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eBook416 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Wer sind wir, wer sai mir? Die neuen Coversongs in der Mundart des oberhessischen Dorfes Ober-Gleen drehen sich um Fragen, auf die es mehr als eine Antwort gibt: Was ist uns wichtig?  Wie wollen wir leben? Was verbindet uns mit Friedrich Ludwig Weidig, dem Herausgeber des "Hessischen Landboten", und seiner Frau Amalie? Mit Herbert Sondheim und Ruth Stern Gasten, die als Kinder aus Deutschland fliehen mussten? Mit dem Maler Bernhard Wald? Machen wir uns gemeinsam ein Bild davon. Und das eine oder andere Lied.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum20. Apr. 2020
ISBN9783751961257
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Autor

Monika Felsing

Die Autorin hat eine eigene Website www.monikafelsing.de und schreibt seit 2015 auch oberhessisch-hochdeutsch-englische Beiträge in ihrem Blog "Owenglie". Sie engagiert sich ehrenamtlich in Projekten des Bremer Geschichtsvereins Lastoria e.V., dem sämtliche Erlöse aus den Büchern zufließen.

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    Buchvorschau

    Mir - Monika Felsing

    Hessische und hochdeutsche Lieder

    über uns, Europa und die Welt,

    über Grundrechte und

    Menschenwürde,

    mit Gemälden von Bernhard Wald

    (Faldon)

    Herausgegeben vom Geschichtsverein Lastoria

    Woas drean eas

    Inhaltsverzeichnis

    Wemm sai merr?Zu wem gehören wir?

    Wu schdieh merr?Wo stehen wir?

    Woas winn merr?Was wollen wir?

    Mir komme on gieh –Wir kommen und gehen

    Wer sai merr?Wer sind wir?

    Wie merr menanner imgieh –Wie wir miteinander umgehen

    Fligg ins zemm Moond –Flieg uns zum Mond

    Mir sai Waidech –Wir sind Weidig

    Wu winn merr hean?Wohin wollen wir?

    Wie winn mer läwe?Wie wollen wir leben?

    Mir sai des Problem –Wir sind das Problem

    Mir sai frehlech –Mir zaynen frelekh – Wir sind fröhlich

    Mir sai friedlech –Wir sind friedlich

    Mir sai muudech –Wir sind mutig

    Mir sai sou frai –Wir sind so frei

    Wann ech ins woas winsche deafd –Wenn ich uns was wünschen dürfte

    Daangk –Dank

    Belder –Bilder

    Lidderadur –Literatur

    Wemm sai merr?

    Zu wem gehören wir?

    Mir sai, wie merr sai. Wir sind, wie wir sind. Mit der Betonung auf wir (sonst heißt es im Dialekt nicht mir, sondern wie im Dativ der ersten Person Singular: merr). Die anderen sind natürlich ganz anders. Egal, wie weit die Globalisierung fortschreitet: Nicht einmal in Oberhessen gleicht ein Dorf dem nächsten, ist ein Mensch und ein Dialekt genau wie der andere, und wenn es richtig gut läuft, schmecken auch keine zwei Salzekuchen gleich. Sagen wir. Saa mir. Der Rest ist Toleranz, wie überall auf der Welt. Leewe on leewe leasse. Leben und leben lassen. Mit oder ohne Kümmel im Schmierschel. Und für die Norddeutschen unter uns: Mit oder ohne Hering zum Labskaus.

    Was als Erstes da war, das Hinggel oder das Ägg, das Wir oder das Ich, ist eigentlich keine Frage. Wie hätte der einzelne Mensch in ganz alten Zeiten überleben sollen, ohne den Schutz seiner Sippe, ohne ein paar andere Keulenschwinger, mit denen er gemeinsam um die Büsche ziehen konnte? Das macht sich auch sprachlich bemerkbar. Wenn in Oberhessen früher jemand wissen wollte, mit wem er oder sie es zu tun hatte, kam die Frage: „Wu kimmsde dann her?" Und schon warst du in der ersten Schublade gelandet: Alle Einwohnerinnen und Einwohner eines Dorfes haben einen gemeinsamen Uznamen, wie ich im ersten Band der Ober-Gleen-Reihe („Gliesbeurel inner sich) erklärt und im „Owengliejer Lirrerbichelche" besungen habe („Woas sai Gliesbeurel?"). Die Ober-Gleener sind Kloßbeutel (Gliesbeurel – oder, wie ich es inzwischen schreiben würde: Gliesboirel), die Angenröder Schdäiklobber (Steineklopfer), die Alsfelder Plasderschisser (Pflasterscheißer). Als nächste Frage kam früher: „Wemm säisdèdè?" Wem gehörst du, im Sinne von: Zu wem gehörst du? Der einzelne Mensch gehört erst einmal zu einer Familie, einem Stamm, einem Haus, und hat einen Dorfnamen. Meiner ist Pauls, nach meinem Urururgroßvater Paul Felsing. Ich bin also Pauls Monnigga, mein Bruder ist Pauls Kallains. Mein Vater war Pauls Kall. Und meine Mutter, die aus Alsfeld stammt, wurde vorm Traualtar zu Pauls Helga. Wer wissen will, wie jemand mit Familiennamen heißt, wird im Owengliejer Pladd, der Mundart meines Heimatdorfes, nachhaken: „On wie schräibsdè dech?" Und wie schreibst du dich?

    Ein besonderes Gefühl für Menschen und Stimmungen hat Bernhard Wald (Walde Bernadd), Jahrgang 1959. Der älteste Sohn von Karl und Erika Wald ist meines Wissens der einzige bildende Künstler, den Ober-Gleen hervorgebracht hat. Nach seinem Abitur hat er zunächst einmal ein Praktikum bei dem Grafiker Willi Weide in Alsfeld und Zivildienst beim Roten Kreuz gemacht, Kurse für Grafikdesign an der Hochschule in Darmstadt belegt und dann an der Frankfurter Uni ein paar Semester Kunst auf Lehramt studiert. Auf einen Abschluss hat er ganz bewusst verzichtet. Die formale Ausbildung an den Hochschulen, die Einengung in die Schablonen der Fachdisziplinen, war nicht sein Ding. Und so ging er 1986 als freischaffender Künstler nach Berlin, um zu malen und Trompete zu spielen. Unter seinem Künstlernamen „Faldon hat er seine Bilder ausgestellt und in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (ngbk) in der Oranienstraße in Kreuzberg mitgearbeitet, sich unter anderem auch an der Aktion „You have been painted (Du bist gemalt worden) beteiligt. Seit 2004 wohnt er in Marburg. Ausgestellt hat er im vergangenen Jahrzehnt in der ehemaligen Synagoge in Romrod und in der Galerie „Kunst im Kuhstall" des verstorbenen Ernst A. Bloemers in Ober-Gleen. Auch in meinem Blog Owenglie sind seit Bernhards 60. Geburtstag mehrere Dutzend seiner Bilder zu sehen. „Wirklich fantastische Bilder", hat Marie-Luise Rahe (Oddsdinnesch Mallis) aus Hüllhorst bei Minden geschrieben, wo die gebürtige Ober-Gleenerin, eine pensionierte Schulleiterin, mit ihrer Familie wohnt. „Ich hatte keine Ahnung, dass Owenglie so einen tollen Künstler hat. Ich drücke die Daumen, dass in Alsfeld, vielleicht auch in Marburg, eine Ausstellung zustande kommt." Einige der Bilder habe ich zur Illustration der Kapitel auswählen dürfen, und ich bin Bernhard sehr dankbar für sein Vertrauen. Was könnte besser zum Leitmotiv dieses Buches passen als eine dermaßen uneinheitliche Gruppe von Menschen, gemalt in so unterschiedlichen Stilen, mit so unterschiedlichen Materialien, geschaffen von ein und derselben Hand? Jedes der Bilder hat Persönlichkeit, die der porträtierten Person, vielleicht aber auch ein wenig die des Künstlers, der sich in keine Schublade stecken lässt. Freiheit war und ist sein Lebensmotto, als Mensch und als Maler.

    Für das dritte Liederbuch mit Coverstücken im Ober-Gleener Dialekt habe ich nach Melodien gesucht, die vertraut sind wie Kinderlieder oder starke Gefühle ausdrücken, mit der Identität zu tun haben und sich alleine oder auch zusammen singen lassen. Elläi. Sesomme. Ech. Du. Ihr. Mir. Einige Lieder erzählen Geschichten, wie wir sie in dem Oral-History-Projekt unseres Geschichtsvereins gehört haben, und viele handeln von Menschen, die so unterschiedlich sind und so viel oder so wenig gemeinsam haben wie wir alle. Wie mir all. In der Vergangenheit, der Gegenwart und vielleicht auch in der Zukunft. Vieles von dem, was mir im Herbst und Winter 2019 begegnet ist, habe ich zu Mundarttexten verarbeitet, und das ziemlich oft zu weihnachtlichen Melodien.

    Bernhard Wald (Faldon).

    Singen wir also gemeinsam Lieder über das Lebensgefühl. Wenn sich etwas verändert, dann das. Begonnen hat es mit den laufenden Bildern im Kino und im Fernsehen, dem Radio, den modernen Verkehrsmitteln und dem Telefon: Virtuelle Welten auf der Leinwand und auf dem Bildschirm machen aus Individuen eine Zuschauermasse, die Schein und Sein nicht immer auseinanderhalten kann. Mit dem Radio kamen Musik und Propagandareden in die Wohnzimmer. Schiffe, Autos, Motorräder, Züge und Flugzeuge bringen uns so schnell voran, dass der Verstand hinterherhinkt („Schbille gieh un feiern"). Gespräche sind über weite Entfernungen möglich, mit Menschen, die man nicht sieht. Mit dem Computer, dem Internet, dem Mobiltelefon und all der anderen künstlichen Intelligenz haben sich Verhaltensweisen dann noch einmal auf eine Art gewandelt, die man noch vor 20 Jahren nicht für möglich gehalten hätte, und wenn wir ehrlich sind, überblickt niemand die Chancen und Risiken wirklich. Wir drehen uns einfach auf der Straße nicht mehr um, wenn jemand „hallo" ruft, denn wir haben gelernt: Meistens telefoniert jemand. Manchmal sogar mit uns.

    Ob wir nun als digitale Migranten mitzuhalten versuchen oder mit dem Smartphone in der Hand auf die Welt gekommen sind: Machen wir uns nichts vor über den „modernen Menschen". Manche unserer Vorfahren sind uns ähnlicher, als uns lieb ist. Med Oasch on Kobb. Weil sie dieselben Trottel waren wie wir und aus ihren Fehlern nichts gelernt haben. Weil sie Wünsche, Ängste, Vorurteile und Geheimnisse hatten, zu Mitgefühl, Freundschaft und Liebe fähig waren, neugierig auf das, was sie nicht kannten, und voller Sehnsucht. Einige, die vor uns da waren, verdienen unseren Respekt. Weil sie besonders gastfreundlich waren und zugleich eigensinnig. Weil sie nicht nur viel und hart gearbeitet, sondern auch ziemlich viel gefeiert haben. Weil sie ihrem Herzen gefolgt sind oder auf ihr Gewissen gehört haben und über sich selbst hinausgewachsen sind. Wir könnten uns mit ihnen solidarisch fühlen, weil sie so einsam oder so sehr in Bedrängnis waren, dass man sie einfach nur in die Arme schließen möchte. Mit einigen meiner Mundartlieder möchte ich aber auch Frauen und Männern danken, die anderen Menschen beigestanden, sich sozial oder politisch engagiert und für eine bessere Welt sogar ihr Leben oder ihre Freiheit riskiert haben. Und denen, die wenigstens ein bisschen was dazu getan haben, um die Natur, die Umwelt und das Klima zu schonen. Für uns und die, die nach uns kommen.

    Das Leitmotiv „Mir" hat besonders viel mit dem dritten und vierten Band der Ober-Gleen-Reihe, „Himmel un Höll" und „Schbille gieh un feiern", zu tun, und wie immer nicht nur mit Ober-Gleen. Mein Heimatdorf ist nur ein winziger Punkt auf der Landkarte, aber wenn man genau hinsieht, erkennt man Linien, Beziehungen, Kräfte, die in die Welt und von der Welt auf dieses Dorf wirken, Schicksale, die miteinander verbunden sind oder sich zumindest ähneln. Als Historikerin und Journalistin versuche ich, solche Geflechte zu verstehen, die unsichtbaren Fäden aufzunehmen und nach Mustern zu verweben, die nicht vorgegeben sind. In unseren Zeitzeugenprojekten geht es deshalb immer ums Zusammenleben, Auseinanderleben und Überleben gestern, heute und morgen, nicht nur in Oberhessen oder Bremen, nicht nur in Deutschland, nicht nur in Mitteleuropa. Wer im Band „Himmel un Höll" einen zweiten Blick in das Kapitel über die russisch-hessischen Beziehungen wirft, erfährt zum Beispiel, was ein Ölgemälde vom Romröder Schloss mit dem Bernsteinzimmer gemeinsam hat, und lernt ganz nebenbei das russische Wort Mir. Übersetzt ins Owengliejer Pladd bedeutet es Friere. Frieren? Kaalt. Ganz kalt. Mir sprechen von Frieden, andere auf dieser Welt von: Paix. Pace. Paco. Pax. Pau. Paz. Shalom. Salam. Fred. Rahu. Heddwch. Amani. Udo. Nabadda. Hoà binh. Pyong’hwa. Pingan. Mina. Barish. Iri’ni. Shanti. Saanti. K’é. Heiwa. Hasiti. Vrede. Oder Peace. Geddemm è Schanggs.

    Carolyn Schott aus Seattle (USA) 2019 in dem Dorf ihrer Ahnen.

    Wu schdieh merr?

    Wo stehen wir?

    Einander zuzuhören, wäre schon mal ein Anfang. Ein großer Schritt in die richtige Richtung. Das gilt für die Vereinten Nationen, für Europa und nicht zuletzt für die ost-west-nord-süd-deutsche Gegenwart. Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall hocken immer noch Leute in Talkshows zusammen und unterscheiden nach einer Weile diplomatischen Geplänkels irgendwann messerscharf zwischen „Wir und „Ihr, als gäbe es die deutschdeutsche Grenze noch oder wieder. Weil sie nicht dazu in der Lage sind, das Gemeinsame zu sehen. Und weil jeder glaubt, etwas Besonderes zu sein. Es wundert mich nicht, dass das beste Buch, dass ich bisher über die Wendezeit gelesen habe, weder von einem Ossi noch von einer Wessi stammt, sondern von einer Aussi, einer Australierin: Anna Funders „Stasiland ist schon fast mit Studds Terkels „The Good War (Der gute Krieg – über das Lebensgefühl der Menschen in den USA im Zweiten Weltkrieg) vergleichbar oder mit „Hope dies last" (Die Hoffnung stirbt zuletzt), seinem Oral-History-Buch über Leute, die sich für eine gute Sache engagieren. Auch wenn sie auf scheinbar verlorenem Posten stehen.

    Aus der Geschichte der einen und der Geschichte der anderen ist keine bundesrepublikanische Gegenwart geworden, und längst nicht alle, die Erfahrungen mit einem Unrechtsregime haben, sind heute überzeugte Demokratinnen und Demokraten. Das Verfahren gegen die Mörderbande NSU hat gezeigt, wie blind die Justiz auf dem rechten Auge war. Und es geht weiter. In Kassel ist im Sommer 2019 der Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) auf der Terrasse seines Hauses von einem Rechtsextremen erschossen worden, weil er die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung verteidigt und sich gegen Fremdenfeindlichkeit ausgesprochen hatte. In Sachsen und Thüringen finden 2019 viele Leute nichts dabei, Faschisten ihre Stimme zu geben, selbst dann, wenn sie selbst gar nicht rechtsextrem sind. In Hannover demonstrieren Neonazis gegen namentlich genannte Journalisten, unter anderem, weil einer von ihnen 2018 einen Film über einen ehemaligen SS-Mann gedreht hatte. Nicht nur der Deutsche Journalistenverband (DJV) verfolgt die medienfeindliche Entwicklung mit Sorge. „Zu Gewalt kam es insbesondere am Rande rechtspopulistischer Veranstaltungen und Kundgebungen, heißt es auf der Website von Reporter ohne Grenzen. „Bei Demonstrationen in Chemnitz im Sommer 2018 schlugen Protestierende filmenden Journalistinnen und Journalisten wiederholt gegen das Handy oder die Kamera oder griffen sie mit Vorwürfen wie ,Lügenpresse’ verbal an. In den USA werden Berufskolleginnen und Berufskollegen auf Veranstaltungen der Republikaner wie „Volksfeinde (enemy of the people) behandelt. Und die oberhessische Holocaustüberlebende Ruth Stern Gasten („An Accidental American/„Zufällig Amerikanerin") fühlt sich von Donald Trumps Wortwahl an Reden von Adolf Hitler erinnert.

    Im November 2019 zogen also die Neonazis durch Hannover, um Journalisten einzuschüchtern. Der inzwischen verstorbene ehemalige SS-Mann, für den sie abwechselnd „Gerechtigkeit und „Rache forderten, war 1944 an einem Massaker an 86 Zivilisten in Ascq (Nordfrankreich) beteiligt gewesen und 1949 von einem französischen Gericht in Abwesenheit für dieses Kriegsverbrechen verurteilt worden. Unbehelligt und ohne die Morde zu bereuen, lebte er bis zu seinem Tod in Niedersachsen. Für die Rechten ist er ein Held. Und der Journalist der Gegner, den es einzuschüchtern gilt. Die Polizei hat die Demo verboten, und das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat der klagenden, als verfassungsfeindlich eingestuften NPD Recht gegeben. Ein Blick in die Zeitung vom Vortag: Der Chef des deutschen Feuerwehrverbandes, der eine türkischstämmige Geschäftsführerin eingestellt und vor einer Unterwanderung der Feuerwehren durch die AfD gewarnt hat, wird von seinen Vorstandskollegen zum Rücktritt gedrängt und bekommt Hass- und Drohmails der übelsten Sorte. Dazu zu schweigen, wäre fatal. Es wird Zeit, Tacheles zu reden. Vielleicht sogar über Gefühle und Motive zu sprechen. Über die Grenzen des Anstands. Und über Glaubwürdigkeit, über die Suche nach der Wahrheit.

    Über das Lebensgefühl in der untergehenden DDR hat die Zeitung, für die ich arbeite, im Spätsommer 1989 eine Glosse veröffentlicht, die ich abgeliefert hatte, samt Ostwitz über Erich Honecker. Ich war auf der Hochzeit einer Freundin in der Nähe von Leipzig gewesen und hatte auf der Feier und in der Bahn mit Leuten gesprochen, die zögerten, ein Land zu verlassen, das trotz allem ihre Heimat war und nun langsam zerbröselte („Himmel un Höll"), und die sich von anderen verlassen fühlten.

    Bleiben oder gehen? Die Frage haben sich Generationen von jungen Menschen auf dem Land gestellt, wenn sie sich nach Freiheiten und beruflichen Chancen sehnten, von denen man in den Dörfern und Kleinstädten auch in den Achtzigern nur träumen konnte. Und manchen ließ man keine Wahl. „Bürger verändern das Gesicht einer Stadt" ist das Motto des Museums in Kirtorf. Und dabei wird leicht vergessen: Wer, wie die Kirtorfer oder die Ober-Gleener Jüdinnen und Juden, vor den Nazis ins Ausland geflohen oder umgebracht worden ist, hinterlässt eine Lücke. Es sind Wunden gerissen worden, die nicht von selbst verheilen. Das Haus Speier in der Dorfmitte von Angenrod, dessen letzte Bewohner am 7. September 1942 erst nach Theresienstadt verschleppt und in Auschwitz ermordet worden sind, stand jahrzehntelang leer, weil der überlebende Sohn mit dem Zerfall ein Zeichen setzen wollte. Ehrenamtliche haben das 200 Jahre alte Fachwerkhaus in eine Gedenkstätte in Erinnerung an Johanna Speier (Jahrgang 1898), geborene Weisenbach, Leopold Speier (1875), Liselotte Speier (1933) und Alfred Speier (1927), Minna Wertheim (1892), geborene Löwenthal, Sally Wertheim (1888), Frieda Abt (1874), geborene Bauer, und Bertha Oppenheimer (1888) verwandelt, wollen aber auch, wie unser Geschichtsverein Lastoria mit dem Hörbuch „Jiddisch Leben’’, an jüdisches Leben vor und nach dem Holocaust erinnern.

    Auch wer aus freien Stücken weggeht, verändert etwas im Leben aller anderen. Höfe sterben, Läden sterben, Vereine und Kirchengemeinden bluten aus, die Gassen sind leer, selbst wenn sich für die Häuser neue Besitzer finden. Manche Türen sind bai (angelehnt oder zumindest nur geschlossen), andere abgesperrt. Oder haben nicht einmal mehr eine Klinke.

    Insenn Hoop

    (I hope that I don’t fall in love with you)

    Insenn Hoop schdidd doa, wu err schuh friejer schdann.

    Voo dè Dahlie sai die Bliere obgefann.

    Die Katz eas duud, on off dè Huud,

    doa rechd kenner mieh Hää.

    Du freechsd dech, woas doas med merr dudd?

    Widdes ächd weasse? Näi.

    Insenn Hoop schdidd doa, wu err schuh friejer schdann.

    Off dè Dräbbeschduufe sass ech ob on zu.

    huh off woas gewoadd, es liss merr goar käi Ruh.

    Doch woas aach koom,

    es liff vierbai oo insem klenne Doaf.

    Die Zääd vergeang, mir woarn eller,

    on als noch viel zè broav.

    Off dè Dräbbeschduufe sass ech ob on zu.

    Insenn Hoop schdidd doa, wu err schuh friejer schdann.

    Eas derr äächendlech die Schinnel offgefann,

    die doa gläich fälld, wie die sech häld,

    on mir leasse ins gieh.

    Woas winn merr dann, woas duh merr dann,

    woas feanne merr dann schie?

    Insenn Hoop schdidd doa, wu err schuh friejer schdann.

    Unser Hof

    Unser Hof steht da, wo er schon früher stand.

    Von der Dahlie sind die Blüten abgefalln.

    Die Katz ist tot, und auf der Hut (einem Flurstück) recht

    keiner mehr Heu.

    Du fragst dich, was das mit mir tut?

    Willst du’s echt wissen? Nee.

    Unser Hof steht da, wo er schon früher stand.

    Auf den Treppenstufen saß ich ab und zu,

    hab auf was gewartet, es ließ mir gar kei’ Ruh.

    Doch was auch kam, es lief vorbei an unsrem kleinen

    Dorf.

    Die Zeit verging, wir warn älter,

    und immer noch (viel) zu brav.

    Auf den Treppenstufen saß ich ab und zu.

    Unser Hof steht da, wo er schon früher stand.

    Ist dir eigentlich die Schindel aufgefalln,

    die da gleich fällt, wie die sich hält,

    und wir lassen uns gehn.

    Was wolln wir denn, was tun wir denn,

    was finden wir denn schön?

    Unser Hof steht da, wo er schon früher stand.

    Traurige Musik tröstet, das ist inzwischen wissenschaftlich belegt. Wir haben es geahnt, als wir Tom Waits gehört haben. Ihn und so andere Musiker, die klangen, als hätten sie das Leben schon hinter sich. In der ehemaligen Ober-Gleener Synagoge haben wir für die CD „Läurer Lirrer" im Sommer 2018 mit allen, die dabei sein wollten, ein Lied von Joan Baez und Pete Seeger eingesungen, „We Shall Overcome, den Protestsong, der aus der Kirche kam. Wie die Demonstrantinnen und Demonstranten in Leipzig, die montags „Wir sind das Volk riefen. Die von der Armee im Juni 1989 getöteten chinesischen Studentinnen und Studenten auf dem „Platz des „Himmlischen Friedens, die jungen Leute aus dem „Arabischen Frühling oder die Demonstrantinnen und Demonstranten heute in Hongkong. Die „samtenen Revolutionärinnen und Revolutionäre in Prag haben im November 1989 die Fahne der Freiheit (Nämest) hochgehalten, als die Mauer in Berlin gefallen war. Eben noch hatten die zurückgelassenen Trabbis in der Nähe der westdeutschen Botschaft das Straßenbild geprägt. „Die Luft ist schön, das Meer ist noch schöner, am schönsten aber sind lächelnde Gesichter. Der Tisch hält etwas aus, die Berge halten noch mehr aus, aber am meisten hält der Glaube der Menschen aus. Mächtig ist die Waffe, mächtiger ist immer noch die Gerechtigkeit, am mächtigsten aber ist es, die Wahrheit auszusprechen, sang Jaroslav Hutka, einer der Mitunterzeichner der „Charta 77", der eigens aus dem erzwungenen Exil zurückgekehrt war und aussah wie John Lennon in seiner bärtigen Zeit, am 25. November 1989 vor 800 000 Menschen. „Groß ist die Erde, umgeben von Wasser. Was aber ist das Allergrößte? Die Freiheit des Menschen."

    Sammed

    (Marseillaise)

    Voo Sammed

    woar die Rewwoludsjon,

    dè Herbsd dè Friehling däd vollenn,

    on dè Wenselsploads voller Mensche,

    on die Heazze schluuche fier ouch.

    Dess kenn kaale Weand ausem Osde

    on käi Wolgge ausem Wesd’

    die Herbsdzaidluuse derrd!

    Beadda wier schdols off ouch gewäse

    on dè Kwidde wier Trabbi gefoahn!

    Hirschinska hädd iwwer ouch geschriwwe,

    Rosa hädd è Reed gehaan!

    On dann, on dann

    sai eeneche rechds obgebooche,

    schdadd bai ouch zè haan.

    Samt

    Aus Samt war die Revolution,

    der Herbst vollendete den Frühling,

    und der Wenzelsplatz voller Menschen,

    und die Herzen schlugen für euch.

    Dass kein kalter Wind aus dem Osten

    und keine Wolke aus dem West’

    die Herbstzeitlosen dörrt!

    Bertha wär stolz auf euch gewesen,

    und der Quidde wär Trabbi gefahrn!

    Jirschinska hätt’ über euch geschrieben,

    Rosa hätt’ eine Rede gehalten!

    Und dann, und dann,

    sind einige rechts abgebogen,

    anstatt zu euch zu halten.

    Der Bremer Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde (1858-1941) ist vor langer Zeit in Genf gestorben, die Sozialdemokratin und Pazifistin Rosa Luxemburg (1871-1919) gemeinsam mit dem gleichaltrigen Marxisten und Antimilitaristen Karl Liebknecht von Angehörigen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division der Preußischen Armee gemeuchelt worden. Im Frühjahr 1968 sang Marta Kubišová das Lied „Modlitba pro Martu, „Gebet für Marta („Lass mein Gebet zu den Herzen sprechen, die nicht, wie Blumen vom Frost, von der Zeit des Zorns verbrannt sind) in der Stadt, in der die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914) im Kinsky Palais auf dem Altstädter Ring zur Welt gekommen war. Sowjetische Panzer hatten den „Prager Frühling niedergewalzt. Auch am 17. November 1989 hatte die Polizei zugeschlagen, doch wenige Tage später blieb alles friedlich. Und überall hingen selbstgemalte Plakate wie „Jsme št’astni" in Prag. Wir sind glücklich.

    Glücklich sei er heute noch, jeden einzelnen Morgen, wenn er aufwache, sagt Leo Pavlát, der Direktor des Jüdischen Museums in Prag, als wir im November 2019 gemeinsam mit Yale Strom und Elizabeth Schwartz aus San Diego in seinem Büro sitzen. Die beiden haben gerade ein Konzert in der Maisel Synagoge gegeben, Yale stellt Fotos aus, die er ab 1981 bei Reisen durch Osteuropa gemacht hat, und zeigt seinen Dokumentarfilm „The last Klezmer. Als Amerikaner mit einem Geigenkasten ist er in der damaligen Tschechoslowakei von der Staatssicherheit beobachtet worden, aber was ihm wirklich Angst gemacht hat, war die Securitate in Rumänien. Mit einem Volkslied hat er die Geheimdienstmitarbeiter davon überzeugt, dass er Lieder sammelte und kein amerikanischer Spion war. Wie er es erzählt, erinnert es ein bisschen an „Eins, zwei, drei von Billy Wilder (1906-2002), der Komödie aus dem Kalten Krieg, unterlegt mit Klezmer.

    Jahrzehnte später ist alles entspannt. Hunderttausende feiern in den Straßen. Abends leuchtet es überall weiß, blau und rot. Ergraute Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sprechen zu uns von den Fassaden. Stelzenläufer tragen Uniform. Und in der Nationalstraße

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