Stochastische Integration

Die Theorie der stochastischen Integration befasst sich mit Integralen und Differentialgleichungen in der Stochastik

Die Theorie der stochastischen Integration befasst sich mit Integralen und Differentialgleichungen in der Stochastik. Sie verallgemeinert die Integralbegriffe von Henri Léon Lebesgue und Thomas Jean Stieltjes auf eine breitere Menge von Integratoren. Es sind stochastische Prozesse mit unendlicher Variation, insbesondere der Wiener-Prozess, als Integratoren zugelassen. Die Theorie der stochastischen Integration stellt dabei die Grundlage der stochastischen Analysis dar, deren Anwendungen sich zumeist mit der Untersuchung stochastischer Differentialgleichungen beschäftigen.

Geschichte

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Schon Norbert Wiener untersuchte Integrale von deterministischen Integranden   bezüglich der brownschen Bewegung der Form[1]

 

und mehrdimensionale stochastische Integrale dieser Form. Itō Kiyoshi verallgemeinerte diese Resultate und die moderne Theorie der stochastischen Integration baut im Wesentlichen auf seiner Arbeit auf. 2000 wurde ein versiegelter Umschlag von Wolfgang Döblin aus dem Jahre 1940 geöffnet. Darin befanden sich Resultate über die stochastische Integration, die er Itō Kiyoshi vorwegnahm. Döblin verstarb allerdings im selben Jahr, weshalb die Arbeit unentdeckt blieb.

Stochastische Integration

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Es existieren verschiedene stochastische Integralbegriffe.

Generell muss, um klassische stochastische Integrale zu konstruieren (Wiener, Itō, Stratonowitsch), der Integrand   gewisse Kriterien der Messbarkeit und Integrierbarkeit erfüllen. Sei hier   der Raum der  -adaptierten, stetigen lokalen Martingale   mit  . Für   mit   definiert man den L2-Hilbert-Raum der Äquivalenzklassen von  , wobei   für   durch

 

definiert ist (die Norm wird durch   induziert). Die richtige Wahl der Integranden sind die  -integrierbaren progressiv-messbaren  . Möchte man allgemeiner gegen nicht-stetige Semimartingale integrieren, dann muss man die Klasse der Integranden auf vorhersagbare Prozesse beschränken.[2]

Integralbegriff nach Wiener

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Sei   der klassische Wiener-Raum ausgestattet mit dem Wiener-Maß  . Sei   ein Funktional auf  , dann nennt man

 

Wiener-Integral.[3][4] Allgemein werden Integrale einer deterministischen Funktion bezüglich eines Wiener-Prozesses so bezeichnet.

Integralbegriffe nach Itō und Stratonowitsch

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Itō-Integral

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Das Itō-Integral ist zunächst für Semimartingale   und für elementare vorhersagbare Prozesse definiert, d. h. für (an eine Filtration   adaptierte) stochastische Prozesse   der Form

 

durch

 

Die elementaren Prozesse können alternativ auch allgemeiner mit Stoppzeiten anstelle von deterministischen Zeitpunkten   definiert werden.

Sei   der Raum der adaptierten Càglàd-Prozesse und   der Raum der elementaren vorhersagbaren Prozesse. Wir nennen die Topologie, welche durch die gleichmäßige Konvergenz auf kompakten Mengen in Wahrscheinlichkeit erzeugt wird, die UCP-Topologie (UCP für englisch uniformly on compact in probability). Man kann nun zeigen, dass   in der UCP-Topologie dicht in   liegt. Damit lässt sich das stochastische Integral (als lineare Abbildung  ) auf   fortsetzen. Konkret: Das Ito-Integral eines Prozesses   ist also definiert als der Grenzwert

 

für jede Folge von Prozessen  , die gegen   konvergieren (bzgl. der UCP-Topologie). Die Definition ist in der Tat unabhängig von der gewählten Folge.

In der allgemeinsten Formulierung werden als Integratoren Semimartingale   und als Integranden vorhersagbare Prozesse   zugelassen (die zusätzlich gewisse Integrierbarkeitsbedingungen erfüllen). Sind die Integratoren   zusätzlich stetig, genügt es für die Integranden   progressiv-messbar (und in  ) zu sein.

Als Folge der (abstrakten) Konstruktion des Integrals erhält man folgenden anschaulicheren Zusammenhang:

Seien   ein Semimartingal und   ein adaptierter Càdlàg- oder Càglàd-Prozess. Dann gilt für jede Folge reeller Zahlen   mit   und für jede Folge   von Partitionen des Intervalls   mit   die Konvergenz

 

in Wahrscheinlichkeit  , wobei   (die linkstetige Version von  ) und  . Dies lässt sich auch kompakter schreiben als

 

Die Aussage gilt sogar allgemeiner für Folgen von random partitions tending to the identity, was aber mehr Notation für die Definition des Begriffs erfordert.[5]

Stratonowitsch-Integral

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Für ein Semimartingal   und ein adaptierter Càdlàg-Prozess  , sodass die quadratische Kovariation   existiert, kann man das Stratonowitsch-Integral oder Fisk-Stratonowitsch-Integral (nach Ruslan Leontjewitsch Stratonowitsch und Donald Fisk) definiert durch

 

wobei   das Itō-Integral und   die Sprungstelle von   an der Stelle   sind. Daraus folgt ähnlich wie beim Ito-Integral eine anschaulichere Darstellung des Integrals: Seien   und   wie in der obigen Definition und gelte zusätzlich, dass   und   keine Sprünge zum gleichen Zeitpunkt haben, d. h.  . Dann gilt für jede Folge reeller Zahlen   mit   und für jede Folge   von Partitionen des Intervalls   mit   die Konvergenz

 .

Auch hier gilt die Aussage noch allgemeiner für sequences of random partitions tending to the identity.

Vergleich der Integrale

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Beim Itō-Integral wird der Integrand   also stets am Anfang des  -Intervalls ausgewertet, bei Stratonowitsch werden der Anfangs- und Endwert gemittelt. Bei gewöhnlichen (Riemann- oder Lebesgue-) Integralen von deterministischen (nicht zufälligen) und hinreichend glatten (beispielsweise stetigen) Funktionen hat dies keinen Einfluss auf das Ergebnis, doch im stochastischen Fall gilt: Sind   und   nicht unabhängig, so kann das tatsächlich zu verschiedenen Werten führen (siehe Beispiel unten).

 
Eine Brownsche Bewegung   und das Integral von  

Verallgemeinerungen

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Integralbegriff nach Ogawa

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Der Integralbegriff ist für nicht-adaptierte Integranden. Man bildet eine Zufallsreihe mit Hilfe eines orthonormalen Systems im  -Hilbertraum und lässt diese dann gegen das Ogawa-Integral konvergieren. Der entsprechende Kalkül wird nicht-kausales Kalkül genannt.[6]

Integralbegriff nach Marcus

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Eine Verallgemeinerung des Fisk-Stratonowitsch-Integrals auf allgemeine Semimartingale mit Jumps ist das Marcus-Integral. Stochastische Differentialgleichungen mit diesem Integralbegriff nennt man vom Marcus-Typ. Marcus entwickelte ein Kalkül, welches auf dem Kalkül von McShane basiert.[7]

Integralbegriff nach Hitsuda-Skorochod

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Eine Erweiterung des Itō-Integrals auf nicht-adaptierte Prozesse ist das Hitsuda-Skorochod-Integral.[8] Das Integral ist ein Spezialfall des adjungierten Operators des Ableitungsoperator der Malliavin-Ableitung. Im Falle der Integrierbarkeit bezüglich der brownschen Bewegung und der Adaptierbarkeit des Integranden erhält man gerade das Itō-Integral. Alternativ lässt sich das Integral auch über die Wiener-Chaos-Zerlegung definieren.

Integralbegriff nach Walsh

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Das Walsh-Integral ist ein Integral bezüglich eines Martingal-Maßes um stochastische partielle Differentialgleichungen zu studieren. Das Integral wurde von John B. Walsh eingeführt. Von Robert C. Dalang existiert eine Erweiterung für distributionelle Integranden.

Beispiele

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  • Sei   ein (Standard-)Wiener-Prozess. Trivialerweise   für  .
  • Sei   ein (Standard-)Wiener-Prozess. Zu berechnen ist das Itō-Integral  . Schreibt man der Kürze halber   und benutzt man die Identität
 
so erhält man aus obiger Integrationsvorschrift
 
Benutzt man nun einerseits, dass   gilt, sowie andererseits die Eigenschaft, dass   i.i.d.  -verteilt ist (wegen der unabhängigen, normalverteilten Zuwächse der Brownschen Bewegung), so folgt mit dem Gesetz der großen Zahlen für den hinteren Grenzwert
 
Um das entsprechende Stratonowitsch-Integral zu berechnen, nutzt man die Stetigkeit der Brownschen Bewegung aus:
 
Itō- und Stratonowitsch-Integral über demselben Prozess führen also zu verschiedenen Ergebnissen, wobei das Stratonowitsch-Integral eher der intuitiven Ahnung aus der gewöhnlichen (deterministischen) Integralrechnung entspricht.

Martingaleigenschaft

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Der bei weitem am häufigsten verwendete Integrator   ist eine Brownsche Bewegung. Der entscheidende Vorteil, den das Stratonowitsch-Integral nicht hat und der letztendlich dazu führte, dass sich das Itō-Integral weitgehend als Standard durchgesetzt hat, ist die folgende Eigenschaft:

Sei   ein Lévy-Prozess mit konstantem Erwartungswert,   eine nicht vorgreifende beschränkte Funktion von   und   (d. h., für jedes   ist   messbar bezüglich der σ-Algebra  , die von den Zufallsvariablen   erzeugt wird), so ist der Prozess
 
ein lokales Martingal bezüglich der natürlichen Filtrierung von  . Unter zusätzlichen Beschränktheitsbedingungen ist der Integralprozess sogar ein Martingal.

Anwendung: Itō-Prozess

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Ausgehend vom Itōschen Integralbegriff ist es nun möglich, eine breite Klasse von stochastischen Prozessen zu definieren: Demnach wird ein stochastischer Prozess   mit   Itō-Prozess genannt, wenn es eine Brownsche Bewegung   mit   und stochastische Prozesse  ,   gibt mit

 

wobei angenommen wird, dass die beiden Integrale existieren.[9] In Differentialschreibweise wird diese Gleichung als

 

notiert. Ein Itō-Prozess kann also als verallgemeinerter Wiener-Prozess mit zufälligem Drift und Volatilität angesehen werden.

Das Prädikat „  ist ein Itō-Prozess“ wird somit zu einem stochastischen Pendant zum Begriff der Differenzierbarkeit. Ausgehend hiervon wurden dann von Itō selbst die ersten stochastischen Differentialgleichungen definiert.

Hängen der Driftkoeffizient   und der Diffusionskoeffizient   nicht von der Zeit ab, so spricht man von Itō-Diffusion – hängen sie zusätzlich von der Zeit ab, so liegt dagegen ein allgemeinerer Itō-Prozess vor.

Durch zahlreiche Anwendungen in der mathematischen Modellierung, insbesondere in der statistischen Physik und der Finanzmathematik, hat sich der Itō-Kalkül inzwischen zu einem unverzichtbaren mathematischen Werkzeug entwickelt.

Siehe auch

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Literatur

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  • J. Jacod, A. Shiryaev: Limit theorems for stochastic processes. Springer, Berlin.
  • P. Protter: Stochastic integrals and differential equations. Springer, Berlin.

Einzelnachweise

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  1. J. L. Doob: Wiener's work in probability theory. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Bulletin of the American Mathematical Society. Band 72, 1966, S. 69–72 (projecteuclid.org).
  2. Daniel Revuz und Marc Yor: Continuous Martingales and Brownian Motion. In: Springer (Hrsg.): Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Band 293, 1999 (englisch).
  3. Alexandre Joel Chorin: Accurate Evaluation of Wiener Integrals. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Mathematics of Computation. Band 27, Nr. 121, 1973, S. 1–15.
  4. Norbert Wiener: Generalized harmonic analysis. In: Acta Math. Band 55, 1930, S. 117–258.
  5. Philip Protter: Stochastic Integration and Differential Equations A New Approach. 2. korrigierte Auflage. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg 1990, ISBN 978-3-662-02619-9, S. 49–51, 57, 216, 228 (302 S.).
  6. S.Ogawa: Sur le produit direct du bruit blanc par lûi-même. In: C. R. Acad. Sci. Série A Paris t. Band 288, 1979, S. 359–362.
  7. Steven Marcus: Modeling and approximation of stochastic differential equation driven by semimartigales. In: Stochastics. Band 4, 1981, S. 223–245.
  8. A. V. Skorokhod: On a Generalization of a Stochastic Integral. In: Theory of Probability & Its Applications. Band 20, Nr. 2, 1976, S. 219–233, doi:10.1137/1120030.
  9. Hui-Hsiung Kuo: Introduction to Stochastic Integration. Springer, 2006, ISBN 978-0-387-28720-1, S. 102 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).