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Arkadien erwacht
Arkadien erwacht
Arkadien erwacht
eBook479 Seiten6 Stunden

Arkadien erwacht

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Über dieses E-Book

Die Einsamkeit Siziliens birgt düstere Mythen und Legenden. Raubtiere jagen menschliche Beute in den Hügeln. Raubtiere, die sich hinter der Maske verfeindeter Mafiaclans verbergen.

Als eine Tragödie Rosa aus New York nach Italien führt, ahnt sie nicht, dass sie viel mehr ist als nur ein Mädchen auf der Flucht. Bis sie Alessandro begegnet. Seine kühle Anmut, seine animalische Eleganz faszinieren und verunsichern sie. Nach den Gesetzen der Mafia müsste er ihr Todfeind sein – doch dann stoßen sie gemeinsam auf das uralte Geheimnis ihrer Familien.

Die Arkadien-Trilogie
Band 1: Arkadien erwacht
Band 2: Arkadien brennt
Band 3: Arkadien fällt
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Juli 2024
ISBN9783959918084
Arkadien erwacht
Autor

Kai Meyer

Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

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    Buchvorschau

    Arkadien erwacht - Kai Meyer

    Arkadien erwacht

    Arkadien erwacht

    Band 1 der Arkadien-Trilogie

    Kai Meyer

    Drachenmond Verlag

    Copyright © Kai Meyer 2009

    Copyright © dieser Ausgabe 2024 by

    Drachenmond Verlag GmbH

    Auf der Weide 6

    50354 Hürth

    https://www.drachenmond.de

    E-Mail: [email protected]

    Layout Ebook: Stephan Bellem

    Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski

    Bildmaterial: Shutterstock

    Die Übersetzung des einführenden Zitats stammt aus

    Angela Carter,

    Die Braut des Tigers, in: Blaubarts Zimmer. Märchen aus der Zwischenwelt,

    übersetzt von Sybil Gräfin Schönfeldt © 1982 by Rowohlt Verlag GmbH,

    Reinbek bei Hamburg – mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

    Originalcopyright © 1979 by Angela Carter

    ISBN 978-3-95991-808-4

    Alle Rechte vorbehalten

    Inhalt

    Das letzte Kapitel

    Rosa

    Alessandro

    Der Clan

    Fleischfresser

    Feindschaft

    Bestiarium

    Das Buch des Sklaven

    Fundling und Sarcasmo

    Isola Luna

    Gaias Geheimnis

    Das Mädchen an der Kette

    Familienfehde

    Tiger und Schlange

    Kaltblüter

    Wilde Hunde

    Castello Carnevare

    Das Ende der Straße

    Regenschatten

    Jagdtrieb

    Die Zwinger

    Die Arkadischen Dynastien

    Das Haus im Wald

    Rom

    Schwestern

    Dunkelkuss

    Katzenherz

    Nachtfahrt

    Das Amphitheater

    Der Racheschwur

    Iole

    Am Meeresgrund

    TABULA

    Verbündete

    Der Pakt

    Haus der steinernen Augen

    Das Rätsel von Messina

    Versprechen

    Das verborgene Zimmer

    Verrat

    Die Erbin

    Überläufer

    Das Monument

    Die Ruinen

    Blut fließt

    Der Spitzel

    Im Dunkel

    Panthera

    Zoes Botschaft

    Das Geheimnis

    Zwei Tiere

    Eine Nachricht

    Der Abschied

    Epilog

    Drachenpost

    Für Steffi

    Er knurrte hinten in der Kehle, senkte seinen Kopf, ließ sich auf die Vorderpfoten nieder, fauchte, zeigte mir seine rote Kehle, seine gelben Zähne.

    Und jeder Schlag seiner Zunge riss mir eine Haut nach der anderen fort, all die Häute eines Lebens in der Welt, und übrig blieb eine eben geborene Patina aus glänzenden Haaren. Meine Ohrringe wurden wieder zu Wasser und sickerten mir auf die Schultern; ich schüttelte die Tropfen aus meinem wunderschönen Fell.

    Angela Carter, Die Braut des Tigers

    Das letzte Kapitel

    Eines Tages«, sagte sie, »fange ich Träume ein wie Schmetterlinge.«

    »Und dann?«, fragte er.

    »Lege ich sie zwischen die Seiten dicker Bücher und presse sie zu Worten.«

    »Was, wenn jemand immer nur von dir träumt?«

    »Dann sind wir beide vielleicht schon Worte in einem Buch. Zwei Namen zwischen all den anderen.«

    Rosa

    Über dem Atlantik weckte sie die Stille. Sie kauerte mit angezogenen Knien auf ihrem Sitz, verbogen und verdreht von fünf Stunden Enge. Die Fenster des Flugzeugs waren verdunkelt, die meisten Passagiere schliefen unter grauen Decken.

    Keine Stimmen, keine Laute. Sie brauchte einen Moment, ehe sie den Grund erkannte.

    Ihr Kopfhörer schwieg.

    Ein Blick aufs Display ihres iPods: Alles gelöscht, mehrere Wochen Musik mit einem Schlag verschwunden. Nur ein einziges Genre war noch da, ein einziger Interpret, ein einziges Lied. Eines, das sie nie zuvor gehört und sicher nicht selbst aufgespielt hatte. Sie klickte sich noch einmal durch das Menü.

    Andere.

    Scott Walker.

    My Death.

    Sonst nichts. Alles weg.

    Leere passte gut zum Neubeginn ihres Lebens.

    Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und hörte My Death als Endlosschleife, die nächsten drei Stunden bis zur Landung in Rom.

    Am Flughafen Fiumicino erfuhr Rosa, dass ihr Anschlussflug nach Palermo wegen eines Lotsenstreiks ausfiel. Die nächste Maschine ging in fünfeinhalb Stunden. Sie war hundemüde und My Death rotierte in ihrem Kopf nun auch ohne Ohrstöpsel.

    Während der Wartezeit musste sie das Terminal wechseln. Mit ihrem Handgepäck stand sie schläfrig auf einem endlosen Laufband. Draußen war es noch dunkel, sechs Uhr am Morgen, und das hell erleuchtete Innere des Korridors spiegelte sich in riesigen Fensterscheiben. Rosa sah sich selbst auf dem Band, das lange blonde Hexenhaar zerzaust wie immer, ganz in Schwarz gekleidet, und die Schatten um ihre eisblauen Augen so dunkel, als hätte sie zu viel Kajal benutzt. Tatsächlich war sie ungeschminkt. Seit der Nacht vor einem Jahr ließ sie die Finger von Make-up.

    Das Trägertop betonte ihre puppenhafte Gestalt. Zu klein und zu schmal für ihre siebzehn Jahre. Aber jetzt sah sie eine Familie hinter sich auf dem Band, mit dicken Kindern und dicken Lunchpaketen, und sie war froh, dass sie dünn und appetitlos und eben anders und so schwierig auf die Welt gekommen war.

    Eine Schwangere stand vor ihr. Rosa hielt Abstand, ohne der Gruppe hinter ihr zu nahe zu kommen. Im Flugzeug hatte sie trotz aller Enge ihren eigenen Sitzplatz gehabt, um den sie in Gedanken einen Käfig gebaut hatte. Ihre kleine Welt am Fenster. Aber hier am Boden war alles in Bewegung; zu viele Menschen, zu großes Durcheinander, um klare Grenzen zu ziehen.

    Sie steckte wieder die Stöpsel ins Ohr. Ein rätselhaftes Lied, das nach einem schwarz-weißen Europa klang, nach alten Filmen mit Untertiteln. Nach Gangstern in schwarzen Anzügen auf hitzedurchglühten Strandpromenaden und nach wunderschönen Französinnen mit Sonnenhüten, die von eifersüchtigen Liebhabern erdrosselt wurden.

    Das Lied hätte nicht My Death heißen müssen, um sie auf solche Gedanken zu bringen. Es war etwas im aufgepeitschten Drama der Musik, im Klang der tiefdunklen Männerstimme. Todessehnsucht mit einem Beigeschmack von eisgekühlten Martinis.

    My death waits like

    A bible truth

    At the funeral of my youth

    Weep loud for that

    And the passing time.

    Sie träumte von verwischten Blutstropfen auf den Decks weißer Mittelmeerjachten, von melancholischem Schweigen zwischen Liebenden unter südlicher Sonne.

    Das Laufband spie sie in die überfüllte Wartehalle.

    Andere trugen zur Sicherheit Elektroschocker oder Pfefferspray. Rosa hatte sich einen Tacker gekauft, in einem Eisenwarenladen an der Baltic Street, Ecke Clinton. Die Idee dahinter war simpel: Ein Stromschlag ist unangenehm, hinterlässt aber keine Spuren. Sie hingegen konnte einem Angreifer erst mal zwei, drei Eisenklammern in den Körper tackern. Dann musste er sich überlegen, ob er es mit ihr aufnehmen oder nicht doch lieber die Klammern aus seiner Haut ziehen wollte. Genug Zeit, um ihm eine zu verpassen. Beim letzten Mal hatte sie sich einen Fingernagel abgebrochen. Unangenehm.

    Den Tacker hatte sie mit ihrem Koffer aufgeben müssen. Ihre schwarze Jacke trug sie in der linken Hand; die ausgebeulte Seitentasche verriet, wo sie das Ding sonst aufbewahrte. Der Anblick störte sie, weil etwas fehlte. Neurotisch, hätte ihre Schwester Zoe gesagt. Rosa beschloss die Tasche mit etwas zu füllen. Ihr Blick fiel auf einen Süßigkeitenstand am Rand der Wartehalle. Der Verkäufer lehnte dahinter an der Wand und döste mit halb geöffneten Augen. Außer der Familie vom Laufband hatte in der letzten halben Stunde niemand etwas gekauft.

    Rosa stand von ihrem Platz auf und schlenderte hinüber. Ihr hellblondes Haar war noch verwuschelter als sonst; es hing ihr weit ins Gesicht und verdeckte die äußeren Augenwinkel. Ihr Minikleid hatte einmal Zoe gehört und war Rosa zu groß, der Saum reichte bis zu den Knien. Der Blick des Verkäufers glitt daran hinab zu ihren dünnen Beinen in den schwarzen Strumpfhosen. Sie endeten in klobigen Schuhen mit Metallkappen, die sie eng um die Knöchel geschnürt hatte. Wenn sie zutreten musste, wollte sie nicht, dass sie abfielen. Wie peinlich wäre das.

    »Willkommen in Italien, Signorina«, sagte er in akzentschwerem Englisch. Er trug eine Mütze, die aussah wie ein Papierschiffchen, und weiß-rote Kleidung. Sie verstand nicht, warum lächerliche Hüte jemanden dazu verführen sollten, mehr Schokolade zu kaufen, aber irgendwer musste sich darüber Gedanken gemacht haben.

    »Ciao. Den da bitte.« Sie suchte einen Riegel aus, den letzten dieser Sorte, und bemerkte, dass der schwarze Nagellack auf ihrem Zeigefinger abgesplittert war. Sie schob rasch den Mittelfinger darüber, aber der sah nicht viel besser aus. Offenbar hatte sie im Schlaf wieder an etwas gekratzt.

    Der Verkäufer hatte ein nettes Gesicht und seine Freundlichkeit hatte nichts Zudringliches. Er bückte sich, um einen neuen Riegel hinter der Theke hervorzufischen. Sie nutzte es aus, um unbemerkt vier andere in die Jackentasche zu stopfen. Dann bezahlte sie den einen, den er ihr hinhielt, schenkte ihm ein Lächeln und ging zurück zu ihrem Platz zwischen den überfüllten Stuhlreihen.

    Eines der dicken Touristenkinder saß darauf und grinste sie herausfordernd an. Sie wünschte sich den Tacker herbei, sagte aber nichts und suchte sich ein freies Stück am Boden unter dem Fenster. Sie legte sich mit angezogenen Knien auf ihre Jacke, zupfte ihr Kleid zurecht, schob sich die schwarze Reisetasche unter den Kopf und schloss die Augen.

    Als sie erwachte, war es hell und die Schokolade unter ihrem Körper geschmolzen. Sie warf alle Riegel ungeöffnet fort, den bezahlten und die vier gestohlenen. Der Junge auf ihrem Platz sah fassungslos zu, wie die Süßigkeiten im Abfall verschwanden. Der Verkäufer winkte ihr zu, als sie an ihm vorüberging. »Schöner Hut«, sagte sie.

    Bei der Kontrolle am Gate sprach eine Stewardess sie an. Norditalienerin, dem Dialekt nach.

    »Rosa Alcantara?« Die Frau war zu stark geschminkt und sah aus, als würde sie sich nach einer Notlandung als Erste in Sicherheit bringen, um ihr Deo aufzufrischen.

    Rosa nickte. »Das ist der Name, der da draufsteht, oder?«

    Die Stewardess blickte auf das Ticket, tippte etwas in einen Computer und sah Rosa mit gerunzelter Stirn an.

    »Ich war’s nicht«, sagte Rosa.

    Die Runzeln vertieften sich.

    »Die Granaten in meinem Koffer. Muss mir einer untergeschoben haben.«

    »Nicht witzig.«

    Rosa zuckte gleichgültig die Achseln.

    »Wir haben Sie ausrufen lassen. Über Lautsprecher.«

    »Ich hab geschlafen.«

    Die Stewardess schien zu überlegen, ob Rosa wohl Drogen nahm. Hinter ihr in der Schlange plärrte ein Kind. Jemand murrte ungeduldig. Eine zweite Flugbegleiterin schleuste die übrigen Passagiere an Rosa vorbei. Alle starrten sie an, als hätte man sie bei dem Versuch ertappt, die Maschine zu kapern.

    »Also?«, fragte Rosa.

    »Ihr Koffer –«

    »Ich sag’s doch.«

    »– ist versehentlich beschädigt worden. Beim Transport. Schwer beschädigt.«

    Rosa blinzelte. »Kann ich Ihren Laden dafür verklagen?«

    »Nein. Das steht in den Geschäftsbedingungen.«

    »Ich komme also ohne saubere Sachen in Sizilien an?« Und ohne Musik. Nur mit My Death.

    »Die Gesellschaft bedauert den Verlust –«

    So siehst du aus.

    »– und er wird Ihnen selbstverständlich erstattet.«

    »Ich hatte wahnsinnig teure Klamotten.« Sie strich über das alte Kleid ihrer Schwester, das sie seit zwei Jahren auftrug.

    Die Stewardess verzog den Mund, ihr Kinn verschrumpelte. Es sah aus wie ein Pfirsichkern. »Wir haben Experten, die das feststellen können.« Und fast genüsslich fügte sie hinzu: »Anhand der Überreste.« Sie händigte Rosa ein Formular aus. »Rufen Sie die Nummer an, die daraufsteht, dann wird man Ihnen weiterhelfen. Unten können Sie Angaben zum Inhalt des Gepäckstücks machen.«

    »Darf ich jetzt ins Flugzeug?«

    »Natürlich.«

    Als die Frau ihr die Bordkarte zurückgab, streiften Rosas Finger ihr Handgelenk. »Danke.«

    Unten im Bus, eingezwängt zwischen anderen Passagieren, öffnete sie die Hand. Darin lag ein goldener Armreif. Rosa steckte ihn einer Japanerin in die Jackentasche und schob sich die Stöpsel ins Ohr.

    Sie waren eine Dreiviertelstunde in der Luft, als der Mann neben ihr den Rufknopf für das Bordpersonal betätigte.

    Überraschung, Überraschung, dachte Rosa, als die Stewardess vom Gate auf dem Gang erschien.

    »Die Signorina weigert sich, die Jalousie vor dem Fenster zu öffnen«, sagte er. »Ich möchte die Wolken sehen.«

    »Und sich dabei über mich beugen«, bemerkte Rosa, »und in meinen Ausschnitt glotzen.«

    »Das ist lächerlich!« Der Mann sah sie nicht an.

    Der Blick der Stewardess streifte zweifelnd ihr schwarzes Top.

    »Das wird noch«, sagte Rosa beruhigend, »keine Sorge.«

    »Ich will doch nur die Wolken sehen«, wiederholte der Mann.

    »Mein Fensterplatz, meine Jalousie.«

    »Irrtum. Das Fenster gehört nicht zu Ihrem Platz.«

    »Und die Wolken nicht zum Unterhaltungsprogramm.«

    Der Mann wollte sich aufplustern, aber die Stewardess lächelte mit dem Liebreiz einer Schaufensterpuppe. »Zwei Reihen weiter vorn ist ein Platz am Fenster frei. Den kann ich Ihnen anbieten. In ein paar Minuten bringe ich Ihnen einen Sekt vorbei. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.«

    Der Mann öffnete unwirsch seinen Gurt und zwängte sich mit leisen Beschimpfungen hinaus auf den Gang.

    »Wir Frauen müssen zusammenhalten«, sagte Rosa.

    Die Stewardess schaute sich um, glitt auf den frei gewordenen Sitz und senkte die Stimme. »Hör zu, Kindchen. Ich kenne solche wie dich … Gib mir meinen Armreif.«

    »Welchen Armreif?«

    »Den du mir gestohlen hast. Die Frau in der letzten Reihe hat dich beobachtet.«

    Rosa erhob sich halb und blickte über die Schulter. »Die mit den Diamantohrringen?«

    »Gib ihn mir und wir vergessen das Ganze.«

    Rosa sank zurück auf den Sitz. »Wenn diese Frau Ihre Tochter beschuldigen würde, irgendwelche Klunker gestohlen zu haben, würden Sie das dann glauben?«

    »Versuch nicht –«

    »Warum tun sie’s dann bei mir?«

    Die Stewardess funkelte sie wütend an, schwieg einen Augenblick, dann erhob sie sich. »Ich melde das dem Kapitän. Bei der Landung in Palermo werden die Carabinieri auf dich warten.«

    Rosa wollte etwas erwidern, aber eine Stimme aus der Reihe vor ihr war schneller: »Das glaub ich kaum.«

    Rosa und die Stewardess wandten gleichzeitig die Köpfe. Ein Junge in Rosas Alter blickte über die Rückenlehne und schenkte ihnen einen ernsten Blick. »Ich hab einen Armreif am Gate liegen sehen. Auf dem Boden, gleich da, wo Sie gestanden haben.«

    Rosa lächelte die Stewardess an. »Sag ich doch.«

    »Kommt schon, das ist –«

    »Aussage gegen Aussage.« Er rieb sich den Nasenrücken. »Und was die Polizei angeht – so einfach ist das nicht. Der Kapitän wird Sie darüber belehren. Übrigens wartet der Mann in der Reihe vor mir auf seinen Sekt.«

    Die Stewardess machte den Mund auf und zu wie ein Fisch, stand mit einem Ruck auf und ging.

    Er schien die Frau im selben Moment zu vergessen und sah Rosa neugierig an. Abwartend.

    »Warum kümmerst du dich nicht um deinen Scheiß?«, fragte sie freundlich.

    Alessandro

    Er sah gut aus, keine Frage.

    Dabei besagte die Wahrscheinlichkeit genau das Gegenteil: Falls einem wirklich mal jemand zu Hilfe kam, sah er niemals gut aus. Kein norwegischer Popstar. Nicht mal der aknenarbige Quarterback vom Highschool-Team. Nur irgendein Kerl mit fettigen Haaren und Mundgeruch.

    Er aber war anders.

    Rosa musterte ihn zwei, drei Sekunden lang, dann stand sie auf. »Moment.«

    Sie glitt hinaus auf den Gang und ging langsam zur letzten Reihe. Die Frau mit den Diamantohrringen blickte von ihrer Illustrierten auf.

    »Falls das Flugzeug bei der Landung zerschellt«, sagte Rosa zuckersüß, »dann stehen die Chancen zweiundneunzig zu acht, dass alle Passagiere im hinteren Teil der Maschine lebendig verbrennen.«

    »Ich weiß nicht, was Sie –«

    »Wir anderen weiter vorn überleben wahrscheinlich. Vor allem die Bösen. Das Leben ist ungerecht und der Tod ist ein richtiger Scheißkerl. Trotzdem weiterhin guten Flug.«

    Ehe die Frau etwas erwidern konnte, war Rosa schon wieder unterwegs zu ihrem Platz.

    Der Junge hatte die Unterarme auf seiner Kopfstütze übereinandergelegt und beobachtete, wie sie sich setzte. »Was hast du zu ihr gesagt?«

    »Dass wir bald landen.«

    Seine Augen waren ungewöhnlich grün. Ihre eigenen waren gletscherblau, sehr hell. Falls er sie darauf ansprach, würde sie ihn ignorieren. Einfach so tun, als wäre er gar nicht da. Viel zu langweilig.

    »Tut mir leid wegen deines Koffers«, sagte er, aber es klang nicht besonders mitfühlend. »Ich hab’s gehört, ich stand hinter dir.«

    »Hast du ihn kaputt gemacht?«

    »Nicht, dass ich wüsste.«

    »Dann braucht’s dir auch nicht leidzutun.«

    Sie unterzog ihn einer Begutachtung, weil er ihr keine andere Wahl ließ. Die Jalousie zur Vorderreihe war noch nicht erfunden. Und er machte keine Anstalten, sich wieder hinzusetzen.

    Er sah nicht sehr sizilianisch aus, auch wenn man ihm anhörte, dass er auf der Insel aufgewachsen war. Vielleicht war er nur froh, die Sprache wieder benutzen zu können, und betonte deshalb den Dialekt. Sie erinnerte sich jetzt, dass sie ihn schon am Flughafen in New York gesehen hatte. Ferien bei Verwandten, vielleicht. Oder Rückkehr nach einem Auslandssemester. Allerdings war er nicht viel älter als sie. Demnach konnte er noch keine italienische Uni besuchen. Vielleicht war es umgekehrt: Er ging in den Staaten aufs College und besuchte seine Familie in Italien.

    Sein Gesicht kam ihr vertraut vor, auch wenn sie nicht hätte sagen können, ob sie ihm vor der Abreise schon einmal begegnet war. Eine schmale gerade Nase, dichte dunkle Brauen. Ein Aufblitzen von Zynismus in seinen Augen und um seine Mundwinkel. Er hatte winzige Grübchen, auch ohne zu lächeln. Seine Haut besaß einen leichten Goldton, ganz im Gegensatz zu ihrer eigenen. Rosa wurde niemals braun, trotz ihres italienischen Vaters. Den irisch-amerikanischen Teint hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Nichts sonst, hoffte sie inständig.

    Sein dunkelbraunes Haar sah aus, als wäre er eben erst mit den Händen hindurchgefahren. Die strubbeligen Strähnen umrahmten ein Gesicht, das sie jetzt, als sie in Gedanken einen Schritt zurücktrat, darauf brachte, dass er etwas Aristokratisches an sich hatte. Nicht, dass sie Adelige von irgendwoher als aus dem Fernsehen kannte. Aber das Wort fiel ihr unwillkürlich zu ihm ein. Noch eine Spur mehr Symmetrie, ein wenig mehr Ebenmaß und Perfektion, dann wäre er beinahe zu schön gewesen, auch wenn sich seine Züge in den nächsten zwei, drei Jahren noch entwickeln mochten, vielleicht ein wenig rauer und härter wurden.

    »Störe ich dich beim Lesen?« Er deutete auf das eingerollte Magazin, das sie zwischen Armlehne und Bordwand geschoben hatte. Sie kannte nicht mal den Titel. Sie hatte einfach eines von den Stapeln am Einstieg genommen, nur weil sie da lagen. Ihr üblicher Impuls.

    »Nein«, sagte sie, zog das Heft aber hervor und legte es auf ihren Schoß.

    »Interessant?«

    Das amüsierte Blitzen in seinen Augen ließ sie seinem Blick auf das Titelbild folgen. Ein Ratgebermagazin für Männer. Zehn Tricks, um SIE glücklich zu machen stand als Aufmacher unter dem Foto eines Paares, beide wie aus Wachs gegossen. Und klein gedruckt: So bekommt SIE nie genug.

    Rosa sah zu ihm auf. »Ich schreibe für die. Tipps und Erfahrungsberichte. Jemand muss es ja machen.«

    »Ich soll dich in Ruhe lassen, oder?«

    »Dann würde ich sagen: Kümmer dich um deinen Kram.«

    Sein Blick wurde schattig. Er drehte sich um und wollte sich setzen.

    »Hey«, sagte sie.

    Er schaute über die Schulter.

    »Warum fliegst du nach Sizilien?«

    »Familienangelegenheiten.«

    Damit verschwand er aus ihrem Blickfeld. Sie hörte, wie er sich auf seinem Sitz zurechtrückte. Seine Rückenlehne vibrierte leicht gegen ihre Knie und erzeugte ein ganz sanftes Kribbeln in ihren Beinen. Zugleich bekam sie eine Gänsehaut.

    Sie schlug das Magazin auf und studierte die zehn Tricks.

    Glücklicher machte sie das nicht.

    Während der Landung in Palermo erspähte sie durch den Spalt zwischen den Vordersitzen, wie die Adern und Sehnen auf seinem Handrücken hervortraten. Seine Finger waren fest um die Armlehne geschlossen. Er hatte schmale, gebräunte Hände mit gepflegten Nägeln. Auf der anderen Seite seines Sitzes, zur Bordwand hin, schaute ein Stück seiner Lederjacke hervor. Rosa musste sich nicht einmal anstrengen, um in die Seitentasche zu blicken.

    Einen Moment später hielt sie seinen Reisepass in den Fingern. Alessandro Carnevare. Drei Monate älter als sie, in ein paar Wochen würde er achtzehn. Geboren in Palermo. Seine Postanschrift war auffällig: Castello Carnevare. Genuardo. Keine Straße und Hausnummer. Den Namen des Ortes hatte sie nie gehört, aber das bedeutete nichts. Sie war vier gewesen, als ihre Mutter sie mit nach Amerika genommen hatte. Seitdem war sie nicht mehr auf Sizilien gewesen.

    Alessandro Carnevare.

    Sie ärgerte sich, weil er sie so wortkarg abgespeist hatte. Familienangelegenheiten. Die hatte sie auch. Keine unkomplizierten.

    Statt den Pass zurück in seine Jacke zu stecken, ließ sie ihn beim Verlassen der Maschine auf einen leeren Sitz am Ausstieg fallen. Sollte das Personal entscheiden, ob sie ihn zurückgaben. Nicht Rosas Problem.

    Die Blicke der Stewardess brannten in ihrem Rücken, als Rosa die Gangway hinunterstieg. Sie blickte sich nicht um.

    Familienangelegenheiten.

    Sie fragte sich, ob Zoe einmal im Leben pünktlich sein würde.

    Die Milchglastüren zischten auseinander und gaben den Blick auf die Wartenden frei. Hinter der Absperrung standen Generationen sizilianischer Familien, mit verhutzelten Großmüttern in schwarzen Kleidern – Ich in achtzig Jahren, dachte Rosa verdrossen – und kleinen Schreihälsen mit Luftballons. Aufgetakelte junge Frauen, die auf ihre Ehemänner – oder Liebhaber – warteten. Eltern, die dem alljährlichen Besuch ihrer erwachsenen Kinder aus dem Norden entgegenfieberten. Anzugträger mit Sonnenbrillen und handgeschriebenen Namen auf Pappschildern.

    Nur keine Zoe. Nirgends.

    Rosa war die Erste, die in die Halle trat. Sie fragte sich einmal mehr, was die in Rom mit ihrem Koffer angestellt hatten. Dabei fiel ihr auf, dass sie den Zettel mit der Servicenummer verloren hatte. Schade, denn sie hatte aus Langeweile während des Fluges eine fantasievolle Liste mit Kleidungsstücken zusammengestellt.

    Hitze empfing sie im Freien, sogar noch Anfang Oktober. Der Bereich vor dem Eingang war betonüberdacht, am Rand des Gehwegs parkten Taxis. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein niedriges Parkhaus. Durch seine Gitterstruktur konnte sie das Mittelmeer sehen, schäumende Gischt auf blauen Wellenkämmen. Der Flughafen Falcone e Borsellino, benannt nach zwei Richtern, die von der Mafia ermordet worden waren, lag auf einer Landspitze.

    Auch hier keine Spur von Zoe.

    Ihre Schwester war drei Jahre älter als sie, seit einem Monat zwanzig. Vor zwei Jahren war sie aus den Staaten hierher zurückgekehrt. Zoe war sieben gewesen, als ihr Vater Davide gestorben war; damals hatte die Familie gegen den Willen des Alcantara-Clans bereits eine Weile in den USA gelebt. Im Gegensatz zu Rosa hatte Zoe sich noch an vieles erinnern können. An das alte Familienanwesen zwischen knorrigen Olivenbäumen und Feigenkakteen. An ihre Tante Florinda Alcantara, die Schwester ihres Vaters und heute das Oberhaupt der Familie.

    Für Rosa war ihre Tante nur ein verwischter Fleck in der Erinnerung, noch unwirklicher als ihr Vater, und auch mit ihm verband sie nur Empfindungen, kaum klare Bilder.

    Um sie wälzten sich Menschenströme in den Flughafen und wieder hinaus. Verloren stand sie in der brütenden Hitze, inmitten der Abgaswolken von Taxis und Bussen, ließ ihre Reisetasche mit beiden Händen vor den Knien baumeln und suchte in sich nach einem Gefühl von Heimkehr.

    Nichts.

    Eine Fremde zu sein wäre nichts Neues gewesen, damit kannte sie sich aus. Sie wunderte sich nur, dass sie so gar nichts spürte.

    Links von ihr, hinter der Taxireihe, parkte ein Militärjeep, auf dem sich ein paar bewaffnete Soldaten langweilten. Sie hatte gehört, dass in Italien die Armee zur Unterstützung der Polizei eingesetzt wurde. Aber sie so offen dastehen zu sehen, die Maschinenpistolen wie Umhängetaschen über den Schultern, war ungewohnt. Einer der jungen Männer sah sie allein in der Sonne stehen und stieß einen anderen an. Die beiden Soldaten grinsten.

    »Keine Sorge«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihr, »die schießen nur auf Mafiosi.«

    Alessandro Carnevare war mit einem schwarzen Rollkoffer zu ihr auf den Bürgersteig vor der Flughafenhalle getreten. Er musste seinen Pass zurückbekommen haben, sonst hätte er die Einreisekontrollen nicht so schnell hinter sich gebracht.

    »Alessandro«, sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen. Seine Finger waren jetzt nicht mehr verkrampft wie bei der Landung. Geschmeidig und kraftvoll.

    »Rosa.«

    »Holt dich jemand ab?«

    »Meine Schwester. Falls sie’s nicht vergessen hat.«

    »Wir können dich mitnehmen.«

    »Wir?«

    Er deutete auf eine schwarze Limousine, die in diesem Augenblick unweit des Eingangs anhielt. Rosa sah gerade noch ein auf den Asphalt gemaltes Parkverbots-Zeichen unter dem Wagen verschwinden. Niemand kümmerte sich darum. Die Soldaten kauten Kaugummi und warfen neugierige Blicke auf die blitzende Luxuskarosse. Erst die Motoren, dann die Mädchen. Sie war heilfroh darüber.

    »Also?«, fragte Alessandro.

    »Zoe müsste jeden Moment hier sein.«

    »Zoe?« Er legte den Kopf schräg. »Seid ihr Amerikanerinnen?«

    »Hier geboren, in Brooklyn aufgewachsen.« Sie trat einen halben Schritt zurück, weil so viel Nähe sie nervös machte. Seltsamerweise vollzog er im selben Moment die gleiche Bewegung, so dass mit einem Mal fast zwei Meter Abstand zwischen ihnen lagen.

    »Natürlich!«, sagte er in plötzlichem Begreifen. »Zoe Alcantara. Ihr seid die Verwandten von Florinda Alcantara, oder?«

    »Nichten. Sie ist unsere Tante.«

    Die Tür der Limousine schwang auf. Die Scheiben waren rundum verspiegelt. Der Fahrer, der nun ausstieg, sah erstaunlich jung aus. Schwarze, ziemlich wilde Haare, nicht älter als achtzehn. Ein schwarzes Hemd, lose über dem Hosenbund, und schwarze Jeans. Braune Augen, die sie fixierten und dann blitzschnell woandershin sahen. Er kam herüber, schüttelte Alessandro die Hand und wollte schon nach seinem Koffer greifen.

    »Fundling«, sagte Alessandro. »Das ist Rosa Alcantara … Rosa, Fundling.«

    Bei der Erwähnung ihres Nachnamens hob der Junge mit dem sonderbaren Namen eine Augenbraue, reichte ihr fahrig eine Hand, zog sie aber gleich wieder zurück, als sie nicht schnell genug danach griff. »Ciao«, sagte er knapp und zog Alessandros Gepäck zum Kofferraum des Wagens.

    Sie musterte ihn verwundert, obwohl sie ihn nicht unsympathisch fand, aber dann beanspruchte Alessandro von neuem ihre Aufmerksamkeit. »Nimm’s ihm nicht übel«, sagte er.

    »Tu ich nicht.«

    »Wir setzen dich am Palazzo deiner Tante ab, wenn du willst. Ist kein Umweg.«

    Sie trat auf der Stelle, reckte den Hals und schaute sich vergeblich nach Zoe um.

    Sie war nach Sizilien gekommen, um Ruhe zu finden. Um allein zu sein und nachzudenken. Neue Leute kennenzulernen war nicht gerade eine ihrer Prioritäten. Dass es nun doch dazu gekommen war, entzog sich ihrer Kontrolle, und sie hasste das. Innerlich kämpfte sie darum, wieder die Oberhand zu gewinnen. Tu nur, was du willst. Lass dich nicht drängen.

    »Es ist natürlich deine Entscheidung«, sagte er mit einem Lächeln. Er hatte keine Ahnung, was er damit anrichtete.

    Um sie schien sich die Luft um mehrere Grad abzukühlen. »Nein«, entgegnete sie abweisend. »Nicht nötig.«

    Und damit drehte sie sich um und ging an der Reihe der Autos entlang. Gott, wie sie diesen Satz verabscheute. Es ist deine Entscheidung. Vor einem Jahr hatte sie ihn viel zu oft gehört.

    Ihre Entscheidung. Sie wünschte, das wäre es jemals gewesen. Ganz allein ihre Entscheidung.

    Beinahe erwartete sie, dass Alessandro ihr etwas nachrufen würde. Dass er versuchte sie aufzuhalten. Aber das tat er nicht. Auch sie blickte sich nicht um.

    Einige Augenblicke später fuhr die Limousine im Schritttempo an ihr vorüber. Rosa konnte nicht anders, als hinzuschauen. Doch sie sah nur sich selbst in den verspiegelten Scheiben, mit ihrem schwarzen kurzen Kleid und den zerzausten langen Haaren.

    Dann war der Wagen vorbei, fuhr zügig die Straße entlang und bog ab Richtung Autobahn.

    Ihr wurde schwindelig.

    Die Soldaten lachten wieder.

    Der Clan

    Sie ließ die Reisetasche fallen und musste sich abstützen.

    Im selben Moment entdeckte sie Zoe. Ihre Schwester eilte mit großen Schritten auf sie zu, strahlte sie an und sagte etwas, das zeitverzögert und mit einem seltsamen Hall an Rosas Ohren drang, wie eine leiernde Vinylplatte.

    Sie lehnte sich auf den glühend heißen Kotflügel eines Taxis, keuchte vor Schmerz – und auf einen Schlag war die Welt wieder die alte. Die Fahrzeuge bewegten sich schneller, der Lärm kehrte zurück, ihr Schwindel verschwand.

    Zoe zog sie an sich und umarmte sie. »Gut, dass du endlich da bist.«

    Rosa roch Zoes Parfum, ein anderes als damals. Sie sagte ein paar Dinge, von denen sie annahm, dass sie von ihr erwartet wurden – dass sie sich freute hier zu sein und dass sie es gar nicht hatte erwarten können. Das war nicht gelogen, nur ein bisschen übertrieben.

    Sie lösten sich voneinander, und nun hatte Rosa Gelegenheit, ihre Schwester genauer zu betrachten. Während der vergangenen zwei Jahre hatte sie Zoe nur auf einer Handvoll Fotos gesehen, die sie ihr geschickt hatte. Sie war einen halben Kopf größer als Rosa, daran würde sich auch nichts mehr ändern. Zoe hatte das gleiche blonde Haar, lang bis auf den Rücken, aber stufig geschnitten; obwohl es natürlich aussah, erkannte Rosa, dass es sorgfältig frisiert war. Auch Zoes Make-up war mit einiger Raffinesse aufgetragen, sehr dezent, aber wirkungsvoll. Nicht mal ein Hauch von Schweiß war auf ihrer Stirn und ihren Wangen zu sehen, trotz der Hitze.

    Rosa selbst hatte das Gefühl, in einer Pfütze zu stehen, so sehr schwitzte sie. »Du bist dünn geworden«, stellte sie fest. Mager wäre das richtige Wort gewesen.

    »Das sagst ausgerechnet du?« Zoe lächelte und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Rosa hatte den Eindruck, dass sie das nur tat, um ihre hohlen Wangen zu füllen. Aber es gab anderes zu bereden. Den Flug, den Jetlag, den kaputten Koffer.

    Zoe hatte ihrer Mutter schon immer sehr ähnlich gesehen und nun als Zwanzigjährige bestätigte sich die Vermutung, dass Gemma Alcantara – oder Gemma Farnham, wie sie sich heute wieder nannte – eine Doppelgängerin zur Welt gebracht hatte. Bei Rosa war die Ähnlichkeit längst nicht so ausgeprägt wie bei ihrer Schwester. Keine der beiden war besonders stolz darauf und als Kinder hatten sie sich oft gewünscht, dass der väterliche Anteil, das Italienische, stärker durchgeschlagen wäre. Wie sie überhaupt ihre Wurzeln im fernen Sizilien gern und immer wieder heraufbeschworen hatten, in Träumereien von eigenen Pferden und Ausritten zwischen Palmen und Kakteen, prachtvollen Festen in marmornen Ballsälen und Ausflügen auf Segeljachten.

    Im Parkhaus führte Zoe sie zu einem gelben Nissan, den ein Aufkleber an der Heckscheibe als Mietwagen kennzeichnete. Rosa war zu geschafft, um sich darüber zu wundern. Sie warf ihre Reisetasche auf die Rückbank, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und streckte ihre Beine aus, so gut es eben ging.

    Ein Mann in einer scheußlichen Schlangenlederjacke zog einen Koffer an ihnen vorbei und verschwand zwischen den geparkten Fahrzeugen. Als Rosa ihm amüsiert nachblickte, schüttelte Zoe den Kopf und sagte leise: »Wahre Schlangen tragen ihre Schuppenhaut nach innen.«

    Ein paar Minuten später rasten sie auf der Autobahn nach Süden. Links von ihnen erhoben sich schroffe Felsen und Weinberge, rechts schimmerte hinter dem flachen Ufer das Tyrrhenische Meer. Zwischen den Leitplanken auf dem Mittelstreifen wucherte Oleander. Es war früher Nachmittag, die Sonne brannte steil vom klaren Himmel herab und die fehlenden Schatten raubten dem Land alle Konturen. Palmen und haushohes Schilf rauschten hinter den Scheiben vorüber, flossen verschwommen ineinander.

    Zoe redete unablässig davon, wie gut es ihr hier gefiel, aber schon bald nickte Rosa ein. Sie träumte, dass sie verfolgt wurden und Zoe mit waghalsigen Überholmanövern versuchte den anderen Wagen abzuhängen. Als sie erwachte, vielleicht nur ein paar Minuten später, fuhr der Nissan auf der linken Spur. Zoe wirkte noch immer gelöst und glücklich über ihr Wiedersehen.

    »Hier«, sagte sie, als sie bemerkte, dass Rosa aufgewacht war, »das ist für dich.« Sie reichte ihr eine kleine Schachtel mit einer Schleife. Darin lag ein vergoldetes Handy. In die Tasten waren winzige Edelsteine eingelassen.

    »Dein altes kannst du hier nicht benutzen«, erklärte Zoe. »Andere Frequenzen als in den Staaten. Und dass du nur ja angemessen beeindruckt bist – ich hab es selbst für dich ausgesucht.«

    »Und so stilsicher.« Erst als Rosa das sagte, wurde ihr klar, dass Zoe es ernst meinte: Sie fand dieses Ding tatsächlich schön. Mit einem Anflug von Reue beugte sie sich zu ihrer Schwester hinüber und küsste sie auf die Wange. »Danke. Lieb von dir.«

    Sie nahm das Handy aus der Schachtel, schaltete es ein und entdeckte, dass Zoe ein Foto ihres toten Vaters als Hintergrundbild gespeichert hatte. Er war ein attraktiver Mann gewesen, schwarzhaarig, sehr südländisch.

    »Danke«, wiederholte sie.

    »Da ist noch was drin«, sagte Zoe.

    Rosa schob das Handy in ihre Jackentasche und fand am Boden der Schachtel einen Personalausweis und einen Führerschein. Beide waren auf ihren Namen ausgestellt. Als sie Zoe mit erhobener Braue einen Seitenblick zuwarf, lächelte ihre Schwester. »Das Geburtsdatum«, sagte sie.

    Einunddreißigster Januar, das stimmte. Nur das Jahr war falsch. Beide Dokumente machten sie ein Jahr älter. Damit war sie volljährig.

    »Das haben hier alle«, sagte Zoe lachend. »Ist nichts

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