Tannenfall: Alpen Krimi
Von Bernhard Hofer
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Über dieses E-Book
Ein verlassenes Tal in den Alpen: Immer hat Viktor davon geträumt, einmal zur Jagd zu gehen. Doch nun ist es zu spät. Er ist alt, sein Leben vertan, und die Liebe seines Lebens liegt im Sterben. Noch einmal macht er sich auf, um seiner Frau den letzten Wunsch zu erfüllen: Tannenfall zu sehen! Jenen Ort, an dem er ihr vor siebzig Jahren einen Heiratsantrag machte. Doch als ein gespenstischer Hirsch die beiden attackiert und die Frau verschwindet, beginnt der Alptraum: Auf der Jagd nach dem mysteriösen Tier dringt Viktor immer tiefer in eine geheimnisvolle Welt zwischen Wahn und Wirklichkeit – und stößt auf ein Geheimnis, das gefährlicher ist als alles, was die Welt je zuvor gesehen hat.
Bernhard Hofer
Bernhard Hofer wurde 1970 in Mürzzuschlag, Österreich, geboren. Er arbeitete für Banken, Medienkonzerne und Werbeagenturen. Heute lebt und arbeitet er mit seiner Familie in Potsdam. www.bernhard-hofer.com
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Buchvorschau
Tannenfall - Bernhard Hofer
Bernhard Hofer, 1970 in Mürzzuschlag, Österreich, geboren, studierte Publizistik, Literatur und Drehbuch und arbeitete bei einer Investmentgesellschaft in Wien. Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er als Storytelling-Experte das Studio einer internationalen Kommunikationsagentur leitet.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/SIphotography
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-500-8
Alpen Krimi
Originalausgabe
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Für Anna, Larissa und Alma.
Die beste Familie der Welt.
Wenn ein einziger Hund damit beginnt,
einen Schatten anzubellen, dann folgen die nächsten
und die nächsten, und bald machen
Hunderte Hunde daraus eine Wirklichkeit.
Leidemann, F.: Kriegstagebuch, 1914
Schuld
Ist er zurück?
Die Rückkehr
Seine Frau würde sterben. Wie viele Tage ihr noch blieben, wusste er nicht. Er verdrängte den Gedanken. Wenn sie im Tod ertrank, würde auch er verschwinden, versinken in ihren nassen Augen, als hätte er nie existiert.
Draußen schrien die Schneehexen. Die Heizung blieb kalt. Die knappe Rente reichte nicht mehr. Er griff nach ihrer faltigen Hand, sie war warm. Das war das Wichtigste.
Er zog die Wolldecke über die Schultern der Kranken. Ohne den Blick zu heben, rückte er das Bild zurecht, das hinter dem Bett an der Wand hing. Es zeigte einen Hirsch, gejagt von einem Rudel geifernder Wölfe. Der Rahmen war vergoldet. An manchen Stellen lugte die weiße Grundierung hervor.
Ein Hund bellte.
Sie fuhr hoch. »Schh. Schh. Alles wird gut«, sagte er und schob sie sanft zurück in das feuchte Kissen. Er achtete darauf, dass nichts sie aufregte oder störte. Nichts. In diesen Stunden fühlte er sich wie ein kleiner Junge, ohnmächtig und wütend.
Das Bellen. Wieder.
»Schh. Schh.«
Er stopfte den Schal in das Hemd und klappte den Kragen der Jagdjacke über das Kinn. Verfluchter Köter, dachte er und suchte seinen Hund im brüllenden Weiß. Was hatte ihn so aufgeschreckt? War er es? Das Bellen verwandelte sich in ein Wimmern und Flehen, bis es nach einer kurzen Stille darin erstarb.
Er zog die Hand aus dem Fäustling und legte den Zeigefinger auf den kalten Abzug der Bockbüchsflinte. Er konnte ihn nicht mehr retten. Er hatte es gut bei ihm gehabt. Jetzt war er weg. Vermutlich über die Felswand gestürzt.
Er hielt den Atem an.
Auf diese eine Jagd hatte er sein Leben lang gewartet. Ein Augenblick. Ein Schuss. Ein tödlicher Treffer. Er lauerte hinter der eisigen Schneemauer. Der Schatten, das mächtige Geweih, der heiße Nebel aus den starken Lungen: Das war er. Auch er hatte sich vorbereitet auf den großen, langen Kampf. Mann gegen Tier, Jagd gegen Flucht, er gegen ihn.
Den Schuss hörte er nicht.
Sie umschloss mit der Hand seine müden Finger. Er spürte ihren Herzschlag. »Ist etwas passiert? Ist er zurück?«, fragte sie und schob verwirrt den Kopf zu ihm. Er roch nach Weihrauch, nach bitterem Öl.
»Alles ist gut. Ich bin bei dir. Ich bleibe immer bei dir. Immer. Schh. Schh.«
Das stumme Lied
Das Abschiedslied des Hornbläsers drang in ihn ein wie ein heißes Messer. Er sah zu den hohen, schneebedeckten Tannen, die den Friedhof umgaben. Der Musiker wirkte davor verloren, schwach. Sein Lied aber schnitt schärfer als jedes Schwert. Er wandte den Blick ab, starrte auf die gefalteten Hände. Das karierte Flanellhemd lugte unter den Ärmeln des Trachtenanzuges hervor. Ein getrockneter Milchfleck hatte die Farben verblassen lassen.
Die Nachricht von Konrads Tod war überraschend gekommen. Er hatte eben die übergelaufene Milch vom Herd gewischt. Sie kochte wütend aus dem roten Stahlbecher, während er die frisch gewaschene Wäsche in den klammen Heizraum hängte.
Seine Frau hatte sich an den Geruch von Verbranntem längst gewöhnt. Sie liebte es, einen Schuss heiße Kuhmilch in den Morgentee zu rühren – eine kindliche Torheit, die jetzt, knapp vor ihrem Ende, nach zu Hause schmeckte.
»Wer war das?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Sie bemerkte gleich, dass etwas nicht stimmte, als sie ihren Mann mit erstickten Augen an der Tür stehen sah. Er ging über den alten Holzboden zu ihr und setzte sich ans Bett. Ihre Mundwinkel hüpften, neugierig wie damals, als er sie kennengelernt hatte, beim Tanzen, beim Kirchtag, vor dem Krieg.
»Konrad ist tot.«
Der abgemagerte Arm sank langsam an ihre Seite. »Konrad?« Tränen drückten an ihren Hals. Er schwieg. »Was ist passiert?«
»Beim Jagen. Ein Unfall.«
»Ein Unfall?«
Er nickte. Wie oft hatte Gott die Hand schützend über ihn gehalten? Konrad hätte dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Eine gute Bilanz. Er hatte sich in Konrads Glück gesonnt. Das eine Mal etwa, als er mit der Motorsäge das Bein unter dem Knie fast abgetrennt hatte und dann mit dem Auto ins Krankenhaus gefahren war. Seine Frau besaß keinen Führerschein, seine Kinder waren zu klein gewesen, und sein Vater hatte sich nur mit Vorwürfen zu helfen gewusst. Es war damals keine Zeit zum Leiden gewesen. Er hatte an die anderen denken müssen, nicht an sich. Er hatte die Zähne zusammengebissen, bis er unter den Augen der Ärzte das Bewusstsein verloren hatte.
Oder als er vom Hochstand gefallen war, mit dem Rücken auf die Kissen aus Blaubeeren. Die letzte Sprosse war morsch gewesen. Er hatte Glück gehabt. Konrad hatte ihn immer ausgelacht. Er hatte sich daran gewöhnt. Er hatte meist mitgekichert, da ihm nichts anderes eingefallen war. Und obschon seine Wirbelsäule geschrien hatte, hatte er versucht, wenigstens zu schmunzeln, denn er hatte Konrad beneidet, der all das getan hatte, wovon er träumte. Er hatte nie die Gelegenheit dazu gehabt. Das Haus, der Vater, die Mutter, die Kinder. Für sie hatte gesorgt werden müssen. Eines Tages hätte er Anerkennung bekommen. Aber damals hatte er mit Konrad gelacht und sich vorgestellt, wie der Himmel über ihm zerbrach, während er wie ein Käfer versucht hatte, sich aufzurichten.
»Das Eis? Ist er ausgerutscht?«, fragte seine Frau.
»Das Gewehr, er ist hängen geblieben. Ein Unfall. Der Schnee soll ganz rot sein, der ganze Schädel …«
Sie drehte ihren Kopf zur Seite.
Konrad war tot. Er hatte ihn seit seiner Geburt gekannt. Sie hatten sich nie aus den Augen verloren. Es war, als hätte Konrad immer auf ihn achtgegeben. Wie ein großer Bruder, der ständig auf den kleineren hinschlagen musste, um sicherzugehen, dass er selbst existierte. Genau das war seine Rolle gewesen. Er war der lächerliche Verlierer an Konrads Seite gewesen. Jetzt, da Konrad tot war, war er auch kein Versager mehr. Jetzt war er nicht einmal mehr das.
»Möchtest du schlafen?«, fragte er.
»Gehst du zur Beerdigung?«
Er erhob sich, ohne zu antworten, und sah nach der Milch. Eine Angst befiel ihn, die er nie zuvor verspürt hatte. Was, wenn die anderen aufhörten zu sein? Wenn sein Herz als Letztes schlug?
Die Zeit bis zum Begräbnis brachte er schweigend zu. Er stand wie jeden Tag um fünf Uhr auf, kümmerte sich um das leere Haus, versorgte seine Frau, wusch Wäsche, las in der Zeitung. Eine Kaltfront würde noch mehr Schnee bringen. Er sah aus dem Küchenfenster zu den waldbedeckten Bergen. Noch mehr Schnee. Bevor er von Konrad Abschied nehmen wollte, musste er die Straße freischieben. Sonst würde kein Wagen hierherauf kommen.
Er zog den Trachtenanzug mit der schwarzen Armschleife an. Er hatte sie seit dem letzten Begräbnis nicht abgenommen. Er hasste den Anzug. Jetzt kehrte der Tod die Alten weg, und die Jungen verjagte das Leben. Sie wollte noch etwas sagen, aber sie war zu schwach. Er nickte, da er verstand.
Das Lied endete. Er hatte es gut überstanden. Der Pfarrer sah zum Hornbläser. Wer die Wahrheit nicht an sich heranließ, der ging darin auch nicht unter.
Er warf die zweite Schaufel Erde auf Konrads Sarg, als eine Stimme hinter ihm »Mein Beileid« sagte. Er kannte den Mann nicht. Auch die anderen beiden Männer kannte er nicht. Sie mussten aus dem anderen Dorf kommen. Vermutlich hatte sie der Pfarrer gebeten, dem Begräbnis beizuwohnen.
Er sah zum Dorf, seiner Heimat. Es war leer. Niemand konnte mehr sterben. Ein einziges Mal würde er noch hier stehen. Dann, wenn seine Frau starb. Und wäre er an der Reihe, wäre dort niemand mehr außer diesen drei Männern, die ihn nicht kannten und die er nicht kannte.
Auf ein geheimes Zeichen hob der Bläser zu einem neuen Lied an. Die letzten Vögel verließen die leeren Laubbäume hinter den Tannen. Die Traurigkeit in ihm erstarrte zu Stein. Es gab niemanden mehr, mit dem er über seine Benachteiligungen sprechen konnte. Was blieb, war der süße Duft des Todes, der Stein in seinem Herzen und der Geruch verbrannter Milch, die noch einmal überkochte und letztendlich verschwand wie seine Kinder.
Die Blutscheune
Traf ihn eine Schuld? Die blattlosen Äste griffen nach ihm, als er den Gottesacker verließ und das Weiß des Winters vor ihm zurückwich wie ein Vorhang, der die farbige Welt dahinter behutsam verbergen wollte. Wie hatte das geschehen können? Konrad war doch durchaus geschickt gewesen? Ein Unfall?
Er lugte zu dem einen Baum, der an der schmalen, am Friedhof vorbeiführenden Straße stand wie ein müder Wächter. Dort hatten sie damals gespielt, obwohl es nur zur kurzen Pause geläutet hatte. Sie waren hochgeklettert und hatten mit mutigen Sprüchen die Baumkrone erklommen. Falsch, Konrad hatte sie erklommen. Nicht er. Er war abgerutscht und hatte sich den Arm gebrochen. Er hatte Konrads Fuß zu spät kommen sehen.
Er blieb vor der Buche stehen und berührte die ledrige Rinde. Klebte noch etwas von damals daran? Ein Faden einer roten Wolljacke? Ein bisschen Blut? Ein Stück Haut? Was für ein Unsinn. Bäume erinnerten sich nicht. Bäume waren. Ihre Gefühle und Empfindungen vergingen wie der Wind, trieben keine Narben in die Seele.
Der Unfall war auf der Bärenmauer geschehen, einem Felsvorsprung dicht unter dem Gipfel der Kammalm. Von dort aus sah man in das Tal hinein. Er hatte Konrad geholfen, den Hochstand zu bauen. Hatte er ordentlich gearbeitet? Eine dunkle Ahnung befiel ihn.
Er blickte zu dem Felsen, der mit blassem Schatten zwischen Kirchturm, Grundschule und den hohen Wäldern klebte. Wenn er jetzt losging, würde er zurückkommen, bis die Nacht hereinbrach. Seine Frau würde es nicht bemerken. Sie hatte das Gefühl für Zeit längst verloren. Er hätte ein Schwätzchen mit dem Pfarrer gehalten. Für den Fall, dass sie aufwachte. Sie hätten über Konrad gesprochen und über seine großzügigen Spenden an die Kirche. Er hasste Ausflüchte, doch die Neugierde war stärker.
Und wenn sie auf ihn wartete? Sie würde sich Sorgen machen. Er könnte das Auto nehmen. Wer sollte ihn sehen? Es gab keinen mehr. Und wenn schon. Würden sie die Waffen entdecken? Sie schliefen auf der Fahrerseite unter den Sitzen. Der alte Rucksack, das Heu, die Reste des Rehfutters. Und wenn schon.
Er war aufgeregt, als er den Wagen erreichte. Er hatte ihn in der Scheune des Fernerbauern abgestellt. Der Fernerbauer hatte sich vor vier Jahren erschossen. Das Blut klebte noch immer an der Schoberwand. In einer halben Stunde würde er oben bei der Mauer sein. Er würde sich umsehen und wieder zurückfahren. Niemand würde ihn sehen, niemand würde es bemerken, niemand würde ihm die Schrotflinten pfänden. Er hatte sie von seinem Großvater.
Der Fahrersitz kreischte und umklammerte ihn mit kaltem Atem. Seine Finger suchten neben der Handbremse nach den Gewehren. Mit den Fingerkuppen spürte er den eisigen Lauf. Alles noch da. Er schlug die Tür zu. Leise. Leise.
Er drehte den Schlüssel und stieg auf die Kupplung, bis der Wagen mit einem Husten ansprang. Der scharfe Geruch von Benzin drang in seine Nase. Die Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich schlichen dunkle Schatten hinter ihm. Nein, nein. Da war nichts.
Eine Faust krachte gegen die Fensterscheibe des alten Autos. Er sah zur Seite und starrte in die Gesichter der drei Männer, die er vorhin am Grab gesehen hatte. Einer hielt eine Polizeimarke in der Hand, der andere klappte den Kragen der Jacke hoch. Er erkannte das Abzeichen des Gerichtsvollziehers. Der Dritte war nur hier. Es spielte keine Rolle, was er von ihm wollte.
Nachdem er die Raten nicht mehr bezahlen konnte, hatte er versucht, mit der Bank zu reden. Die Kosten für die Pflege, die vielen Fahrten ins Krankenhaus, die Medikamente: Er war wirtschaftlich am Ende. Jetzt, da er seine Frau im Haus pflegte und auf keinerlei ärztliche Hilfe zurückgreifen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Gnade seiner Gläubiger zu hoffen. Zugegeben, am Anfang waren sie auch gnädig gewesen. Sie hatten gesagt, dass sie mit den Pfändungen warten würden, bis seine Frau starb. Man kannte sie schließlich. Sie war eine stolze Frau. Diese letzte Ehre war man ihr schuldig. Doch sie lebte länger. Und die Bilanzen duldeten keine Gnade.
Man hatte im Keller angefangen. Dann kam der Dachboden dran. Dann die Elektrogeräte. Die Kleider. Die Waffen. Alles. Das Auto und die letzten beiden Gewehre waren bei der Einbruchswelle von Diebesbanden abhandengekommen. Der Gerichtsvollzieher hatte ihm geglaubt. Dass sie einen anderen schicken würden, hatte er nicht gewusst.
Er stieg aus dem Wagen und reichte den drei Männern die Hand. Er fühlte sich schuldig, wagte kaum, den dreien in die Augen zu sehen. Wortlos setzten sie sich in das Fahrzeug und ließen ihn allein zurück.
»Sie wird bald sterben, ich verspreche es …«, rief er ihnen nach. »Nicht das Haus … nicht jetzt.«
Er trat aus der Blutscheune und strich über den weißen Bart. Ein Wurm suchte im feuchten Scheunenboden ein neues Versteck. Er zertrat ihn und vergrub seine Wut. Die drei Männer hatten seine Identität geraubt und ihn zu einem Lügner gemacht.
Die Bärenmauer. Ein Sturm löste sich.
Wenn er jetzt losginge, würde er gleich nach Einbruch der Nacht bei seiner Frau sein. Sie sollte in Frieden sterben. Die zerfressenen Gedanken, die Gebrochenheit, die Ohnmacht, die Demütigungen: All das sollte sie nicht mehr sehen. Einen glücklichen Tod wollte er ihr schenken, das würde er doch schaffen. Sein ganzes Leben für einen glücklichen Tod. Die eigenen Ziele hatte er immer zurückgestellt. Seine Träume hatten in dieser Welt keinen Raum mehr. Und so musste er jeden Weg, der ihn von der Pflege seiner Frau fortführte, sofort verbrennen. Sonst würde er vor ihr zerbrechen wie altes Glas, und sie würde ohne ihn verhungern und eines unwürdigen Todes sterben.
Er hatte keine Wahl. Er musste sich von der Schuld befreien, die er vermutlich am Tod Konrads trug. Erst dann, wenn er befreit war von dieser Schuld, wollte er versuchen, noch einmal Mann zu sein und stark wie ein Tier.
Der Hochstand
Er öffnete den oberen Knopf des Hemdes. Weiße Brusthaare wirbelten heraus. Er blieb stehen und besah den langen Weg, der durch den verschneiten Wald kroch. Er hatte es anders in Erinnerung. Kürzer. Flacher. An seiner rechten Seite erhob sich ein Hang mit einer schmalen Schneise. Vor Jahren war er mit seinem Sohn im Geländewagen hinaufgefahren, um zu reden. Sein Kind hatte darauf bestanden. Er hatte Angst gehabt, aber geschwiegen. Manchmal war es besser, seine Träume unerfüllt zu lassen.
Die Hochspannungsleitungen surrten in der klirrenden Kälte. Sie schnitten mit ihren Fäden die Baumkronen ab und zerteilten den blassen Himmel.
Endlich, die Bärenmauer, wie ein Staudamm aus Fels.
Bei den drei alten Tannen führte ein dünner Weg zu einer Felskuppe, die Hunderte Meter steil abfiel. Das rostige Eisengeländer hatte in der Witterung den Halt verloren. Vorne an der Spitze des Felsens ragte ein knorriger Baum in die Höhe. Er nannte ihn Zweibaum, da er sich in der Mitte teilte und mit zwei Kronen nach oben drehte. Von der Ferne ähnelte die Föhre einem in sich geschlungenen Ypsilon.
Konrad und er hatten die Leiter zum Hochstand in die Rinde genagelt, der zwischen den beiden Ausläufern aus ein paar Brettern, einem Verschlag und einem mit Reisig getarnten Dach bestand.
Er blieb darunter stehen und sah in das Tal, in dem der Nebel verschwand. Am Horizont drückte die Nacht gegen die Berge und trieb die weißen Schwaden in die umliegenden Wälder. Der Hochsitz raunte, ächzte in der Kälte. Er liebte diese Geräusche.
Hier war es geschehen. Hier hatte Konrad den Tod gefunden. Er suchte nach Spuren. Fußstapfen hatten den Schnee zusammengetreten und grau eingefärbt. Obwohl die Zeit drängte, wollte er den Tatort genau untersuchen, wollte sichergehen, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte.
Er hielt sich an der Leiter des Ansitzes fest und beugte sich über den Felsen. Zwanzig Meter tiefer ragte ein Felsvorsprung hervor, wo im Sommer Wiesenenziane blühten. Konrad und er waren oft hinuntergeklettert. Von dort kam man leichter zu den Höhlen. Jetzt lag an der Stelle gefrorener Schnee. Und Konrads Blut. Der Rest war vermutlich ins Tal gefallen wie Regen.
Er trat zurück und stieg die Holzleiter hinauf. Dabei kontrollierte er mit jedem Schritt die Festigkeit der Sprossen. Er erinnerte sich an jeden Nagel, den er in den Baum geschlagen hatte. Alles hielt stand. Er erreichte die oberste Stufe, schob den Querbalken des Hochstandes zur Seite und drehte sich mit geducktem Kopf in den engen Käfig. Die Holzbank war kalt. Seine Füße rutschten auf dem eisigen Boden. Er war erleichtert. Unter der Eisschicht der letzten Tage schimmerten rote Spritzer.
War Konrad abgerutscht? Er legte den Schießstock in die Position, die Konrad ebenfalls eingenommen haben könnte. Er hob ein unsichtbares Gewehr, richtete es auf den Schlag und stützte sich an der Stange ab. Er atmete tief ein, schloss die Augen, hielt mit einem stillen Lächeln inne. Dann ließ er den Arm abgleiten und tat so, als würde die Kugel seiner Flinte ihn treffen.
So könnte es gewesen sein. Aber warum war Konrad abgerutscht? Das Eis? Worauf hatte er gezielt?
Die Wimpern klebten aneinander. Er fixierte die Lichtung jenseits des abgeholzten Hanges. Ein Wild hatte Fährten im Schnee hinterlassen. Ein Mufflon? Eine Gämse? Ohne Fernglas waren die Spuren nicht zu lesen.
Nachdem er am Hochstand noch einmal alles kontrolliert hatte, um sicherzustellen, dass er an dem Unfall unschuldig war, beschloss er, über die steile Schneise zu gehen. Die Wildspuren ließen ihm keine Ruhe. Er versprach sich nicht viel davon, aber jetzt war er schon einmal hier und das vermutlich zum letzten Mal.
Er stieg die Leiter behutsam hinab und tastete sich mit ausgestreckten Armen den Weg auf dem Hang entlang. Eisige Äste peitschten in sein Gesicht. Er kannte den Pfad hinüber, an dem schon viele den Halt verloren hatten und in die Tiefe gedonnert waren. Auch er. Meist war es beim Schreck geblieben, und bis auf ein paar Schürfwunden waren die meisten heil wieder zurückgekommen. Auch er.
Diesmal musste er jedoch vorsichtig sein. Ein neuerlicher Aufstieg würde Zeit kosten. Zeit, die er nicht mehr hatte.
Außer Atem erreichte er die Lichtung. Der Hochstand lag nun auf der anderen Seite. Er sah sich um – und tatsächlich: Spuren. Sie führten von überall hierher. Es waren die eines Hochwildes. Zumindest hatten sie dieselbe Form. Er war aufgeregt, und ihn fröstelte. Ein Hirsch. Allerdings stimmte etwas nicht. Die Größe. Wenn die Abdrücke zu einem Hirsch gehörten, musste er … er legte die Stirn in Falten und sah zum Hochsitz. Die Fährte des Wildes lag zehn Meter oberhalb des Pfades, den er vorhin gegangen war. Über dem Felsen waren Äste zerbrochen. Es sah so aus, als wären sie mit einer Axt abgeschlagen worden. Erst jetzt aus der Ferne bemerkte er, dass der Zweibaum auf der einen Seite schwere Wunden aufwies. Ein großes Geweih musste sich daran gerieben haben.
War das die Ursache für Konrads Unfall? Ein Hirsch? Aber warum war das Tier auf Konrad losgegangen, und vor allem: Wie groß musste es sein, wenn es solche Spuren hinterließ und die gewundene Föhre derart schüttelte, dass ein Jäger den Halt verlor?
Er würde es nie erfahren. Seine Frau würde sterben. Er musste zurück. Noch einmal blickte er sich um, genoss die abendliche Stille. Er war schuldlos. Tief zog er die Luft, die er so sehr liebte, in die Lunge. Ein zarter Hauch von Rosmarin. Rosmarin? Er drehte den Kopf.
Ein gutes Stück weiter unten sah er ein Wurzelnest zwischen Eis und Schnee hervorblitzen. Es war umgeben von verfärbten Blüten des Sumpfporsts, geschützt von den festen Stielen schlafenden Schierlings und einer sonderbaren Pflanze, die er noch nie gesehen hatte. Behutsam stieg er hinab. Je näher er kam, umso mehr füllten sich seine Augen mit Tränen.
Sein Vater hatte ihm als Kind davon erzählt. Das blaue Leben. Eine kleine, zärtliche Blume mit fedrigen Blütenblättern und einem Blau, das nicht von dieser Welt schien. Hatte sie ihre dünnen Wurzeln erst geschlagen, schaffte es keine Witterung, sie zu vertreiben. So hieß es wenigstens in den Legenden.
Weder konnte sie ein Sommer verdursten lassen noch ein stürmischer Herbst zerreißen noch ein durstiger Frühling ersäufen oder ein Winter erfrieren – hatte sie zum Leben gefunden, hatte sie den Tod besiegt. Das blaue Leben, dachte er, das blaue Leben. Wieder und wieder rief er den Namen der Blume in ihrem Volkslaut und sank erschöpft neben dem Wunder der Natur nieder. Wie konnte das sein? Dass die Erde hier besonders war, wusste er. Er prahlte gerne damit, wenn er von Kräutern und Pflanzen erzählte, die keiner kannte. Aber das blaue Leben? Er streckte die Finger aus und berührte die zarten Blätter.
Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Er wusste nicht, warum ihm diese Zeilen in den Sinn kamen. Das blaue, das ewige Leben.
Es war beinahe Nacht geworden. Er blickte ins Tal und stellte fest, dass ihn unendlich fror. Er hatte eine Antwort gesucht und eine noch größere Frage gefunden. Jetzt musste er schnell nach Hause zu seiner Frau, bevor die Nacht ihr Leben auslöschte.
Der Hirsch
Einmal im Leben tun, wofür man bestimmt ist.
Das blaue Licht
Er hatte den Weg zurück unterschätzt. Obwohl er lief, so schnell er konnte, geriet er in die Dunkelheit. Bald waren nur der Rhythmus der knirschenden Schritte und die feuchten Wölkchen seines Atems die letzten geduldigen Begleiter. Arme und Beine fühlte er nicht mehr. Das schwache Kerzenlicht im Küchenfenster seines Hauses führte ihn wie eine Laterne, die schwankend näher kam.
Mit zitternden Händen holte er den Schlüssel aus der steif gefrorenen Jackentasche und drehte ihn im Schloss. Die Wärme umhüllte ihn wie ein alter Handschuh. Er sah nach oben, als hätte er sie erwartet, an der Treppe. Früher, als sie noch gesund gewesen war, hatte sie dort immer auf ihn gewartet. Eine Gewohnheit. Als hätte sie ihn kontrollieren wollen. Er schlüpfte aus den Schneeschuhen und stieg leise die Stufen empor.
Sie schlief. Ein Rosenkranz hing zwischen ihren Fingern, und das Mondlicht malte mit blasser Schrift eine verblühte Jugend auf ihr knöchernes Gesicht. Wie sehr er sie doch liebte. Der Gedanke, dass sie von ihm gehen würde, war schwerer zu ertragen als jener, dass er selbst eines Tages gehen musste. Er hatte auf dem Heimweg über seinen Plan nachgedacht. Jetzt hatte er sich entschieden. Er tastete in der Hosentasche nach dem blauen Leben. Es schenkte ihm Hoffnung.
»Du warst lange weg«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Im Zimmer roch es nach Johanniskraut, getrockneter Minze und bitterem Öl.
»Es tut mir leid …« Er wollte von seiner Entdeckung erzählen, von den Spuren und seinem Verdacht. Aber er hielt inne und strich in der Hosentasche mit den Fingerspitzen über die Blätter der blauen Blume.
»Warum lachst du?«, fragte sie.
»Ich lache nicht.«
Ein Hustenreiz riss sie in die Höhe und verwandelte sie in eine Bestie, die brüllend um ihr Leben kämpfte und mit letzter Kraft den Tod, der an ihr zerrte, anschrie. Erschöpft sank sie zurück in das feuchte Kissen.
Er umschloss das Geheimnis in seiner Tasche mit schützender Faust. Es war sein Schatz, die letzte Hoffnung, sein Wunder. »Ich mache einen Tee. Dann kannst du gut schlafen.«
Adrenalin schoss durch den alten Körper, als er den Herd einschaltete und das Wasser aufstellte. Er nahm das blaue Leben aus der Tasche und betrachtete es in der offenen Hand. Es war wunderschön. Genau so, wie es die Legenden beschrieben. Er zupfte die Blätter ab und mischte es in die Kräutermischung, die seine Frau gewohnt war. Natürlich, sie konnte daran sterben. Die Nähe zum giftigen Schierling und zum Sumpfporst deutete darauf hin, dass das blaue Leben selbst tödlich war. Aber: Das Leben, die Unsterblichkeit, die Hoffnung – sollte er diese Chance nicht nutzen? Diese letzte Chance? Womit sonst wollte er sich dem nahen Gevatter entgegenstellen? Er hatte sonst nichts. Er zog den Kopf ein, verdrängte die Stimme seines Gewissens und bekreuzigte sich, während er an den Kräutern roch, als wären sie eine Waffe. Damit wollte er das Tier besiegen, das an seiner großen Liebe zerrte.
»Hast du erfahren, wie es zu dem Unfall gekommen ist?«, fragte seine Frau mit schwacher Stimme. Sie wollte ein Stück des Lebens außerhalb dieses Hauses wahrnehmen. Natürlich wusste sie, dass das Tal, in dem sie lebten, ausgestorben war und nach Konrads Tod außer ihnen beiden niemand mehr hier lebte.
Ein Hirsch hatte ihn getötet. Ein weißer Riesenhirsch. Seine Schultern überragten den Kopf eines Menschen, und das Geweih würde hier im Schlafzimmer nicht Platz finden. Er hatte Jagd auf Konrad gemacht, hatte sich mit voller Wucht gegen den Zweibaum geworfen. Konrad hatte das Gleichgewicht verloren und sich durch den Kopf geschossen. Sein Blut war auf das leere Tal geregnet. Aber sie musste sich keine Sorgen machen. Er würde seine Waffe nehmen und die Bestie jagen. Endlich! Er würde sie beschützen und ihren Freund, ihren gemeinsamen Freund, rächen. Er würde alles daransetzen, dass die Kinder und Alten in diesem Tal wieder schlafen konnten. Friedlich. Ruhig.
Er war ein Jäger. Er war immer ein Jäger gewesen, auch wenn das Schicksal etwas anderes mit ihm vorgehabt hatte. Jetzt aber war seine Zeit gekommen. Sie musste keine Angst mehr haben. Jetzt nicht mehr.
»Vermutlich ausgerutscht«, sagte er schließlich und verschluckte seine Aufregung bei dieser Lüge.
Er wirbelte den Löffel im heißen Tee und sah zu, wie die Wirkstoffe der blauen Blume in das dunkle Wasser schwebten.
»Dein Tee ist bald fertig.«
»Du bist so gut zu mir. Jeden Tag … so gut …«, sagte sie kraftlos wieder und wieder aus dem Schlafzimmer. »Du bist ein guter Mann.«
Er klopfte mit dem Teelöffel an die Tasse, als wollte er ihr damit sagen, dass er jetzt aus