationalsozialistischen Verfolgung keinen Schutz gewährt hat. Aber dem religiösen Glauben hat er
nie abgeschworen (vgl. Uwe Wolff: „Der Mann, den alle schlagen, diesen schlägst Du nicht“ –
Hans Blumenbergs katholische Wurzeln. In: Communio Bd. 43 (2014), H. 3, 182–198). Er konnte
es auch nicht, wenn man bedenkt, wie nachhaltig ihn die „Weltverstrickung“ Gottes beschäftigt
hat. Blumenberg hatte als Mythologe ein ambivalentes Verhältnis zur Welt. Er fand die Welt
schnöde, beklagte oft ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber, hing aber an ihr als dem Medium der
Lesbarkeit. Was allerdings von Blumenbergs privater Lebenswelt wirklich lesbar ist, darüber
werden sich die Interpreten streiten, solange sie seinen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in
Marbach durchforsten.

Höhlenausgänge und Höhleneingänge


Blumenbergs Höhlenausgänge (1989) liefern neuzeitliche Umformungen des
antiken Höhlengleichnisses, das Platon in seinem Dialog Politeia von Sokrates erzählen lässt. Für
Plato versinnbildlicht die Höhle die Welt, die sich den Sinnen darbietet und die wir mit der Realität
gleichsetzen. Aber das hält Platon für eine Täuschung. Hinter der Welt der vergänglichen
Sinneseindrücke gibt es die intelligible Welt, in der sich die geistig erfassbaren Ideen befinden,
die unwandelbaren Ur- und Vorbilder der materiellen Wirklichkeit. Unter ihnen nimmt die Idee
des Guten den höchsten Rang ein. Zur Idee des Guten muss man vorgedrungen sein, um im
privaten oder öffentlichen Leben vernünftig handeln zu können.

Platons Höhlengleichnis ist lehrreich, aber abstrakt. Es sagt nicht, weshalb und wie die Menschen
in die Höhle gekommen sind. Es ist auch psychologisch vormodern, denn es entspricht nicht der
heutigen Erforschung unserer Innenwelt der Gefühle. Sehen wir im Blick nach innen nur
Schatten, die wir für die alleinige Wirklichkeit unseres Selbst halten? Eine beunruhigende Frage,
auf die es vielleicht doch eine Antwort gibt, die Platons strikte Gegenüberstellung von sinnlicher
und geistiger Welt überwindet. Schließlich gibt es neben dem Logos noch den Eros, der auch in
Platons Dialogen eine bedeutende Rolle spielt. In diesem Licht lässt Platons Höhlengleichnis eine
neue Deutung zu. Die Schatten, die wir Menschen sehen, sind die Reflexe unseres körperlichen
Selbst, die aber nicht nur Schein sind, sondern Ausdruck des Eros, dessen Feuer die Höhle
unserer Intimität erhellt.

Blumenberg, der eine Verschiebung der Metaphysik zur Anthropologie fordert, führt
Interpretationen des Höhlenmythos von Francis Bacon über Descartes und Kant bis zu
Wittgenstein vor. Am Ende formuliert er seine eigene Position im Anschluss an Arnold Gehlen als
Ausdruck der Selbsterhaltung. Dabei bleibt Blumenberg, dessen Auftreten von starker sinnlicher
Ausstrahlung geprägt war, im Rahmen der theoretischen Neugierde. Die Perspektive der
erotischen Kommunikation wird ausgespart. Darauf habe ich Blumenberg in Gesprächen schon
früh aufmerksam gemacht. Im Unterschied zum platonischen Gleichnis, das das Verlassen der
Höhle zum argen Weg der Erkenntnis macht, fungiert in Giambattista Vicos Neuer
Wissenschaft die Höhle als sinnlichen Bedeutungsraum.  Die Höhle, in die sich die Urmenschen
flüchten, um den Unbilden der Außenwelt zu entgehen, ist der Ort, an dem die körperliche
Phantasie ihre symbolische Funktion entwickeln kann. In der Finsternis entstehen soziale Mythen,
die der theoretischen Erkenntnis an lebenspraktischer Bedeutsamkeit überlegen sind
(Fellmann, Das Vico-Axiom, 1976).

In diesem Sinne hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Ethnologe Leo Frobenius in seiner
Schrift Paideuma zwischen „Weltweite“ und „Welthöhle“ unterschieden und entsprechend beim
Lebensgefühl zwischen „Weitengefühl“ und „Höhlengefühl“. Beide Formen der Welterfahrung sind
gleichursprünglich, so dass es keinen Grund gibt, die Höhle zu verlassen. Der Innen und Außen
verbindende Weg, die paideia, die Blumenberg am Ende seiner Arbeit am Höhlenmythos
aufheben will, wird bei Frobenius vom paideuma im Liebesleben lokalisiert (L.
Frobenius, Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre,1921).

Eine extrem sinnliche Lokalisierung erfährt die Höhlenmetapher in Der Bau von Franz Kafka. Die
Höhle, so heißt es dort, befinde sich unter der Erde, und ihr Eingang ist mit Moos bedeckt: „…in
meinen Träumen schnuppert dort oft eine lüsterne Schnauze unaufhörlich herum. Ich hätte, wird
man meinen, dieses Eingangsloch zuschütten können…“ (F. Kafka, Beschreibung eines Kampfes,
S.132). Kafka schüttet das Eingangsloch aber nicht zu – wohl aus gutem Grund. Gustave Courbet
hat den tieferen Grund in seinem Bild Ursprung der Welt veranschaulicht.

Der bekannte Erforscher literarischer Höhlen, Rüdiger Zill, schreibt über den Regisseur Werner
Herzog Die Höhle der vergessenen Träume, wie sehr er von prähistorischen Malereien
beeindruckt war. Zill, der auch ein sensibler Metaphorologe ist, zeigt sich erstaunt darüber, dass
bei Blumenberg die prähistorischen Höhlen nicht vorkommen. Altamira und Lascaux erscheinen
nur in einer Nebenbemerkung, Lascaux wird darüber hinaus falsch datiert und bekommt dadurch
eine schiefe Rolle. Das sei umso erstaunlicher, als Felsmalereien eigentlich für Blumenbergs
anthropologische Interessen hätten aufschlussreich sein müssen (R. Zill, in: Werner Herzog. An
den Grenzen, 2015).

Warum Blumenberg darauf nicht eingeht, ergibt sich daraus, dass seine Höhlenthematik primär
erkenntnistheoretisch ausgerichtet ist. Entsprechend bleibt seine Höhle wie bei Plato ein
Konstrukt ohne körperliche Lokalisierung. Wo und wie man die Höhle findet, sagt Blumenberg
nicht. Anders Werner Herzog, der zeigt, wie der Höhleneingang „erschnüffelt“ werden muss.
Herzog behauptet, dass er die Schnüffelszene selbst erfunden habe. Allerdings nicht ganz, denn,
wie gesagt, die Schnupperszene findet sich schon bei Kafka. Damit dürfte klar sein, was die Höhle
anthropologisch bedeutet. Als Büchse der Pandora enthält sie eine ekstatische Wahrheit, die
Männer um den Verstand bringt und danach manchmal auch zur Einsicht. Die Ekstase erfasst alle
Sinne, und ihre Wahrheit ist nicht die des Logos, sondern des Eros!

Botho Strauß hat in seinem Buch Oniritti Höhlenbilder verschiedene Aspekte der Höhlenmetapher


durchgespielt. So ist die Strauß'sche Höhlenwelt mal Zufluchtsstätte, mal Ort der Unmündigkeit.  Den Aspekt
der individuellen Beschränktheit entwickelt Strauß im Anschluss an Francis Bacon, der in seiner Idolen-Lehre
Höhlenbilder dem individuellen Menschen zuordnet. Jeder steckt demnach in seiner eigenen Höhle des
Nichtwissens, die "das Licht der Natur bricht und verdirbt". Die Höhle  wird in diesem Changieren der
Bedeutung zum Gleichnis für das organische Leben überhaupt.

Wie zu erwarten, nimmt in den Höhlenbildern von Strauß die Beziehung zwischen Mann und Frau eine zentrale
Stellung ein. Eine Sie und ein Er im Gespräch, oder die wankelmütige Cécile und ein "Ich", das dem Autor
ähnelt, unterhalten sich in der Körpersprache. Strauß ist seit jeher ein subtiler Interpret der unergründlichen
Liebesdynamik und aller zugehörigen Abgründe. Die Präzision seiner Beobachtung von Paar-Bindungen macht
ihn zu einem Psycho-Analytiker. Blumenberg ist auch ein Analytiker, aber in seinen Höhlenausgängen bleibt er
beim Trauma der Geburt stehen, das den von Freud beschworenen sexuellen „Wißtrieb“ überdeckt. Übrig bleibt
die karge Subjekt-Objekt-Spaltung, die zur Isolierung des erkennenden Subjekts führt. Insofern sind
Blumenbergs Höhlenausgänge eine Metapher seines eigenen theoretischen Egoismus. Am Ende seines
Schaffens hat sein Eros keinen Ausweg mehr aus der Höhle des Solipsismus gefunden.
Eros als Quelle der Legitimität
Die 1966 erschienene Legitimität der Neuzeit ist zweifellos das Buch, mit dem
Hans Blumenberg seinen Ruf als führender Philosoph in Deutschland begründet
hat. Mit der Verteidigung der Neuzeit als „legitim“ richtet sich Blumenberg
gegen Martin Heidegger, Romano Guardini, Karl Löwith u. a. Herausragend ist
die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, der in seiner Politischen
Theologie (1970) Blumenberg vorwirft, er verkehre den herkömmlichen
Gebrauch des Begriffs, der auf Tradition und Herkunft beruhe. Die
Rechtfertigung der Neuzeit könne nur als „Legalität“ im Sinne der positiven
Rechtssetzung bezeichnet werden.

In seinem Buch Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg (2005) hat Felix


Heidenreich die Rezeption und Diskussion des Neuzeit-Buches ausführlich
dargestellt. Infolge der Vieldeutigkeit des Begriffs „Legitimität“ sieht man den
Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Um hier klarer zu sehen, halte ich einen
Blick auf Goethes Drama Die natürliche Tochter  für hilfreich. Im Drama sind
die Widerstände gegen die geplante Legitimation gewaltig, zumal die Tochter
infolge ihrer Illegitimität ihre  Vorzüge nicht zur Geltung bringen kann. Das
trifft auch auf die Neuzeit zu. Hervorgegangen aus der Säkularisierung werden
ihre Stärken nur unter Vorbehalten anerkannt, und durch die
nationalsozialistische Schreckensherrschaft wurde sie so gründlich
kompromittiert, dass Guardini 1954 ihr Ende verkündet hat. Wie Blumenberg
die neuzeitliche Rationalität dann doch zu legitimieren versucht, ist ein
Konstrukt voller historischer Umwege, die auf seine Aspekte der
Epochenschwelle (1976) verweisen. Denn anders als die Legitimation
nichtehelicher Kinder durch spätere Eheschließung von Vater und Mutter lässt
sich die Geschichte nicht rückgängig machen.

Dolf Sternberger hat schon 1962 in Grund und Abgrund der Macht anhand des
Ost-West-Konflikts dargelegt, dass Legitimität ein universal gültiger Begriff ist
und dass es verschiedene Arten von Legitimität gibt. Offenkundig führt
Blumenberg ein neues Verständnis von Legitimität ein, demzufolge die Neuzeit
sich selbst legitimiert. Das entspricht Edmund Husserls Begriff der
„Selbstgegebenheit“, den Blumenberg anthropologisch zum Prinzip der
Selbstbehauptung erweitert hat. Doch Blumenbergs gleichzeitige Betonung der
Bedeutungsfülle der Welt verweist auf eine andere Quelle, nämlich auf Georg
Simmels Philosophie des Geldes, eines der Lieblingsbücher Blumenbergs, das
er als „Jahrhundertbuch“ in eine Reihe mit Freuds Traumdeutung und
Husserls Logischen Untersuchungen gestellt hat.

Im ersten Kapitel der Philosophie des Geldes, in dem die Auflösung der


Substanz in Relationen dargestellt wird, heißt es in Bezug auf die zeitliche
Gültigkeit eines Gesetzesinhaltes: „Und diese Gültigkeit bezieht er, falls seine
Setzung selbst schon eine legitime und keine willkürliche ist, aus einer schon
vorher bestehenden Rechtsnorm, aus der die Beseitigung des alten
Rechtsinhaltes mit derselben Legalität fließt, wie sein bisheriges Bestehen“
(66). Diesen verklausulierten Satz, der Blumenberg lange beschäftigt hat,
haben wir im Oberseminar über Simmel so interpretiert: Im Hintergrund jeder
Legalität wirkt immer schon eine Legitimität, die durch den Rechtspositivismus
nie ganz ausgelöscht wird. Die Frage, worin die Legitimität der Neuzeit besteht,
blieb allerdings offen. Das rechnende Wesen der Neuzeit, das Simmel
herausstellt, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite wird im Kapitel
„Über das Geldäquivalent personaler Werte“, in dem es um Sexualität und Ehe
geht, angedeutet. Es ist das Verlangen nach unmittelbarem Erleben und echten
Leben, das den auf Funktionalismus programmierten neuzeitlichen Menschen
umtreibt. Ich habe Blumenberg im Rahmen der gemeinsamen Arbeit an
Giordano Bruno schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass der funktionale
Aspekt für die spezifisch neuzeitliche Selbstdarstellung nicht ausreicht. Dass
die Neuzeit ihre Legitimation in sich selbst trägt, verdankt sie einer tief
verborgenen Kraft. Diese äußert sich in der Intensität des Willens zum Leben,
der das Komplement des Willkürgotts bildet, den Blumenberg so hartnäckig
bekämpft hat.

Die Kraft, aus der die Neuzeit ihre Legitimität bezieht, ist die Liebe, die neben
dem Hunger die Welt zusammenhält. Die spontane Liebe, die lange Zeit durch
gesellschaftliche Zwänge unterdrückt wurde, wie an Romeo und Julia
ersichtlich, hat erst im Laufe der Aufklärung Spielraum für soziale Entfaltung
bekommen. Georg Simmel hat diese Entwicklung an der Geschichte der Ehe
verdeutlicht. Allen Formen der Ehe sei zwar der generelle
„Fundamentalvorgang der physiologischen Paarung“ gemeinsam, aber er werde
zugleich „als das Intim-Persönlichste empfunden“, heißt es in
der Soziologie. Die Dialektik des Lebens resultiere aus der Polarität der
Geschlechter, in der Nähe und Distanz sich gegenseitig verstärken.

„Das Leben“, so kann man in Die geistige Gestalt Georg Simmels (1959) von
Margarete Susman lesen, „ist für Simmel schon lange bevor er sich zu ihm
bekannte, immer das Erste gewesen“. Das Ineinander von Leben und Form,
das Simmels Bild vom Menschen als unauflösliche Lebenseinheit zunehmend
geprägt hat, lässt sich durch keine rationale Lebensform vollständig auflösen.
So verhält es sich nach meiner Überzeugung auch mit Blumenbergs
Beschreibung des Menschen. Wie Simmel vom Baum der Erkenntnis zum Baum
des Lebens zurückfindet, wirkt auch bei Blumenberg der Eros im Hintergrund
stärker als der Logos; die sinnliche Metaphorik gibt seiner Reflexionsprosa ihr
besonderes Flair. Die Kraft des Eros als Legitimitätsquelle der Neuzeit ist in
allen späteren Schriften Blumenbergs, so verschieden ihre Themen auch sein
mögen, immer deutlich zu spüren.

Das Bildnis des Hans Blumenberg


„Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers“, wie Wilhelm Genazino in
seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahre 1994 am Beispiel mehrerer
Schriftsteller treffend dargelegt hat. Das bestätigt den Primat der
Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß, der für die literarische Hermeneutik
stets den Satz von Valéry zitiert hat: „Mes vers ont le sens qu’on leur prète“.
Es gibt allerdings Bilder eines Autors, die als second art die Freiheit der
Interpretation einengen. Genau das trifft auf Hans Blumenberg zu. Sein
Selbstbild entspricht Ernst Jüngers Vorstellung von Autor und Autorschaft.
Jüngers Ausspruch, der Autor müsse sich selbst objektivieren und zum Fetisch
machen, hat Blumenberg wie kein anderer seiner Zeit verinnerlicht.

Das einzige zu Blumenbergs Lebzeiten veröffentlichte Foto hat sich in den


Köpfen seiner Leser eingebrannt. Anders als Andy Warhol, der für seine
Bildvariationen das Prinzip der Serie angewandt hat, verfolgte Blumenberg die
Strategie der Vereinzelung, die seinem ausgeprägten Individualismus
entsprach. Er sah im Bildnis die höchste Form des Wahrzeichens und bereitete
damit die Wende der philosophischen Hermeneutik vor, die ich 1991 „imagic
turn“ genannt habe. Allerdings bleibt die Aura bei Blumenbergs Bild auf der
Strecke, da es sich um ein technisch reproduziertes Gebilde handelt, so dass
man geradezu von Erstarrung zum Bild sprechen kann.

Das Foto zeigt die Entstehung des Mythos Blumenberg, zumindest den Versuch
dazu. Der primäre Sinn der Portraitphotographie, nämlich das Abbild eines
realen Menschen, wird überlagert durch einen sekundären Sinn, der diesen
Menschen in etwas anderes verwandelt - in einen Autor, der unsterblich sein
will. Blumenbergs Portrait ist hoch stilisiert und zeigt die typische Pose des
Intellektuellen der Vorkriegszeit, wobei Max Scheler als Vorbild gedient hat.
Schelers Zigarette in der Hand hat sich Blumenberg beim Fototermin
verkniffen, da er als passionierter Zigarrenraucher nach eigenen Aussagen den
mit der Zigarette verbundenen Eindruck der Nervosität und Getriebenheit
vermeiden wollte.

Die Frage drängt sich auf, ob Blumenberg damit das Ziel seiner Arbeit am
eignen Mythos erreicht hat. Statt zum Mythos hat er sich eher zum Idol seiner
Anbeterinnen gemacht, von denen Sibylle Lewitscharow in ihrem
Roman Blumenberg aus Liebeskummer eine hat sterben lassen. Aber vielleicht
zeigt das Foto, dass der Autor sich selbst zu Lebzeiten als Star schon überlebt
hatte. Daran ändert auch nichts der verzweifelte Versuch seiner Nachkommen,
durch Fotos aus den jungen Jahren den realen Blumenberg wieder zum Leben
zu erwecken. Die neuen Fotos bleiben angesichts der Ikone des Übervaters
unbedeutend, sie setzen den Lesern keine andere Brille auf.

Geld und Leben


Theodor Lessing, der von den Nazis ermordet wurde, hat sich gegen die Tendenz von Georg
Simmel gewandt, aus allem und jedem eine Philosophie zu machen. „Was ist nicht ist, wird
ersimmelt“ - diesen bösartigen Satz von Lessing hat Hans Blumenberg häufig gebraucht, wenn er
sich selbstironisch über Schwierigkeiten mit seiner eigenen Produktion äußerte. Der späte Georg
Simmel, so Blumenberg, habe die Lebensphilosophie erfunden, aber der Grundgedanke sei schon
in der Philosophie des Geldes vorhanden (Blumenberg,  „Geld oder Leben. Eine
metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels“, 1974). Worin sieht
Blumenberg die Konsistenz der Philosophie Simmels? Offenbar nicht in einem substantiellen Kern,
sondern im Geld als symbolischer Form, die auf der engen Beziehung zu den menschlichen
Leidenschaften beruht. Die Dynamik ist das gemeinsame Merkmal von Geld („reine Kraft“) und
Leben („mehr als Leben“).  Die Ambivalenz des Geldes macht Leben, diesen unbestimmtesten
der Begriffe Simmels, zur absoluten Metapher der menschlichen Existenz.

Blumenberg war sehr auf Geld erpicht. Er hat uns Assistenten ein dickes Handbuch gegeben, in
dem stand, was man als Hochschullehrer alles steuerlich absetzen kann. Er hat einen richtigen
Kleinkrieg mit dem Finanzamt geführt, in dem es darum ging, ob im privaten Arbeitszimmer ein
Schlafsofa stehen darf. Eine wirklich lustige Geschichte, über die wir uns todgelacht haben. Ob er
das Sofa auch für sein erotisches Leben benutzt hat, darüber hat er nur Andeutungen gemacht.
Immerhin war er in seinem Gefühlsleben ein Erotiker, wie er nicht im Buche steht.

Wie Simmel mit Geld umgegangen ist, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich sparsamer als mit
seiner Erotik. So bedeutsam das Geld im zwischenmenschlichen Verkehr auch ist, Simmels
Entwicklung zum Lebensphilosophen ist durch den Eros vorgezeichnet. Er hatte mit seiner
Geliebten ein uneheliches Kind, dem er nie begegnen wollte, weil er es nicht ertragen konnte, mit
der Verkörperung seiner unkontrollierten Sexualität konfrontiert zu werden. Die Sexualität
bezeichnet er in der Soziologie als das Allgemeinste und zugleich als das Intimste, ein
dialektisches Verhältnis, das die menschliche Existenz ausmacht. Das offizielle Bild, das die
Soziologen von Simmel entwerfen, geht darauf nicht ein, obwohl es der Schlüssel zum
Verständnis der Lebensanschauung Simmels ist.

Meine eigene Lebensphilosophie folgt der Linie des „erotischen Lebens“, auf das Simmel 1918
im Konflikt der Kultur eingeht. Ich habe das im Artikel „Sexualität“ im gerade bei Suhrkamp
erschienenen Simmel-Handbuch näher ausgeführt. In Blumenbergs Schriften ist das Sexuelle nur
latent vorhanden oder bleibt ganz ausgespart. Wahrscheinlich infolge der Nachwirkungen der
katholischen Sexualmoral, die ihn als jungen Priesterkandidaten geprägt hat.    

Der Reiz des Unverstandenen


Blumenberg hat sich von der Philosophie als strenger Wissenschaft, wie sie der Begründer der
Phänomenologie, Edmund Husserl, eingefordert hatte, schrittweise verabschiedet. Daraufhin sind
nicht nur die Studierenden, sondern auch die Münsteraner Bildungsbürger in seine Freitags-
Vorlesung gekommen. Eine Parallele zum Theologen Josef Pieper, der Samstagvormittag im
Fürstenberghaus auf dem Domplatz die Marktbesucher anzog. Ich habe mich immer gefragt,
warum die Menschen in Blumenbergs Vorlesungen geströmt sind, obwohl sie von den Inhalten
seiner Vorlesungen kaum etwas verstanden.

Zur Erklärung habe ich zwei Hypothesen entwickelt. Die erste besagt, dass es sich um eine
subtile Form der Einschüchterung handelt. Blumenberg pflegte unbekannte Autoren oder
unbekannte Aspekte berühmter Autoren so selbstverständlich zu präsentieren, als müsse jeder
Gebildete damit vertraut sein. Mit dieser raffinierten Strategie hat Blumenberg die Hörer am
Philister-Schopf gepackt. Obwohl die Darlegungen für die meisten Hörer kein Thema waren,
haben sie doch gespannt zugehört. Damit haben sie ihr bildungsbürgerliches Gewissen beruhigt.

Ich glaube nach wie vor, dass diese Erklärung etwas Richtiges trifft, sie lässt aber eine Dimension
aus, die meine zweite Hypothese plausibler macht. Sie betrifft den faszinierenden Vortragsstil
Blumenbergs, der über die Unverständlichkeit vieler Inhalte hinweghalf. Der Kulturredakteur der
Westfälischen Nachrichten hat den Eindruck, den Blumenberg auf ihn gemacht hat, in einer Email
an mich prägnant so formuliert: „Ich weiß, ich habe ihn auch genossen. Das Unverstandene hat
oft den größeren Reiz, weil sich das Erkannte oft als bekannt verliert“. Allerdings hat nicht alles
Unverstandene einen besonderen Reiz. Es muss schon mit einer speziellen Form des Ausdrucks
verbunden sein, die beim Hörer die ‚Reizsamkeit‘ anspricht. Das war bei Blumenberg die
Sinnlichkeit, die sprachlich in seinem virtuosen Umgang mit Metaphern zum Ausdruck kam.

Blumenbergs Metaphorologie verweist auf die Tiefendimension des Bewusstseins, wo die religiöse
Frömmigkeit angesiedelt ist. Das hat das Münsteraner Publikum gespürt. Ich habe einmal einen
alten Bekannten, einen gläubigen Katholiken, gefragt, warum er am Freitag immer ins Schloss zu
Blumenbergs Vorlesung gehe. „Da fühle ich mich zuhause“. „Worüber hat er gesprochen?“ „Ich
glaube, es ging um einen alten Kirchenvater namens Origenes oder so ähnlich“. „Hast du das
verstanden?“ „Nicht wirklich.“ „Aber warum gehst du dann hin?“ „Wegen der Sprache.“ „Was
meinst du damit?“ „Seine katholische Rhetorik. Einfach wunderbar, wie in der Lamberti-Kirche.“
Das ist die Kirche mit den eisernen Körben der Wiedertäufer auf dem Prinzipalmarkt in Münster.

Eine aufschlussreiche Äußerung, die treffend beschreibt, was man Blumenbergs „Emanation“
nennen könnte. Ein langjähriger Vertrauter Blumenbergs hat mir bestätigt, dass es die sakrale
Aura des ‚Priesterphilosophen‘ war, welche die katholisch erzogenen Hörerinnen ansprach.
Dagegen fühlten sich protestantisch sozialisierte Hörer vom Blumenberg, in dessen
Rekonstruktion der Entstehung der Neuzeit Martin Luther keine Rolle spielt, eher abgestoßen.
Sein Auftreten war ihnen zu stilisiert und überladen.

Wir frühen Assistenten haben nie etwas vom katholischen Blumenberg wahrgenommen. Sein
Kampf gegen das mittelalterliche Gottesverständnis und seine Legitimation der Neuzeit als
Gegenentwurf zu Romano Guardinis Verkündung vom Ende der Neuzeit schließt aber nicht aus,
dass Blumenberg im Tiefsten doch gläubig war. Darüber ist heute ein heftiger Streit entbrannt,
den ich aber für unfruchtbar halte, da es den Parteien darum geht, sich selbst in Szene zu setzen.
Fakt ist lediglich, dass der späte Blumenberg auf seine Hörerinnen und Hörer die besagte quasi-
religiöse Wirkung ausgeübt hat.

Die Wirkung wäre wohl kaum eingetreten, wenn seine Seele nicht vom Glauben erfüllt gewesen
wäre. Allerdings nicht vom Glauben an den allmächtigen Gott der Christen, mit dem er gehadert
hat, auch nicht an den Gott der Philosophen, der den Zustand der Welt nicht rechtfertigen kann,
sondern vom Glauben an das Göttliche in der Lebenswelt. Blumenberg hat viel über den
Gottesbegriff räsoniert. Es geht dabei meist um die Rechtfertigung der Leiden, die der
Allmächtige zulässt. Unterschwellig aber geht es um die Frage nach dem irdischen Glück.
Blumenberg war in seiner Ethik dem Hedonismus Epikurs zugeneigt, den er über sein
Lieblingsbuch „De rerum natura“ von Lukrez verinnerlicht hatte. Dadurch stand seine
Lebensanschauung dem mythischen Gott der Liebe, dem Eros, nahe, den er als lichtspendenden
Weltschöpfer verstand.

Blumenberg hat zwar selten direkt über den Eros gesprochen, da ihn die Sexualität als das immer
Gleiche langweilte. Aber das Erotische kommt doch zur Sprache, häufig im Hinblick auf Sigmund
Freuds Konzept der Sublimierung, gelegentlich in seinen Kommentaren zu Arthur Schnitzler. In
den Tagebuchaufzeichnungen zu seiner gescheiterten Ehe gebraucht Schnitzler die Metapher der
‚Letzten‘ (Frau), von der er sagt: „Die Letzte kommt nie“. Dazu Blumenberg: „Erotisch ist lange
alles aus, wenn man noch den Ausgang fürchtet“. Blumenberg war ein übervorsichtiger,
furchtsamer Mensch. Die ihm eigene jüdische Gottesfurcht hat seine erotische Aura religiös
getönt. Sein ganzes Philosophieren war ein sinnlich-übersinnliches Gespräch, das in seinem
Nachlass endlos weitergeht. Ich jedenfalls nehme als gelernter „Erosoph“ an diesem Gespräch
mit Gelassenheit teil, da ich den Ausgang nicht mehr fürchte.

Der abwesende Philosoph


„Licht auf die dunkle Seite des Mondes“ titeln die Westfälischen Nachrichten zum Film über Hans
Blumenberg. Ein „netter Fan-Film“, so der Tenor, der neugierig auf seine Schriften machen kann,
der aber den philosophischen Geist nicht sichtbar macht. Beeindruckend ist sicherlich die
filmische Technik, die jedoch die inhaltlichen Schwächen nicht kompensiert, eher noch verstärkt.
Der Titel Der unsichtbare Philosoph ist eine Anspielung darauf, dass Blumenberg außer in seinen
Vorlesungen selten in der Öffentlichkeit aufgetreten ist und dass er von seinem Privatleben nichts
preisgegeben hat. Sein einziges offizielles Foto, das ihn in Denkerpose zeigt, hat er als eine Art
Tarnkappe benutzt. Wenn der Film ihn nun doch als Privatmensch sichtbar zu machen versucht,
so ist das nicht unproblematisch. Aus zweierlei Gründen. Einmal wegen der grundsätzlichen
Frage, ob ein Film für die Darstellung einer Person, die der Wort- und Schreibkultur verpflichtet
ist und von der es keine Filmaufnahmen gibt, das geeignete Medium ist. Spezieller sodann, wer
die Regie übernimmt, ohne das Bild der dargestellten Person zu verzerren.

Blumenberg ist auf Fotos zu sehen, die der Film direkt präsentiert und verstärkt arrangiert. Das
erhöht die Sichtbarkeit, macht Blumenberg aber nicht anwesend. Auch der Versuch, ihn durch
Orte, an denen er sich aufgehalten hat, und durch Personen, mit denen er verkehrt hat, zu
vergegenwärtigen, führt nur begrenzt zum Ziel. Denn „gegenwärtig“ ist kein reales Prädikat,
sondern bezeichnet die Art, wie jemandem etwas mental präsent ist. Der Film vergegenwärtigt
Blumenberg lediglich denjenigen Zuschauern, die ihn persönlich gekannt haben und sich an ihn
erinnern. Für alle diejenigen, die Blumenberg nicht life erlebt haben, wird er durch den Film zwar
bekannt, aber nicht gegenwärtig, geschweige denn anwesend.

Was kann den abwesenden Philosophen im Medium Film anwesend machen? Stehen die Orte für
den Menschen? Haben die auftretenden Schüler und Verehrer den Abwesenden anwesend
gemacht? Wohl kaum, es bleibt bei der Selbstdarstellung der Protagonisten und beim Gerede
über Blumenberg. Wenn auch seine Stimme aus Mittschnitten seiner Vorlesungen ertönt, kommt
er selbst nicht wirklich zu Worte. Es bleibt eine Stimme aus dem Nichts. Hierin liegt die Paradoxie
der filmischen Darstellung.  Der Film will Gedanken lebendig machen, als persönliche Äußerung
präsentieren, aber die Person bleibt abwesend. Die Worte klingen eigentümlich hohl, die Inhalte
verflüchtigen sich. 

Was die Regie betrifft, hinterlässt der Film bei den wenigen, die Blumenberg noch aus
Begegnungen und Gesprächen kennen, ein Gefühl des Unbehagens. So jedenfalls geht es mir als
einem der letzten noch lebenden Assistenten der ersten Generation. Das Spurensuche-
Roadmovie auf Autobahnen verfehlt den Lebensstil Blumenbergs völlig. Die Szene von
neugierigen Begaffern eines Verkehrsunfalls ist keine adäquate Transposition von Blumenbergs
„Schiffbruch mit Zuschauer“. Auch der Porsche des Freundes, den der junge Blumenberg
bewunderte, ist kein Symbol seiner philosophischen Mentalität. Er fuhr gern Auto, das ist wahr,
am liebsten aber mit seinem alten DKW. Diesen bezeichnete er wegen des Leerlaufs seines
Zweitaktmotors selbstironisch als das für einen Philosophen angemessene Fortbewegungsmittel.
Um von seinem Wohnort Altenberge nach Münster und zurück zu fahren, ging es über
Landstraßen, auf denen er nur langsam fahren konnte. Und die Sonnenbrille war kein Zeichen
eines überzogenen Selbstwertgefühls, sondern er brauchte sie wegen seines Heuschnupfens.

Über meinem Schreibtisch hängt eine Vergrößerung des offiziellen Bildes, das zu Blumenbergs
Lebenszeit das einzig bekannte war: Big brother is watching you! In dem einen Bild, möchte ich
sagen, ist die ganze Philosophie von Blumenberg zusammengefasst, der nicht müde wurde zu
philosophieren, um nicht spurlos unterzugehen im Strom der Zeit. Spuren in der Welt zu
hinterlassen, war sein größter Wunsch. Das eine Bild hat dazu beigetragen, die Sonderstellung
Blumenbergs in der akademischen Szene sichtbar hervorzuheben. Aber davon hängt auf lange
Sicht seine Rezeption nicht ab. Blumenberg selbst hat immer betont, dass die Rezeption ein
Selbstläufer ist. Man müsse sie den Werken überlassen, die für sich selbst sprechen und die Leser
anspricht. Wenn dagegen die Rezeption durch interessierte Personen und Institutionen in eine
bestimmte Richtung gelenkt wird, dann läuft sie aus dem Ruder. Diesen Eindruck jedenfalls
macht der Film auf Kenner Blumenbergs. Ich bin davon überzeugt, dass man dem Philosophen
am ehesten gerecht wird, wenn man seine Theoreme kritisch weiterdenkt. Das versuche ich mit
meinen Blumenbergiana, auch wenn ich damit von der Fangemeinde als Störenfried und
Außenseiter angesehen werde.

Blumenberg und die Zukunft der Gesellschaft


Im Internet findet sich derzeit (Februar 2019) folgende Eintragung:
Hans Blumenberg: Neue Zugänge zum Werk. Internationales Symposion am
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin vom 10.–12.
Oktober. Dazu hat mir ein Mitglied der Blumenberg-Gesellschaft geschrieben:
"Im Oktober ist ja das große Blumenberg-Volksfest am ZfL". Das ist
wahrscheinlich scherzhaft gemeint, aber die Formulierung wirft doch Licht auf
die lockere Art, wie Blumenberg von Menschen der jüngeren Generation, die
den Philosophen weder gehört noch persönlich gekannt haben, rezipiert wird.
Der neuzeitgemäßen Rezeption kommt entgegen, dass Blumenberg selbst kein
streng systematischer Denker war, sondern ein Philosoph, der Lebensthemen
in verschiedenen Stillagen behandelt hat. Doch so offen Blumenbergs
thematischer Kanon auch war, seine Attitüde blieb immer streng akademisch.
Daher ist zu bezweifeln, ob er die angekündigte Volksfest-Stimmung
gutgeheißen hätte. Wenn er hörte, dass seine Gesellschaft mit ihm ein
Oktoberfest veranstaltet, würde seine Asche aus der Ostsee wieder aufsteigen
und der Zorn des Philosophen als Aschenregen über Berlin niedergehen.

Was für Menschen sind die posthumen Verehrer Blumenbergs? Intellektuelle


ohne ausgeprägte religiöse, politische oder ideologische Bindungen, also
Menschen, die den Individualisierungsschub der von Ulrich Beck beschriebenen
‚anderen Moderne‘ verinnerlicht haben. Durch den Wegfall autoritärer Vorbilder
sind sie unbehaust und sehen in Blumenberg einen Idealtypus, an dem sie sich
in der Suche nach Sinn orientieren können, ohne etwas von ihrem liberalen
Lebensstil aufzugeben. Da Blumenberg sich auf keinen absoluten Sinn festlegt,
bleibt die Sinnsuche im Status literarischer Unverbindlichkeit, ein
historistisches Glasperlenspiel, das kein konkretes Engagement erfordert. Mit
der Entlastung vom Absoluten führt die Arbeit am Mythos zu einem säkularen
Polytheismus, wie ihn Odo Marquard im Anschluss an Blumenberg gelobt hat.
Aber das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der verborgene Gott des
neuzeitlichen Polytheismus der Eros ist, der in der Konsum- und
Spaßgesellschaft zum Verlangen nach emotionalen Höhepunkten geworden ist.
Diesem Verlangen verdankten Blumenbergs öffentliche Auftritte ihre
Faszination. Um nicht missverstanden zu werden: Blumenbergs erotische Aura
hatte nichts von sexueller Anmache - darin unterschied er sich von Jacob
Taubes sexueller Obsession, von der mir Margaritha von Brentano bei einem
Treffen in Hamburg detailliert berichtet hat -, sondern war immer eine
rhetorische Mischung von Nähe und Distanz.

Hier drängt sich mir ein Vergleich mit der „psychoanalytischen Bewegung“
Sigmund Freuds auf, mit dem sich Blumenberg intensiv beschäftigt hat. Er hat
an Freud die aufklärerische Seite hochgeschätzt. Allerdings ist Freuds Suche
nach Wahrheit, sein Vernunftglaube nicht ganz so rein, wie er selbst meinte.
Sie wurde gespeist aus seinem unbändigen Verlangen, anerkannt zu werden
und als Begründer der Psychoanalyse in die Geschichte einzugehen. Im
Gegensatz zu Freud hat sich Blumenberg von der Suche nach Wahrheit
verabschiedet und auf den Wirklichkeitsbegriff Edmund Husserls
zurückgezogen. Der „von der Phänomenologie explizierte Wirklichkeitsbegriff“,
so eine Formulierung Blumenbergs, verlangt keine streng definierten Begriffe,
sondern stützt sich auf Metaphern, die in ihrer Vieldeutigkeit leichter zu
handhaben sind als der Begriff. Doch auch Blumenbergs Beschreibung der
Lebenswirklichkeit geschah nicht allein um der Sache selbst willen, sondern
war von einem übermäßigen Verlangen angetrieben, bleibende Spuren zu
hinterlassen und von der Nachwelt als Begründer der Metaphorologie
anerkannt zu werden. Zwar hat sich Blumenberg politisch nie eingemischt,
indirekt aber war sein Schaffen auf geistige Weltveränderung, auf einen
zukünftigen ‚Weltglauben‘ ausgerichtet.

In der Wirkungsgeschichte spielt die Blumenberg-Gesellschaft eine wichtige


Rolle. Sie ist keine ‚metaphorologische Bewegung‘, wie es die streng
hierarchisch organisierte psychoanalytische Bewegung war. Sie ist aber auch
nicht so offen und egalitär strukturiert, wie sie vorgibt, sondern eher elitär. Sie
spricht mehr rechts gerichtete Denker an, im Unterschied zu den
Linksintellektuellen, die der Kritischen Theorie von Jürgen Habermas
verbunden sind.  Das ist die logische Konsequenz aus Blumenbergs
Geisteshaltung, die trotz seiner thematischen Vielfalt etwas Autoritäres hatte,
was seinem ausgeprägten Konservatismus entsprach. Hier liegt die Paradoxie
des heutigen Blumenberg-Rezeption. Die Verehrer Blumenbergs fühlen sich
von begrifflichen Zwängen befreit, sehen aber in „HB“ den geistigen Führer, der
sie ins gelobte Land der Unbegrifflichkeit führt. Ob allerdings Mythos und
Metapher geeignete Medien für das ‚Lebenswissen‘ der Zukunft sind, wie die
Gesellschafter meinen, bleibe dahingestellt. Meines Erachtens bedarf es zur
‚Errettung der physischen Wirklichkeit‘ (Sigfried Kracauer) eines direkteren
Zugangs als Blumenbergs Umwege, einer einfacheren Sprache, wie sie
heutzutage in der Reportage üblich ist. Insofern gehört Blumenbergs
Reflexionsprosa in die noch ungeschriebene ‚Geistesgeschichte des
Unsichtbaren‘, von der er erwartete, dass sie das Unsichtbare sichtbar mache.
Es bleibt zu hoffen, dass die Blumenberg-Gesellschaft den abwesenden
Philosophen ins rechte Licht rückt.

Der halbierte Assistent


Ein bekannter Filmemacher, den der Blumenberg-Film 2018 zu sehr an den
unsichtbaren oder unmanifesten (nirgun) Guru erinnert, hat mir
vorgeschlagen, mit mir als ehemaligem Assistenten von Hans Blumenberg
einen Film zu drehen. Dieser Vorschlag hat mich zunächst begeistert. Ich sah
mich schon als Hauptdarsteller in einem philosophischen Film mit dem Titel
DER ASSISTENT. Darin hätte ich an einigen mir vorliegenden Reliquien
demonstriert, was Blumenberg in der Freizeit beschäftigt hat: Märklin-
Kataloge, Briefmarken, Zeitungsausschnitte und Rezepte aus dem
Lieblingskochbuch Was Männern so gut schmeckt. Besonders das Rezept für
die Zubereitung einer Ente à l’orange hatte es ihm angetan. Auch würde ich in
den Büchern blättern, die er mir "mit freundlichem Gruß" überreicht hat, und
auch in den Büchern, die ich ihm geliehen hatte. Darunter POP und die Folgen!
Visualisiert von Vostell, worin viel ‚nackte Wahrheit‘ gezeigt wird, die zu
Blumenbergs bevorzugten Metaphern gehört. Dieses Buch würde neben einer
Zigarrenkiste (den Aschenbecher habe ich leider nicht) auf seinem alten
Holzschreibtisch liegen, zusammen mit einigen Blättern seiner Diktate, die
seine Sekretärin Ute Vonnegut unermüdlich getippt hat. Schließlich würde ich
als sein Doppelgänger in Altenberge bei Münster vom Grünen Weg zu den
Weiden gehen, wo er nachts immer die Kühe aufgeschreckt hat. Ein
phantastisches Projekt!

Blumenberg pflegte zu sagen: „Jeder hat den Assistenten, den er verdient“.


Von den Assistenten der ersten Generation war ich derjenige, der ihm oft
provozierend gegenübergetreten ist. Mit seiner Ablehnung der analytischen
Philosophie der Amerikaner war ich nicht einverstanden. Im Tiefsten aber war
ich mit ihm seelenverwandt. Bei persönlichen Problemen habe ich ihn oft in
Blankenstein angerufen; die Telefonnummer habe ich heute noch im Kopf:
4972. Dabei habe ich gelernt, dass man die Liebe nur durch Geschichten
versteht. Öfter hat Blumenberg den antiken Roman Chaireas und
Kallirrhoe erwähnt, über den sein Adlatus Karl-Heinz Gerschmann dann in
Münster promoviert hat. Das gehört zu den Geschichten, in die wir beide
verstrickt waren („Wirgeschichten“, wie sie Wilhelm Schapp genannt hat), ohne
dass die anderen etwas davon mitbekommen haben.

Dass Blumenberg mich intensiver und emotionaler als die übrigen Assistenten
wahrgenommen hat, dafür habe ich kürzlich eine überraschende Bestätigung
bekommen. Der Engelforscher Uwe Wolff, der Blumenberg persönlich kannte,
hat mir zwei Fotos eines halbierten Luftpostcouverts geschickt, von mir
handgeschrieben mit Blumenbergs Adresse auf der Vorderseite und meinem
Absender auf der Rückseite. Es ist das Couvert von einem Brief, den ich
Blumenberg am 22. März 1977 aus einem Krankenhaus in Ajaccio geschickt
habe, wo ich infolge eines schweren Verkehrsunfalls mit gebrochenen Beinen
lag. Auf meine Frage, wieso das Couvert so akkurat halbiert ist, hat mir Wolff
geantwortet: 

„HB hat in der Schublade seines Schreibtisches jene Briefmarken gesammelt,


die er von den Briefen mit der Schere entfernt hat. Es finden sich also nur die
Marken. In Ihrem Fall hat er nicht nur die Marke ausgeschnitten, sondern die
Adresse und den Absender. Ich denke, das ist ein Zeichen großer
Anhänglichkeit an seinen Assistenten. HB war doch ein sentimentaler Mann,
der über eben diese Gefühle aber nicht sprechen konnte. Er besaß das
Tränencharisma.“

Ich habe diese Auskunft an einen Kenner des Nachlasses von Blumenberg,
Rüdiger Zill vom Einstein-Forum in Potsdam, weitergeleitet. Von ihm habe ich
die subtile Antwort erhalten:  

„Frei nach Italo Calvino: der halbierte Assistent? Na, wir wollen das mal nicht
psychoanalytisch deuten.“

Natürlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, es im Sinne von Freuds
Ödipuskomplex doch psychoanalytisch zu deuten. Das Ergebnis behalte ich
aber lieber für mich. Ich habe daraufhin Rüdiger Zill von meinem Film-Projekt
vorgeschwärmt, allerdings mit dem Vorbehalt, dass ich vielleicht verrückt sei.
Darauf hat er mir geantwortet:

„Nein, lieber Fellmann, verrückt sind Sie nicht, dass Sie Blumenbergs Erbe als
DER ASSISTENT lebendig halten wollen - halbiert oder nicht“.

Als „Erosoph“, wie ich mittlerweile tituliert werde, bin ich in der Tat halbiert -
Logos auf der einen Seite, Eros auf der anderen. Als Mensch aber fühle mich
noch ganz, insbesondere wenn ich, wie heute beim Betrachten alter Fotos, eine
sentimentale Reise in die gemeinsame Vergangenheit unternehme: Memories
are made of this. Ich weiß nicht, ob sich Blumenberg am leidvollen Ende seines
Lebens als ganzer Mensch gefühlt hat. Das weiß nur Gott, mit dem er gehadert
hat. Um nicht als Wiedergänger meines akademischen Mentors im Kino
herumzugeistern, habe vom ‚verrückten‘ Film-Projekt definitiv Abstand
genommen und lenke stattdessen meine Aufmerksamkeit auf Blumenbergs
Texte, die mich zum kritischen Weiterdenken anregen.

Metaphorologie als Utopie


Blumenbergs Hauptanliegen war die Rehabilitierung der Metapher, die er als „irreduzible
Denkform“ bezeichnet. Er hat keine eigene Strukturanalyse der Metapher vorgelegt, sondern er
knüpft an den Symbolbegriff in Kants Kritik der Urteilskraft an. Die Theorien der analytischen
Philosophie (Max Black u. a.) hat er nicht aufgenommen, auch die semantischen
Differenzierungen der strukturalen Linguistik bleiben unberücksichtigt. Die Paradigmen zu
einer Metaphorologie (1960) sind stoffgeschichtlich orientiert und ein ergänzender Teil der
Begriffsgeschichte, der rein definitorischen Bestrebungen distanziert gegenübersteht. Er gibt
zahlreiche Beispiele für die hermeneutische Funktion von Metaphern, die eine neue Sichtweise
auf die Welt eröffnet haben. Ein prominentes Beispiel ist „die nackte Wahrheit“, die Heideggers
Begriff der Wahrheit als „Unverborgenheit“ (aletheia) ins Bildliche übersetzt.

Neben Metaphern, die sich auf die Erkenntnistheorie beziehen, hat sich Blumenberg hinsichtlich
der Praxis mit „Daseinsmetaphern“ beschäftigt, insbesondere mit dem Schiffbruch, dem er ein
ganzes Buch gewidmet hat (Schiffbruch mit Zuschauer, 1979). Im Anhang heißt es: „Deshalb
wird eine Metaphorologie, will sie sich nicht auf die Leistung der Metapher für die Begriffsbildung
beschränken, sondern sie zum Leitfaden der Hinblicknahme auf die Lebenswelt nehmen, nicht
ohne die Einfügung in den weiteren Horizont einer Theorie der Unbegrifflichkeit auskommen“
(82f.). Zur Theorie der Unbegrifflichkeit ist es bei einem „Ausblick“ geblieben. Worauf der
Ausblick verweist, bleibt unbestimmt, nur die Nähe zu Sigmund Freuds psychoanalytischer
Aufdeckung des Unbewussten ist spürbar.

Mit dem Begriff „Metaphorologie“, den Blumenberg erfand, hat er das Minimum dessen erreicht,
was man noch Wissenschaft nennen kann. Über den Status der Metaphorologie haben wir oft
gesprochen. Heute ordne ich sie dem Geist der Utopie zu, mit dem sich Blumenberg unter dem
Titel „Utopische Utopien“ kritisch auseinandergesetzt hat (Begriffe in Geschichten, 1998. 100-
102). Dabei mokiert er sich über die „konkrete Utopie“, mit der Ernst Bloch den von Karl Marx
beschriebenen Endzustand der klassenlosen Gesellschaft verteidigt. So dürftig die Passage bei
Marx sich auch ausnimmt, sie trifft doch das reale Alltagsleben und ist daher so meta-utopisch
nicht, wie Blumenberg meint.
Blumenbergs Auffassung von Utopie unterscheidet sich von Thomas Morus, auf dessen Insel
Utopia die Wünsche des Individuums der Gemeinschaft untergeordnet sind. Darüber hat
Blumenbergs Mitarbeiter Karl-Heinz Gerschmann regelmäßig Seminare abgehalten. Wie einseitig
diese Perspektive war, wird deutlich, wenn man sie mit Karl Mannheims wissenssoziologisch
erweitertem Begriff der Utopie vergleicht. Mannheim hat Utopie mit Ideologie in Verbindung
gebracht und Wege zu „wirklicher Utopie“ aufgezeigt (Utopie und Ideologie,1929ff.). Demnach ist
Utopie die Sichtweise von Menschen, denen eine bessere Welt vorschwebt. Daher halte ich es
nicht für abwegig, Blumenbergs Metaphorologie der Gattung ‚Utopische Utopien‘ zuzuordnen. Für
ihn gab es keine ‚Pfade aus Utopia‘, wie sie der Soziologe Ralf Dahrendorf beschrieben hat. Die
Metaphorologie löst Kategorien in Vorstellungsbilder auf, die im „Absolutismus der Wirklichkeit“
keinen Ort haben.

Wie existentiell die Metaphorologie für Blumenberg war, hat mir seine harsche Reaktion gezeigt,
als ich die Meinung vertrat, dass in der systematischen Philosophie Metaphern durch klar
definierte Begriffe ersetzt werden sollten. Blumenberg hielt das für nicht möglich und auch nicht
für wünschenswert, denn in der Philosophie gehe es nicht um definitive Bedeutungen, sondern
um „Bedeutsamkeit“ - ein Prinzip, das Erich Rothacker seiner Kulturanthropologie zugrunde
gelegt hat. In diesem Sinne war Blumenbergs Erfindung der Metaphorologie Ausdruck seines
ausgeprägten Möglichkeitssinnes, der zu den negativen Utopien des 20. Jahrhunderts gehört.

Der utopische Charakter der Metaphorologie ist, soviel ich weiß, bisher nicht thematisiert worden,
wohl deshalb, weil Blumenbergs Ausführungen eine Qualität von Unbestimmtheit haben, die auf
seine Leser umso bestimmender wirkt. Die Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit
macht die Paradoxie der Metaphorologie aus, wobei die Gleichursprünglichkeit von vorstellendem
Bewusstsein und objektiven Gegenständen den Geist in ästhetischer Schwebe hält. Die
Metaphorologie wird zur Flucht aus der Kategorie, von Klarheit und Deutlichkeit als Kriterien der
Wahrheit ganz zu schweigen. Ein Jenseits der Metapher gibt es für Blumenberg nicht; seine
Betrachtung der Metapher ist wie die ‚absolute Metapher‘ selbst metaphorisch und nicht restlos
begrifflich auflösbar. Es bleibt also dabei: Metaphorologie ist keine strenge Wissenschaft wie
Husserls Logische Untersuchungen, auch keine radikale Sprachkritik wie
Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, sondern eine ästhetische Utopie.

Mythologie als Ideologie


Neben der Metaphorologie richtete sich Blumenbergs Denken auf die Rehabilitierung des Mythos,
den er formal mit der Metapher verbindet. Für den Begriff des Mythos lehnt er sich an Ernst
Cassirer an, der den Mythos als symbolische Form der Weltaneignung auffasst. Unübersehbar ist
die Nähe zu Leszek Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos (1974), wo es um den Nachweis
geht, dass bei Entmythologisierungsprogrammen immer ein mythischer Rest bleibt, der Theorien
eine existentielle Bedeutung verleiht. Blumenberg kannte das Buch von Kolakowski, hat es in
seiner Arbeit am Mythos (1979) aber nicht erwähnt, wohl um die Eigenständigkeit seines
Ansatzes hervorzuheben. Dazu hat mir der langjährige Blumenberg-Hörer Uwe Wolff
geschrieben: „Ich hatte Kolakowski viel gelesen, auch sein Mythos-Buch, bevor ich in HBs
Freitagsvorlesungen ging. Neben mir saß über Jahre der Übersetzer von Kolakowski, ein Belgier
mit Namen Jacques Dewitte. Was ihn bei aller Faszination an Blumenberg störte, war die
‚Vollmacht‘, aus der er predigte. Diese schien ihm nicht frei von Selbstherrlichkeit, die bestimmte
Quellen des eigenen Denkens verschweigt. Dewitte wetterte über Blumenberg, ohne in seiner
Bewunderung nachzulassen. Er war eben selbst ein echter Sohn der Katholischen Kirche“.

Gespräche über das Thema Mythos habe ich mit Blumenberg wiederholt geführt, wobei ich auf
die besondere Rolle italienischer Denker hingewiesen habe. Zu Fontenelles De l’origine des
fables hatte ich ein Referat gehalten, aus dem später mein Aufsatz „Mythos und Moral bei
Giordano Bruno“ hervorgegangen ist. Darin heißt es, Bruno unterscheide sich von aufklärerischer
Mythenkritik dadurch, dass er bestimmte Formen kosmologischen Denkens positiv gelten lässt
(PH IV, 247). Blumenberg hat daraufhin in der Legitimität der Neuzeit (1966) den „Nolaner“ zur
Leitfigur der neuzeitlichen Epochenwende gemacht.

Ferner habe ich Vicos Scienza Nuova, der zufolge Mythen Aufschluss über die „Natur der
menschlichen Dinge“ geben, im Laufe meiner Arbeit am Vico-Axiom Blumenberg nahegebracht.
Er hat das in seinem Buch Arbeit am Mythos (1979) aufgenommen, allerdings ohne den
soziologischen Aspekt von Vicos Theorie des Mythos zu vertiefen (412ff.). Auch die Interpretation
von Georges Sorels Theorie des sozialen Mythos als „Endmythos“ (246-248) berücksichtigt den
Rückgriff auf Vico nicht. Ich habe das in meinem Aufsatz „Mythos in Institutionen: Vico und
Sorel“ (1988) nachgeholt.

Blumenberg hat den Mythos dem Dogma gegenübergestellt. Dem ist entgegengehalten worden,
dass der griechische Mythos durchaus dogmatisch war, da er den Herrschenden dazu diente,
bestimmte politische Verhältnisse zu legitimieren (PH IV, 534). Dass die Götter nicht nur
leichtlebig, sondern auch blutdürstig sind, hat Anatole France in seinem Roman von 1912
eindrucksvoll dargestellt. Das trifft auch auf den modernen Mythos zu, der dazu benutzt wird, auf
die kollektive Mentalität einzuwirken. Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts ist für
die Manipulierbarkeit des Mythos durch die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus ein
abschreckendes Beispiel.

Im Abschnitt „Mythen und Dogmen“ der Arbeit am Mythos verdeutlicht Blumenberg seine


Antithese von Mythologie und Dogmatismus am Unterschied zwischen den zahlreichen Göttern
des griechischen Mythos und dem einzigen Gott des jüdisch-christlichen Monotheismus. Dabei
kritisiert er Rudolf Bultmanns Abkehr vom Mythos und hält das Kerygma für den unauflöslichen
Rest des Entmythologisierungsprogramms. Aber auch Blumenbergs Apotheose der
mythologischen Evidenz ist nicht ohne ein Residuum seiner theologischen Prägung. Die
Entmythologisierung hebt die Bindung der Offenbarung an die mythischen Geschichten nicht
völlig auf, und die Rehabilitierung des Mythos kommt ohne theologische Dogmatik nicht aus.
Insofern sind Mythos und Dogma keine Gegensätze, sondern sich wechselseitig stützende
Denkformen.
Das Ineinander von Mythos und Dogma entspricht Karl Mannheims wissenssoziologischem Begriff
der Ideologie. Mannheim versteht Ideologie als in sich geschlossene Weltsicht, die dazu führt,
dass Teile der Realität ausgeblendet werden. In dieser Funktion gehört Ideologie zu den sozialen
Legitimationsstrategien. Genau das trifft auf die Mythologie zu. Blumenberg hat zwar keine
Mythologie in Analogie zur Metaphorologie entwickelt, sondern sich auf „Arbeit am Mythos“
zurückgezogen. Aber dieser Titel der Bescheidenheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er
den Mythos zur Verteidigung seiner konservativen Lebensanschauung eingesetzt hat. Die
„Wirklichkeiten, in denen wir leben“, nimmt Blumenberg als in sich einstimmigen Kontext von
Relationen wahr, die außerhalb ihrer selbst keine Bedeutung haben. Denn für Blumenberg gilt,
was T. S. Eliot einmal so formuliert hat: „Human kind cannot bear very much reality“.

Die ideologische Seite seiner Theorie des Mythos passt zur Biographie Blumenbergs, der als
junger Mann unter der totalitären Ideologie des Nationalsozialismus gelitten hat. Im Nachhinein
hat ihm der Mythos als defensive Denkform der Vergangenheitsbewältigung gedient. Mit dem
Mythos hat er sich auch gegen die Linksintellektuellen zur Wehr gesetzt, von der er sich in Form
der ‚Kritischen Theorie‘ von Habermas angegriffen fühlte. Darin ist er Ernst Jünger gefolgt,
dessen Marmorklippen Blumenberg als Beispiel anführt, wie jemand „durch reine Geistesmacht
Widerstand zu leisten“ in der Lage ist (Arbeit am Mythos, S. 15). Entsprechend habe ich
Blumenbergs Philosophieren als „Überlebenskunst eines Mythologen“ bezeichnet (Lebenskunst im
20. Jahrhundert, hrsg. von G. Gödde, Paderborn 2014, 215ff.). Insofern ist Blumenberg ein Beleg
dafür, dass Mythologie in Ideologie umschlägt, die sich die Wirklichkeiten, in denen Menschen
leben müssen, vom Leib hält – auch eine Form der ästhetischen Rechtfertigung der Welt.

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