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Die „Hölle“ bezeugen

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

Im Herbst 1941 begann die systematische Deportation der deutschen Jüdinnen und Juden „nach Osten“. Einer der Zielorte war Riga; zwischen dem 27. November 1941 und dem 6. Februar 1942 fuhren zwanzig Transporte mit insgesamt etwa 20.000 Menschen zum Güterbahnhof Riga-Skirotava. Die Insassen des ersten Transports aus Berlin erschossen SS- und Polizeikräfte direkt nach der Ankunft, die Menschen in den folgenden Zügen gelangten an verschiedene Orte in und bei Riga: das Lager Jungfernhof, das Getto von Riga und das Lager Salaspils. Unmittelbar nach dem Krieg zeichneten manche Überlebende auf, wie sie nach der Deportation an Orten überlebt hatten, die sie zuweilen als „die Hölle“ bezeichneten. Einige dieser Zeugnisse sind hier dokumentiert.

Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen 155 Andrea Löw Die „Hölle“ bezeugen Frühe Berichte überlebender deutscher Jüdinnen und Juden aus Riga „Nachdem also einige Transporte zum Jungfernhof gekommen sind, ist der erste Kölner Transport im Ghetto gelandet. Danach kamen Dortmund, Sachsen, Berlin, Kassel, Wien, Düsseldorf und noch einige andere Transporte ins Ghetto. Die Ersten trafen das Ghetto noch mit blutgetränkten Straßen an, mit aufgeschichteten Leichen und ausgeräuberten und durchwühlten Wohnungen.“ So beschrieb Käte Frieß im Juni 1945, was die im Winter 1941/42 nach Riga deportierten Jüdinnen und Juden nach ihrer Ankunft sahen.1 Der Schock angesichts der Gewalt, die Konfrontation mit den ersten Toten, die Spuren der Massaker, aber auch die Versuche, sich in dieser brutalen Fremde zurechtzufinden und das Leben zu organisieren – all dies schilderten die Überlebenden der Gettos VfZ 71 (2023) | H.1 | © Walter de Gruyter GmbH 2023 | DOI 10.1515/vfzg-2023-0005 und Konzentrationslager (KZ), die sie immer wieder als die „Hölle“2 bezeichneten, in ihren Berichten, von denen einige aus der unmittelbaren Nachkriegszeit stammen. Nach der schnellen Eroberung Polens diskutierte die nationalsozialistische Führung unter neuen Prämissen darüber, was mit den deutschen und österreichischen Juden zu geschehen habe: Nun ging es um ihre „Umsiedlung“, die lokale NS-Größen in ihrem Verantwortungsbereich bereits eigenmächtig ins Werk setzten, bevor im Herbst 1941 die systematischen Deportationen aus dem Reichsgebiet „nach Osten“ begannen. Bereits im Oktober 1939 wurden Wiener Juden ins besetzte Polen transportiert. Im Februar 1940 traf diese Terrormaß- 1 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 208, Manuskript von Käte Frieß „Meinem Gori gewidmet“, 1945; veröffentlicht in: Christin Sandow (Hrsg.), „Schießen Sie mich nieder!“. Käte Frieß’ Aufzeichnungen über KZ und Zwangsarbeit von 1941 bis 1945, Berlin 2017, S. 19–138, hier S. 62. 2 Dok. 2, S. 181 und S. 185 f., Dok. 3, S. 192, und Dok. 5, S. 206, der vorliegenden Dokumentation. Dokumentation I. Deportationen Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen nahme die ersten Jüdinnen und Juden aus dem „Altreich“, und zwar aus Pommern, vor allem aus Stettin. Sie wurden mitten in der Nacht abgeholt, nach Lublin gebracht und von dort auf drei umliegende Orte verteilt. Im Oktober 1940 kam es zu Deportationen aus Baden und der Saarpfalz nach Frankreich. Im Februar 1941 traf es Frauen und Männer aus Danzig, die sich im Warschauer Getto wiederfanden, und wiederum Jüdinnen und Juden aus Wien, die den Weg in den Distrikt Lublin antreten mussten.3 Nachdem diese Aktionen jedoch nur Stückwerk geblieben waren, begannen im Herbst 1941 die systematischen Deportationen aus dem Großdeutschen Reich. In einer ersten Welle verschleppten die Nationalsozialisten zwischen Mitte Oktober und Anfang November knapp 20 000 Jüdinnen und Juden in insgesamt 24 Transporten aus verschiedenen Städten des „Altreichs“, aus Luxemburg, Wien und Prag in das Getto in Litzmannstadt/Łódź; dazu kamen 5 000 Roma aus dem Burgenland. Die lokalen Behörden protestierten massiv gegen die Einweisung weiterer Menschen in das ohnehin überfüllte Getto. Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich legten daraufhin eine neue Destination fest. Zwischen dem 8. November 1941 und dem 6. Februar 1942 erreichten 32 Transporte von jeweils ungefähr 1 000 Personen das Reichskommissariat Ostland, genauer gesagt Riga und Minsk. Im November 1941 gelangten außerdem fünf Transporte ins litauische Kaunas/Kowno, wo die Deportierten nach ihrer Ankunft ermordet wurden. In diese Phase fällt auch die Verschleppung der Männer und Frauen, denen die Autorenschaft der hier vorgestellten Berichte und Briefe zukommt. Damit waren die Deportationen freilich nicht zu Ende; sie dauerten im Gegenteil fast bis Kriegsende an und gingen insbesondere nach Theresienstadt und Auschwitz.4 In dieser Dokumentation geht es jedoch um die Verschleppung nach Riga, um den leidvollen Alltag dort, um die Herausforderungen, mit denen die Jüdinnen und Juden konfrontiert waren, sowie um die Odyssee durch das natio- 3 Vgl. Else Behrend-Rosenfeld/Gertrud Luckner (Hrsg.), Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem Distrikt Lublin 1940–1943, München 1970; Andrea Löw, Die frühen Deportationen aus dem Reichsgebiet von Herbst 1939 bis Frühjahr 1941, in: Susanne Heim/Beate Meyer/Francis R. Nicosia (Hrsg.), „Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben“. Deutsche Juden 1938–1941, Göttingen 2010, S. 59–76, und Walter Manoschek, Februar/März 1941. Die frühen Deportationen aus Wien in das Generalgouvernement, in: Dieter J. Hecht/Michaela Raggam-Blesch/Heidemarie Uhl (Hrsg.), Letzte Orte. Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42, Wien 2019, S. 95–109. 4 Vgl. Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005, und Birthe Kundrus/Beate Meyer (Hrsg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne – Praxis – Reaktionen 1938–1945, Göttingen 2004. In der zweiten Jahreshälfte 1942 erreichten weitere Transporte Riga; die Deportierten wurden fast ausnahmslos unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. VfZ 1 / 2023 156 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen nalsozialistische Lagersystem, die die Überlebenden gerade hinter sich gebracht hatten, als sie das Erlebte aufzeichneten. II. Endstation Riga Zwischen dem 27. November 1941 und dem 6. Februar 1942 fuhren zwanzig Transporte mit insgesamt etwa 20 000 Menschen zum Güterbahnhof Riga-Skirotava. Die 1 053 Jüdinnen und Juden, die am 30. November 1941 aus Berlin in Riga ankamen, wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft im Wald von Rumbula erschossen, ebenso wie Tausende lettische Juden an diesem Tag. Dieser erste Massenmord an deutschen Juden ging auf die Initiative des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln zurück, der Himmlers Befehl, das lettische Getto zu liquidieren, entweder missverstanden oder bewusst kaltblütig ausgelegt hatte. Als Himmler über Jeckelns eigenmächtiges Handeln informiert wurde und in sein Tagebuch schrieb: „Judentransport aus Berlin. keine Liquidierung“,5 hatte man die Berliner Juden bereits erschossen.6 Die Verschleppten der folgenden Transporte aus dem Reich wurden auf verschiedene Orte in und bei Riga verteilt: das Lager Jungfernhof (Jumpravmuiža), das Getto von Riga und das Lager Salaspils. Zuvor und teilweise zeitgleich dezimierten Jeckelns SS- und Polizeikräfte unter Hinzuziehung von in Riga stationierten Ordnungspolizisten und lettischen Hilfspolizeieinheiten die lokale jüdische Bevölkerung: Am 30. November, dem sogenannten Rigaer Blutsonntag, sowie am 8. und 9. Dezember 1941 wurden laut deutschen Meldungen 27 800 lettische Jüdinnen und Juden im Wald von Rumbula und teilweise im Getto ermordet.7 Gleichzeitig oder wenig später mussten sich die im Deutschen Reich zur Deportation ausgewählten Personen in ihren Heimatorten an einer Sammelstelle 5 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, bearb. von Peter Witte u. a., Hamburg 1999, S. 277– 279, hier S. 278: Eintrag vom 30.11.1941. 6 Vgl. Andrej Angrick/Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006, S. 160–167. Zu den Deportationen aus Berlin vgl. Akim Jah, Die Deportation der Juden aus Berlin. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und das Sammellager Große Hamburger Straße, Berlin 2013. 7 Vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 138–184, und Wolfgang Scheffler, Das Schicksal der in die baltischen Staaten deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden 1941–1945. Ein historischer Überblick, in: Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearb. von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, Bd. 1, Mün- VfZ 1 / 2023 chen 2003, S. 1–43, hier S. 4 f. 157 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen einfinden. Sie durften neben Handgepäck einen bis zu 50 Kilogramm schweren Koffer mitnehmen und wussten oft nur sehr vage, dass sie zur Arbeit „nach Osten“ gebracht werden sollten. Oft waren sie schon an den Sammelpunkten brutalen Demütigungen ausgesetzt; manche Männer und Frauen mussten sich nackt ausziehen, um anschließend nach Wertgegenständen durchsucht zu werden. Die meist drei Tage dauernde Fahrt erfolgte in überfüllten und häufig eiskalten Zügen, in denen es nur wenig zu essen und vor allem kaum Wasser gab; auf manchen Transporten waren daher schon während der Fahrt erste Opfer zu beklagen. Bei der Ankunft in Riga-Skirotava herrschten Chaos und Gewalt, dies bezeugen zahlreiche Berichte: Zwar kannten die Jüdinnen und Juden aus ihrer Heimat bereits Ausgrenzung und Willkür, diese Gewalteskalation bildete aber eine einschneidende Zäsur. Deutsche Sicherheitspolizei und lettische Polizeikräfte trieben die verstörten Menschen unter Schlägen aus den Waggons. Alles musste schnell gehen, was vor allem älteren Menschen nach der anstrengenden Fahrt am vereisten Güterbahnhof ohne Bahnsteige schwerfiel. Wer kräftig genug war, marschierte los, die Alten und Schwachen bestiegen bereitstehende Wagen, sie sollten das Getto oder andere Lager in vielen Fällen jedoch niemals erreichen. Die Deportierten aus Nürnberg, Stuttgart, Wien und Hamburg, die zwischen dem 2. und dem 9. Dezember 1941 ankamen, mussten vom Bahnhof aus etwa anderthalb Kilometer stadtauswärts marschieren. Sie kamen an einen Ort an der Düna, den die deutsche Sicherheitspolizei erst wenige Tage zuvor ausgesucht hatte und der nicht auf die Ankunft und Beherbergung tausender Menschen vorbereitet war: Jungfernhof. Die Verschleppten hatten unter den Augen des unberechenbaren Kommandanten Rudolf Seck, der das heruntergekommene Landgut in einen erfolgreichen Landwirtschaftsbetrieb verwandeln wollte, ihr eigenes Lager erst zu bauen. Sie mussten Latrinen ausheben, Schlafkojen einrichten oder ausbessern sowie Scheunen abdichten, die als Wohnstätten gedacht waren, da der Schnee auf diejenigen fiel, die in den obersten Kojen schliefen. Es war eiskalt auf den Pritschen, die Menschen hungerten und wurden krank. In diesem ersten Winter fielen etwa 800 bis 900 vor allem ältere Männer und Frauen diesen katastrophalen Zuständen zum Opfer oder wurden von ihren Peinigern ermordet. Am 26. März 1942 wurden bis auf ungefähr 450 von Seck ausgewählte „arbeitsfähige“ Jüdinnen und Juden sämtliche Insassen abtransportiert. Angeblich sollten sie nach Dünamünde kommen, um dort in einer Fischkonservenfabrik leichtere Arbeit zu verrichten. Tatsächlich brachten Sicherheitspolizei und lettische Hilfspolizisten die 1 800 bis 2 000 Menschen in den Wald von Biķernieki und erschossen sie dort. Für die überlebenden LagerVfZ 1 / 2023 158 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen insassen verbesserten sich danach die Bedingungen. Es war nicht mehr so eng, willkürliche Erschießungen fanden kaum mehr statt. Die Häftlinge verrichteten landwirtschaftliche Arbeiten oder bauten Baracken, es gab eine Näherei, eine Wäscherei und eine Schmiede; in Kolonnen marschierten sie außerdem zu Arbeitsstätten außerhalb des Lagers.8 Manche Häftlinge vom Jungfernhof kamen nach einiger Zeit ins Getto, wo inzwischen Tausende deutsche, österreichische und tschechoslowakische Juden lebten. Dort war für die nächsten Deportierten aus dem Reich durch die Massenmorde an der lettischen jüdischen Bevölkerung auf brutalste Art und Weise Platz geschaffen worden. Zeitgleich mit der zweiten großen Mordaktion an den lettischen Juden im Getto von Riga war ein Zug dorthin unterwegs: Am 10. Dezember 1941 erreichte ein Transport aus Köln Riga-Skirotava. Die Frauen, Männer und Kinder dieses Transports waren die ersten, die vom Güterbahnhof in das verlassene Getto marschieren mussten und dort mit den Spuren der Massaker konfrontiert waren. Lilly Menczel beschrieb ihre Eindrücke so: „Am Tag unserer Ankunft im Ghetto sahen wir überall Spuren davon, dass Menschen dort kurz vorher ermordet worden waren: In den Straßen waren gefrorene Blutlachen zu sehen – ein furchtbarer Anblick. Wir fanden in der Wohnung Essen auf dem Tisch vor, man hatte die armen, zum Tode Verurteilten noch nicht mal ihre Mahlzeit beenden lassen.“9 Im Abstand von nur wenigen Tagen folgten Deportationszüge aus Kassel, Düsseldorf, ein Zug aus Münster, Osnabrück und Bielefeld sowie einer aus Hannover. Im Januar und Februar 1942 trafen zehn weitere Züge ein. Sie kamen aus Prag und Brünn über Theresienstadt, Wien, Berlin, Leipzig und Dresden sowie aus Dortmund. Über 15 000 Jüdinnen und Juden waren nun nach Riga deportiert worden. Nicht alle erreichten das Getto, teilweise wurden sie nach ihrer Ankunft ermordet, teilweise für das Lager Salaspils selektiert.10 Dieses etwa 18 Kilometer von Riga entfernte Lager bezeichneten Überlebende in ihren Berichten immer wieder als „Vernichtungslager“.11 Es wurden vor allem Männer zwischen 16 und 50 Jahren dorthin verbracht, die das Lager auf- 8 Vgl. Peter Klein, Die deutschen, Wiener und tschechischen Jüdinnen und Juden am Deportationsziel Riga, in: Beate Meyer (Hrsg.), Deutsche Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lagern (1941–1945). Łódź. Chełmno. Minsk. Riga. Auschwitz. Theresienstadt, Berlin 2017, S. 128–151, hier S. 129–133, und Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 9–13. 9 Lilly Menczel, Vom Rhein nach Riga. Deportiert von Köln: Bericht einer Überlebenden des Holocaust, hrsg. von Gine Elsner, Hamburg 2012, S. 26. Vgl. auch Gertrude Schneider, Reise in den Tod. Deutsche Juden in Riga 1941–1944, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Dülmen 2008, S. 65 f. 10 Vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 227–245. VfZ 1 / 2023 11 Dok. 1, S. 173, Dok. 2, S. 181, Dok. 3, S. 187, und Dok. 5, S. 203, der vorliegenden Dokumentation. 159 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen bauen sollten. In einfachen Baracken und teilweise im Freien lebten die Häftlinge dort unter desaströsen Bedingungen; die Sterblichkeit war hoch. Die Männer mussten hart arbeiten – trotz Kälte, Hungerrationen und völlig unzureichenden hygienischen Bedingungen. Es gibt keine genauen Zahlen, doch überlebte die Mehrheit der nach Salaspils Verschleppten diese Tortur nicht, zumal auch hier Morde an der Tagesordnung waren. Die wenigen, die zwischen Juni und August 1942 zu ihren Angehörigen ins Getto zurückkehrten, waren in einem desolaten Zustand, wie zahlreiche Berichte bezeugen.12 Auch im Getto waren die Deportierten ihres Lebens nie sicher. In mehreren Aktionen ließ der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts (KdS) in Lettland, Rudolf Lange, im Frühjahr 1942 die „Arbeitsunfähigen“ unter den Deportierten ermorden. Die Überlebenden begannen zu verstehen, dass das entsetzliche Verbrechen an den lettischen Juden kurz vor ihrer Ankunft keine Ausnahme gewesen war, dass man sie keineswegs verschonen würde, weil sie sich – wie die Täter – als Deutsche verstanden und dieselbe Sprache sprachen.13 III. Arbeit und Leben Diejenigen, die am Leben geblieben waren, zogen täglich in Kolonnen zu ihren verschiedenen Arbeitsstätten. Kolonnen jüdischer Arbeitskräfte prägten in diesen Jahren das Straßenbild Rigas, mehrere tausend Menschen marschierten täglich zu etwa 200 Arbeitsstellen in der Stadt und ihrer Umgebung. Parallel dazu und verstärkt nach der Auflösung des Gettos waren bis weit ins Jahr 1944 hinein jüdische Arbeitskräfte an verschiedenen Orten in und um Riga kaserniert: Immer mehr Betriebe gingen seit dem Frühjahr 1942 dazu über, ihre Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Betriebsgelände unterzubringen. Jüdische Arbeitskräfte arbeiteten unter anderem für die Sicherheitspolizei und die SS, für die Wehrmacht – hier war die Uniformherstellung von zentraler Bedeutung – und in der Torfindustrie. Die Arbeiter im sogenannten Hochwaldkommando hatten die grauenvolle Aufgabe, immer wieder Gruben für anstehende Erschießungen im Wald von Biķernieki auszuheben.14 12 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 13–16, und Angrick/Klein, Endlösung, S. 207–211 und S. 246–270. 13 Vgl. ebenda, S. 338–345, und Schneider, Reise, S. 104 f. 14 Vgl. Klein, Deportationsziel Riga, in: Meyer (Hrsg.), Deutsche Jüdinnen und Juden, S. 137 f.; Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 21 f., und Angrick/Klein, Endlösung, S. 346–360. VfZ 1 / 2023 160 Riga, Getto: „Schlagbaum“. Bernd Haase aus Gelsenkirchen hat seine Erinnerungen an die Zeit im Getto Riga und im KZ Riga-Kaiserwald 1945 in einem Bericht und in Zeichnungen festgehalten. © Privatbesitz Bernd Haase Trotz allem: Die Deportierten mussten ihr Leben in dieser fremden und lebensfeindlichen Umgebung neu organisieren, vor allem im Getto entstand eine Art Alltagsleben. Sie begannen, ihre jeweilige neue Bleibe aufzuräumen und sich so gut wie möglich einzurichten. Erna Valk erinnerte sich: „Ich war sehr unglücklich, und trotzdem musste ich wie die anderen daran gehen, die kleine Stube aufzuräumen, welche für 3 Familien ausreichen musste.“15 Das deutsche Getto war vom lettischen Getto getrennt, in dem hauptsächlich Männer wohnten, welche die Massaker überlebt hatten. Das deutsche Getto dürfte im Frühjahr 1942 ungefähr 12 500 Menschen gezählt haben. Eine jüdische Selbstverwaltung mit dem Kölner Juden Max Leiser an der Spitze entstand auf Weisung des deutschen Gettokommandanten Kurt Krause. Jede Transportgruppe entsandte ein Mitglied in diesen sogenannten Ältestenrat der Reichsjuden.16 Die Straßen, in denen diejenigen wohnten, die im Winter 1941/42 ins Getto gelangt waren, wurden nach den Herkunftsorten der jeweiligen Transporte benannt, und auch die Gruppen hießen so. Manche nahmen die Situation mit Humor, wie 15 Dok. 3, S. 187, der vorliegenden Dokumentation. 16 Vgl. Klein, Deportationsziel Riga, in: Meyer (Hrsg.), Deutsche Jüdinnen und Juden, S. 133–136, und VfZ 1 / 2023 Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 17–26. Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen sich Käte Frieß erinnerte: „So war es lustig, wenn man sagte, ich gehe jetzt nach ‚Wien‘ oder ‚Hannover‘ usw.“17 Gettobewohner organisierten Unterricht für die Kinder, Musiker und Künstler traten auf, selbst Tanzunterricht gab es eine Zeit lang. Manchen war ihre Religion besonders wichtig, sie begingen die jüdischen Feiertage so gut, wie es unter den schwierigen neuen Bedingungen möglich war. Außerdem hatte es Max Leiser fertiggebracht, von Gettokommandant Krause die Genehmigung zu bekommen, Gottesdienste abzuhalten. Im Viertel des Kölner Transports wurde daraufhin eine improvisierte Synagoge eingerichtet, sogar eine Thorarolle aus Köln war vorhanden. Andere beteten gemeinsam in ihren vollen Wohnungen, manche fromme Juden versuchten, die Speisegesetze einzuhalten. Günther Fleischel, der Gruppenälteste „Hannover“, hatte bei Krause die Genehmigung erwirkt, katholische Gottesdienste zu feiern, denn es gab unter den Deportierten auch Christen, die – wie er selbst – nach der NS-Rassegesetzgebung als Juden galten.18 Fußballspiele gab es ebenfalls im Getto. Sie fanden auf dem sogenannten Blechplatz statt, der sonst häufig ein Ort des Terrors und der Angst war, da dort Selektionen vorgenommen und Juden gehängt wurden. Aber dann gab es auch die Tage, an denen hier die Teams von „Dortmund“ und „Berlin“ oder der jüdische Ordnungsdienst und ein Team lettischer Juden gegeneinander Fußball spielten.19 Wer überleben wollte, musste die kargen offiziellen Lebensmittelrationen durch Tauschhandel aufbessern. Die zusätzlichen Nahrungsmittel wurden abends bei der Rückkehr von der Arbeitsstelle ins Getto geschmuggelt – stets unter Lebensgefahr, denn im Falle der Entdeckung drohte der Tod. Überlebende berichteten, es sei häufig vorgekommen, dass sie abends zurückkehrten, und am Galgen hingen zur Abschreckung eben erst ermordete jüdische Männer. Gettokommandant Kurt Krause erschoss außerdem immer wieder Frauen, die man des Schmuggels überführt hatte, auf dem jüdischen Friedhof. Aber trotz dieses Risikos war der Tauschhandel überlebensnotwendig, wie auch Käte Frieß kurz nach ihrer Befreiung betonte: „Wir mussten tauschen, denn sonst säße ich 17 Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 62. 18 Vgl. Hans-Dieter Arntz, Religiöses Leben der Kölner Juden im Ghetto von Riga nach den Erinnerungen von Karl Schneider, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 53/1982, S. 127–152; Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 35 f.; Schneider, Reise, S. 68 f., und Herbert Obenaus, Vom SA-Mann zum jüdischen Ghettoältesten in Riga. Zur Biographie von Günther Fleischel, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8/1999, S. 278–299. 19 Vgl. Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 72; Josef Katz, Erinnerungen eines Überlebenden, Kiel 1988, S. 116; Schneider, Reise, S. 125, und Isidor Nussenbaum, „Er kommt nicht wieder“. Geschichte eines Überlebenden, hrsg. von Hans Medick/Jens-Christian Wagner, Dresden 2013, S. 61. VfZ 1 / 2023 162 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen hier heute nicht vor der Schreibmaschine. Das war Lebensbedingung.“20 Auch sonst war Gewalt allgegenwärtig. Lettische Polizisten, aber auch deutsche SSMänner drangen nachts immer wieder ins Getto ein und vergewaltigten Frauen. Dort war es bekannt, dass Kommandant Krause – und nicht nur er – eine jüdische Geliebte hatte.21 Trotz offiziellen Kontaktverbots zwischen deutschem und lettischem Getto gab es Beziehungen auf verschiedenen Ebenen. Es entstanden Freundschaften zwischen den jüngeren Bewohnern der beiden Gettos, vor allem zwischen lettischen Männern, die fast sämtlich ihre Familien während der Massenerschießungen Ende 1941 verloren hatten, und deutschen Frauen. Es waren vor allem die jüngeren Menschen, die Bekanntschaften suchten, insgesamt aber war das Verhältnis zwischen deutschen und lettischen Juden häufig eher von gegenseitiger Fremdheit und Misstrauen als von Mitgefühl bestimmt.22 IV. Riga-Kaiserwald, Stutthof und weitere Lager Am 21. Juni 1943 ordnete Himmler die Auflösung des Gettos und die Errichtung eines Konzentrationslagers in Riga an. Mit dem Aufbau dieses Lagers in Kaiserwald, dem Villenviertel Mežaparks, hatten aus Sachsenhausen und Buchenwald überstellte Häftlinge bereits im März begonnen; erste Jüdinnen und Juden kamen im Sommer dauerhaft ins Lager. Da das Lager nicht über ausreichend Kapazitäten verfügte und zahlreiche Dienststellen auf ihre jüdischen Arbeitskräfte nicht verzichten wollten, zog sich die endgültige Auflösung des Gettos bis November hin. Am 2. November 1943 räumte die Sicherheitspolizei das Getto. Sie selektierte Kinder, Alte und Kranke, während die anderen Jüdinnen und Juden im Arbeitseinsatz waren. Überlebende berichteten, wie furchtbar dieser Tag für sie war. Sie kamen abends zurück ins nahezu leere Getto und begriffen, dass 20 Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 54. 21 Vgl. ebenda, S. 68; Schneider, Reise, S. 120; Nussenbaum, Geschichte, S. 59, und Jeanette Wolf, Mit Bibel und Bebel. Ein Gedenkbuch, hrsg. von Hans Lamm, Bonn 1980, S. 30. 22 Vgl. Katrin Reichelt, Zwei Gesellschaften auf begrenztem Raum – das unfreiwillige Zusammenleben der lettischen und deutschen Juden im Ghetto von Riga zwischen 1942 und 1943, in: Alfred Gottwaldt/ Norbert Kampe/Peter Klein (Hrsg.), NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Berlin 2005, S. 265–277, und Angrick/Klein, Endlösung, S. 361–377. Zum Blick lettischer Juden auf die deutschsprachigen Deportierten vgl. etwa Alexander Bergmann, Aufzeichnungen eines Untermenschen. Ein Bericht über das Ghetto in Riga und die Konzentrationslager in Deutschland, Bremen 2009, S. 50–54 und S. 72 f.; Max Michelson, Stadt des Lebens, Stadt des Sterbens. Erinnerungen an Riga. Aus dem Amerikanischen von Rita Herkenrath, Gießen 2007, S. 158–160, und Max Kaufmann, VfZ 1 / 2023 Churbn Lettland. Die Vernichtung der Juden Lettlands, München 1947, S. 125–131. 163 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen man ihre Freunde und Verwandten verschleppt hatte. Ihr Ziel war Auschwitz. Am 6. November wurden die letzten Gettobewohner in das KZ Riga-Kaiserwald verbracht.23 Für bis zu 2 000 Häftlinge war das Lager konzipiert, doch gelangten weit mehr Menschen hierher. Für viele war es ein Durchgangslager, in dem sie registriert und dann in andere Lager oder die sogenannten Kasernierungen ihrer Betriebe weitergeschickt wurden. Diejenigen, die in Kaiserwald blieben, waren nun KZ-Häftlinge: Familien, die im Getto noch hatten zusammenleben können, wurden getrennt, da Männer und Frauen in separaten Bereichen des Lagers untergebracht waren. Sie mussten ihre Kleidung abgeben und bekamen die Haare geschoren; Häftlingsnummern wurden zugewiesen. Die Kapos waren häufig Häftlinge, die zuvor im Reichsgebiet in Konzentrationslagern gewesen waren. Berichten zufolge quälten sie die jüdischen Häftlinge sadistisch, sei es aus antisemitischen Beweggründen oder einfach aus Lust an dem bisschen Macht, über das sie plötzlich verfügten. Käte Frieß machte sich keine Illusionen: „Ich glaube, dieser Kaiserwald kann wohl Bergen-Belsen fast die Hand reichen. Was Menschen nur Grausames ersinnen konnten, gab es dort.“24 Viele in Kaiserwald registrierte Arbeitskräfte waren in Außenlagern kaserniert, unter anderem im Armeebekleidungsamt (ABA) 701 Mühlgraben und den SD-Werkstätten Lenta, wo die Bedingungen meist erheblich besser waren als im Stammlager.25 Mit dem Herannahen der Roten Armee begann die SS, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen, indem Häftlinge die in Massengräbern verscharrten Leichen verbrennen mussten.26 Zugleich wurden die noch lebenden Jüdinnen und Juden verlegt. Für den größten Teil der noch in Riga verbliebenen Juden führte der weitere Leidensweg mit dem Schiff nach Danzig und von dort in das Konzentrationslager Stutthof, das – wie zahlreiche Überlebende bezeugen – der „Hölle“ glich. Schreckliche hygienische Bedingungen rafften die ohnehin geschwächten Menschen hinweg, kranke und schwache Häftlinge wurden entwe- 23 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 37–40, und Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 90. Zum KZ Riga-Kaiserwald vgl. Franziska Jahn, Das KZ Riga-Kaiserwald und seine Außenlager 1943– 1944. Strukturen und Entwicklungen, Berlin 2018. 24 Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 82. 25 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 37–43, und Jahn, KZ Riga-Kaiserwald, S. 148–406, zum Lageralltag S. 296–341, eine Übersicht über die Außenlager S. 344–347. – In den Dokumenten sprachen die Überlebenden häufig von „der ABA“; diese Schreibweise wurde unkommentiert belassen. 26 Vgl. Andrej Angrick, „Aktion 1005“ – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945. Eine „geheime Reichssache“ im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, 2 Bde., Göttingen 2018. VfZ 1 / 2023 164 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen der von Wachleuten ermordet oder in Todeszonen sich selbst überlassen, wo sie starben. Da das Lager im Herbst 1944 vollkommen überfüllt war, veranlasste Kommandant Paul Werner Hoppe Häftlingstransporte in verschiedene Konzentrationslager im Reichsgebiet. Andere Jüdinnen und Juden wiederum kamen zur Zwangsarbeit in Außenlager von Stutthof.27 200 Häftlinge, die im Lager Mühlgraben bei Riga zu Aufräumarbeiten geblieben waren, wurden von dort im Oktober 1944 nach Libau geschickt, wo sie im Hafen arbeiten mussten. Wer noch am Leben war, wurde im Februar 1945 per Schiff nach Hamburg verschleppt und dort im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel inhaftiert. Eine Gruppe von 56 Männern kam von dort nach Bergen-Belsen, die übrigen mussten gemeinsam mit anderen Häftlingen – insgesamt belief sich ihre Zahl auf 800 – am 12. April 1945 einen Todesmarsch nach Kiel antreten, wo sie noch schreckliche Tage im Arbeitserziehungslager Nordmark zu verbringen hatten, bevor sie Anfang Mai 1945 mit Bussen des Roten Kreuzes über Dänemark nach Schweden in die Freiheit gelangten.28 Käte Frieß, die es bis zur Ankunft in Hamburg geschafft hatte, mit ihrem Mann zusammenzubleiben, wurde dort von ihm getrennt und erfuhr, während sie nach ihrer Rettung in Schweden ihren ausführlichen Bericht verfasste, vom seinem Tod in BergenBelsen.29 Von den mehr als 31 000 ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden überlebten etwa 1 100 den Holocaust.30 Fünf von ihnen kommen in den hier dokumentierten Briefen und Berichten zu Wort. Die in dieser Einführung nur kurz angerissenen Themen stehen im Zusammenhang mit einem größeren Forschungsprojekt der Verfasserin über das Leben deutschsprachiger, ins besetzte Osteuropa deportierter Jüdinnen und Juden. Zwar sind die Deportationen deutscher und österreichischer Juden in das besetzte Polen, Weißrussland und das Baltikum inzwischen sehr gut erforscht: Wir 27 Vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 430–444; Danuta Drywa, The Extermination of Jews in Stutthof Concentration Camp, Danzig 2004; Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015, S. 235–258, und Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 628–636. 28 Vgl. Jahn, KZ Riga-Kaiserwald, S. 404 f.; Dietlind Kautzky/Thomas Käpernick (Hrsg.), „Mein Schicksal ist nur eins von Abertausenden“. Der Todesmarsch von Hamburg nach Kiel 1945. Neun Biografien, Hamburg 2020; Bernd Philipsen/Fred Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben. Am 1. Mai 1945 von Kiel mit Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit, Steinbergkirche-Neukirchen 2020, und Detlef Korte, „Erziehung“ ins Massengrab. Die Geschichte des „Arbeitserziehungslagers Nordmark“ Kiel Russee 1944– 1945, Kiel 1991, S. 178–211. 29 Vgl. Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 77. VfZ 1 / 2023 30 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 43. 165 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen wissen viel über die Vorgeschichte an den einzelnen Herkunftsorten, zahlreiche Biografien einzelner Deportierter wurden rekonstruiert, auch gibt es über die grausamen Orte der Vernichtung inzwischen exzellente Studien. Doch eine Gesamtgeschichte des Lebens deutschsprachiger Juden „im Osten“ steht noch aus. Weitere Forschungen versprechen Antworten auf folgende Fragen: Wie waren die Erwartungen und Wahrnehmungen der jüdischen (oder nach den NSRassegesetzen als jüdisch geltenden) Männer, Frauen und Kinder, die aus Wien und zahlreichen Städten des „Altreichs“ in das besetzte Polen, dann auch nach Minsk und Riga deportiert wurden? Wie schätzten sie nach dem Schock bei der Ankunft an den ihnen so fremden Orten ihre Situation ein? Wie sahen sie die lokale Bevölkerung, und wie wurden sie umgekehrt von dieser wahrgenommen? Die Umstände waren unterschiedlich, je nachdem, ob jemand im Herbst 1939 in die Gegend um Nisko am San deportiert, jeweils im Frühjahr 1940, 1941 und 1942 in den Distrikt Lublin31 und in das Getto in Warschau verbracht oder im Herbst 1941 nach Litzmannstadt/Łódź verschleppt wurde. Anders stellte sich die Situation dar, wenn sich die Deportierten gleich bei der Ankunft mit dem Massenmord konfrontiert sahen. Dies war etwa in Minsk und Riga ab Ende 1941 der Fall, wo Teile der lokalen Gettobevölkerung kurz vor der Ankunft der Deportationszüge erschossen worden waren, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Diese zogen dann in die eben noch genutzten Wohnungen der Ermordeten ein. Welche Auswirkungen hatte diese Erfahrung auf die Selbstwahrnehmung? Wie nutzte man die wenigen verbliebenen Handlungsspielräume? Wie unterschieden sich die Gewalterfahrungen und Überlebenschancen von Männern, Frauen und Kindern? Dies sind einige der Fragen, denen dieses Projekt nachgeht und die sich auch anhand von Quellen beantworten lassen, wie sie sich hier dokumentiert finden.32 31 Vgl. Robert Kuwałek, Das kurze Leben „im Osten“. Jüdische Deutsche im Distrikt Lublin aus polnisch-jüdischer Sicht, in: Kundrus/Meyer (Hrsg.), Deportation, S. 112–134. 32 Zum Projekt „Nach Osten“ – Das kurze Leben deutschsprachiger Juden nach ihrer Deportation ins besetzte Osteuropa vgl. www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/nach-osten-das-kurze-lebendeutschsprachiger-juden-nach-ihrer-deportation-ins-besetzte-osteuropa [14.9.2022]. Zu diesen Fragen vgl. auch Avraham Barkai, Deutschsprachige Juden in osteuropäischen Ghettos, und ders., „Zwischen Ost und West“. Deutsche Juden im Ghetto Lodz, beide Beiträge in: Ders., Hoffnung und Untergang. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Hamburg 1998, S. 197–223 und S. 225–273. VfZ 1 / 2023 166 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen V. Die Berichte und ihre Verfasserinnen und Verfasser Schon Raul Hilberg machte darauf aufmerksam, dass jede Stadt „ihre eigene Deportationsgeschichte“ hat.33 Streng genommen haben aber alle Deportierten ihre eigene Deportationsgeschichte. Nur die wenigsten überlebten und konnten nach der Befreiung darüber berichten. Und doch sind aus Riga und Umgebung erstaunlich viele Zeugnisse überliefert, die individuelle Verfolgungs- und Deportationsgeschichten dokumentieren. Diese Berichte vom Überleben sind mitunter nahezu unglaublich, sie veranschaulichen die unfassbare Odyssee ihrer Verfasserinnen und Verfasser: Aus ihrer Heimat in die Fremde verbracht, litten sie unter furchtbaren Bedingungen. Sie erlebten den Tod von Verwandten und Freunden, ihr eigenes Leben war stets bedroht. Nach jahrelangem Daseinskampf in Riga verschleppten ihre Peiniger sie weiter, viele von ihnen brachten noch mehrere Lager hinter sich, die sie häufig als noch schlimmer beschrieben; am Ende standen für viele die berüchtigten Todesmärsche. Diese Dokumentation präsentiert fünf Berichte oder Briefe, die unmittelbar nach der Befreiung verfasst wurden, entweder in Schweden oder nach der Rückkehr in Deutschland. Bei der Auswahl spielte diese Unmittelbarkeit eine wichtige Rolle. Die Zeuginnen und Zeugen wollten informieren über das, was ihnen in den letzten Jahren widerfahren war, ohne dass sie selbst schon viel von anderen Überlebenden des Holocaust über deren Erlebnisse gelesen hatten. Die Berichte und Briefe bezeugen auf eindrucksvolle und sehr persönliche Weise, was in der Einführung zu dieser Dokumentation dargestellt wurde. Sie zeigen, wie ihre Verfasserinnen und Verfasser sich von heute auf morgen in einer ihnen vollkommen fremden Welt wiederfanden, die von Gewalt, Brutalität, Hunger, permanenter Angst und der steten Bedrohung durch den Tod geprägt war. Sie belegen auch die Versuche der Menschen, diesen Erfahrungen etwas entgegenzusetzen, ihr Leben im Rahmen des Möglichen zu gestalten und Mittel und Wege zu finden, ihre verzweifelte Lage zu verbessern und zu beeinflussen. Die Berichte verdeutlichen, wie wichtig soziale Kontakte, die gegenseitige Hilfe von Freunden und Verwandten und der Zuspruch in schwierigen Situationen sein konnten. Diese Netzwerke haben eine große Bedeutung in den Erzählungen und wurden oft als wichtiger Faktor für das Überleben benannt.34 So lesen wir in den Aufzeichnungen und Briefen auch, wie zum Beispiel Paare, die in Kaiserwald getrennt wurden, abends zu den Zäunen ihres jeweiligen Bereichs 33 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 477. 34 Vgl. zur Bedeutung von Überlebensgemeinschaften auch Jahn, KZ Riga-Kaiserwald, S. 337–341 und VfZ 1 / 2023 S. 431 f. 167 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen kamen. Jedes Mal war die Erleichterung groß, den anderen zu sehen, denn viel konnte dem Partner an einem Tag im Lager oder in den Arbeitskommandos zugestoßen sein. Die Erzählungen lassen keinen Zweifel daran, was es hieß, Freunde und Verwandte zu verlieren, in Ungewissheit über ihr Schicksal zu sein oder aber genau zu wissen, was die Liebsten erwartete oder was man ihnen bereits angetan hatte. So beschrieben die Überlebenden eindringlich furchtbare Szenen, als die verzweifelten Menschen am Abend ins Getto zurückkamen und feststellten, dass ihre Kinder oder Eltern verschleppt worden waren. Wie unwahrscheinlich das Überleben in der letzten Kriegsphase gewesen ist, wie sehr die Häftlinge auf ihrer Irrfahrt durch verschiedene Lager und auf ihren Todesmärschen jeden einzelnen Tag um ihr Leben bangen mussten – nicht zuletzt das bezeugen die Berichte, die die Überlebenden verfassten, kurz nachdem sie wieder in Freiheit waren, aber noch gar nicht wussten, wie und wo es nun weitergehen würde. Diese Authentizität macht diese frühen Aufzeichnungen und Briefe so einzigartig. In den ersten Nachkriegswochen versuchten die Verfasserinnen und Verfasser teilweise noch herauszufinden, was mit ihren Liebsten geschehen war, von denen sie irgendwo auf ihrem Leidensweg getrennt worden waren. Diese Berichte und Briefe waren zumeist ihr erster Versuch, das Erlebte in Worte zu fassen, noch ohne später erworbenes Wissen über die Zusammenhänge und das Ausmaß der Verbrechen. Sie wollten, häufig für Menschen, die ihnen nahestanden, dokumentieren, was ihnen in den Orten, in die man sie verschleppt hatte, Furchtbares widerfahren war, was es hieß, nach Riga deportiert worden zu sein.35 Von den Briefen und Berichten, die hier wiedergegeben werden, entstanden drei im schwedischen Flüchtlingslager Holsbybrunn; so wie Käte Frieß waren diese Überlebenden über Hamburg und Kiel nach Schweden gelangt. Die beiden anderen haben Frauen verfasst, die nach der Befreiung in ihre Heimatorte zurückgekehrt waren. Siegfried Ziering (1928–2000) schrieb aus Schweden an seinen Vater Isaak, der während der Novemberpogrome hatte untertauchen und im August 1939 nach England fliehen können. Seine Versuche, die Familie nachzuholen, vereitelte der Beginn des Zweiten Weltkriegs (Dok. 1). Cilly Ziering (1901–2002) blieb mit ihren Söhnen Siegfried und Hermann (1926–2005) in Kassel zurück, wo sie in einer Fabrik arbeiten musste, bis die Familie am 9. Dezember 1941 nach Riga verschleppt wurde. Die drei überlebten gemeinsam. Sie gelangten im Januar 35 Vgl. Jan Lambertz, Early Post-War Holocaust Knowledge and the Search for Europe’s Missing Jews, in: Patterns of Prejudice 53 (2019), S. 61–73. VfZ 1 / 2023 168 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen 1946 von Schweden aus nach London. 1949 ging die Familie dann zusammen in die USA, wo Sigi, wie er sich nun nannte, eine beachtliche Karriere machte. Er war nach Studium und Promotion in der Luft- und Raumfahrtindustrie tätig und gründete 1971 in Los Angeles das Medizinunternehmen Diagnostic Products Corporation. Mit seiner Frau Marilyn hatte er vier Kinder. Ein Erlebnis, das er auch in dem hier dokumentierten Brief beschrieb, traumatisierte ihn geradezu. Viele Jahre später verfasste er ein Theaterstück über einen Vater, der in Riga vor einer der Mordaktionen sein geliebtes Kind vergiftete, um ihm ein noch schrecklicheres Ende zu ersparen – und daraufhin selbst erschossen wurde. Sein Stück „The Judgement of Herbert Bierhoff“ hatte 1999 in Los Angeles Premiere.36 Sein Bruder Werner war Jahre nach der Befreiung einer der beiden Vizepräsidenten der Society of Survivors of the Riga Ghetto in New York; für seinen umfangreichen Nachlass gibt es am Manhattan College seit 2019 ein eigenes kleines Archiv.37 Heinz Samuel (1920–2007) war gemeinsam mit seinem Bruder Werner (1918–2010) nach der Pogromnacht in Dachau inhaftiert worden (Dok. 2). Beide wurden entlassen, da sie nach Trinidad auswandern wollten, was jedoch nicht mehr gelang. Heinz Samuel wurde gemeinsam mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern aus Düsseldorf nach Riga deportiert. Dort starb sein Vater Meinhard (1882–1942) aufgrund der furchtbaren Lebensbedingungen bereits nach einigen Wochen. Seine Mutter Paula (1887–1943) und seine Schwester Helga (1929–1943) deportierten die Nationalsozialisten im Zuge der Auflösung des Gettos im November 1943 nach Auschwitz-Birkenau und ermordeten sie dort. Heinz heiratete 1942 im Getto Ruth Gompertz (1922–2018), ohne allerdings in seinen Aufzeichnungen darauf einzugehen. Bald nach der Befreiung holten sie die unter so schlimmen Umständen vollzogene Trauung gemeinsam mit befreundeten Paaren in einer Synagoge in Stockholm nach. Heinz Samuel machte sich nach seiner Emigration nach Australien 1946 als Installateur selbstständig und hatte mit seiner Frau zwei Kinder. Sein Bruder Werner wanderte 1948 ebenfalls nach Australien aus; ihre Schwester Hilde Laskey war schon 1939 nach England emigriert.38 36 Vgl. Bernd Philipsen, Siegfried Ziering quälte „das Bewusstsein, ausgeliefert zu sein auf Tod und Leben“, in: Ders./Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben, S. 139–152, und Michael Berenbaum (Hrsg.), Murder Most Merciful. Essays on the Ethical Conundrum Occasioned by Sigi Ziering’s The Judgement of Herbert Bierhoff, Lanham 2005. 37 Vgl. hgimanhattan.com/the-herman-and-lea-ziering-archive [13.10.2022]. 38 Vgl. Bernd Philipsen, Vier Flüchtlingspaare gaben sich gleichzeitig in der Synagoge von Stockholm das Ja-Wort, in: Ders./Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben, S. 71–102, und Joachim Schröder, Heinz Samu- VfZ 1 / 2023 el aus Krefeld; biografien.erinnerungsort.hs-duesseldorf.de/person/heinz-samuel-139 [8.4.2021]. 169 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Erna Valk, geborene Stern (1905–1993), betrieb gemeinsam mit ihrem Mann Walter Valk (1897–1962) bis Mitte 1938 ein Bekleidungsgeschäft in Goch am unteren Niederrhein (Dok. 3). Walter Valk war nach dem Novemberpogrom bis Anfang Februar 1939 im KZ Dachau inhaftiert gewesen. Das Ehepaar wurde von Düsseldorf über Krefeld nach Riga deportiert. Er kam bald darauf nach Salaspils, gehörte aber zu den wenigen, die sieben Monate später ins Getto Riga zurückkehrten. Erna und Walter wurden zwar später getrennt, doch beide überlebten und trafen sich kurz nach der Befreiung in ihrer Heimatstadt Goch wieder. Ihre Tochter Magdalena, genannt Leni (1933–1943), die sie Ende 1938 in die Obhut von Verwandten in den vermeintlich sicheren Niederlanden gegeben hatten, wurde gemeinsam mit ihrem Onkel und ihrer Tante von Westerbork nach Sobibór deportiert und dort ermordet. Als Erna Valk, unmittelbar nach der Befreiung und nach der Rückkehr nach Deutschland, ihren detaillierten Bericht verfasste, wusste sie noch nichts vom Tod ihrer Tochter. Der Sohn einer Jüdin aus Goch, der 1945 als Soldat der niederländischen Armee in die Stadt kam, half dem Ehepaar, eine neue Bleibe zu finden. Er erinnerte sich später, er habe sie „im schlechten Zustand in einem Keller lebend“ vorgefunden. Erna Valk wirkte zeitlebens daran mit, die Erinnerung an die NS-Verbrechen ebenso wie die Erinnerung an ihre Tochter wachzuhalten. Nach Leni Valk ist heute in Goch eine Schule benannt.39 Anni Reisler, später Rubinger (1927–2000), fokussierte ihren Text auf einen einzigen Tag im Getto Riga (Dok. 4): den 2. November 1943. Eindringlich schilderte die junge Frau, die im Januar 1942 aus Dortmund nach Riga deportiert worden war, die Atmosphäre der Angst und die verzweifelten, aber vergeblichen Versuche einer Mutter, ihr Kind zu retten. Anni gelangte am 8. August 1944 mit ihrer Mutter Berta (geb. 1899) ins KZ Stutthof; beide überlebten. 1946 lernte sie ihren Cousin David Rubinger kennen, der sie heiratete, um ihr, die nach dem Krieg staatenlos war, die Emigration nach Palästina zu erleichtern. Die Ehe mit dem erfolgreichen Fotografen hielt bis zu ihrem Tod 2000; die beiden bekamen zwei Kinder.40 Johanna Rosenthal, geborene Gumpert (1904–1961), und ihr Mann Hermann Rosenthal schickten ihre beiden Töchter im März 1939 mit einer Gruppe 39 Vgl. Ruth Warrener, Wider das Vergessen. Jüdische Schicksale aus einer rheinischen Kleinstadt, hrsg. vom Heimatverein Goch e. V., Goch 2017, S. 323–348, das Zitat findet sich auf S. 345; Max Kreuzwieser, Erna Valk aus Goch; biografien.erinnerungsort.hs-duesseldorf.de/person/erna-valk-224, und ders., Walter Valk aus Goch; biografien.erinnerungsort.hs-duesseldorf.de/person/walter-valk-228 [9.4.2021]. 40 Vgl. Johannes Gerloff, Das Objektiv, durch das „Time“ Israel sah, in: Israelreport 2/2013, S. 3–5. VfZ 1 / 2023 170 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen von 130 Kindern in ein östlich von Paris gelegenes Dorf (Dok. 5). Die beiden überlebten zunächst dort und dann in der Schweiz. Hermann Rosenthal war im Mai 1939 nach London emigriert und kam nach Kriegsbeginn als „feindlicher Ausländer“ in ein Internierungslager. Seiner Frau glückte die Auswanderung nicht mehr; sie wurde im Januar 1942 von Potsdam nach Berlin verbracht und von dort nach Riga verschleppt. Auch sie gelangte bei Kriegsende nach Schweden, wo sie den hier abgedruckten Brief schrieb. Im Januar 1946 konnte sie zu ihrer Familie nach Großbritannien reisen, und gemeinsam wanderten sie nach Kanada aus. Einige Jahre später kamen Johanna und Hermann Rosenthal in Toronto ums Leben, als sie auf dem Weg in die Synagoge beim Überqueren einer Straße von einem Auto erfasst wurden.41 VI. Editorische Notiz Die Dokumente stammen aus einem Bestand der Wiener Library in London, die in den 1950er Jahren gezielt nach frühen Berichten Überlebender suchte und dabei etwa 1 300 Zeugnisse sammelte. Dabei handelte es sich um Berichte und Briefe, wie die hier edierten, aber auch um selbst initiierte und häufig ebenfalls von Überlebenden geführte Interviews. Den hier edierten Dokumenten liegen Abschriften zugrunde.42 Inzwischen hat die Wiener Library viele dieser Berichte online zugänglich gemacht, ein überaus wichtiger und begrüßenswerter Schritt. So haben nicht nur Historikerinnen und Historiker leichter Zugang zu diesen zentralen Dokumenten, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Gedenkstätten und überhaupt eine historisch interessierte Öffentlichkeit. Diese online verfügbaren Quellensammlungen stellen einen wesentlichen Baustein für Forschung und Erinnerungskultur dar, zumal in einer Zeit, in der wir immer seltener die Möglichkeit haben, das Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu suchen. Auch haben lokale Gedenkinitiativen mitunter Abschriften der Dokumente bereits online publiziert. Die großen Holocaust-Archive von Yad Vashem in Jerusalem und dem United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington stellen ebenfalls immer mehr Bestände online bereit. Trotzdem ist es sinnvoll, Dokumente wie 41 Vgl. Bernd Philipsen, Johanna Rosenthal nach dem glücklichen Ende ihrer Odyssee: „Also sollte ich leben“, in: Ders./Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben, S. 169–176. 42 Zur Genese des Bestands vgl. Christine Schmidt, „We Are All Witnesses“: Eva Reichmann and the Wiener Library’s Eyewitness Accounts Collection, in: Thomas Kühne/Mary Jane Rein (Hrsg.), Agency VfZ 1 / 2023 and the Holocaust. Essays in Honor of Debórah Dwork, Cham 2020, S. 123–140. 171 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen diese gezielt thematisch auszuwählen und wie im vorliegenden Beitrag zu edieren, sind sie hier doch durch die Einleitung und Kommentierung kontextualisiert und mit weiterführenden Informationen versehen. In einem Fall konnte über die Abschrift in der Wiener Library hinaus das handschriftliche Original ermittelt werden: Der Brief von Siegfried Ziering an seinen Vater ist im Archiv des USHMM überliefert. Er umfasst 12 handgeschriebene Seiten auf teilweise beschädigtem Papier.43 Aus Gründen der Kohärenz wurde dieser Edition die Abschrift aus der Wiener Library zugrunde gelegt; relevante Abweichungen vom Original sind kenntlich gemacht. Da Orthografie und Interpunktion in der edierten Fassung zur Verbesserung der Lesbarkeit behutsam bearbeitet wurden, sind solche Abweichungen nicht eigens vermerkt. Auch häufige Änderungen wie ausgeschriebene Zahlen statt Ziffern oder eine leicht veränderte Wortfolge erfolgten unkommentiert. Für eine bessere Lesbarkeit wurden Absätze eingefügt, Flüchtigkeits- und ähnliche Fehler stillschweigend korrigiert. Falsche Schreibweisen von Namen, Orten und Lagern finden sich dagegen in den Anmerkungen vermerkt. Als die Verfasserinnen und Verfasser das Erlebte aufschrieben, wussten sie vieles noch nicht. Sie kannten nicht wenige der deutschen Täter nur unter dem Namen, der im Lager kursierte, genaue Namensschreibweisen waren ihnen damals nicht geläufig, dasselbe konnte der Fall sein bei den genauen Namen der Lager oder Fabriken, in denen sie inhaftiert oder eingesetzt waren. Den Quellen wurde jeweils eine kurze Überschrift vorangestellt. Briefköpfe mit der Ortsangabe sind nicht im Dokumententext, sondern – wenn vorhanden – in der jeweils ersten Fußnote aufgeführt. Datumsangaben wurden, soweit vorliegen, belassen. Die Biografien der Verfasserinnen und Verfasser sowie ihrer Familien sind – da schon in der Einleitung ausgeführt – in den Dokumenten kein zweites Mal annotiert. 43 United States Holocaust Memorial Museum (künftig: USHMM), 2013.300.1, Sigi Ziering memoir, 24.6.1945. VfZ 1 / 2023 172 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Dokument 1 [Siegfried Ziering schreibt an seinen Vater in Großbritannien]44 Lieber Papa, Heute will ich Dir berichten, wo wir überall waren. Am 9.12.4145 wurde der Transport von 1 000 Mann in der Turnhalle Schillerstraße zusammengestellt.46 Die Hälfte aus der Stadt Kassel, die anderen aus der Umgebung. Dort wurden uns sämtliche Papiere, Gold, Geldsachen und Uhren abgenommen. Wir durften 50 kg mitnehmen pro Person, 100 kg, die wir schon vorher aufgaben, sahen wir nie wieder. Am 9.12.41 nachmittags fuhren wir ab. Es waren ungeheizte 3ter Klasse Coupés. Wir fuhren über Berlin, Breslau, Posen, Königsberg, Tilsit und Kowno und kamen am 12. Dez. 41 in Riga an. Es war 40 Grad Kälte.47 Bei einem furchtbaren Schneesturm mussten wir ins Ghetto marschieren. 10 km. Unterwegs wurden die Männer von 17–45 [Jahren] für das Vernichtungslager Salaspilz48 ausgesucht. Im Dezember 1941 waren im Rigaer Ghetto ca. 34 000 lettische Juden. Davon wurden in der Zeit vom 7.–9.12.41 ca. 29 000 von lettischer und deutscher SS ermordet. Als wir ins Ghetto kamen, fanden wir überall noch Blutspuren. Die Mörder durften das Ghetto plündern. Wir bekamen zu 10 Personen ein kleines Zimmer und Küche. Die ersten drei Wochen bekamen wir überhaupt keine Verpflegung. Innerhalb von zwei Monaten kamen so ca. 11 000 Juden aus Deutschland, Österreich und der Chechoslowakei49 ins Ghetto. Jeden dritten Tag war Appell. Dann wurden die kräftigsten Männer nach Salopils geschickt. Dort kamen sie um vor Kälte, Hunger, Ungeziefer und Schlägen. Mit einem Dortmunder Transport kamen Mia und Dago Menschenfreund, denen wir spä- 44 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 289, Siegfried Ziering an Isaak Ziering, 25.6.1945; online verfügbar unter www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/image/105762/1/ [13.10.2022]. 45 Im handschriftlichen Original: „8.12.41“. Das Dokument findet sich in: USHMM, 2013.300.1, Sigi Ziering memoir, 24.6.1945. 46 Von den 1 022 Juden dieses Kasseler Transports überlebten nach heutigem Kenntnisstand 100 Menschen; vgl. Monica Kingreen, Die Deportation aus Kassel am 9. Dezember 1941, in: Buch der Erinnerung, Bd. 2, München 2003, S. 657–659. 47 Im handschriftlichen Original folgt hier: „Das meiste Gepäck ließen wir am Bahnhof auf Nimmerwiedersehen.“ 48 Richtig: Salaspils; der Name des Lagers erscheint in der Vorlage in mehreren Schreibweisen. VfZ 1 / 2023 49 Im handschriftlichen Original: „Tschecheslowakei“. 173 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen ter vieles verdankten.50 Ein Berliner Transport kam im Januar bei 42 Grad Kälte ins Ghetto, sie fuhren von Berlin bis Riga zu 75 Personen in einem Viehwagen. Unterwegs starben am Frost 60 Personen, und die anderen hatten mindestens Hand oder Füße erfroren. Die Transporte, die später nach Riga kamen, wurden gleich in den Hochwald gebracht, wo sie vergast oder erschossen wurden. Die Kleidungsstücke von diesen Leuten kamen ins Ghetto, wo die SS [sie] sortieren ließ und nach Deutschland zum Winterhilfswerk51 schicken ließ. Am 5.4.42 und am 8.4.42 wurden zusammen 2 400 meist ältere Leute aus dem Ghetto weggebracht. Auch sie gingen den Weg der vier Millionen.52 Dann gingen Anfang März die ersten Arbeitskommandos aus dem Ghetto,53 tagtäglich 9 000, zur Arbeit. Sie waren meistens bei Wehrmacht, SS, Bahn- und Postdienststellen beschäftigt. Die meisten auf Außenkommando Arbeitenden konnten sich ein Stück Brot zusätzlich tauschen oder beschaffen, und damit war dieErnährungslageder Ghettoinsassenetwasbesser.DieoffizielleDurchschnittszuteilung im Ghetto betrug pro Tag 200 gr. Brot fast ungenießbar, 5 gr. Nährmittel, 554 gr. Fett und ab und zu stinkende, verfaulte Kartoffeln. Wurde jemand mit einem Stück Brot auf Kommando geschnappt, wurde er sofort öffentlich erhängt. Die sadistische SS trieb es so, dass wenn sie heute 100 erhängten, sie morgen Festeaufführenließen.So wurdenz.B. Jeremiasvon StefanZweigaufgeführt, Sportwettkämpfe und Fußballmatches ausgetragen. Es wurden Schulen und Lazarette gegründet. War das Lazarett zu voll, so wurden Aktionen gemacht. Für jeden Tag, den man im Ghetto oder KZ überlebte, müsste man nicht einmal, sondern 3-mal Gomel benschen55. Das Todeslager Salapils bei Riga wurde aufgelöst. Die letzten kamen im August 1942 ins Ghetto zurück, in einem unbeschreiblichen geistigen und körperlichen Zustand. 60 % starben dort in 8 Monaten. Ende September entdeckte die SS eine Waffenkammer im Ghetto voll mit modernsten Waffen und Munition. Daraufhin wurde der gesamte lettische56 50 Mia Menschenfreund (1920–1944) arbeitete später im KZ Riga-Kaiserwald in der Schreibstube und konnte so Einfluss nehmen auf die Zusammenstellung der Arbeitskommandos und die Abstellungen an Wirtschaftsbetriebe. Wie der Verfasser später berichtete, half sie ihm und seinem Bruder, in das Kommando ihrer Mutter versetzt zu werden. 51 Im handschriftlichen Original: „W.H.W.“ 52 Offenbar gingen manche Überlebende zu diesem frühen Zeitpunkt von vier Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden aus. Sie konnten die genaue Zahl noch nicht kennen, eher verwundert es, dass hier bereits von einem Verbrechen mit einer derart hohen Zahl von Opfern ausgegangen wird. 53 Im handschriftlichen Original folgt hier: „Insgesamt gingen ca. von 13 000 Juden aus dem Ghetto“. 54 Im handschriftlichen Original: „3“. 55 „Gomel benschen“: Ein Segensspruch, der nach Errettung aus einer lebensbedrohlichen Situation zitiert wird. 56 Im handschriftlichen Original stattdessen: „ganze jüdische“. VfZ 1 / 2023 174 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Ghetto-Ordnungsdienst, 43 Männer, erschossen, und 108 Personen als Geiseln verschleppt. So verlebten wir die 20 Monate im Ghetto mit Zilla und Jutti.57 An Frieden und Freiheit dachte schon keiner mehr, unser einziger Wunsch war, als Juden zu sterben und wenn, dann zusammen. Rückte einer aus, so wurden 10 Geiseln genommen, aber58 wohin im fremden Land? Zeitung, Radio, Briefverkehr, Geld, Goldbesitz, Tauschhandel, Unterhaltung mit einem Nicht-Juden, auf alles das und auf noch so viel anderes war die Todesstrafe. Kein Schabbos [Sabbat], kein Sonntag, nicht nur Arbeit ein neues Europa aufbauen [sic!]. Was hätte es genutzt, sich zu wehren? Das Ende wäre genau wie im Warschauer Ghetto gewesen, 650 000 Juden waren einmal.59 Das Schlimmste war das Bewusstsein, ausgeliefert zu sein auf Tod und Leben. Kein Konsulat, keine Regierung, kein Volk, das für uns eintritt. Juden! Wer hat Interesse an Juden? Juden sind Freiwild. Ein Hund war mehr als ein Jude. Einer lettischen Jüdin, die im Ghetto war, gelang es, bei dem Massenmord vom 7.–9.12.41 aus einem Massengrab zu entkommen.60 Dann wurde in Kaiserwald bei Riga eine KZ-Zentrale gebildet mit verschiedenen Außen-KZ-Lagern. Am 4.9.43 kam ich dort alleine hin und erhielt dort die Nummer 3913. Zweieinhalb Monate später, am 6.11.43, kam Hermann auch dorthin mit Mutti. Mutti wurde am selben Tage noch weiter kaserniert in das Außen-KZ-Lager ABA 701 Mühlgraben. Sicher wirst Du schon im Radio oder Zeitung Berichte über Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau oder sonst irgendein KZ gelesen haben. Genau dasselbe war Kaiserwald. Dieselben Sadisten, dieselbe Verpflegung, dieselben Kojen61. Mia Menschenfreund war dort im Kaiserwald und verhalf uns am 9.12.43, dass wir zur Mutti in das KZ ABA kaserniert wurden. Am 2.11.43 wurden von den zur Zeit noch 4 000 Ghettoinsassen 2 268, meist Frauen und Kinder, ältere und kranke, nach Auschwitz verschickt. Zilla und Jutti hielten sich versteckt. Eltern, die auf Kommando waren, fanden, als 57 Seine Tante Zilla Ziering (1911–1943) und deren Tochter Yehudin, genannt Jutti (1939–1943), die noch nicht einmal drei Jahre alt war, als sie nach Riga deportiert wurde. Beide überlebten nicht. 58 Im handschriftlichen Original stattdessen: „und“. 59 Die meisten Jüdinnen und Juden erlebten den Aufstand im Getto gar nicht mehr, da die große Deportation in die Vernichtungslager im Sommer 1942 stattfand. Genaue Opferzahlen sind schwer zu ermitteln, insgesamt lebten etwa 500 000 Menschen zeitweise im Warschauer Getto, mindestens 300 000 von ihnen wurden in Treblinka ermordet, rund 75 000 in Lagern im Distrikt Lublin. Tausende erschoss die SS im Sommer 1942 und während des Aufstands, ungefähr 100 000 Menschen starben an den qualvollen Bedingungen im Getto; vgl. Markus Roth/Andrea Löw, Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung, München 2013, S. 217 f. 60 Frida Michelson überlebte die Massenerschießung in Rumbula und hat darüber berichtet. Vgl. Frida Michelson, Ich überlebte Rumbula, Hamburg 2020. VfZ 1 / 2023 61 Hier folgt im handschriftlichen Original: „, dieselben Kapos, derselbe Appell“. 175 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen sie nach Hause kamen, ihre Kinder nicht mehr und die Kinder ihre Eltern nicht mehr vor. Der Rest, der im Ghetto geblieben war, kam in den Kaiserwald. Zilla und Jutti kamen am 3.12.43 in das Zentral-Gefängnis in Riga, von wo aus sie nach 14 Tagen verschickt wurden. Bei der Massenaktion am 2.11.43 versteckte eine Frau ihren Jungen von 6 Jahren, für ihren Jungen von 12 Jahren hatte sie keine Angst. Die Frau und der ältere Junge kamen weg, der 6-Jährige blieb. Im KZ Außen-Lager ABA,62 wo wir 3 ab 1.3.43 waren, waren wir mit 1 500 Leuten kaserniert. Es war dort etwas besser, da wir unter Wehrmachtsaufsicht waren, und statt mit Steinen mit Bekleidung arbeiteten. Am 12.4.4463 wurden die letzten 17 Kinder unter 12 Jahren, welche aus dem Ghetto gerettet wurden, ihren Eltern entrissen. Angeblich Kindererholungsheim Auschwitz. Darunter auch Helga Gipfel.64 Herr Bierdorf aus der Obersten Gasse vergiftete sein Kind, ehe er es auslieferte. Er wurde erschossen.65 Am 20.5.1944 kamen 200 Leute von uns in ein anderes Lager, Krotingen in Litauen.66 Von Josef Adler67 die Familie auch. Am 26. Juli 1944 kam ein Sturmbannführer Dr. Krebsbach.68 Er ließ alle Männer und69 alle Frauen nackt auf dem Hof antreten und sortierte 236 alte und gebrechliche Leute aus. Bei der Bedrohung Rigas durch die Russen wurde der Befehl gegeben, sämtliche KZ in Riga aufzulösen und nach KZ Stuttenhof,70 50 km von Danzig zu bringen. Dort war eines der berüchtigtsten Todeslager der Nazis mit Vergasungsöfen. Am 28. Juli 1944 kamen 500 Leute vom ABA zum Stuttenhof. Anfang August bekamen wir alle Zivilkleidung abgenommen und Zebrakleidung. Auch wurden allen Männern und Frauen Glatzen geschoren. Ich bekam ins- 62 Hier folgt im handschriftlichen Original: „701 (das heißt Armee-Bekleidungsamt 701)“. 63 Im handschriftlichen Original: „22.4.44“. 64 Hale Helga Gipfel (1935–1944) war gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Schwester aus Kassel nach Riga deportiert worden. Keine von ihnen überlebte. 65 Herbert Bierhoff (1903–1944) wurde gemeinsam mit seiner Frau Ruth und seiner Tochter Ellen am 9.12.1941 aus Kassel nach Riga deportiert. Die dramatische Entscheidung des Vaters, die Ziering hier schildert, hat ihn zeitlebens nicht mehr losgelassen und führte – wie schon einleitend erwähnt – dazu, dass er noch als 70-Jähriger darüber ein Theaterstück schrieb. 66 Richtig: Krottingen (Kretinga), dort befand sich ein Außenlager des KZ Riga-Kaiserwald, in dem die Häftlinge ebenfalls für das ABA arbeiteten. 67 Möglicherweise ist Josef Adler, geb. 1894 in Birstein, Kreis Gelnhausen, gemeint, der am 19.1.1942 aus Berlin nach Riga deportiert worden war. 68 Dr. Eduard Krebsbach (1894–1947) war Standortarzt des KZ Kaiserwald und an verschiedenen Selektionen sogenannter arbeitsunfähiger Häftlinge maßgeblich beteiligt. Im Mai 1947 wurde er nach Verurteilung im Mauthausen-Hauptprozess in Dachau für seine Verbrechen im KZ Mauthausen hingerichtet, wo er bis Mitte 1943 tätig gewesen war. 69 Im handschriftlichen Original folgt hier: „dann“. 70 Richtig (auch nachstehend): Stutthof, Konzentrationslager etwa 30 Kilometer östlich von Danzig. VfZ 1 / 2023 176 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen gesamt viermal das Haar ab. Wenn ich jetzt Mutti vor mir sitzen sehe und lesen sehe und mir vorstelle, vor einem Jahr ohne Haare und in gestreifter Kleidung? Waren wir damals Menschen? Nein, Juden! Am 25.9.44 sollten wir auch zum Stuttenhof, und ein geringer Rest von 60 Juden sollte71 bleiben. In letzter Minute kam der Befehl, statt 60 sollten 200 bleiben, darunter auch wir. Am 29.9.72 verließen wir Riga mit einem 3 500-Tonner im Laderaum. Wir fuhren bis Libau 3 Tage bei einem Sturm, der das Steuerruder zerbrach. Als wir in Libau nachts im Hafen lagen, kamen russische Bomber. 3 Meter neben dem Schiff fielen die Bomben, und wir im Laderaum. Am nächsten Morgen wurden wir ausgeladen, und vom 2.10.44 bis 19.2.45 waren wir in Libau beim Bekleidungsamt. Was wir da an Angriffen russischer Flieger mitmachten, werde ich nie vergessen. Zweimal wurde die Unterkunft getroffen. In einem Graben,73 wo ich und Hermann uns befanden, ging ein Volltreffer nieder. 13 jüdische Tote und 2 Schwerverletzte, aber74 wir lebten. Ein andermal war Hermann in einem Graben, wo ein Volltreffer hineinging. Wir mussten Tag und Nacht im Bombenhagel Schiffe ein- und ausladen. In einen Luftschutzkeller durften wir75 nicht, wir mussten froh sein, wenn wir im Graben Deckung suchen durften. Das sind ja eure Freunde, sagte man uns. Am 25.2.45 kamen wir nach Hamburg nach 8-tägiger Fahrt in einem76 Kohlendampfer, wo wir auf leerer Munition lagen. Dort kamen wir in das Polizeigefängnis Fuhlbüttel77. Wieder Kontrolle und Abnahme der letzten Sachen und Adressen. Die ganzen 7 Wochen unseres Aufenthalts dort78 sahen wir Mutti nicht. Dort rettete uns der Name Ziering. Es wurden nämlich 56 Männer nach Bergen Belsen79 verschickt, und man ging nach dem ABC. Dadurch wurden noch viele Familien zerrissen, die Männer hier und die Frauen?80 Als Hamburg bedroht war, schickte man uns am 11.4.45 nach Kiel zu Fuß. Marschverpflegung war 1 00081 gr. Brot, 125 gr. Margarine und 100 gr. Käse. Als wir auf dem Marsch Neumünster 30 km vor Kiel passierten und kaum drau- 71 Im handschriftlichen Original folgt hier: „beim Bekleidungsamt“. 72 Im handschriftlichen Original folgt hier: „44“. 73 Hier und in der Folge im handschriftlichen Original: „Splittergraben“. 74 Im handschriftlichen Original stattdessen: „und“. 75 Im handschriftlichen Original folgt hier: „auch“. 76 Im handschriftlichen Original folgt hier: „2 ½ tausend B.R.T. großen“. 77 Richtig: Fuhlsbüttel. 78 Im handschriftlichen Original: „Fuhlsbütteler Aufenthaltes“. 79 Richtig: Bergen-Belsen. 80 Im handschriftlichen Original: „die Frauen sind hier und die Männer?“ VfZ 1 / 2023 81 Im handschriftlichen Original: „1200“. 177 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen ßen waren, setzte ein Bombardement auf Neumünster ein, wie wir es noch nie erlebt hatten. Nach 4 Tagen kamen wir in Kiel an.82 Dort kamen wir in das Arbeits- und Erziehungslager Kiel.83 Es war das schlimmste Lager von allen,84 was wir je gesehen hatten. Von den85 2 000 Lagerinsassen starben jeden Tag 40 bis 50 Stück. Außer denen, die umgebracht86 wurden. Eines Abends mussten wir vielleicht 1 km durch Sumpf waten mit schweren Barackenteilen beladen. An diesem Abend wurden 3587 aus unseren Reihen erschossen. Das waren die, die nicht mehr den Laufschritt durchhielten. Die Leichen mussten wir dann auf die Barackenteile legen und mit uns schleppen. Als wir am letzten Tag auf Kommando gingen, zog sich eine Blutspur bis zum Bahnhof Hassen88 Kiel. Es war von 13589 Unglücklichen, die sie am Tage zuvor ermordet hatten. Als wir am Abend hörten, wir sollten nach Schweden, wussten wir, wir sollten den nächsten Tag nicht mehr erleben. Dann wurden wir in das Krematorium geschickt, wir bereiteten uns90 auf den letzten Gang vor. Dort mussten wir den Toten die zerlumpten Zivilkleider ausziehen und gegen unsere Zebrakleidung vertauschen. Einer von diesen Unglücklichen regte sich noch, obwohl er schon vor Tagen erschossen wurde.91 Mit den Worten „Du zähe Sau!“ erschoss ihn ein SS-Mann. Am nächsten Morgen mussten wir uns92 bereit halten. An alles glaubten wir, nur nicht an Schweden. Plötzlich tauchte der Rote-Kreuzwagen auf.93 Wenn Du Dir, l[ie]b[er] Papa, vorstellst, einem zum Tode Verurteilten bindet man die Augen zu, er hört schon das Gewehr94 knacken, und plötzlich wird er begnadigt, so war es uns zumute. Das war der erste Mai. Lak. Boaumer95. Der Kommandant äußerte sich noch: „Na, glaubt ihr es nun!“ Die größten Bluthunde des Lagers ver- 82 Im handschriftlichen Original: „Am 15.4.45 kamen wir in Kiel an nach 4 Tagen.“ 83 Im handschriftlichen Original: „Kiel-Russee“. 84 Im handschriftlichen Original fehlt: „von allen“. 85 Im handschriftlichen Original: „ca.“ 86 Im handschriftlichen Original: „umgelegt“. 87 Im handschriftlichen Original folgt: „beim tragen“. 88 Im handschriftlichen Original korrekt: „Hassee“; gemeint ist der Bahnhof Kiel-Hassee. 89 Im handschriftlichen Original: „130“. 90 Im handschriftlichen Original folgt: „schon“. 91 Im handschriftlichen Original: „Einer von diesen namenlosen unglücklichen Opfern regte sich noch obzwar er 4 Tage vorher erschossen wurde.“ 92 Im handschriftlichen Original folgt hier: „um 8 Uhr“. 93 Im handschriftlichen Original: „Plötzlich tauchten um ½ 10 die Rote-Kreuz-Wagen auf.“ 94 Im handschriftlichen Original: „den Gewehrhahn“. 95 Der Feiertag Lag baOmer erinnert an den Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer in den Jahren 132 bis 135. VfZ 1 / 2023 178 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen abschiedeten sich von uns, als wären wir Kurgäste. Wie wir später in Schweden erfuhren, waren 1 000 jüdische96 Frauen bewilligt worden, und wir97 Männer rutschten98 mit durch. Über Flensburg fuhren wir 3 Stunden bis zur schwedischen99 Grenze. In Dänemark wurden wir entlaust, und, was das Wichtigste ist, wir sahen wieder Menschen.100 Menschen mit Liebe, Menschen, denen ein Jude leid tat. Wo gibt es sowas? Juden umsorgt man, Juden pflegt man? Kranke werden nicht erschossen. Träumten wir? Und dann Milch, Weißbrot, Kakao, Reis und Schokolade?101 Das waren Sachen, von denen wir längst vergessen hatten, wie sie aussehen, von schmecken keine Rede.102 Wir, die wir froh waren, wenn die Steckrüben mal etwas weicher gekocht waren. Am 2. Mai kamen wir in Kopenhagen an.103 Am Abend setzten wir mit der Fähre nach Malmö über. Ein Rabbiner, Juden, die Schalom sagten und nicht eingesperrt wurden. Waren 4 Jahre doch nicht umsonst, Europa nicht judenrein? Noch in derselben Nacht wurden wir entlaust. Als ich Mutti sah im Omnibus, von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, erkannte ich sie kaum wieder.104 Und dann, als wir nach Malmö fuhren, unverdunkelt, dachten wir erst, um Gotteswillen, wenn jetzt Flieger kommen!105 Und dann ein richtiges Bett mit weißem Laken. Wie lange war es her? Sind das Betten für uns Juden, fragte man sich.106 KZ Häftling 3913? Ist es kein Irrtum, keine Gestapo, keine SS?107 Man konnte es nicht fassen.108 Und dann die Schweden. Gibt es noch bessere Menschen? Man darf die Hatikwah109 singen, Radio hören, Zeitung lesen, Briefe schreiben? Was dürfen wir nicht? Und dann Friede, Kapi- 96 Im handschriftlichen Original: „polnische“. 97 Im handschriftlichen Original folgt: „jüdischen“. 98 Im handschriftlichen Original folgt: „als Frauen“. 99 Im handschriftlichen Original: „dänischen“. 100 Im handschriftlichen Original: „wir sahen Menschen“. 101 Im handschriftlichen Original: „Und dann Milch, so viel man will, Weißbrot, Butter, Schokolade, Kakao, Reis.“ 102 Im handschriftlichen Original: „Das waren Sachen, von denen wir längst vergessen haben wie sie schmecken.“ 103 Im handschriftlichen Original: „Nachmittags um 6 Uhr fuhren wir ab und kamen am 2. May mittags in Kopenhagen an.“ 104 Im handschriftlichen Original: „Als ich Mutti im Omnibus sah von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, erkannte ich sie nicht und da [unleserlich wegen eines Risses in der Seite] wir.“ 105 Im handschriftlichen Original: „Und dann, als wir durch Malmö fuhren, eine Stadt ohne Bombenangriffe, eine Stadt unverdunkelt um 2 Uhr nachts, um G’tteswillen, wenn jetzt Flieger kommen.“ 106 Der letzte Halbsatz fehlt im handschriftlichen Original. 107 Im handschriftlichen Original: „Ist das kein Irrtum? Gibt es keine Gestapo mehr, keine SS, SD?“ 108 Dieser Satz fehlt im handschriftlichen Original. 109 HaTikvah (die Hoffnung) – das Lied der zionistischen Bewegung und später die Hymne des Staats VfZ 1 / 2023 Israel. 179 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen tulation. Keine Nazis mehr. Nicht umsonst die 4 000 000.110 Gibt es doch noch Gerechtigkeit? 12 herrliche Tage verlebten wir in Malmö.111 Dann 3 weitere Wochen in Smalandtaner,112 in Quarantäne. Jetzt sind wir in Holsybrunn,113 einem sehr schönen Kurort, nur etwas einsam. Von hier aus kommen wir diese Woche in ein Heim nach Göteborg.114 Nur von einem sind wir sehr enttäuscht. Das sind die jüdischen Organisationen. Am Tag unserer Ankunft versprachen sie uns, überall hin zu telegrafieren. Nach 4 Wochen war noch nicht eine einzige Liste fertig. Holsybrunn, den 25. Juni 1945. Sei tausendmal gegrüßt und geküsst.115 Dein Sigi Dokument 2 [Heinz Samuel berichtet aus dem schwedischen Flüchtlingslager über seine Erlebnisse]116 Kurzer Bericht von unserem Leidensweg Am 11.12.41 wurden wir von Krefeld aus nach Riga ausgewiesen.117 Wir kamen am 15.12.41 dort an und wurden in das Ghetto transportiert. Unsere Koffer, die wir bei uns hatten, wurden [uns] restlos abgenommen. Zwei Tage vor unserer Ankunft hatte sich im Ghetto etwas Furchtbares abgespielt. Von 40 000 lettischen Juden waren nur noch 5 000 dort. Alle anderen waren von den dort regierenden S.O. [?] unter Mithilfe der lettischen SS aus der Welt geschafft worden. Wir fanden die Wohnungen in verwüstetem Zustand vor und wateten 110 Im handschriftlichen Original: „4 Millionen jüdische Opfer“. 111 Im handschriftlichen Original folgt: „in Karantäne“. 112 Im handschriftlichen Original: „Smålandsstenor“. Richtig: Smålandstenar. 113 Richtig (auch nachstehend): Holsbybrunn. 114 Im handschriftlichen Original: „in ein koscheres Lager bei Göteborg“. 115 Im handschriftlichen Original folgt hier: „Viele Grüße an [unleserlich] Frau und Leo“. 116 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 288, Bericht von Heinz Samuel, undatiert (vermutlich 1945). Heinz Samuel übersandte diesen Bericht dem Jewish Central Information Office in London. Briefkopf: Heinz Samuel, Flyktlingslaegret, Holsby Brunn, Sweden; online verfügbar unter www.testifyingtothetruth.co.uk/ viewer/image/105761/1/ [13.10.2022]. 117 Die Krefelder Juden wurden mit einem 1 007 Menschen umfassenden Transport am 11.12.1941 vom Güterbahnhof Düsseldorf-Derendorf aus nach Riga deportiert. Nach derzeitigem Kenntnisstand haben 98 Menschen überlebt; vgl. Barbara Materne, Die Deportation aus Düsseldorf am 11. Dezember 1941, in: Buch der Erinnerung, Bd. 2, S. 691–694. VfZ 1 / 2023 180 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen noch durch das Blut der Ermordeten. Dies alles zu berichten, würde zu weit führen. Ehe wir uns im Ghetto eingelebt hatten, gab es noch viele Opfer. Wir wurden anfangs mit 17 Leuten in einem kleinen Zimmer untergebracht. Die Ernährungsfrage machte große Sorgen. Wir bekamen Zuteilungen für 14 Tage, die aber nur für zwei Tage reichten. Man versuchte, sich durch Tauschhandel etwas nebenbei zu verschaffen. Auf Tauschhandel stand Todesstrafe. Unzählige Menschen wurden für dieses Vergehen erhängt oder erschossen. Wir Männer mussten bei Schnee und Glatteis einen 7-stündigen Marsch zum Hafen machen und dort schwere Arbeit verrichten. Unsere Ernährung waren gefrorene Steckrüben, die wir fanden. Wenn wir von der Arbeit zurückkehrten, standen hungrige Kinder am Zaun und warteten auf ein Stückchen Brot oder Rüben, das unter Lebensgefahr eventuell ins Ghetto gebracht wurde. Unser lieber Vater, der schwer herzleidend war, brauchte nicht mit zur Arbeit. Am 22.12.41 kamen Werner und ich mit einem großen Männertransport in das bekannte Vernichtungslager Salaspitz,118 17 km von Riga entfernt. Wir trennten uns schweren Herzens von unseren Angehörigen. Die meisten von uns marschierten ahnungslos in den Tod. Von 20 000 Menschen fanden 12 000 ihren Tod im Massengrab. Ungeziefer, das Fehlen jeder Möglichkeit zum Waschen, vollkommen unzureichende Ernährung waren die Ursachen unzähliger Erhängungen und Erschießungen. Auch unser Werner war am 11.4.42 zum Hängen verurteilt worden, da er bei der Kontrolle Geld bei sich führte, wurde aber in letzter Minute G[ott] s[ei] D[ank] begnadigt, da wir bei der Lagerleitung beliebt waren. Unsere Boxhandschuhe, die wir immer bei uns führten, brachten uns manchen Vorteil.119 8 Monate dauerte diese Hölle ohne eine Nachricht von unseren Lieben. Dann kehrte der Rest als halbe Leichen ins Ghetto zurück. Unser lieber Vater war inzwischen an Unterernährung gestorben. Mutter und unser Schwesterchen waren sehr abgemagert, der Hunger war zu groß. Viele Kameraden fanden ihre Angehörigen nicht mehr vor, sie waren von der SS verschleppt und beseitigt worden. Auch Mutter war dazu schon ausgesucht, kam aber davon frei. Viele Transporte, die nach uns kamen, wurden direkt von der Bahn in den Wald ge- 118 Richtig: Salaspils. 119 Vor ihrer Deportation hatten Werner und Heinz Samuel in der Sportabteilung des Reichsbunds Jüdischer Frontsoldaten in Krefeld Boxen gelernt. Die Lagerleitung ließ die beiden Brüder gerne gegen andere Häftlinge antreten und verschonte Werner daher offenbar, nachdem man Geld bei ihm gefunden hatte. USC Shoah Foundation Institute, VHA #2546: Testimony of Werner Samuel, und die Informationen der NS-Dokumentationsstelle Krefeld und Villa Meerländer e. V.: villamerlaender.de/2022/06/24/werner- VfZ 1 / 2023 und-heinz-samuel/ [13.10.2022]. 181 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen führt und im Massengrab mit Handgranaten und Maschinengewehr erledigt. Das Massengrab mussten unsere Kameraden am Tag vorher unter schwerer Bewachung ausschaufeln. Im Ghetto waren 15 000 Leute von Köln, Düsseldorf, Prag, Wien, Berlin usw. 13 000 Männer und Frauen gingen in Kolonnen zu den einzelnen SS- und Militäreinheiten zu schweren Arbeiten. Es gab täglich Erschießungen, Erhängungen. Mutter war im Innerdienst und versorgte den Haushalt von 8 Personen, worunter war auch Mally Kaufman,120 Paula Davids121 und Julius Winter122 3123. Schwester Ruth124 arbeitete auf einem großen Schrottplatz, sie musste schwere Eisenteile verladen. Sie ließ mich dorthin anfordern, und ich wurde als Schweißer dort eingesetzt.125 Vor allem bestand die Möglichkeit, ein Stück Brot oder sonstige Lebensmittel, die ich als Anerkennung für meine Leistung von lettischen Arbeitern erhielt und unseren Lieben nach Hause brachte [sic!]. Die Freude war sehr groß, aber noch größer war die Gefahr, es mit ins Ghetto zu bringen [sic!]. Unsere liebe Mutter und Schwester erholten sich wieder ganz gut, und sie lebten ganz glücklich zusammen, außer den Aufregungen, die man täglich hatte, wenn Sturmbannführer Krause126 unschuldige Menschen, meistens Mütter, die ihre Kinder zu ernähren hatten, wegen Lebensmittelmissbrauch einfach zum Friedhof führte und erschoss. Anfang Juni 1943 wurden eine Menge Juden zum Torf geschickt. Auch Ruth musste fort. Ich wurde als Facharbeiter reklamiert und konnte bei Mutter und Schwester bleiben. Jetzt errichtete man im Riga-Kaiserwald ein neues KZ-Lager. Das Ghetto wurde nach und nach aufgelöst. Auch unser Werner musste dorthin. Es war das erste Mal, dass wir Jungens getrennt wurden. Ich wäre gern 120 Vermutlich handelt es sich um Amalie Malchen Kaufmann (1897–1944), die mit demselben Transport wie die Samuels aus Düsseldorf nach Riga verschleppt wurde. Von dort kam sie 1944 nach Stutthof; nach dem Krieg erklärte man sie für tot. 121 Paula Davids (1895–1944) war ebenfalls aus Düsseldorf nach Riga deportiert und von dort im Oktober 1944 nach Stutthof verschleppt worden. Nach dem Krieg wurde sie für tot erklärt. 122 Julius Winter (1879–1958) wurde gemeinsam mit seiner Familie aus Düsseldorf nach Riga deportiert. Einer seiner Söhne starb im Getto, seine zweite Frau Fanny kam nach Auschwitz, wo sie ermordet wurde. Julius und seine Kinder Alfred, Herbert und Grete überlebten weitere Lager und Todesmärsche und gehörten zu der Gruppe, die über Hamburg und Kiel im Mai 1945 Schweden erreichte. Alfred Winter hat nach dem Krieg seine Memoiren aufgeschrieben: Alfred Winter, The Ghetto of Riga and Continuance, 1941–1945, o. O. 1998. 123 Vermutlich ist hier gemeint, dass die Familie Julius Winters zu dritt in der Wohnung lebte. 124 Hier ist offenbar Ruth Gompertz gemeint. 125 Als gelernter Installateur war es für Heinz sicherlich einfacher, als Facharbeiter für eine andere Arbeitsstelle angefordert zu werden. 126 Kurt Krause (1904–1944) war Leiter des Judenreferats in der KdS-Dienststelle in Riga und im Jahr 1942 Kommandant des Gettos, danach Kommandant des Lagers Salaspils. Er wurde vermutlich Ende 1944 im Raum Libau von Partisanen getötet. VfZ 1 / 2023 182 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen freiwillig mitgegangen, wollte aber wiederum Mutter und Schwester nicht allein lassen. Wir trennten uns mit schwerem Herzen und weinten wie Kinder. Werner hatte auch diesmal Glück und wurde im Vernichtungslager Dondangen127 Lagerältester. Auch mein Kommando wurde aufgelöst, und ich hatte Glück und kam zum Armee-Bekleidungsamt als Installateur. Dieses Kommando blieb bis als letztes im Ghetto, und so konnte ich weiter mit unseren Lieben zusammenbleiben. Nur durch meinen Beruf konnte ich es fertig bringen, Mutter und Schwester von dem schrecklichen Lager Kaiserwald zu befreien. Oft mussten wir Tag und Nacht Lazarettzüge ausladen. Am 24.10.43 kam Ruth mit vereiterten Beinen vom Torf zurück. Ihre Eltern waren inzwischen auch nicht mehr da. Sie brachte Lebensmittel mit, die sie sich durch Schneiden nach Feierabend bei dem Direktor der Torffabrik verdiente. Unser Schwesterchen ging inzwischen auch auf Kommando und zum Kriegslazarett. Es war 4 Stunden zu laufen, aber sie kam abends stolz mit ihrem Rucksäckchen mit Brot und Kartoffeln, die sie dort geschenkt bekam, nachhause und fühlte sich als der Ernährer der Familie. Es ist grausam, was das Kind für grausame Jahre mitmachen musste. Nachdem ich im Januar an Diphtherie erkrankt war, ging es uns ganz gut, aber jetzt kam der furchtbare November 43. Als ich an dem Abend von der Arbeit zurückkam, fand ich das Ghetto in einer Totenstille, wo sonst fröhliche Kinder ihren Eltern und Geschwistern von der Arbeit entgegenkamen. Hier und da sah man noch Licht brennen und hörte furchtbares Weinen und Schreien. Als ich unsere Wohnung betrat, fand ich sie im selben Zustand, wie wir sie im Dez. 1941 vorfanden, aber Mutter und Schwester waren nicht mehr da. Ich lief im ganzen Haus herum, suchte aber vergebens. Nach langer Zeit fand ich Ruth wieder, sie suchte Unterkunft bei Mendel aus Kempen,128 welcher Augenzeuge der Vorgänge des ganzen Tages war. Um 8 Uhr morgens kam der Befehl, Kinder und alte Leute antreten. Nachher musste das ganze Ghetto antreten. Die Leute 127 Das Außenlager des KZ Riga-Kaiserwald Dondangen auf dem SS-Truppenübungsplatz Seelager lag etwa 150 Kilometer westlich von Riga und war seit Mitte September 1943 in Betrieb. Die Sterblichkeit war aufgrund der sehr schlechten Versorgung und körperlich schweren Arbeit im Vergleich zu anderen Außenlagern hoch; vgl. Jahn, KZ Riga-Kaiserwald, S. 354. 128 Kurt Mendel (1922–2007) war 1941 gezwungen, in einem sogenannten Judenhaus in Kempen zu leben, bevor er über Düsseldorf gemeinsam mit seinen Eltern nach Riga deportiert wurde. Er überlebte als einziger aus seiner Familie. Nach dem Krieg heiratete er Emmi Dahl (1921–2011), die er aus Köln kannte und im Deportationszug nach Riga wiedergetroffen hatte. Dort hatten die beiden sich versprochen: „Wenn wir hier rauskommen, bleiben wir zusammen!“ Zit. nach Joachim Schröder, Kurt Mendel; biografien.erinnerungsort.hs-duesseldorf.de/person/kurt-mendel-110 [13.10.2022]. Von dieser Internetseite des Erinnerungsorts Düsseldorfer Schlachthof stammen Informationen zu mehreren Biografien in VfZ 1 / 2023 dieser Dokumentation. 183 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen wurden von der SS mit vorgehaltenem Revolver aus den Wohnungen getrieben, mussten zum Appellplatz und [wurden] dort von dem Menschenmörder Krause aussortiert. Das Kopfnicken dieses Verbrechers entschied das Schicksal dieser armen Menschen, die sofort große Wagen besteigen mussten und wurden [sic!] in Waggons verladen. Von da aus fehlte jede Spur. Viele junge Mütter versteckten ihre Kinder, gaben ihnen Schlafpulver, um jedes Schreien oder Weinen zu vermeiden, die meisten wurden aber von den Verbrechern aufgefunden. Die allgemeine Stimmung im Ghetto war jetzt furchtbar. Die wenigen Leute, die übrigblieben, verloren fast alle ihre Angehörigen. Wir blieben bis zum 6.11.43 im Ghetto, wurden dann zum ABA kaserniert. Leute, die Kinder unter 10 Jahren hatten, mussten im Ghetto bleiben und wurden bei einer wiederholten Aktion wieder denselben Weg geführt, den unsere Lieben gingen. Wir, die zur ABA bestimmt waren, mussten alle durch das Lager Kaiserwald uns registrieren lassen. Viele von uns wurden dort festgehalten und wurden von dem Totenschläger zugesetzt [sic!]. Wir kamen in das KZ-Lager der ABA (Armee-Bekleidungsamt). Die Arbeit war sehr schwer, die Verpflegung war sehr knapp. Wir vertauschten unsere Kleider vom Leibe, um nicht vor Hunger umzukommen. Man zog uns ganz dünne Sträflingskleider an. Männer und Frauen bekamen die Haare kahl abrasiert. Ruth kam zweimal ins Lazarett mit hohem Fieber nach Haus [sic!]. Ich entfernte mich heimlich aus dem Lager und bettelte in einem Nachbarhaus um Medikamente und Lebensmittel. Ich wollte der guten Frau mein Hemd, das ich noch trug, geben, aber sie sagte, der liebe Gott würde sie dafür belohnen. Auch ich wurde im Lazarett zweimal operiert. Es kam wieder ein böser Tag. Die letzten Kinder, die bei uns waren, holte die SS auch noch. Es gab schreckliche Szenen. Die Eltern mussten ihre eigenen Kinder der SS aushändigen. Die kleinen Kinder, die man manchmal illegal mühselig vom Ghetto in unser Lager schmuggelte, enden jetzt im Wald, wo so viele unserer Glaubensgenossen ihren Tod fanden. Als die Russen kamen, fand abermals eine Aktion statt, wo 176 Menschen unseres Lagers ihren Tod fanden. Diese Aussortierung machte unser SS-Arzt Dr. Kräbsbach129. Unser Lager wurde nach dem von 1 500 Menschen auf 200 reduziert. Alle anderen schickte man nach dem bekannten Vernichtungslager Stutthof. Wieder wurden den meisten weitere Angehörige entrissen. Jedenfalls, durch zufriedenstellende Arbeit, was den Verbrechern gefiel, brachten Ruth und ich es fertig, einer der letzten Auserwählten zu bleiben [sic!]. Es kamen 140 Leute nach Libau per Schiff; auch Ruth musste mit weg. Wir blie- 129 Richtig: Krebsbach. VfZ 1 / 2023 184 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen ben mit 50 Männern und 10 Frauen zurück. Nach 14 Tagen kamen wir auch nach Libau und kamen wieder mit den 140 Leuten zusammen. Unser Kommandant war jetzt Hauptscharführer Brüner,130 der auch eine Unmenge Menschen auf dem Gewissen hat. Inzwischen kamen schwere Fliegerangriffe der Russen. Der Ruth wurde durch eine Brandbombe, die im Splittergraben einschlug, die Hälfte des Gesichts verbrannt. Nach einer Operation an meiner Hand wurde ich als Heizungsmonteur eingesetzt und musste oft Nächte durcharbeiten. Wir blieben bis 19.2.45 in Libau und wurden dann bei [sic!] Schiff nach Hamburg transportiert und dann von der SS in das Gefängnis des KZ-Lagers Fühlsbüttel131 überführt. In dieser Hölle blieben wir 7 Wochen. Unsere Kräfte wurden von Tag zu Tag weniger. 60 Kameraden wurden nach Bergen-Belsen geschickt. Am 14.4.45 mussten wir antreten, man gab uns 750 Gramm Brot, 100 Gramm Margarine, das musste für 4 Tage ausreichen. Gleich darauf marschierten wir unter SS-Bewachung 100 km nach Kiel. Den ersten Tag marschierten wir 30 km. Wir konnten uns kaum bewegen, da unser Körper von vorherigen Strapazen schon zu schwach war. Wir ernährten uns nur noch von Steckrüben, die wir fanden, und sogar dafür gab es Tritte und Schläge. Nach 4 Tagen kamen wir dort an. Wir wurden vom SS-Führer und Lagerkommandanten132 mit den Worten „Ihr Synagogendiener werdet es gut bei mir haben“ empfangen. Wir mussten in der Stadt Kiel an bombengeschädigten Häusern Ausgrabungen vornehmen und wurden dabei schändlich behandelt. Jeden Abend zeigte SS-Führer Baumann133 seine Schießkunst, dafür mussten 30 Lagerinsassen ins Gras beißen. Die Lagerinsassen waren nur noch Knochengerüste, und wir waren jetzt so weit, dass unsere Beine uns kaum noch trugen. Beine und Füße waren dick geschwollen von Wasser. Am 30. April mussten wir von den am Vorabend Erschossenen die noch verdreckten und noch vom Blut besu- 130 Hans Brüner (1894–1976) leitete die Arbeitseinsatzplanung im KZ Riga-Kaiserwald und war für seine Foltermethoden berüchtigt. Später war er als neuer Lagerführer des nach Libau zu verlagernden Lagers Riga-Mühlgraben dafür verantwortlich, mehrere hundert Häftlinge nach Libau zu bringen. Dort wurde er bei einem Bombenangriff schwer verletzt und nach Deutschland gebracht. Er starb vor der Aufnahme der Ermittlungen gegen den Führungsstab des KZ Kaiserwald. 131 Richtig: Fuhlsbüttel. 132 Johannes Post (1908–1948) war vor der Gründung des Arbeitserziehungslagers Nordmark in Kiel im Mai 1944 u. a. bei den Gestapodienststellen Troppau, Radom, Stettin und Kiel tätig gewesen. Im Mai 1947 wurde Post verhaftet und im Februar 1948 wegen der Erschießung von Piloten der Royal Air Force, die aus dem Kriegsgefangenenlager Sagan geflohen waren, hingerichtet. 133 Otto Baumann (1908–1948) war nach Einsätzen u. a. bei der Sicherheitspolizei in Radom, der Gestapo Berlin und Karlsruhe seit Ende Juni 1944 im Arbeitserziehungslager Nordmark tätig, wo er im Oktober zum Lagerführer ernannt wurde. 1947 verurteilte ihn ein britisches Militärgericht zum Tode, 1948 VfZ 1 / 2023 wurde er hingerichtet. 185 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen delten Kleider anziehen. In dieser Maßnahme sahen wir nichts Gutes für uns, denn viele Kameraden mussten mit zerrissenen Kleidern ihren letzten Weg antreten. Wir waren schon zu gleichgültig zu denken. Wir hatten keine Kräfte mehr, ob Leben oder Tod. Da geschah das für uns unfassbare Wunder. Das Dänische Rote Kreuz134 holte uns am nächsten Tag, 1.5.45, aus dieser fürs Leben unvergesslichen Hölle ab und führte uns in die unschätzbare Freiheit. Dieser Bericht sind nur Bruchteile unserer furchtbaren Erlebnisse [sic!]. Dokument 3 [Erna Valk schreibt kurz nach Kriegsende über die Zeit seit der Deportation]135 Meine Erlebnisse in der Zeit vom 10. Dezember 1941 bis 30. Juni 1945 Am 10. Dezember 1941 wurde ich, weil Jüdin, zusammen mit meinem Manne evakuiert, d. h. wir wurden aus unserem Vaterlande vertrieben. Der in Goch tätige Kriminalbeamte Kamper, der im Auftrag der Gestapo arbeitete, holte uns morgens früh in der Wohnung ab, die er verschloss. Er hatte kein gutes Wort für uns übrig und brachte uns nach Krefeld zum Zuge nach Düsseldorf, wo wir in die Hände der SS kamen. Einen kurzen Leidensweg machten wir vom Bahnhof bis zur Schlachthalle Düsseldorf. Wir mussten mit unserem Gepäck ziemlich schnell laufen, Alte, Kranke, Kinder. Es gab Fußtritte. Die Düsseldorfer standen an den Fenstern und Türen, und einige weinten. Die Schlachthalle nahm uns auf, wo wir zu einem Transport von 1 000 gesammelt wurden. Wir standen in der nassen Halle ca. 24 Stunden. Jeder einzelne wurde einer Leibesvisitation unterzogen, und es wurden ihm alle wertvollen Sachen, doppelte Leibwäsche und das gesamte Reisegepäck abgenommen, ebenso alle Papiere. Am anderen Morgen standen wir stundenlang an einem Düsseldorfer Güterbahnhof.136 Die Kinder lagen im Schnee und weinten. Endlich fuhr unser Extrazug ab nach Riga. Wir waren 3 Tage unterwegs in einem ungeheizten Zug ohne Wasser und Verpflegung. Abends kamen wir in Riga an und wurden bei 40° Kälte erst am anderen Morgen ausgeladen – Skirotava Güterbahnhof. Vie- 134 Handschriftlich ergänzt: „Swedish?“ 135 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 367, Bericht von Erna Valk, undatiert (vermutlich 1945); online verfügbar unter www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/object/105785/2/ [15.9.2022]. 136 Zum Düsseldorfer Transport vgl. Materne, Deportation aus Düsseldorf, in: Buch der Erinnerung, Bd. 2. VfZ 1 / 2023 186 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen le, besonders Kinder, hatten schon von dieser Nacht Frostschäden. SS-Posten brachten uns in das Ghetto Riga. Das war ein Stadtviertel, worin früher die Verbrecherwelt gewohnt hatte und wo man später sämtliche Juden Rigas zusammengepfercht hat. Einige Tage vor unserem Einzug in das Ghetto wurden diese dort umgebracht. Es waren mehr als 24 000. Das Blut lag noch auf der Straße, und wir dachten, dass uns dasselbe Los beschieden wäre. Doch uns wollte man nach Goebbels’ Äußerung langsam eingehen lassen wie Blumen, denen man kein Wasser gibt.137 Die Wohnungen, in die wir hineingetrieben wurden, waren in einem fürchterlichen Zustande, ähnlich denen nach einem Bombenangriff. So hatte die SS dort gehaust. Alles Wertvolle hatte sie geraubt. Die Schränke waren umgeworfen, und alles lag durcheinander. Das gefrorene Essen stand auf dem Tisch, so wie die Menschen ihn verlassen hatten, als die Mörder kamen. Ich war sehr unglücklich, und trotzdem musste ich wie die anderen darangehen, die kleine Stube aufzuräumen, welche für 3 Familien ausreichen musste. Wir suchten und fanden in Abfallgruben gefrorene Kartoffeln und Möhren, die wir uns kochten. Der Hunger war schon groß und triebs herein. Die ersten 8 Tage gabs keine Lebensmittelzuteilung und das, was wir essen mussten, füttert man hier nicht den Schweinen. Später bekamen wir 230 gr. Brot täglich und etwas Nährmittel. Bald wurden alle Männer abtransportiert in ein ausgesprochenes Vernichtungslager, 18 km von Riga entfernt, Salaspils. Ganz wenige, darunter mein Mann, kamen nach 7 Monaten in erschreckendem Zustande ins Ghetto zurück. Die anderen waren teils erfroren, teils an Typhus gestorben, teils erschossen oder erhängt worden, meist wegen Tauschhandels mit Letten, denn, wer nicht sein Letztes vertauschte gegen ein Stück Brot, starb Hungers. – Die Frauen des Ghettos gingen auf Arbeitskommandos, und zwar zum Schneeschüppen, in Fabriken und Wehrmachtsbetrieben. Sie kamen zum Teil mit Letten in Berührung, welche nach Sachen von den getöteten Juden fragten. Sie konnten alles gebrauchen, denn das reiche Lettland war durch die Deutschen vollkommen ausgeplündert worden. Was nun im Ghetto an Sachen herumlag, wurde morgens mit zur Arbeitsstelle genommen. Die Letten nutzten den Hunger der Juden 137 Dieses Zitat ist nicht nachweisbar. Joseph Goebbels schrieb in seinem Leitartikel „Die Juden sind schuld!“ in Das Reich am 16.11.1941: „Die Juden sind eine parasitäre Rasse, die sich wie ein faulender Schimmel auf die Kulturen gesunder, aber instinktarmer Völker legt. Dagegen gibt es nur ein wirksames Mittel: einen Schnitt machen und abstoßen.“ Abgedruckt in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 6: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren Oktober 1941–März 1943, bearb. von Susanne Heim, Berlin/Boston 2019, Dok. 37, S. 187–191, hier S. 189. Möglicherweise hat das Zitat durch Kolportage unter Jüdinnen und Juden VfZ 1 / 2023 die hier verwendete Blumen-Konnotation erhalten. Für diesen Hinweis danke ich Frank Bajohr. 187 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen aus und gaben ihnen Brot und Nährmittel in kleinen Mengen. Abends wurden die ins Ghetto hereinkommenden Kolonnen von der SS kontrolliert. Fand man bei jemandem Lebensmittel, so kostete das das Leben. Täglich wurden Frauen oder Mädchen erschossen und Männer erhängt. Das war die Beschäftigung des Kommandanten, SS-Obersturmführer Krause, später Roschmann138 und Gimmlich139. Der Galgen stand in der Mitte des Ghettos, und wenn wir abends todmüde von der Arbeit kamen, wurden wir dorthin geführt, um die Erhängten zu sehen. Doch auch dieser furchtbare Anblick durfte uns nicht entmutigen, weiter zu tun, was verboten war. – Ich hatte ein schweres Arbeitskommando, 4 Stunden zu laufen hin und zurück. Ich arbeitete in einer lettischen Fabrik, die alle Arten frischer Felle vom Schlachthof bekam. Diese mussten gereinigt, sortiert, gezählt, gewogen und auf Stapel gearbeitet, d. h. gesalzen werden, was eine Spezialarbeit darstellt. Ich galt schließlich als gelernte Arbeiterin und verdiente 32 Pfennig pro Stunde. Unsern Verdienst bekam die SS, die dem Ghetto dafür die Lebensmittel kaufte. Sie bestanden aus den minderwertigsten Sachen wie z. B. als Fisch Stichlinge oder Fischköpfe, als Gemüse Rhabarberblätter und verdorbenes Sauerkraut. Bewacht wurden wir im Ghetto von lettischen SS-Posten, die nachts in die Wohnungen der alleinstehenden Frauen eindrangen und sie und sogar Kinder in der gemeinsten Weise vergewaltigten. Unser SS-Obersturmführer140 war damit nicht einverstanden, denn hübsche Jüdinnen sollten nur für ihn sein. Einmal hatte er eine Wienerin, die er später erschoss. Zur damaligen Zeit sangen die Menschen im Ghetto mit einer schweren Melodie folgendes Lied: Wohinaus das Auge blickt – nichts als Eis und Schnee ringsum, Vogelsang uns nicht erquicket, Eichen stehen kahl und stumm. Denn uns hat man verbannt in ein fremdes Land als Juden. 138 Eduard Roschmann (1908–1977) war seit Ende 1941 Judenreferent in Riga und seit 1943 Kommandant des Gettos, nach dessen Auflösung wurde er zum Kaiserwald-Außenlager Lenta versetzt. Er lebte nach dem Krieg in Argentinien, entging 1977 der Auslieferung nach Deutschland durch Flucht nach Paraguay, wo er kurz danach starb. Vgl. Heinz Schneppen, Ghettokommandant in Riga. Eduard Roschmann. Fakten und Fiktionen, Berlin 2009. 139 Max Gymnich (geb. 1905) aus Köln war seit Juni 1940 für die Gestapo Köln als Fahrer tätig, später kam er nach Riga, wo er der Assistent und Fahrer von Gettokommandant Krause wurde. Zahlreiche Häftlinge beschuldigten ihn, an Morden beteiligt gewesen zu sein, und die Synagogengemeinde Köln erstattete 1947 Anzeige gegen ihn. Er nahm sich nach seiner Inhaftierung im Untersuchungsgefängnis Neuengamme, noch bevor ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden konnte, das Leben. Eine Aussage Gymnichs aus dem Jahr 1947 ist einsehbar unter www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/image/106240/1/ #topDocAnchor [13.10.2022]. 140 Gemeint ist Kurt Krause. VfZ 1 / 2023 188 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Morgens ziehen die Kolonnen durch den Schnee zur Arbeit hin, Plagen sich bei russischer Kälte, nach der Heimat steht ihr Sinn. Denn... Auf und nieder ziehen die Posten, keiner, keiner kann hindurch, Flucht kann nur das Leben kosten, fest umzäunt ist unsere Burg. Denn... Lasst das Weinen, lasst das Klagen, immer kann nicht Winter sein, Einmal werden froh wir sagen: Heimat, Du bist wieder mein. Dann sind wir nicht mehr verbannt in dem fremden Land als Juden.141 Es liefen noch viele Juden-Transporte in Riga ein, doch nicht alle kamen ins Ghetto, sondern viele wurden direkt in den Hochwald bei Riga geleitet, wo Juden vorher große Gräber schaufeln und später zumachen mussten. Ein Gocher, Fritz Bruckmann,142 war bei diesem Arbeitskommando, welches im Zentralgefängnis Riga kaserniert war. Von diesem Kommando starben fast alle den Hungertod. – Am 12. Februar 1942 wurden aus dem Ghetto 1 500 ältere Menschen angeblich nach Dünamünde per Lastwagen verfrachtet. Man nahm ihnen vor dem Aufsteigen noch das für unterwegs mitgenommene Stückchen Brot ab und warf es auf die Straße, wo hungrige Kinder es schnell aufnahmen. Die Fahrt ging nirgendwo anders hin als auch in den Hochwald. – Später wurde das Ghetto aufgelöst. Alle 100 %ig Arbeitsfähigen kamen ins KZ Riga, alle Kränklichen, Älteren und alle kleinen Kinder wurden in den Tod befördert, teils im Hochwald durch Erschießen und teils in Auschwitz durch Vergasung. Die meisten Eltern ließen ihre Kinder nicht im Stich und gingen mit ihnen. Einige versteckten die Kleinen in Kaminen und Schuppen und konnten sie dadurch zunächst retten. Mein Mann und ich waren unter den „Glücklichen“, die ins KZ wanderten. Uns Frauen wurden die Haare kahlgeschoren, doch wir verzogen keine Miene dabei. Jetzt mussten wir nur noch schwerer arbeiten, und zwar im Tiefbau. Es ist mir gelungen, zusammen mit meinem Mann zu arbeiten. Wir mussten Kähne und Waggons mit Kies entladen, Loren laden und fortschieben, den Kies und Zement einschaufeln in Betonmischmaschinen etc. SS-Posten mit Gewehr standen hinter uns und außerdem Sträflinge beiderlei Geschlechts, die zur Arbeit antreiben mussten. Abends kamen wir nach einem großen Fußweg tod- 141 Das Lied wurde zur Melodie der „Moorsoldaten“ gesungen; vgl. Schneider, Reise, S. 125. 142 Der Bäcker Friedrich (Fritz) Bruckmann (1899–1944) gelangte 1944 über Stutthof in das Dachauer VfZ 1 / 2023 Außenlager Kaufering, wo er am 5.12.1944 starb. 189 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen müde in ein verlaustes und verwanztes Lager und bekamen unser Nachtmahl, bestehend aus einem Stückchen Brot, etwas Aufstrich und Kaffee. Unser Mittagessen erhielten wir an der Arbeitsstelle, ½ Liter Wassersuppe pro Person, unter freiem Himmel bei eisiger Kälte oder Regen. – Das Männer- und das Frauenlager waren durch doppelten Stacheldraht voneinander getrennt. Jeden Abend vor dem Schlafengehen traf ich am Draht noch meinen Mann. Wir machten uns gegenseitig Mut und waren froh, uns am anderen Morgen in der Marschkolonne wiederzusehen; denn in einer Nacht konnte vieles geschehen. In dem Lager gab es Sträflinge, Mörder und Verbrecher, speziell da, uns zu quälen. Oftmals suchten sie sich in der Nacht Opfer. Es gab dann manche Tote. Z. B. sie trieben die Männer aus den Baracken immer wieder heraus und hinein und schlugen vor der schmalen Ausgangstür mit dicken Knüppeln auf die Männer. In einer Sylvesternacht machte sich der Raubmörder Icks143 ein Vergnügen daraus, dem Rudi Haar aus Leipzig die Kehle durchzuschneiden und ihn dann in die Abortgrube zu werfen.144 Oder er schlug Männer mit dem Kopf so lange gegen die Barackenwand, bis sie tot waren. Oder er ertränkte sie in der Düna. Auch mussten sich die schönsten Mädchen den Sträflingen hingeben. Sie wurden einfach nachts aus den Baracken geholt. Die Sträflinge nahmen von der uns zustehenden Verpflegung das Beste fort. Mit allem war die SS einverstanden. Die Tage waren lang, denn wir mussten schon um ½ 4 morgens aufstehen. Morgens und abends standen wir stundenlang Appell. Der Appellplatz war von uns gepflastert worden mit zerschlagenen Grabsteinen vom jüdischen Friedhof in Riga. – Alle 14 Tage mussten wir Frauen vor SS-Scharführern und unserer SS-Scharführerin nackt antreten. Sie erfreuten sich daran, unsern Körper nach Läusen zu untersuchen in einer Weise, worüber das Schamgefühl mir verbietet zu sprechen. Eines Tages fühlte ich mich sehr krank, hatte hohes Fieber und kam ins Revier. Ich hatte Typhus. Rechts und links von mir sind die Menschen gestorben. Die Lagersuppe war Gift für die Krankheit [sic!], und es war besser, sie nicht zu essen. Mein Mann ließ mir alles, was er entbehren konnte, zukommen, und so überstand ichs. Es dauerte 3 Monate, bis man mich entlassen hat, denn ich war so lange positiv. In der ganzen Zeit habe ich nicht eine einzige Nacht geschlafen. Hunderte von Wanzen waren in meinem Bett. – Nebenan war die Abteilung Ab- 143 Gemeint ist der Funktionshäftling Xaver Abel, den seine Mithäftlinge „Mister X“ oder nur „X“ nannten. Er war 1943 von Sachsenhausen nach Riga versetzt worden. 144 Rudolf Haar (1898–1944) aus Leipzig war der stellvertretende Leiter der Jüdischen Gettopolizei. Anderen Berichten zufolge machten Mithäftlinge ihn in Kaiserwald betrunken und warfen ihn in die Latrine, wo er erstickte. VfZ 1 / 2023 190 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen treibung. Hier geschah Tag und Nacht Mord. – Polinnen, Litauerinnen, Ungarinnen, die nach uns der Freiheit beraubt worden waren, lagen hier und gebaren ihre Kinder. Ich habe interessehalber einmal zugesehen, wie die Abtreibung vorgenommen wurde, und dieses will ich hier nicht wiedergeben. Es kamen auch ausgetragene Kinder zur Welt, die, wenn sehr kräftig, nach der Geburt durch Spritze getötet wurden oder sonst einfach in einem Stechbecken145 ins eiskalte Klosett gestellt wurden. Sie wimmerten eine Zeitlang, bis der Tod sich einstellte. Die armen Mütter habe ich bedauert, weil es mir einmal vergönnt war, das Mutterglück zu empfinden, und so konnte ich den Schmerz verstehen. Menschen, die, wie der Arzt sagte, zum Tode verurteilt waren, noch bevor sie geboren! Ein Vierteljahr später wurde das ganze Revier in den Tod geschickt. Es kamen Waggons aus Estland mit Juden, denen unsere Alten, Schwachen und Kranken beigefügt wurden – Richtung Auschwitz. Ich hatte also Glück, dass ich wieder gesund war. Ich bekam wegen guter Führung ein leichteres Arbeitskommando, und zwar beim Feldbekleidungsamt der Luftwaffe in Riga. Dort war ich zunächst Sortiererin, später Abteilungsleiterin und aushilfsweise Stenosekretärin des Oberzahlmeisters. Ich bekam öfters Brot und Suppe und konnte das meinem Mann abends mitbringen. Vermittels einer Latte durch den Draht erhielt mein Mann das, was ich ihm zu geben hatte, mal war es etwas Essbares, mal waren es gewaschene Socken. Bei der Luftwaffe hatten wir jeden Abend vor dem Abmarsch ins KZ Leibeskontrolle nach etwa „organisierten“ Sachen, und trotzdem 1/3 jeden Abend kontrolliert wurde, hatte bald jeder etwas bei sich, das ihn hätte das Leben kosten können, denn, wenn die Menschen es sich nicht so verschafften und ließen es durch andere auf Kommandos gegen Lebensmittel vertauschen, mussten sie verhungern. Mein Mann war schließlich für ein Kommando vorgesehen, welches die SS „Stützpunkt“ nannte, konnte aber durch unseren plötzlichen Abtransport nicht mehr verwendet werden. Wie wir im Lager zufällig erfuhren, hatte das Kommando „Stützpunkt“ die Aufgabe, die Massengräber, wovon ich schon sprach, auszugraben und die Leichenreste zu verbrennen wegen der herannahenden Russen. Die damit beauftragten Männer wurden nach getaner Arbeit erschossen und auch verbrannt, damit die Öffentlichkeit nichts erfahren sollte. Eines Tages fand im Lager ein großer Appell vor dem SS-Arzt Dr. Krebsbach, anderen SS-Würdenträgern und Sträflingen statt. Es war mal wieder etwas los. Diese Appelle waren für jeden, denn keiner sah noch gut aus, sehr aufregend. Alle über 50 Jahre und alle Kinder bis 14 Jahre, alle Männer, die nur kleine Körperfehler hatten (ein bei der schweren Arbeit zugezogener Leistenbruch konnte VfZ 1 / 2023 145 Bettpfanne. 191 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen zum Verhängnis werden), wurden ausrangiert. Ich war froh, zu der Partie der Jugendlichen gestellt zu werden, und hatte nur Sorge um meinen Mann. So kam es vor, dass im Männerlager ein Vater oder ein schwacher Jüngling und gleichzeitig im Frauenlager die Mutter und das Kind zu den zum Tode Verurteilten gestellt wurden und auf diese Weise die ganze Familie erfasst worden ist. Zu meiner größten Freude sah ich am anderen Morgen meinen Mann wieder. Die Aussortierten wurden auf Lastwagen abtransportiert. Viele gute Bekannte waren darunter, und um diese war einem das Herz besonders schwer. In einem Nachbarlager, Strassenhof,146 wurden alle über 30 Jahre für die Gaskammer aussortiert. Die Panik unter den Kindern war furchtbar. Die Eltern erfanden die unmöglichsten Verstecke. Otto Schönewald aus Schiefbahn bei Krefeld vergrub sein 4-jähriges Söhnchen in die Erde, aber, nachdem für das Kind 10 Juden erschossen werden sollten, holte er es aus dem Versteck hervor und ging mit Frau und Kind in den Tod.147 Was geschah mit uns Arbeitsfähigen? Bald darauf, Sonntag früh den 6. August 1944, mussten wir plötzlich alle antreten. Man brachte uns zum Hafen, und wir sahen einen großen Ostseedampfer, einen Truppentransporter, in den wir hineingetrieben wurden. Nach dreitägiger Fahrt kamen wir in Danzig an. Dort wurden wir mit Stockhieben ausgeladen und in Kähne verfrachtet bis Stutthof. Nachdem wir auch hier mit Stockhieben ausgeladen wurden, ging der Weg in das KZ Stutthof, eine Welt für sich, unübersehbar groß. Wenn man Glück hatte, kam man da wieder heraus, und wir dachten an den Kommandanten des KZ Riga, Sauer,148 der uns zum Abschied gesagt hatte: „Ihr werdet an das Paradies Riga noch mal zurückdenken.“ Es war die Hölle! Wir sind verschmachtet nach Wasser. Die Toiletten und Waschräume zu benutzen, war kaum gestattet. In langen Reihen mussten wir dafür anstehen und Qualen erleiden. Wir hatten nur ein Hemd und eine Hose. Es gab Prügel dabei. Um 9 Uhr morgens gabs bereits Mittagessen, ½ Liter Suppe, eine rostige Schüssel für zwei Personen. Den Löffel hatten sie uns auch abgenommen, und es war nicht anders möglich, als dass man etwaige Kartoffel- oder 146 Richtig: Strasdenhof. Das Außenlager des KZ Riga-Kaiserwald unterstand der SS und war von August 1943 bis September 1944 in Funktion; vgl. Jahn, KZ Riga-Kaiserwald, S. 346. 147 Der Viehhändler Otto Schönewald (1908–1944), seine Frau Klara, geb. Wallach (1906–1944), und Sohn Bruno (1937–1944) aus Schiefbahn waren mit demselben Transport wie Erna Valk aus Krefeld nach Riga verschleppt worden. 148 Albert Sauer (1898–1945) war erster Kommandant des KZ Mauthausen, verlor diesen Posten aber aufgrund verschiedener Beschwerden schon nach wenigen Monaten wieder. Seit der Errichtung des Lagers im März 1943 bis zur Räumung im Oktober 1944 war er Kommandant des KZ Riga-Kaiserwald. Wenige Tage vor Kriegsende kam er ums Leben. VfZ 1 / 2023 192 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Möhrenstücke mit dem Finger herausfischte. Es war dann eine lange Zeit zum Hungerleiden bis zum Abend. Dann gabs ein kleines Stückchen Brot mit Aufstrich. Im Übrigen mussten wir dort den ganzen Tag Appell stehen von morgens 5 bis abends 7. Todmüde, kalt und hungrig schliefen wir zu 4 Frauen in einem schmalen Bett ohne eine Decke. Flöhe, Wanzen, Läuse, alles war da zu unserer Qual. Typhus, Ruhr, Diphtherie, Geschwüre in rauen Mengen. Die Menschen starben weg. Die Frauen wurden von den SS-Weibern und Sträflingen blutig geschlagen, totgeschlagen. Auch ließ man Frauen nach einem heißen Bad stundenlang nackend draußen in der Kälte stehen. Viele wurden irrsinnig. – Ich wusste nicht, wo mein Mann geblieben war. Nach 5 Wochen wurde ich erlöst von dem schrecklichen Stutthof. Es kamen täglich Interessenten für Frauen, die gut arbeiten konnten: Großgrundbesitzer und Reichsbahninspektoren. Ich wurde eines Tages mit anderen Frauen ausgesucht für die Reichsbahn und kam nach Bromberg in Polen, wo wir unter Aufsicht von grausamen SS-Weibern mit Schlagriemen und Revolver bei KZ-Verpflegung in Wind und Wetter auf der Strecke arbeiten mussten: Schienen verlegen, Schwellen auswechseln, stoppen (in der Rotte), Waggons mit Schwellen und Basalt auf- und abladen etc.149 Sonntags: Schützengräben machen. Es war sehr qualvoll. Unser Lagerführer Kniffke, ein SS-Scharführer,150 war zu uns besser als der Reichsbahninspektor Ballhorn151 – Bromberg Ost –, der uns revierfähig geschlagen hat, wenn er konnte. Unser Lagerführer hat sich sogar deswegen mit ihm überworfen; die Arbeit musste ihm überlassen bleiben. Zwei Polinnen waren schwanger. Die eine gebar das Kind, die andere wurde mit Schwachen zur Vergasung nach Stutthof gebracht. Es war ein harter Polen-Winter. Unsere Sträflingskleidung war dünn, und auf der Strecke bläst der Wind. Auch kamen wir oft vollständig durchnässt abends im Lager an und mussten am anderen Morgen mit dem nassen Kleid und nassen Strümpfen und mit kaputten Holzschuhen wieder zur Arbeit. Mitten in der Nacht mussten wir zum Schneefegen in den Weichen heraus. Aber keiner wollte krank sein, denn das bedeutete den Tod. Ich hatte kurze Zeit das Glück, Kolonnenführerin zu sein. Mein Kommando hieß Bromberg-Hauptbahnhof. 149 Das Außenarbeitslager Bromberg-Ost war seit September 1944 ein Außenlager des KZ Stutthof für 300 jüdische Frauen, die Arbeiten für die Reichsbahn verrichten mussten; vgl. Drywa, Extermination, S. 209–211. 150 SS-Scharführer Anton Kniffke (1886–1948), Kommandant des Stutthofer Außenarbeitslagers Bromberg-Ost, wurde im vierten Stutthof-Prozess in Danzig 1947 zu drei Jahren Haft verurteilt. 151 Möglicherweise Kurt Eugen Ballhorn (1901–1955), laut Einwohnerbuch Königsberg 1935 dort VfZ 1 / 2023 Reichsbahn-Bau-Oberinspektor, nach dem Krieg zeitweise Leiter der Eisenbahndirektion Essen. 193 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Damals brauchte ich nicht auf der Strecke arbeiten, sondern hatte die Bude für die Meister und unsere Frauen zu wärmen. Ich bekam von meinem Meister täglich ein Butterbrot und den Rest seines Essens, was mich außerordentlich stärkte. Unsere Aufsichtsdamen, die SS-Weiber, wärmten sich auch auf in der Bude. Trafen sie Soldaten, so nahmen sie diese mit hinein, und ich musste die Herrschaften bedienen. In ordinärster Weise gaben sie sich mit den Soldaten ab, und wenn ich konnte, holte ich Wasser, damit ich nicht zugegen sein brauchte. Wenn unsere Frauen auf der Strecke Brot oder sonstiges zugeworfen bekamen, so nahmen die SS-Weiber ihnen das ab, zertraten es und prügelten. Eine SSDirne, Gerda Hesper152 aus Essen, war darin groß, und es wäre zu wünschen, dass sie den Wert des Brotes inzwischen kennengelernt hätte. Sie z. B. sagte uns jeden Tag: „Ihr müsst arbeiten, bis Ihr verreckt!“ Uns war das schon gleichgültig. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass wir noch einmal in die Freiheit gelangen könnten. Eines Tages machte mich mein Meister darauf aufmerksam, dass die Russen nicht mehr weit entfernt seien, und plötzlich am 20. Januar 1945 wurden wir von der Arbeit fortgerufen und mussten Bromberg schnellstens verlassen. Mit einem Nachbarlager, Branau,153 waren wir im Ganzen 1 300 Frauen, die von den aufgeregten SS-Weibern, welche Sträflingskleider von uns eingepackt hatten, landeinwärts getrieben wurden – Richtung KZ Oranienburg. Es lag hoher Schnee. Die SS-Weiber trieben uns in einem furchtbaren Tempo. Auf einmal ließen sie uns auf der Landstraße stehen und hauten ab. Wir waren uns selbst überlassen und verteilten uns auf Bauernhöfe mit der Absicht, auszukneifen. Doch die lettische SS, die dort kämpfte, kassierte uns wieder ein, und da begann erst das Treiben richtig. Wer es wagte, sich an den Rand der Straße zu setzen, um ein Bedürfnis zu verrichten, wurde erschossen. Unsere Rote-Kreuz-Schwester, die der begleitende Scharführer als überflüssig hielt, schoss er aus Wut zunächst in die Augen, und dann erschoss er sie mit ihrer Schwester. Viele haben schlappgemacht; sie wurden kurzerhand erschossen und in den Straßengraben gestoßen. Wenn es noch Angehörige von diesen gibt, können sie nie erfahren, wo die Betreffende geblieben ist. Jeden Augenblick knallte es. Die liebsten Kameradinnen sind so von uns gegangen. Es waren kolossale Strapazen, 150 km. Abends kamen wir nassgeschwitzt in kalte Scheunen – keine Verpflegung. Wir lebten schon tagelang nur von Schnee. Unsere Füße waren wund. Auch ich war 152 Vermutlich ist Gertrud (Gerda) Vesper (geb. 1922) gemeint, gegen die nach 1945 mehrfach ergebnislos ermittelt wurde. Die Verfasserin dankt Giles Bennett für diesen Hinweis. 153 Richtig: Brahnau. Auch das Außenarbeitslager Bromberg-Brahnau war ein Außenlager des KZ Stutthof. VfZ 1 / 2023 194 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen am Ende meiner Kräfte. Eine Kameradin, Bella Hirschfeld aus Berlin,154 hat mir das Leben gerettet. Ich durfte mich an ihren Arm hängen, und sie hat mich mitgeschleift. Von Flatow bis Tempelburg in Pommern wurden wir in einem Güterzuge befördert. Wir mussten von abends 7 bis morgens 6 in einem offenen Waggon in hohem Schnee stehen. Eine Ungarin wurde irrsinnig. Am anderen Tage, mein Geburtstag, 29. Januar, übergaben uns in Tempelburg die SS-Posten einigen Volkssturmmännern. Sie erklärten, dass sie kaputte Füße hätten, sich behandeln ließen und uns am nächsten Tage wieder übernehmen und dann mit uns Schluss machen würden. Die Volkssturmmänner holten einen Eimer warmen Wassers und gaben uns Armen zu trinken. Sie brachten uns ins nächste Städtchen, Falkenburg. Dort mussten wir in einer stilliegenden Ziegelei übernachten. Es waren nur noch ca. 40 Frauen von 1 300; die anderen lagen erschossen am Wege. Ich machte mit 3 Kameradinnen den Plan, in der Nacht zu flüchten. Um 3 Uhr nachts verließen wir, nachdem wir unsere gestreifte Kleidung ausgezogen hatten, die Fabrik nacheinander durch eine Hintertür und – es fiel kein Schuss. Es war eine herrliche Winternacht. Der Mond schien hell auf den hohen Schnee. Wir humpelten in unsere Freiheit hinein. Die Kleider begruben wir in den Schnee [sic!] und hatten nur noch ein dünnes Mäntelchen von der Reichsbahnarbeit über Hose und Hemd. Unsere noch kurzen Haare verbargen wir unter einem Tuch. Wir legten uns auf dem Weg zur Vorsicht andere Namen zu und warfen alles fort, was uns hätte verraten können. Kein gestreiftes Läppchen durfte mehr an uns sein. Wir kamen nach 14 km nach Dramburg in Pommern. Dort trieb uns der Hunger in eine Soldatenküche. Wir bekamen reichlich zu essen. Dann gingen wir zur NSV,155 gaben uns als „Flüchtlinge vom Osteinsatz“ aus und erhielten Geld, Lebensmittelkarten, den für uns so wichtigen Flüchtlingsausweis und eine Ia-Unterkunft im Hause eines großen Parteibonzen, der schon vor den Russen geflüchtet war und dessen Keller sich bogen von den besten Sachen. Wir kamen uns am Abend dieses Tages vor wie verzaubert. Gebadet, mit schöner, sauberer Wäsche und Kleidung von der Frau Doktor saßen wir in einem schönen, warmen Zimmer, tranken guten Sekt und hörten die englischen Nachrichten. Nach 3 schönen Wochen gings weiter mit einem Flüchtlingszuge bis Vorpommern, dann setzten wir 4 Frauen unsere Reise in Etappen fort bis zur Elbe, wo wir mit Hilfe eines Gocher Soldaten, Peter Engels, in einem Kahn über die Elbe zu den Amerikanern in die Freiheit gelangten und 154 Bella Hirschfeld (geb. 1920). VfZ 1 / 2023 155 Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. 195 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen als Juden die erste menschliche Behandlung seit Jahren erhielten. Was für einen Menschen Freiheit bedeutet, kann nur der ermessen, der so gequält worden ist wie wir. Endlich, am 30. Juni 1945, konnte ich in meine Heimatstadt Goch zurückkehren. Nach 10 weiteren Tagen sah ich hier meinen Mann wieder, der von Stutthof aus nach Buchenwald und zuletzt nach Theresienstadt zur Vergasung156 gebracht worden war, wo er von den Russen befreit wurde. Wir stellten sofort Nachforschungen nach unserem Kinde an, das sich zur Zeit unserer Deportierung bei Verwandten in Holland befand. Aber leider konnten wir bis heute nur erfahren, dass das Kind nach Belsen oder Auschwitz gekommen ist. Frau Erna Valk geb. Stern Goch Dokument 4 [Anni Reisler über die Räumung des Gettos Riga]157 Der 2. November 1943 im Rigaer Ghetto Gelsenkirchen, den 24.8.45 Aktion! Ein kalter frostiger Wintermorgen. Es war noch früh am Morgen. Langsam schien das Ghetto zu erwachen. Hie und da ein entfernter Hahnenschrei. Die ganze Atmosphäre war trotz der Kälte schwül drückend, man konnte fast ersticken in dieser toten unheimlichen Ruhe. Da plötzlich ein Laut durchbricht die Stille, wir horchen auf, was war das, wo kam das her, wer hat geschrien, und eine unsagbare Angst krampft uns plötzlich das Herz zusammen. Doch da ist es wieder, dieser grausame Schrei, nur jetzt viel deutlicher und greller. Appell! Alles muss sofort restlos antreten. Aus! Nur dieses Eine dachten wir, etwas anderes konnte ja gar nicht in Frage kommen. Die Lage der Deutschen war ziemlich kritisch. Wochenlang sprach man schon von der Auflösung des Ghettos oder besser gesagt, der Juden, und jetzt ist es soweit. Wir hatten auch nicht mehr erwartet. Die menschenleeren 156 In Theresienstadt selbst wurden keine Vergasungen vorgenommen, das Getto war aber für Tausende Durchgangsstation in die Vernichtungslager. 157 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 290, Bericht von Anni Reisler, 24.8.1945; online verfügbar unter www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/image/105763/1/ [14.10.2022]. VfZ 1 / 2023 196 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Straßen starren uns stumm und öde an. Ihnen ist es egal, sie haben schon so viel Blut getrunken, es kommt ihnen auf ein bisschen mehr nicht an. Man sieht die Menschen aus den Häusern taumeln, mit irren Augen und verstörten Gesichtern, sie rasen wie die Wahnsinnigen hin und her, als ob sie noch ein[en] Unterschlupf finden könnten, diese Narren. Es hilft alles nichts, wir müssen antreten. Blechplatz! Appellplatz! Schwarz besät mit Menschen. Eine unheimliche Stille. Jeder glaubt, die [sic!] Herzklopfen des anderen zu spüren, und doch sind es seine eigene und nur zu ähnlich mit den anderen [sic!]. Wir stehen in Reih und Glied. Der Schweiß steht uns trotz der Kälte auf der Stirn. Ein paar Meter links stehen große, noch leere Autos, schadenfroh schauen sie uns an, auch sie sind gut dressiert von unseren Herrschern. Da, ein Ruck geht durch die Menge. Wir richten uns auf, fangen an, an uns herumzuzupfen, und das Gesicht verzieht sich zu einer grinsenden Fratze. Wir, sie müssen doch alle jung aussehen, vielleicht haben wir noch eine kleine Chance. Die Kommission ist gekommen. 3 oder vier solcher Bluthunde, die gleich über das Schicksal von 40 000 Menschen bestimmen werden.158 Es wird ein Spalier gebildet. Voran geht Sturmbannführer „Krause“, klein, schmächtig, niemand würde ihm die Morde zutrauen, die er auf dem Gewissen hat. Sein Gesicht zeigt keine Spuren von Menschlichkeit, hart, ein Stein ist ihm gleich. Als zweiten sehen wir Unterscharführer Gimmlich.159 Groß, stattlich, ein junger hübscher Mann, doch auch er ist nur eine Puppe in Krauses Hand, und wir wissen auch, was wir von ihm zu erwarten haben. Das sind eigentlich schon alle, es laufen noch ein paar SS-Männer hinterher, doch nichts von großer Bedeutung, und die Aktion beginnt. Die ersten Menschen müssen langsam einzeln an ihnen vorbeimarschieren. Es ist entsetzlich. Die vor Angst verzerrten Gesichter, zu einem Lächeln gezwungen, mit einem bunten kokett gebundenen Tuch auf dem Kopf, sie wollen doch noch leben, ihre Augen flehen und betteln, lass mich doch, bitte, bitte lass mich, und ihr Mund lächelt, und einzig diese Steine können nicht weich werden vor diesem Jammer, sie lächeln ihr sadistisches Lächeln und flöten mit freundlichem Gesicht: Bitte steigen Sie aufs Auto. Noch ein letzter weher Blick, in dem sich ihr ganzer aufgesparter Hass offenbart, und sie schleicht, wieder die müde 158 Diese Zahl ist zu hoch, so viele Juden lebten zu keinem Zeitpunkt im Getto Riga. Im September 1943 verließen noch 2 371 Juden das Getto täglich zur Arbeit, mehr als 2 000 Menschen wurden am 2.11.1943 im Getto zusammengetrieben und deportiert; vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 400 f. VfZ 1 / 2023 159 Gemeint ist Max Gymnich. 197 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen alte Frau, aufs Auto. Schon hört man die ersten Autos fortfahren. Siegesbewusst grellen die Hupen, ja, es ist ein Sieg für euch, aber ein hässlicher, ein feiger Sieg. Gerade tritt ein kleiner siebenjähriger Junge vor den Kommandanten. Im letzten Augenblick war es der zitternden Mutter noch gelungen, ihm zuzuflüstern, sich um drei Jahre älter zu machen, doch bis jetzt waren noch keine Kinder zurückgestellt worden, selten, dass ein besonders gutaussehender junger Mensch auf die Seite gestellt wurde, als arbeitsfähig abgeschätzt. Wie alt bist du, mein Junge, ertönt die Stimme des Kommandanten, ein zaghafter flehender Blick des Kleinen und schüchtern kommt die Antwort: 10 Jahre, Herr Kommandant. Ein zynischer Zug geht über das Gesicht des Kommandanten. Ach, sieh mal an, 10 Jahre bist Du, wann bist Du denn geboren, mein Kind. Das Kind schaut die Mutter an, die Augen bitten, Mutti hilf mir doch, warum schweigst Du, und die Mutter bricht fast zusammen unter diesem Blick. Aus! Ein höhnisches Lächeln steht auf der Visage des Herrn Sturmbannführers, mich könnt ihr nicht beschwindeln, ihr Judenpack. Die Strafe war nicht der Tod der beiden, oh nein. Jedes musste extra auf einen Wagen steigen, sie durften noch nicht einmal ihren letzten Weg gemeinsam gehen. Nur weil die Mutter ihr Kind retten wollte. Und so geht dieses Teufelsspiel weiter, und schon ist der Platz leerer, nur wenige sind noch zurückgestellt. Ein Auto nach dem anderen fährt fort. Gerade wird ein junges Mädel aufgeladen. Ihr Verbrechen ist, dass sie ein Krüppel ist, von dieser Bande zum Krüppel geschlagen. Da hebt sie schon den Fuß, um auf den Wagen zu steigen, doch plötzlich dreht sie sich um und mit der Kraft eines wilden Tieres brüllt sie hinaus unter die Menge: Ihr habt mich vernichtet, ihr werdet noch den Rest meines Volkes vernichten, aber dann werdet ihr auch zu Grunde gehen. Mutti, liebe Mutti, ich komme schon. Mitten durch den Kopf getroffen stürzt sie zu Boden. Und so rollt sich ein Bild nach dem anderen ab. Und dann ists vorbei. Langsam war die Dunkelheit hereingebrochen. Wir erwachen, schauen uns um. Zirka 300 Menschen stehen noch auf dem Platz. Kein SS-Mann mehr zu sehen. Wieder diese unheimliche Stille, und wieder ein Schrei, der diese Stille durchbricht. Und der Schrei pflanzt sich so fort, und er schwillt an und schwächt ab, aber er bleibt. Tagelang ist dieser Schrei, der Schrei des Ghettos, zu hören. Er begleitet die Verurteilten auf ihrem letzten Weg. Anni Reisler VfZ 1 / 2023 198 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Dokument 5 [Johanna Rosenthal beschreibt am 2. September 1945 ihren Leidensweg in einem Brief]160 Liebe Frau Levin, gestern erhielt ich Ihren lieben Brief. Wie sehr ich mich damit freute, können Sie sich wohl vorstellen. Solange ich hier in Schweden bin, habe ich schon an Sie gedacht, nur hatte ich den Ort vergessen, in dem Sie s[einer] Z[eit] wohnten. Außerdem dachte ich, dass Sie bereits durch Herrn Dr. Schreiber161 alles Nähere erfahren haben. An Genannten sandte ich nämlich einen genauen Bericht und wollte Herr Dr. Schreiber diesen kopieren lassen und allen Beteiligten zusenden.162 Vielleicht wusste er aber nicht Ihre Adresse. Nun jedenfalls ersehe ich von Ihrem besten Wohlbefinden [sic!]. Von mir kann ich Ihnen den Umständen nach Gutes berichten. Leider kann ich Ihnen, liebe Frau Levin, nichts Gutes von Ihren lieben Verwandten berichten. Wir sind insgesamt 43 Potsdamer Juden am 9. Januar 1942 innerhalb zwei Stunden deportiert [sic!]. Am 16. Januar kamen wir bei grimmiger Kälte von 40 Grad in Riga an. Unter uns Familie Gormann,163 Fränze Grand164 und auch, wie ich Ihnen gleichzeitig mitteilen kann, ein Onkel von Ihnen, Paul Behrend und Frau aus Berlin. Ich glaube wenigstens, mich zu erinnern, dass er Paul hieß. Da an der Bahn Aufräumungsarbeiten verrichtet werden mussten, behielt man junge kräftige Menschen dort, dazu gehörte der Sohn von Gormanns. Hieß er nicht Gert?165 Leider hofften die Eltern vergebens auf ihren Jungen. Niemand ist von denen ins Ghetto gekommen. Auch hat man kein Lebenszeichen mehr gehört. Herr Gormann ging trotz seines Leides in der ersten Zeit noch zur Ar- 160 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 538, Johanna Rosenthal an Frau Levin, 2.9.1945; online verfügbar unter www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/object/105848/1/ [15.9.2022]. Briefkopf: Johanna Rosenthal, Flyktingslagret, Holsby-Brunn, Schweden. 161 Hermann Schreiber (1882–1954) war Rabbiner in Potsdam, Doktor der Philosophie und Publizist. Im Zuge der Novemberpogrome wurde er ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Entlassung emigrierte er mit seiner Frau und seinem Sohn nach London. 162 Der genannte Brief ist online verfügbar unter early-testimony.ehri-project.eu/document/EHRI-ETYV3549213 [8.4.2021]. 163 Richtig: Gormanns. Siegfried Gormanns (1878–1942), seine Frau Paula (1888–1943) und ihr Sohn Walter David (1925–1943). Paula und Walter David wurden im November 1943 bei der Auflösung des Gettos in Riga nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Der zweite Sohn der Gormanns, Kurt Simon (geb. 1919), war 1936 nach Palästina emigriert. 164 Franziska Grand (1880–1942). VfZ 1 / 2023 165 Richtig: Walter David Gormanns. 199 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen beit, aber lange hielt er es nicht aus und wurde bettlägerig. Im August 1942 starb dann Herr Gormann trotz aller Aufopferung seiner Frau und ärztlichen Beistandes seines Freundes Dr. Caspary, früher Stettin.166 Herr Gormann sen. liegt auf dem jüdischen Friedhof in Riga. Frau Gormann hatte sich nach dem Tod ihres Mannes wieder ziemlich erholt und versah ein Männerheim. Hier kochte sie für ca. 12 Männer, was es schon zu kochen gab. Alles ging so leidlich bis zum 2. Nov. 1943, da unser Ghetto aufgelöst wurde und man ca. 2 300 Leute im Waggon [sic!] verfrachtete, angeblich nach Auschwitz – Hoffnung keine. So hart es sich anhört, wenn ich Ihnen absolut keine Hoffnung mache, aber leider habe ich zu viel erlebt, und ist vielleicht die Gewissheit besser als die ewige Ungewissheit. Fränze Grand sowie Behrends wurden ein Opfer einer Aktion im April 1942. Gerade war es der erste Tag Pessach. Letztere wohnten zusammen in einem Raum. Gormanns wohnten in der ersten Zeit mit Familie Wohl167 zusammen. Soweit die Geschehnisse Ihrer lieben Verwandten. Jetzt will ich Ihnen einen kleinen Bericht geben von meinen sowie der gesamten Potsdamer Erlebnisse. Also wie ich schon erwähnte, gestaltete sich unsere Deportierung innerhalb zwei Stunden. Am 9. Januar 1942 morgens um 8 Uhr waren wir zur Gestapo bestellt. Hier hängte man uns zwei dieser Gestapo-Verbrecher an den Hals und schickte uns mit denen in unsere Wohnungen. Hier offenbarte man uns, dass wir sofort unter Aufsicht packen müssten, da wir unseren Wohnsitz zum Osten verlegen müssten. Um 10 ½ waren wir schon mit Gepäck auf der Gestapo wieder. Sehr vornehm, man holte uns mit Auto aus der Wohnung ab. Nachdem man uns alle Papiere, Geld etc. abgenommen [hatte], sperrte man uns auf zwei Tage ins Polizeigefängnis. Am Sonntag, den 11., nachmittags drei Uhr verfrachtete man uns in verdreckten Autos nach Berlin, Levetzow Straße.168 Hier wurden wir nochmals untersucht bis aufs Hemd usw., [man] nahm uns sogar das bisschen Esswaren, welche wir hatten, ab, und nach wieder zwei Tagen, also am Dienstag, den 13. Januar, gings in ungeheizten und 166 Martin Moritz Caspary (1885–1945) war bis 1943 im Lazarett im Getto Riga tätig, leitete später die Krankenstation der Kasernierung in der Lenta-Fabrik, arbeitete dann in der Krankenstation des KZ Kaiserwald, bevor er im August 1944 ins KZ Stutthof verschleppt wurde. Nachdem die Wachmannschaften des Lagers die Flucht ergriffen hatten, konnte auch Caspary fliehen und nach Schweden entkommen. Er starb im Mai 1945 in Malmö. 167 Siegfried (geb. 1889) und Erna Wohl (1895–1944) hatten sich um eine Ausreise nach Chile bemüht, sogar schon Koffer vorausgeschickt, doch dann wurden sie gemeinsam mit ihren Kindern Inge (1924– 1944) und Gerhard (geb. 1928) nach Riga verschleppt. Keiner von ihnen überlebte. 168 Zu den Bedingungen in diesem Sammellager vgl. Philipp Dinkelaker, Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42, Berlin 2017. VfZ 1 / 2023 200 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen überfüllten Zügen, insgesamt nun 1 200 Personen, ab nach Riga.169 Essen und Trinken war für Juden Luxus, also gewöhnte uns die SS dieses als erstes ab. Es war eine riesenstarke Eisschicht an den Fenstern, also war ja für den Durst evtl. gesorgt. Am 16. Januar nachm[ittags] kamen wir bei 40 Grad Kälte am Bahnhof Riga an. Unser Empfang war nicht sehr freundlich. Denn man empfing uns mit viel Geschrei und Stockhieben. Wer noch imstande war zu laufen, musste den Weg ins Ghetto ca. 4 Stunden zu Fuß zurücklegen. Solche, die es nicht konnten, lud man auf Autos – und nie sind diese im Ghetto angekommen. Die SS hatte ja immer Unterkünfte auf ewige Zeit für uns Juden bereit. Zum Aufräumen an der Bahn behielt man aus Potsdam Gert Gormann, Gert Feist170 und Gert Wohl. Letzterer war erst 13 Jahre alt, aber auch groß und kräftig. Es half kein Jammer, die Jungens blieben verschollen. Unter den Kranken, welche per Auto fuhren, war Albert Feist, Arthur Gerssmann,171 Herr Meyerstein aus Fahrland,172 ein Frl. Grossmann aus Geltow, und da Frau Selma Mannheim173 einen Beinkrampf bekam, bat auch sie, mitfahren zu dürfen. Auch Ruberts174 Pflegling, Friedchen, war unter diesen Opfern. Als wir in unserer neuen Heimat ankamen, bot sich uns ein schauriges Bild: Nichts weiter als Verwüstung fanden wir vor. Wenige Wochen vorher hatte die deutsche SS vereint mit der lettischen SS hier ca. 35 000 lettische Juden ermordet. Von 40 000 Personen blieben 3 800 Männer und 200 Frauen übrig. Wieder half kein Jammern und Klagen, wir mussten alles abschütteln und anfangen, ein bisschen Ordnung zu schaffen. Hunger und Kälte führten die Regie. In den nächsten Tagen dachte man daran, uns etwas Brot und Grütze und Kaffee zu verabfolgen. Unsere Mahlzeiten bestanden aus zwei Scheiben Brot und einer ganz dünnen Grützsuppe. Nun allmählich erfasste man alle Arbeitsfähigen, und bei grimmiger Kälte gings zum Schneeschaufeln oder Massengräber im Hochwald schaufeln, Hafenarbeiten verrichten usw. Welche Arbeit es war, unter zwei Stunden 169 Der Transport vom 13. Januar mit 43 Potsdamer Juden war der einzige aus Berlin, dem auswärtige Jüdinnen und Juden angeschlossen wurden. Zu den Berliner Transporten nach Riga vgl. Klaus Dettmer, Die Deportationen aus Berlin, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 191–203. Nur 15 Überlebende aus diesem Transport sind bekannt; vgl. Liste der Überlebenden, ebenda, S. 250. 170 Gerhard Feist (1923–1942) wurde mit seinen Eltern Albert (1879–1942) und Betty (geb. laut Deportationsliste 1880, spätere Daten in anderen Quellen) im August 1944 nach Stutthof verschleppt. Betty Feist überlebte und emigrierte 1950 in die USA. 171 Richtig: Arthur Gersmann. 172 Paul Otto Meyerstein (1876–vermutlich 1942), Geschäftsmann und Inhaber einer Bäckerei in Potsdam, wurde schwer krank mit seiner Frau Käthe (1884–1943) nach Riga deportiert. 173 Klara Selma Mannheim (1897–vermutlich 1942). 174 Die Schwestern Margarete (1879–1943) und Martha Rubert (1886–1943) wurden im Zuge der Get- VfZ 1 / 2023 toauflösung im November 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 201 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen war kein Weg. Morgens um 6 Uhr weg, und abends im Dunkeln, evtl. in halber Nacht zurück. Am 5. Februar ging unser erster Schrecken los. Alles, was sich im Ghetto aufhielt – also auch Innendienst gab es –, musste um 9 Uhr früh aus den Wohnungen und zum Appell auf die Straße. Die SS fuhr mit verschlossenen Wagen vor und sortierte in der Berliner und Wiener Gruppe 1 500 Menschen aus. Ziel unbekannt. Merkwürdigerweise blieben wir Potsdamer von dieser Aktion verschont, trotzdem Herr Gormann schon sehr krank war. Unser erstes Todesopfer war im März 1942 Herr Samter, [verstorben] an Hunger und Erfrierungen.175 Herr und Frau Dornbusch hatten sich allerdings schon in den ersten Tagen, als wir im Ghetto waren, selbst das Leben genommen.176 Für uns alle begann ein sehr trauriges Leben. Man erschoss ohne Grund Leute auf der Straße oder auf den Höfen. Nun aber gings weiter, man hatte inzwischen versucht, durch Tausch von in Wohnungen vorgefundenen Textilien od[er] sonstigen Gegenständen, denn uns hatte man ja das letzte Gepäck, also Rucksack od[er] Tasche an der Bahn noch abgenommen, Lebensmittel zu beschaffen. Für den, der gefasst wurde, hatte das Leben ausgespielt. Frauen wurden zum Friedhof geführt und erschossen, Männer erhängt. Abends, wenn wir todmüde vom Kommando nach Hause kamen, führte man uns am Galgen vorbei, aber nichts konnte uns abschrecken. Es war ja ganz gleich, auf welche Art man starb. Wir hatten ja den Tod immer vor Augen. Inzwischen kam die sogenannte Dünamünde-Aktion, wo Frl. Grand und Behrends und außerdem Frau Cilly Urbach177 dabei war. Reichten die Gegenstände, die man in den Wohnungen vorfand, nicht aus, so „organisierte“ man eben auf der Arbeitsstelle. Inzwischen war nämlich ein Armeebekleidungsamt erstanden, genannt ABA. Seit dem 27. März arbeitete ich nun hier. Hunger und Kälte hatten immer noch die Oberhand, aber ich hielt Stand, dieses sollte mein Glück sein, denn schon nach 14 Tagen wurde ich dort Vorarbeiterin, und diesen Posten bekleidete ich bis zur Auflösung am 27. Sept. 1944. Man konnte organisieren, aber man durfte sich nur nicht erwischen lassen, so war man ausgeliefert [sic!]. Im Juli 1942 war bei uns im Kommando nach Arbeitsschluss eine Kontrolle, und man fand 8 Todesopfer. So und ähnlich ging es überall. Wie ich nun schon er- 175 Kurt Samter (1882–1942) war in Potsdam Inhaber eines Unternehmens für Mehl, Getreide und Futtermittel. 176 Helene (1875–1942) und Theodor Dornbusch (1879–1942); Theodor Dornbusch hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft. 177 Cilly Urbach (1879–1942). VfZ 1 / 2023 202 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen wähnte, starb im August Herr Gormann, und am 18. September folgte Rose Cohn.178 In der Nähe Rigas war ein Vernichtungslager für Männer.179 Hierhin beorderte man 2 000 Männer, aber nur 800 dieser Männer kamen nach Monaten mehr tot als lebend ins Ghetto zurück. Auch Herr Apriaski180 und Wohl waren ca. zwei Monate dort, aber kehrten zu unserer größten Freude zurück. 5 bis 5 stündige Appelle [sic!] hielt unser Kommandant zu seiner größten Freude bei größter Kälte des öfteren ab. Er hatte seinen Pelz und brauchte ja nur eine halbe Stunde durch die Reihen gehen, und der Fall war für ihn erledigt. Bis auf kleine Zwischenfälle war nun so einigermaßen Ruhe im Ghetto. Bis im Sommer 1943 der Befehl kam, das Ghetto muss aufgelöst werden, alle Juden müssen im Konzentrationslager untergebracht werden. Am Rande der Stadt Riga war ein solches KZ erstanden, und es hieß KZ Kaiserwald. Hierhin kamen nun jede Woche etliche 100 Menschen. Bis zum Herbst waren dort von unseren Leuten Apriaskis, Hugo Salomon und Rita,181 Frau Fabian,182 Regina Hirschburg,183 Lotte Henschel,184 Margot Brauer,185 Frau Lisbeth Gerrmann,186 Inge Mannheim,187 Herr Wohl und ein Herr Mendel,188 auch aus Potsdam. Dass man im Oktober 1942 in unserem deutschen Ghetto 40 lettische jüdische Polizisten mit Maschinengewehren erschoss, habe ich vergessen einzureihen. 178 Die Geschwister der Lehrerin Rose Cohn (1894–1942) emigrierten in die USA bzw. nach England, Rose wollte möglicherweise ihren verwitweten Vater nicht allein lassen, der im September 1940 starb, so dass Rose allein nach Riga verschleppt wurde. 179 Gemeint ist das Lager Salaspils. 180 Der Schächter Josef Apriasky (1879–vermutlich 1943), ehrenamtlicher Kantor in der Synagoge Potsdam, wurde gemeinsam mit seiner Frau Klara (1892–vermutlich 1943) nach Riga deportiert. Ihre Kinder Artur und Bella waren rechtzeitig emigriert. 181 Hugo (geb. 1882) und Rita Salomon (1915–1945). Rita wurde im Oktober 1944 nach Stutthof deportiert. 182 Rosa Fabian (1880–1943) kam allein nach Riga, ihre Tochter Ruth hatte rechtzeitig nach Großbritannien emigrieren können. Bei der Auflösung des Gettos im November 1943 wurde Rosa selektiert, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 183 Regina Hirschburg (geb. 1883) hatte ein Zimmer zur Untermiete bei Familie Wohl, mit der sie nach Riga verschleppt wurde. 184 Auch Charlotte Henschel (geb. 1899) hatte zur Untermiete bei Familie Wohl gelebt. Sie wurde im August 1944 ins KZ Stutthof verschleppt. 185 Vermutlich Margot Falkenburg, geb. Brauer (1910–1945), deren Bemühungen, ihrem Ehemann in die Emigration nach Großbritannien zu folgen, gescheitert waren und die stattdessen bis zu ihrer Deportation Zwangsarbeit in einer Textilfabrik leisten musste. Sie hatte bei Kurt Samter zur Untermiete gewohnt. 1943 kam sie ins KZ Kaiserwald und von dort nach Stutthof, wo sie ermordet wurde. 186 Richtig: Lisbeth Gersmann (1890–1945), die im Oktober 1944 nach Stutthof verschleppt wurde. 187 Inge Mannheim (1925–1945) wurde im Oktober 1944 nach Stutthof deportiert. VfZ 1 / 2023 188 Adolf Mendel (1896–1943) kam im KZ Kaiserwald ums Leben. 203 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen Unsere ABA beschäftigte insgesamt ca. 1 500 Personen. Diese wurden nun nicht zum KZ Kaiserwald geschickt, sondern es entstand ein eigenes KZ, welches aber dem Kaiserwald unterstellt war.189 Hierher kamen wir am 6. Nov. 1943. Auch andere kleine Kasernierungen waren in der Stadt, aber ein Tag des Grauens ging diesem 6. Nov. voraus. Dieses war der 2. Nov. 1943.190 Wir mussten eine Stunde früher als sonst auf Kommando. Ab 6 Uhr war das Ghetto für jedermann gesperrt. Alle Menschen, ob groß, ob klein, krank oder gesund, mussten antreten zum Appell. Jetzt lud man ca. 2 300 Menschen auf Autos und brachte sie zur Bahn, um nach Auschwitz gebracht zu werden [sic!]. Als wir am Abend nach Hause kamen, spielten sich die schrecklichsten Szenen ab. Hatte man doch die Kinder, deren Eltern zur Arbeit waren od[er] auch umgekehrt, weggerissen von Eltern usw., Eheleute getrennt, und unser Ghetto war wie ausgestorben. Mit diesem Transport verloren wir Potsdamer nun Frau Gormann und Geschwister Rubert. Übrig blieben nur noch Frau Kassmann,191 Frau Schötz,192 Frau [Betty] Feist, Inge Wohl und Mutter und meine Wenigkeit. Wir arbeiteten bei der ABA und wurden nun dort am 6. kaserniert. Stella Löwenburg193, Haustochter von Rosenbaum,194 Babelsberg, war auch im Laufe des Sommers schon ins KZ Kaiserwald gekommen. Da nach unserer Kasernierung noch wenige Leute im Ghetto zurückblieben, gab es nun nochmal eine Aktion, und der Fall Ghetto war aus. Nun dachten wir, endlich Ruhe zu haben, aber diese Ruhe dauerte nur 8 Tage. Nach 8 Tagen schon [schickte] man 250 Leute aus der ABA wieder ab zum Kaiserwald. Einigen Leuten war es gelungen, ihre Kinder am 2. Nov. zu verstecken. Dieses Glück dauerte nur bis April. Am 22. April 1944 fährt ein Auto der SS vor und holt unsere wenigen Kinder, 22 waren es noch, ab. Ziel??? Auch ohne Eltern. Gerade einen Monat später wurde in einer anderen Gegend eine neue ABA gegründet. Hierzu gab man von uns 200 Leute ab. Die Fahrt dorthin hat auch 189 Die Armeebekleidungswerke waren dem KZ Kaiserwald unterstellt, im Außenlager Mühlgraben im Norden Rigas ließ die Wehrmacht auf dem Gelände einer ehemaligen Chemiefabrik Kleidung erfassen und aufbereiten; vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 403. 190 Vgl. Dok. 4. 191 Hilde Kassmann (1890–1944) wurde 1944 ins KZ Stutthof verschleppt. 192 Rosa Schötz (1899–1944). 193 In ihrem Brief an Rabbiner Schreiber erwähnte Johanna Rosenthal eine Stella Löwenberg (earlytestimony.ehri-project.eu/document/EHRI-ET-YV3549213 [8.4.2021]). Ebenso zeigte sie der Gedenkstätte Yad Vashem mithilfe eines ausgefüllten Gedenkblatts deren Ermordung an. 194 Das Künstlerehepaar Albert (1875–1942) und Betty Rosenbaum (geb. 1891) wurde im Frühjahr 1942 ins Warschauer Getto deportiert. VfZ 1 / 2023 204 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen drei Tage und drei Nächte gedauert.195 Bei diesem Transport war Inge Wohl mit Mutter und Frau Kassmann dabei. Nun fing es an, in Riga ungemütlich zu werden für die Herrschaften, da die Front näherrückte. Also Leidtragende waren die Juden. Am 7. Juli 1944 scherte man uns Frauen erst noch vollkommen unser Haar vom Kopf. Dieses war entsetzlich. Am 28. Juli abends 6 Uhr ist ein SS-Arzt aus dem Kaiserwald bei uns und sortiert wiederum 200 Leute aus. Sehr wählerisch war er nicht dabei, wie die SS ja niemals war. Bei der Aktion wurde Frau Schötz das Opfer unserer letzten drei Potsdamer. Wenige Tage danach, also am 6. August, heißt es morgens um 6 Uhr die Parole, es war am Sonntag, und ein Kommando hatte zufällig frei, alles sofort antreten zum Zählappell. Dieses war Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn es wurden sofort 500 Personen ausgesucht und abgeschoben per Schiff zum KZ Stutthof bei Danzig. Es war nun gleich, ob man im Nachthemd od[er] ohne Schuh war, aussuchen und ab war eins. Jetzt war ich von unseren Potsdamern allein übrig, da nun Frau Betty Feist wegmusste. Am 14. August nahm man uns unsere Zivilkleidung ab und steckte uns in Einheitskleidung. Ein gestreiftes Kleid und Jacke, die Männer bekamen die gleichen Anzüge. Der gesamte Grünewald war in diesem Gelumpe verarbeitet,196 dazu bekamen wir entsetzliche schwarze Kopftücher. Wir nannten diese Kleidung „Zebra-Kleidung“. Jetzt waren wir noch ca. 400 Personen. Unser ABA baute – wie überhaupt in Riga alle – ziemlich schnell ab. Man hörte ja nun schon dauernd den Kanonendonner rings um Riga. Am 25. September ist ganz plötzlicher früher Feierabend. Außer 10 jungen Mädchen und 50 Männern sollte nun alles weg zum KZ Stutthof bei Danzig. Die LKW fuhren immer schubweise die Leute zum Schiff, zu später Stunde kam die Genehmigung, 200 Juden dürfen bei der ABA bleiben. Ich stand schon am Auto, bereit zum Einsteigen, als unser Lagerführer mich zurückrief und sagte: Frau Rosenthal, verschwinden Sie rechtsum. Also kann ich sagen, mein Leben war gerettet. Am 27. Sept., gerade Jom Kippur, verließen wir restlichen 200 Juden mit unserer Einheit Riga und siedelten nach Libau über. Hier gab es keinen Kanonendonner, dafür aber Tag und Nacht schwere Arbeit und als Begleiterscheinung sehr schwere Fliegerangriffe. Unsere Arbeit spielte sich in der Hauptsache am Hafen ab, und dieser war ja auch das Lieblingsziel der Flieger. Die Bomben flogen nur so herunter. Am 22. Okt. explodierte eine Bombe in einem Splittergraben, 195 Ab Mai 1944 wurde das Außenlager ABA Riga-Mühlgraben aufgelöst und ein Teil der Werkstätten nach Krottingen (Kretinga) an der litausch-lettischen Grenze ausgelagert. Im Oktober wurde die Dienststelle Mühlgraben mit den letzten Häftlingen nach Libau verlegt; vgl. Jahn, KZ Riga-Mühlgraben, S. 404. 196 Möglicherweise ist hier gemeint, dass die Häftlingskleidung derart dünn und papiergleich war, als ob VfZ 1 / 2023 das Holz des Grunewalds dafür genutzt worden wäre. 205 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen wo wir waren, d. h. einige, so auch ich. Dieser Angriff kostete von uns ein Todesopfer, und ich verlor für 14 Tage mein Gehör. Es hat sich gottlob etwas gebessert, aber trotzdem sehr gelitten. Leider kann man nichts daran behandeln, da eine Narbe im Trommelfell vorhanden ist, wie mir hier ein Spezialist sagte. Genau 2 Monate später, am 22. Dez., verloren wir bei einem Angriff 13 blühende Menschen. Der Zufall wollte es, dass ich nicht neben meiner besten Freundin stand, sondern einen Meter entfernt. Meine Freundin kam ums Leben, und ich war doch wieder zum Weiterleben bestimmt. Unser Aufenthalt in Libau dauerte bis zum 19. Febr. 45. Die Flieger verscheuchten uns von dort, und so ging es per Kohlendampfer rein ins Reich, nach Hamburg. Die Fahrt war mit großer Lebensgefahr verbunden, da ja alles vermint war. 8 Tage dauerte unsere Fahrt. In Hamburg empfing uns die Gestapo und steckte uns ins Gefängnis. Hier begann die Sorge um unser Leben von Neuem. Erstens sehr, sehr schwere Fliegerangriffe und außerdem die bange Frage, was hat die SS mit uns vor? Besser als wir dachten, überstanden wir die Zeit, bis wir am 11. April nach Kiel kamen, mit einem Stück trocken Brot in der Hand mussten wir den Weg bis Kiel, ca. 90 km, zu Fuß zurücklegen. Nach 4 Tagen kamen wir mehr tot als lebendig in dieser grausamen Hölle an. Ohne sich zu erholen, gings anderen Tages schon zur schweren Steinarbeit. Zwei Stunden hin und ebenso zwei Stunden zurück. Gottlob dauerte diese Qual nur 14 Tage. Am 1. Mai 1945 wurden wir nämlich durch das Rote Kreuz befreit. Keine 14 Tage hätte es noch dauern dürfen, so war [sic!] es um uns geschehen. Als wir davon erfuhren, glaubten wir nicht ein Wort. Nicht einmal, als schon die dänischen Rote-Kreuz-Autos im Lager waren. Um 9 ½ Uhr fuhren wir von Kiel ab, und um 2 Uhr waren wir in Dänemark. Hier wurde gebadet und verpflegt, und um 6 Uhr gings per Zug weiter nach Schweden in die goldene Freiheit. 9 ½ Wochen war ich im Krankenhaus, erstens hatte ich Diphtheriebazillen, und zweitens konnte sich mein Magen nicht an die gute Kost gewöhnen. Seit 6 ½ Wochen bin ich nun wieder hier bei meinen Kameraden und bin dabei, mich wieder gut zu erholen. Nun glaube ich, Ihnen meine Erlebnisse im Großen gut geschildert zu haben. Auf nähere Einzelheiten werde ich im nächsten Brief eingehen. Meine Schrift müssen Sie schon entschuldigen, aber so ganz ohne innere Erregung geht so etwas doch nicht. Hier in Holski Brum197 ist es sehr schön, es ist ein Kurort mitten im Walde. Wir bewohnen 8 Villen mit Zimmern für 1 bis 2 Personen. Ich habe mein Zimmer für mich. Nur ist es schon recht kühl, und friere ich schon derart, dass es mir graut, wenn der Winter kommt. Hoffentlich 197 Richtig: Holsbybrunn. VfZ 1 / 2023 206 Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen bin ich dann schon bei meinem Mann in London. Von meinem Mann sowie Kindern, welche z. B. in der Schweiz sind, habe ich gottlob gute Nachrichten. Die Kinder sind auch schon im Besitze ihres Visums für England. Nun hoffe ich, dass es auch bei mir nicht mehr allzu lange dauern wird, und es gibt ein Wiedersehen. Leider ist meine Freude doch getrübt, da ich noch nichts von dem Verbleib meiner lieben Mutter198 sowie Bruder199 nebst Familie und auch der Schwester meines Mannes erfahren habe. Von Frau Freylich erfuhr ich, dass Frau Wilk200 und Frau Back201 in der Schweiz gerettet sind, nachdem sie vorher ebenfalls in Theresienstadt waren. Hoffentlich erfahre ich nun auf diesem Wege bald etwas Genaues.202 198 Meta Gumpert (1876–1942) wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. 199 Siegfried Gumpert (1901–1941) wurde am 17.11.1941 nach Kaunas/Kowno deportiert und dort erschossen. 200 Auguste Wilk (geb. 1864) aus Potsdam wurde am 3.10.1942 nach Theresienstadt deportiert. Möglicherweise gelangte sie mit demselben Rettungstransport wie Marta Back in die Schweiz. 201 Marta Back (1873–1962) wurde gemeinsam mit ihrem Mann Julius (1868–1942) am 3.10.1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er nach wenigen Wochen starb. Marta überlebte und gelangte im Februar 1945 im Rahmen einer Austauschaktion von Juden gegen Devisen in die Schweiz. Insgesamt 1 200 vor allem ältere Jüdinnen und Juden kamen mit diesem Transport nach St. Gallen. 202 Hier bricht die Abschrift des Briefs ab. Eine letzte Seite scheint zu fehlen, sie konnte im Archiv der VfZ 1 / 2023 Wiener Library nicht ermittelt werden. 207