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Mörderische Nachsaison
Mörderische Nachsaison
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eBook280 Seiten5 Stunden

Mörderische Nachsaison

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Über dieses E-Book

Nachsaison auf Amrum. Die Insel stellt sich auf ruhigere Zeiten ein. Aber Mord kennt keine Saison. Eine unbekannte Tote in einem Hotelzimmer löst die fieberhafte Suche nach dem Mörder aus, der sich bestens auf der Insel auszukennen scheint. Während Kripo und Inselpolizei ihm eine Falle stellen, hat er schon die nächsten Opfer in seine Gewalt gebracht.
In seinem dritten Kriminalroman vereinigt der Autor, selbst Polizeibeamter, seine Fachkenntnisse mit der Leidenschaft für Amrum. Das Ergebnis ist ein spannender Inselkrimi mit gut beobachtetem Lokalkolorit und sympathisch-lebensechten Figuren.
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum22. Nov. 2012
ISBN9783954750276
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    Buchvorschau

    Mörderische Nachsaison - Volker Streiter

    1862-1925

    Fähren

    Der Mann hinter dem Schalter schlug mit der flachen Hand auf seine Schreibunterlage und streifte zermatschte Fliegenreste am Hosenbein ab. Eine Böe nasskalten, nach Salz und Algen riechenden Windes ließ die Kundin vor der Scheibe erschauern.

    »Wenn Sie da rüberfahren, kommen Sie dieses Jahr von dort kaum mehr hierher nach Sylt zurück. Ab dem ersten November, das ist ja schon bald, können Sie Amrum nur über Föhr verlassen und weiter nach Dagebüll ans Festland. Wir machen dann Winterpause. Also? Einfache Fahrt?«

    Elke Hundgeburth, Kriminaloberkommissarin aus Köln, dachte kurz nach und zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sonst machen? Es war anders geplant, aber ich füge mich der friesischen Seefahrt.«

    Der Mann am Verkaufsschalter grinste und druckte die Fahrkarte aus. Lieber wäre sie auch wieder über Sylt zurückgereist. Die Zug- und Fährverbindungen kamen fast ohne Wartezeit aus. Dass eine Fährlinie ihren Betrieb während ihres Urlaubes einstellen würde, traf Elke unerwartet.

    »In wenigen Minuten sind die Leinen los.«

    Elke griff den hingehaltenen Fahrschein, dachte dabei an das tote Insekt, nahm ihren Rollkoffer und hastete los. Der Wind wirbelte ihre kastanienroten Haare durcheinander. Sie hielt für einen Moment an und strich sich die Strähnen aus ihrem Gesicht. Am Kai, wo das Schiff wartete, standen einige Leute und fotografierten ins Wasser. Das fahle Licht des Spätnachmittages tünchte das Hafenbecken in ein gelbliches Grau. Lachen war zu hören. Obwohl die Fährleute auf dem Laufsteg ungeduldig in die Hände klatschten, ging Elke noch zu der Gruppe. Was war da so interessant? Ihr Blick folgte den ausgestreckten Armen der Schaulustigen bis zu einer rostigen Leiter, die hinunter ins Wasser führte. Dort dümpelte ein Seehund schnaubend im leichten Wellengang und kaute an den Eisensprossen. Auf den ersten Blick war er kaum zu erkennen. Zuerst überkam Elke die Freude, endlich mal eines dieser Nordseetiere außerhalb eines Zoos zu sehen. Leider wirkte die Robbe an der Mauer trotzdem wie gefangen und ausgestellt.

    Aber ich muss ja los, rief Elke sich in Erinnerung und löste sich von dem Anblick. Als letzter Gast betrat sie die Fähre, deponierte ihren Koffer in einer Nische des Gastraumes und setzte sich an den nächstbesten Tisch. Eine Karte pries Krabbenbrötchen und Anislikör an.

    Draußen begann es zu dämmern, sie blickte gegen eine Inselküste, die sich entfernte. Hohe Stangen im Wasser zeigten die Fahrstraße an, durch die das Schiff Kurs auf Amrum nahm.

    Elkes Blick schwenkte über den Schiffsraum. Die Fähre war nur mäßig besetzt, die Passagiere verteilten sich an den Fenstertischen. Hinter ihr saßen zwei Frauen und ein Mann, alle um die sechzig Jahre alt. Er trug eine orangefarbene Regenjacke, die der einen Dame war türkisfarben, die der anderen hellgrün. Wie ein Nest voller Ostereier, dachte sie beim Anblick der Jacken und lächelte. Die brummenden Geräusche des Bootsmotors hinderten Elke nicht daran, Fetzen der leisen Unterhaltung zu verstehen.

    »Wenn das Wasser niedrig steht, ragen die Reste der Pallas heraus«, erklärte der Mann. »Im Oktober 98 brannte der Holzfrachter aus. Auf dem Meer. Und keiner konnte es löschen. Schon verrückt, nicht«, erzählte der Weißhaarige in Orange weiter. »Und dann verlor das Schiff noch sein Öl. Tonnen davon flossen ins Naturschutzgebiet.« Elke sah sich um. Der Mann spitzte den Mund, und nickte seinen Begleiterinnen nachdenklich zu.

    Die Frau in Türkis ergriff das Wort. »Gerd, ich war damals auch auf der Insel. Es war wie heute, Saisonende und kurz vor November. Ich wollte alleine am Strand wandern und viel lesen.«

    Genau wie ich, dachte Elke. Ich wünsch mir Spaziergänge ohne Steigungen und vielleicht kommt sogar Manfred über die Woche. Bei dem Gedanken an ihren verheirateten Liebhaber durchzog sanfte Wehmut ihre Brust. Er hatte zwar vage versprochen nachzukommen, aber sie hatte längst gelernt, dass sie sich darauf nicht verlassen konnte. Die Stunden mit ihm waren voller Zärtlichkeit, ihre Gespräche getragen von einem tiefen Verstehen. Und trotzdem, für einen Alltag mit ihr reichte es nicht. Da war noch eine Frau mit zwei Kindern, sein Gefühl der Verantwortung. Dessen ungeachtet war die Vorstellung, mit ihm an der Seite die Insel zu erkunden, einfach schön. Nur, ob er kam?

    Ihr Schwanken zwischen Wehmut und Vorfreude wurde unterbrochen. Die Dame in Türkis sprach weiter mit Gerd.

    »Seinerzeit kannte ich euch beide ja noch nicht.« Sie wandte sich an ihre Nachbarin in Hellgrün. »Aber das mit der Pallas war nicht das Schlimmste in dem Jahr. Da war doch ein Mädchen umgekommen, oder? Mit dem Gesicht in den Schlick gedrückt.«

    »Ella, die hieß Ditje und war vierzehn«, steuerte Gerd wieder Fakten zur Unterhaltung bei. »Und am Ende keine Spur vom Täter.«

    Elke drehte sich von der Gruppe weg, atmete tief durch und blickte aus dem Fenster. Die Dämmerung draußen hatte sich dem Anthrazit der beginnenden Nacht ergeben. Vielleicht, dachte sie, wäre ich besser auf Sylt geblieben.

    Frühstück

    Der junge Mann prüfte konzentriert die Schärfe seines Messers. Lächelnd blickte er sich um, dann schlug er mit der Klinge zu. Ein trockenes Knirschen erfüllte den Raum. Das Geräusch brechender Eierschale holte Elke, die die Szene beobachtete, aus ihren Gedanken zurück.

    Sie saß im Hotel Friedrichs am Frühstückstisch, räusperte sich und trank einen Schluck Kaffee. Warum, dachte sie, musste ihr der junge Tag diesen Eierköpfer an den Nachbartisch setzen. Am Abend zuvor war sie in Nebel abgestiegen, dem zentralen Ort der Insel. Die Lage schien ihr ideal, konnte sie doch von dort, nur mit dem Rad oder zu Fuß die Gegend entdecken.

    Während sie so verschlafen wie kraftlos den Teig aus einer Brötchenhälfte pulte, löffelte ihr Nachbar sein Ei aus und brach die Schale knirschend weiter auf. Ein merkwürdig barbarischer Akt, so früh am Morgen, fand sie. Die lässigen Bewegungen des Mannes, seine schlanke Statur, passten für sie nicht zu der Messerattacke. Diese Art von Frühstücksritus gehörte in die Sechzigerjahre, als übergewichtige Herren in Hosenträgern und mit Hornbrille die Familientische dominiert hatten.

    Sie bestrich ihr Brötchen mit Sanddornkonfitüre und biss hinein. In diesem Moment blickte der junge Mann auf und sah sie mit seinen grünen Augen an. Elke, von der Direktheit des Blicks wie von der Ebenmäßigkeit des Gesichts gleichermaßen irritiert, senkte ihre Hände und sah aus dem Fenster. So langsam, dachte sie, werd ich wohl wach. Eben hab ich gar nicht gemerkt, wie hübsch dieser Bursche in seinem grauen Rollkragenpullover ist. Als sie wieder zu ihm hinsah, gab sie sich ganz dem Eindruck hin, den er auf sie machte. Selbstsicher kam er ihr vor, ganz im Bewusstsein der Wirkung, die seine Seglerbräune, das blonde, gegelte Haar und sein Blick auf Frauen hatten.

    Gedankenvoll biss sie noch mal in ihr Brötchen. So also sollte ihr erster Urlaubstag beginnen. Eine gut zwanzig Jahre jüngere, kühle Schönheit in greifbarer Nähe und, sie sah erneut aus dem Fenster, ein Himmel aus dichten Wolken in unterschiedlichen Graustufen.

    Das Geräusch eines beiseitegeschobenen Stuhls holte sie aus ihren Gedanken. Schon fast im Gehen, noch vor seinem Tisch stehend, drückte ihr Frühstücksnachbar die Schale des leer gelöffelten, enthaupteten Eis auf dem Teller platt. Ein letztes Mal knirschte es, und er verließ mit einem gelangweilten »Tschüss dann« den Raum.

    Kaum war sie mit sich allein, kam die Bedienung mit einem Tablett unter dem Arm herein.

    »Das ist man eine prächtige Erscheinung, dieser junge Kerl.« Geschäftig räumte sie seinen Tisch ab und wischte Brotkrümel von der Decke. »Kommt oft zum Frühstück her, aber ich glaube, es ist heute sein letzter Tag bei uns.« Elke nickte nur und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Ist einer von den zweien, die den Bäderdienst machen«, erklärte die Frau weiter.

    »Bäderdienst?«

    »Ja, die Polizei hier auf Amrum ist doch nur zwei Mann stark. In der Saison bekommen die Verstärkung. Hab ich das nicht gesagt? Der ist Polizist.«

    Möwenflug

    Als an diesem Morgen der Streifenwagen über die scheinbar entvölkerte Insel fuhr, duckten sich die windschiefen Büsche, die den Straßenrand säumten, unter einem grauen Himmel.

    Oktoberende ist Saisonende, dachte Inselpolizist Nanning Tadsen und warf wortlos einen Blick auf seinen Beifahrer. Nun wird Amrum still, bis Weihnachten lassen uns die Gäste erst mal in Ruhe. Seine Gedanken waren, während er die ersten, niedrigen Häuser von Wittdün passierte, zu seiner Schafzucht geglitten. Da war auch noch ein Gatter zu reparieren, jetzt würde er etwas mehr Zeit dafür haben. Langsam bog der Streifenwagen auf den Parkplatz an der Mole.

    »So, Thorsten, die Fähre wartet schon.«

    Tadsen hievte seinen über die Jahre korpulent gewordenen Körper aus dem Wagen und holte drei Gepäckstücke aus dem Kofferraum. Der Beifahrer, ein schlanker junger Mann in dunkelblauer Regenjacke, stieg aus und ging zur Kaimauer. Keines seiner sorgfältig gegelten Haare wurde vom Wind bewegt. Auf den Zehenspitzen wippend blickte er auf das dümpelnde Schiff.

    »Ich hoffe, du hast es hier gut getroffen und auch was gelernt.«

    Thorsten Lautenschlag, Polizeimeister und frischer Absolvent der Polizeischule Eutin, nahm seine Hände aus der Hose und kontrollierte den Sitz seiner Haare. Ausdruckslos blickte er auf den älteren Mann und dessen weißes Haupt.

    »Na sicher, Nanning. War eine geile Zeit. So ein Bäderdienst ist eine tolle Sache. Wer kann schon die Saison auf der Insel verbringen und bekommt das noch bezahlt. Mega Strand, relaxte Leute und schöne Frauen. Wenigstens die jungen.« Er löste sich von den genießerischen Erinnerungen und musterte das wettergegerbte Gesicht Tadsens, das aber keine Regung zeigte.

    »Na, Urlaub war das doch nicht, will ich meinen. Wir hatten einiges zu tun.«

    »Einiges zu tun? Also für Sachbeschädigungen durch betrunkene Schullandheimkinder, Fahrraddiebstähle und totgefahrene Schafe bin ich nicht drei Jahre zur Schule gegangen, das sollte klar sein. Ich sehe mich da ganz woanders.«

    Tadsen ließ die Kaumuskeln spielen. Überfahrene Schafe! Das war nur einmal vorgekommen, dachte er. Über die Heubrandstiftungen, die die Bevölkerung geängstigt haben, sagst du kein Wort. Vielleicht ganz gut, dass du gehst. Tob dich man an Land aus und bekämpf die anspruchsvollen Verbrechen. Später wirst du dich nach dem Frieden hier sehnen. Aber dann bist du schon von den schrägen Vögeln in den Städten versaut. Regungslos schaute er auf den Rücken seines jungen Kollegen am Kai.

    In seiner Hosentasche vibrierte das Mobiltelefon. Schwerfällig zog er es hervor, sah auf das Display und wandte sich ab.

    »Flor, was gibts denn?«, fragte er leise.

    »Ja, ist der Thorsten schon weg?«, wollte seine Tochter wissen. Ihre Stimme klang dringlich. Ihr Vater blickte zu dem Berufsanfänger, der sich zu Höherem berufen sah.

    »Fast. Warum?«

    »Ich hab ein paar von seinen Sachen gefunden. Benutzte Diensthemden und eine zerknüllte Uniformhose. Lag alles noch in seinem Spind. Kannst du ihm das nicht noch mitgeben?«

    Tadsen machte eine kurze Gedankenpause. »Nein, kann ich nicht, jeden Augenblick legt die Fähre ab. Wird Thorsten eben mit weniger zurechtkommen, in der großen Stadt. Tschüss dann.« Damit drückte er die Stimme seiner Tochter weg, steckte das Telefon ein und sah zur Fähre. »Ich glaube, du musst los«, rief er gegen den Wind und deutete auf das Schiff. Langsam zog der geöffnete Schiffsleib die wartende Autoschlange nach innen und die Fußgänger reihten sich ein.

    »Jetzt kommt für dich die ruhige Zeit«, meinte Lautenschlag und grinste. Er klopfte dem Inselpolizisten auf die Schulter. »Wenn du dir einen Bart wachsen ließest, gäbst du einen prächtigen Seebären ab für die Touristen. Erhol dich gut und grüß mir Flor. Sie wird ja wohl in Rendsburg eingesetzt. Da bin ich froh, in Kiel zu landen. Mehr Action.«

    Über dem Kai schoben sich schwarze Wolken vor den grauen Himmel. Der Wind blies Tadsen Gischt ins Gesicht. Plötzlich schoss eine Möwe aus dem Nichts ins Wasser und schnappte sich einen Fisch. Vergeblich kämpfte der zappelnd im Schnabel des Vogels.

    »Kann sein, dass es ruhig bleibt«, meinte der alte Inselpolizist mehr zu sich selbst. Sein Blick schweifte über den sich verdüsternden Wolkenhimmel zum Möwenschnabel mit dem blutroten Punkt. Er beobachtete, wie Lautenschlag in dem Schiff verschwand. »Das letzte Oktoberlicht ist trügerisch«, murmelte er und hob grüßend die Hand.

    Nachdenklich sah Tadsen der Fähre hinterher, wie sie in einem Bogen nach rechts begann, die Insel zu umfahren. Sie würde erst Wyk auf Föhr ansteuern, um danach bei Dagebüll das Festland zu erreichen. Erneut vibrierte sein Telefon in der Hosentasche. Das Display zeigte die Nummer der Polizeiwache Nebel an.

    »Ocke, was gibts denn?«

    »Nanning, wir brauchen die Niebüller. Da ist was passiert.« Polizeihauptmeister Ocke Petersen, eingeborener Amrumer und zweiter Mann auf der Polizeistation, klang aufgeregt. Das passierte ihm eher selten.

    »Jetzt werd mal konkreter. Die Festlandkollegen kommen ja nicht einfach so zu uns rüber. Also, was hast du?«

    »Wir müssen zum Hotel Ual-Tüs in Norddorf.« Tadsen nickte bei dem Gedanken an das stattliche, mit Reetgras gedeckte Haus am Dorfrand, das hinter einer Gartenmauer aus Findlingen lag. Es war eine liebevoll restaurierte Unterkunft für die Wohlhabenderen unter den Touristen und wurde von Meenhard Weertsen geführt.

    »Der Besitzer hat angerufen. Sein Zimmermädchen hat ihn alarmiert.« Der Polizist an der Mole drehte sich, das Telefon am Ohr, von der Kaimauer weg und ging zum Streifenwagen. Er dachte an die Möwe, die sich eben noch den Fisch geschnappt hatte. »Also, wir haben da in einem der Zimmer wohl eine Tote. Jedenfalls sagt das der Meenhard. – Treff ich dich da oben?«

    Tadsen verkniff sich weitere Fragen.

    Reetdach

    Tadsen lenkte den Streifenwagen gen Norden, ans andere Inselende. Dabei verzichtete er auf Blaulicht und Signalhorn, Aufregung würde es noch früh genug geben. Bei der Fahrt über die leere Straße konnte er nachdenken.

    Auf ihn warteten drei Möglichkeiten. Entweder der Arzt stellte bei der weiblichen Leiche eine natürliche Todesursache fest. Das wäre ihm am liebsten gewesen, dann wär die Polizei aus dem Schneider. Oder die Todesursache war ungeklärt und fremdes Einwirken lag nicht vor. Dann müsste zumindest bei dem Hausarzt der Toten nachgefragt werden, eventuell stand auch eine Obduktion an. Als Letztes könnte es eine unnatürliche Todesursache sein: Unfall, Suizid oder Tötung durch eine dritte Person. Das wäre genau zu klären, und eventuell müssten Flucht und Fahndung bedacht werden.

    Die Fähre hatte soeben abgelegt, die nächste fuhr Amrum um zwölf aus Hörnum an. Bis dahin würde es einem Täter schwerfallen, die Insel zu verlassen. Doch jetzt galt es erst mal den Fundort zu sichern und festzustellen, wer schon alles bei der Toten gewesen war. Er friemelte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und tippte die Nummer mit dem Daumen ein. Dabei blickte er immer wieder auf die Straße. Wenn mich mal kein Amrumer sieht, hoffte er. Das dürfte in Zukunft Verwarnungsgelder in gleicher Sache erschweren. Als einer von zwei Inselpolizisten unter gut 2.350 Einwohnern konnte er sich ständiger Beobachtung sicher sein, Fehler wurden gerne registriert. Schade, dass Thorsten jetzt schon weg war, überlegte er. So ein Todesfall hätte den bestimmt begeistert. Pech für ihn. Ich werd ihm davon berichten. Von wegen nur totgefahrene Schafe.

    Am Telefon erklang eine junge Frau.

    »Tadsen, Moin Moin.«

    »Moin, hier auch. Flor, wir haben im Ual-Tüs einen weiblichen Exitus. Ocke klang komisch, fährt schon mal vor. Kannst du kommen? Ich brauche dich da.«

    »Papa, ich bin mit dem Rad in Steenodde unterwegs. Zivil. Außerdem hab ich keine Erfahrung mit so was.«

    »Macht nichts, dann versetz dich in den Dienst und lern dazu. Leute befragen und Notizen machen, das geht auch ohne Uniform. Also tschüss.«

    Das Hotel war schon von Weitem an der grellroten Farbe des Rettungswagens auszumachen, der davor stand. Das große Friesenhaus lag in seiner biederen Gepflegtheit aus tiefem Reetdach, geweißten Ziegelmauern und blau gestrichener Tür am Rand Norddorfs. Dahinter waren bereits die Salzwiesen zu sehen. Im Vorgarten kündeten blass-violett verblühte Hortensien vom vergehenden Jahr. Er stellte das Auto ab. Der Streifenwagen seines Kollegen stand auf dem Parkplatz gegenüber dem Eingang, Ocke war also schon vor Ort. Tadsen trat durch die reich geschnitzte Haustür in den niedrigen Flur. Aus einem der Räume am Ende klang ein Schluchzen. Er folgte dem Geräusch und betrat die Küche. Auf dem Fliesenboden lag eine junge Frau, über sie gebeugt ein Mann in weißer Hose und signalroter Jacke. Er hatte den Blutdruck geprüft, löste nun mit Blick auf den eintretenden Polizisten die Manschette an ihrem Oberarm und erhob sich.

    »So, Frau Risse, alles in Ordnung. Körperlich gibt es keinen Grund zur Panik. Die Polizei ist jetzt da und wird Sie bestimmt nicht lange befragen. Dann können Sie an die frische Luft und sich erholen.«

    Tadsen hätte es begrüßt, an einem Tatort selbst solche Entscheidungen zu treffen. Fragend blickte er den Mann in Rot-Weiß an.

    »Notarzt Ryberg-Struensee«, stellte der sich vor, nachdem er sich erhoben hatte. »Wir kennen uns noch nicht, ich bin ja erst seit Kurzem auf der Insel. Ihr Kollege rief uns an, nachdem das Zimmermädchen hier kollabierte. Der Anblick«, er wies nach oben, »hat sie wohl schockiert.«

    Tadsen nickte und wandte sich an die Zeugin am Boden. »Wenn Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Adresse nennen würden. Dann dürfen Sie draußen warten. Ich muss mir einen Überblick verschaffen, danach werden Sie nur kurz befragt, wie der Doktor schon sagte.«

    Juliane Risse, dreiundzwanzigjährige Angestellte im Hotel, machte mit schwacher Stimme und blass-trockenen Lippen ihre Angaben. Tadsen notierte, bedankte sich mit einem Lächeln und sprach den Mann in der Signaljacke an. »Kommen Sie, Sie können mir bestimmt einiges sagen.« Struensee, Struensee, dachte er, den Namen hab ich schon gehört. Irgendwas Dänisches war das. Aber kein Wunder, wir hier im Norden waren ja auch mal dänisch.

    Als sie die knarzende Treppe mit dem glänzend weißlackierten Geländer nach oben gingen, trat ihnen an der obersten Stufe ein uniformierter Polizist entgegen, Ocke Petersen. Das sonst sehr rote Gesicht des Mannes kam Tadsen in diesem Augenblick bleicher vor. Wieder einmal fiel ihm der Ring an seinem rechten Ohr auf. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass sein achtundvierzigjähriger Kollege wie ein Pirat herumlief. Mochte man ihn für spießig halten, unter einem Uniformträger verstand er etwas anderes. Aber bei Ocke Petersen war das nicht das einzig Ärgerliche.

    »Moin, Nanning«, grüßte der und gab den Flur des Obergeschosses frei. Tadsen sah vier Türen, die sich paarweise gegenüberlagen. An der hinteren, rechten wartete eine Frau, die wie der Arzt an seiner Seite gekleidet war.

    »Das ist Rettungsassistentin Ines Stutzbach, wir arbeiten immer im Team. Nur hier«, er wies auf die Tür des Zimmers mit der Nummer 11, »war leider nichts mehr zu retten.«

    Tadsen nickte freundlich und schob vorsichtig das Türblatt auf. Keine Klinke, sondern ein Knauf, registrierte er. Er atmete tief durch und wusste, dass er sich auf den kommenden Anblick nicht vorbereiten konnte. Selbst Bilder von Toten, die er friedlich in ihren Betten liegend oder auf dem Sofa sitzend aufgefunden hatte, waren ihm unter die Haut gegangen. Lag es daran, dass er auf die leblose Hülle eines Mitmenschen sah, der eben noch gedacht und geträumt hatte? Tadsen hatte darüber nie in Ruhe nachgedacht, die Beschäftigung mit dem Tod schob er beiseite. Jede Leiche blieb für ihn eine unangenehme Premiere. Und so kniff er seine Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen, damit eine Unschärfe den ersten Anblick weicher zeichnete.

    Die Tote lag auf dem Rücken. Zuerst sah er ihre Füße am Bettende, dann Strumpfhose und Slip um ihre Knöchel. Sein inzwischen wieder scharfer Blick wanderte die Beine entlang bis hin zu den gespreizten Knien. Hier brach er ab und schaute direkt in das Gesicht der Frau. Ein überraschter Ausdruck ins Unendliche, ein geöffneter Mund. Er schluckte und sah kurz in den Raum. Seine Augen wollten Ablenkung. Aber es half nichts, er hatte alles in Augenschein zu nehmen. Eine Perlenkette am Hals, die feine Strickjacke über einem dünnen Pullover und die links wie rechts ausgebreiteten Arme. Schmale Ringe an den Fingern, eine Damenuhr am Handgelenk. Kein Raub, schoss es ihm durch den Kopf. Zögernd blickte er auf die Körpermitte. Der Rock war hochgeschoben bis zum Bauchnabel, der Unterleib war

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