Paris, Texas
Paris, Texas
Ulrich Gregor, epd Film, Nr. 12, Dezember 1984
Dieser Wenders-Film ist so konsequent gearbeitet wie nur je einer. Er enthält alle spezifischen Elemente dieses Regisseurs: die bildliche Verdichtung von Gefühlen, Hoffnungen; die lakonische Sprache; die Vorliebe für offene Charaktere; die Einbeziehung des Zuschauers, der angedeutete Strukturen ausfüllen muß. Er enthält auch das Zufällige, scheinbar Gewürfelte oder Voraussetzungslose der Handlung, verbunden mit einem Klima von Freiheit, auch Beziehungslosigkeit, was schon den Reiz früherer Wenders-Filme ausmachte; und die sensible Schilderung oft nur angedeuteter zwischenmenschlicher Beziehungen. All das erscheint hier aber nicht als Wiederholung von Bekanntem; sondern in einer Zuspitzung, Geschlossenheit, Reinheit, die diesen Film sicherlich noch vor den anderen des Wendersschen CEuvres auszeichnet. Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Film ist, daß das gewisse Plus an "Zugänglichkeit" und Identifikationsmöglichkeiten, das "Paris, Texas" gegenüber früheren Wenders-Filmen besitzt, nicht erkauft wurde durch irgendwelche Zugeständnisse oder Abstriche vom bisherigen Wenders-Stil, sondern durch dessen Komprimierung und logische Ausarbeitung erreicht wurde (obwohl auch die Produktion dieses Films an Zwischenfällen nicht arm war). Herausgekommen ist jedenfalls ein Werk, das so viel Ausstrahlung, so viel Schönheit und Dichte der Bilder, so viel Treffsicherheit besitzt, daß es einem des öfteren den Atem verschlägt.
Wenders erzählt eine Geschichte, die auf den "Motel Chronicles" des amerikanischen Autors Sam Shepard basiert und sich aus ganz simplen Ansätzen zu immer größerer Komplexität entwickelt. Die Faszination dieses Films ist wohl auch darin begründet, daß er fast immer mit dem identisch ist, was er in seinen Bildern zeigt, daß er andererseits mit Erklärungen sehr sparsam umgeht und viele Bereiche der Geschichte oder Vorgeschichte absichtlich im Dunkeln läßt (oder erst zum Schluß aufhellt). Der Beginn der Story ist von lakonischer Einfachheit: Ein Mann taucht irgendwo in der Wüste von Arizona zwischen kahlen Berggipfeln auf (ein John-Ford-Panorama), trinkt den letzten Schluck Wasser aus einem Plastikkanister und wirft diesen dann fort. Er ist der einsame Held par excellence, der auch sein Bewußtsein und seine Sprache verloren zu haben scheint. Im Verlauf des Geschehens bemüht sich sein Bruder um ihn, ein in Los Angeles lebender Maler von Reklameplakaten (diese Beschäftigung ist ebensowenig zufällig wie der Name des Helden, "Travis", mit seiner Assoziation zum Wort "Travel"), und löst ihn aus seiner Stummheit endlich heraus; als erstes entlockt er ihm das Wort "Paris", dann taucht auch ein Foto zu diesem mythischen Ort auf, das freilich nichts anderes als leeres Terrain zeigt; auf diesen Ort richten sich jedoch die Wünsche und Erinnerungen von Travis. Er wird von seinem Bruder in dessen exquisites Heim oberhalb von Los Angeles mitgenommen, wo auch sein siebenjähriger Sohn lebt, Hunter, der inzwischen von dem Bruder und dessen Frau quasi adoptiert wurde, da beide Eltern verschwanden (was es mit diesem Verschwinden auf sich hatte, wird erst gegen Ende des Films stückweise offenbart). Der Vater findet langsam wieder Kontakt zu dem zunächst mißtrauischen Jungen; beide gehen auf eine abenteuerliche Reise, um die in Houston lebende Mutter wiederzufinden; es erweist sich, daß sie in einer Peep-Show arbeitet, wo durch Glasscheiben hindurch vor allem Unterhaltungen geführt werden. Und nun folgt zwischen Travis und Jane (seiner früheren Frau) in einer filmischen tour de force, die stilistisch ganz im Gegensatz zum übrigen Film steht und die man wegen ihres Mutes bewundern muß, nicht ein "Gespräch", sondern ein Austausch von Monologen. Am Ende kehrt der Junge zur Mutter zurück, und Travis fährt mit seinem Auto von einer expressionistisch anmutenden amerikanischen Stadtlandschaft wieder fort ins Irgendwo.
Man kann an dieser Stelle des Films überlegen, ob der Junge nicht weiterhin bei seinen Adoptiveltern besser aufgehoben wäre als bei seiner Mutter und ob diese Zusammenführung von Sohn und Mutter nicht eine weitere Wahnsinnsaktion von Travis ist. Diese Interpretation läßt der Film durchaus zu; aber für Travis scheint es soviel wie die Abgeltung seiner Schuld oder die Erfüllung eines inneren Auftrages zu bedeuten, daß er den Jungen wieder bei der Mutter "abliefert" (während er selbst offensichtlich nicht mehr Teil einer Familie sein kann oder will).
Ehe man auf die formalen Eigenschaften von "Paris, Texas" zu sprechen kommt, muß man auch auf das hinweisen, was sich mit der "Menschlichkeit" des Films nur unvollkommen umschreiben läßt. Wenders verzichtet auf alles Sensationelle oder Spektakuläre, auf fast alle Elemente, die das Kino heute zumeist ausmachen (und marktgängig machen), um sich statt dessen der Schilderung ganz einfacher Vorgänge zu widmen. Er zeigt einen Menschen, der aus seiner Verschlossenheit teilweise wieder herausfindet. Er zeigt das schwierige Wiederanknüpfen unterbrochener Beziehungen. Ihn interessiert vor allem die Beziehung zwischen Vater und Sohn, Erwachsenem und Kind (man denkt an "Alice in den Städten"), aber auch, und das ist neu für Wenders, der Begriff der Familie. Wenders zeigt, und das sind mit die schönsten Momente in seinem Film, wie zwischen Personen, die sich zunächst fremd gegenüberstehen, eine Kommunikation zustande kommt, Zuneigung spürbar wird, durch eine Geste, ein paar Worte. Dies sind schon dramatische Höhepunkte in dem ansonsten sehr lakonischen, aber noch mit Gefühlen aufgeladenen Film. Oft fallen die Personen wieder in das Monologisieren zurück (so auch der Junge vor dem Vater), Botschaften werden auf ein Tonband gesprochen, oder es treten Personen auf, die eingemauert scheinen in Isolation, so der einsame, apokalyptische Prediger auf der Brücke, an dem Travis vorbeigeht.
Was an dem Film vielleicht am allermeisten berührt, ist jedoch die unerhörte Qualität der tiefenscharfen, klaren Bilder, die spezifische Amerika-Faszination, die sich in ihnen ausdrückt; das Gefühl für die Weite, für Landschaften, Farben, Kontraste, Linien (sie führen meist ins Unendliche), Offenheit, Himmel. Auf eine eigentümliche und einmalige Weise verschmelzen die Bilder mit der Musik (sie ist eine der ganz starken Eigenschaften des Films: den wenigen Gitarren-Tönen wohnt eine fast japanische Asketik inne), mit Schauspielerischem und Dramaturgischem. Bild-Motive werden zu Kristallisationspunkten, Ausdrucksformen, Chiffren für das Geschehen. Metaphorische Bedeutungen scheinen auf (der Gegensatz von Wirklichkeit, Darstellung und Illusion), ohne daß diese einzelnen Ebenen der Bedeutung jedoch voneinander abgehoben wären; darum wirkt der Film niemals auch nur im geringsten prätentiös. Auch die Environments aller Szenen sind vorzüglich gestaltet (oder "gefunden") und von hohem Ausdrucksgehalt: die Trailer-Siedlung, auf die Travis als erstes zusteuert; die Hotelräume; ein Ausschnitt aus einem Restaurant; die Interieurs der Peep-Show. Nicht jeder wird in gleicher Weise auf diesen Film reagieren. Das macht aber gerade seine Qualität aus, daß er den Zuschauer nicht raffiniert einfängt, überwältigt; sondern ihm Bilder, Räume, Menschen nahebringt, in denen man sich wiederfinden kann.