Praxis Ethnologie
Ursula Bertels (Hrsg.)
Einwanderungsland Deutschland
herausgegeben von
Wie kann Integration aus
ethnologischer Sieht gelingen?
Ethnologie in Schule und
Erwachsenenbildung (ESE) e. v:
Band 5
Waxmann 2014
Waxmann 2014
Munster. New York
Munster. New York
GruBwort
Heinz Meyer
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet uber http://dnb,d-nb.de abrufbar.
Praxis Ethnologie) Band 5
ISSN 1613-2130
Print-ISBN 978-3-8309-3111-9
E-Book-ISBN 978-3-8309-8111-4 (PDF)
©
Waxmann Verlag GmbH, Munster 2014
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Umschlaggestaltung: Christian Averbeck, Munster
Druck: Hubert & Co., G6ttingen
Satz: Sven Solterbeck, Munster
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Kein Teil dieses Werkes darf ohoe schriftliche Genehmigung des Verlages
in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwenduog e1ektronischer
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Am 16. und '7. Januar 2009 fiihrten der Verein Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung (ESE) e. V. und die Akademie Franz-Hitze-Haus gemeinsam die Tagung "Einwanderungsland Deutschland. Wie kann Integration aus
ethnologischer Sicht gelingen?" durch. Mit dieser Veranstaltung wurde eine
langjahrige vertrauensvolle, konstruktive und engagierte Zusammenarbeit
fortgesetzt, flir welche die Akademie Franz-Hitze-Haus sehr dankbar ist.
Die Fragen von Flucht, Migration und Integration baben in der politischen
Bildungsarbeit der Akadernie Franz-Hitze-Haus einen hohen Stellenwert.
Dazu verpflichten uns auch die kirchlichen Stellungnahmen zur Asyl- und
Migrationspolitik. 'Ober menschenwiirdige Losungen fur die damit zusammenhangenden Fragen nachzudenken und sich dafUr einzusetzen, gehort zu
dem Auftrag unseres Hauses. Daher greifen wir regelma6ig Themen auf, die
sich mit der Situation ethnischer, religioser und kultureller Minderheiten - bei
uns, aber auch weltweit - befassen. Auch dazu hat diese Tagung ihren Beitrag
geleistet.
Unsere Zeit ist gepragt durch Migration und Globalisierung. In Deutschland leben heute Menschen aus 190 Nationen zusammen. Deutschland ist
damit - wie die anderen europiiischen Nachbarliinder auch - mittlerweile ein
Einwanderungsland geworden. Von dieser Feststellung geht schliefllich auch
clas Zuwanderungsgesetz ans, das nach langem politischen Ringen im Jahr
2004 verabschiedet wurde. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat
heute jede ftinfte Einwohnerin bzw. jeder ftinfte Einwohner in DeutscWand
eine Migrationsvorgeschichte. bei den unter 25- Jahrigen sagar jeder vierte.
Integration geschieht aber nicht von selbst. Sie ist vielmehr eine Aufgabe, die
gestaltet werden muss, damit unsere Gesellschaft zukunftsfahig bleiben wird.
Es ist daher sehr verdienstvoll, dass die Beitrage dieser Veranstaltung nun
dokumentiert werden, da in ihr die Fragen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Ethnien, Kulturen, Religionen und Nationen aufgegriffen werden. Bemerkenswert war, class zurn einen die Stirnme der Ethnologie in diese aktuelle gesellschaftspolitische Debatte eingebracht wurde und zurn
anderen, dass bei cler Diskussion der komplexen Fragen von Migration und
Integration immer auch das interdisziplinare Gesprach gesucht wurde.
Mit den Fragen von Migration und Integration hat sich die Ethnologie schon
Inhalt
immer und aus unterschiedlichen Perspektiven auseinandergesetzt. Fur die
Losung dieser Fragen kann diese Wissenschaft daher einen wertvollen Beitrag
leisten. indem sie Stereotypisierungen entgegentritt, zum einen dUTch die Analyse von Stereotypen und deren Funktionen, zum anderen dUTch die Vermittlung von differenzierten Einblicken in Lebenswelten von Menschen mit unci
ohne Migrationsvorgeschichte.
Einfiihrung
Die Akademie Franz-Hitze-Haus begriiflt daher die Publikation der Ergebnisse der gemeinsam durchgefuhrten Tagung, bedankt sich fur die gute
Ursula Bertels
Zusamrnenarbeit, verbunden mit clem Wunsch, class diese auch in Zukunft
fortgesetzt wird.
Teill:
9
Migration und Integration - Eine theoretische Annaherung
Integration aus cler Sicht verschiedener Disziplinen
15
Esther Offenberg
Migration als Thema und Herausforderung der Ethnologie
31
Sabine Klocke-Daffa
Unser Phantom Leitkultur
53
Guido Sprenger
Teil2:
Wichtige Faktoren Iiir Integration
Kirche als Kontaktzone
(Un-)Sichtbare Integrationspotenziale von religiosen
Institutionen in der Einwanderungsgesellschaft
69
Cordula Weiflkoppel
Die Bedeutung von Erziehung sowie schulischer
und beruflicher Bildung fur Integration
91
christiane Bainski
Medien und Integration
Zwischen wissenschaftlichem Wissen und
politischer Verantwortung in drei 'ahrzehnten
Georg Ruhrmann
99
Teil3:
Ethnologische Daten als Grundlage
flir eine gelungene Integration
EinfUhrung
Ursula Bertels
Irrwege der Integrationspolitik
Die Anti-Zwangsheiratsgesetze und ihre transnationalen Paradoxien ..... 121
Laila Prager
Einwanderungsland Deutschland - wie kann Integration aus ethnologischer Sieht
gelingen? - Das war der Titel der von Ethnologie in Scbule und Erwachsenen-
Ein ethnologischer Blick auf Status und
Staatsburgerschait in Deutschland
bildung (ESE) e. V. gemeinsam mit der Akademie Franz-Hitze-Haus in Munster durchgefuhrten Tagung im Januar 2009.
1m Bewusstsein, class es sich bei dem Thema Integration urn ein schwie°riges Thema handelt - man denke nur an die Diskussionen fund urn den von
der Bundesregierung ins Leben gerufenen Integrationsgipfel -, ging es den
Veranstaltern nicht darum, cine absolut umfassende Diskussion des Themas
darzustellen oder cine Patentlosung zu finden. Ziel der Tagung war vielmehr,
ein Forum fUr cine interdisziplinare Diskussion und vor aHem aber flir cine
Diskussion zwischen Theorie und Praxis zu bieten, urn so gemeinsam zu erortern, wie Integration gelingen kann.
Am ersten Tagtmgstag stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus unterschiedlichen Disziplinen wie zum Beispiel der Erziehungswissenschaft
oder def Religionswissenschaft ihre Erkenntnisse zum Thema Integration vor.
In einer Response erganzten Ethnologinnen und Ethnologen diese Erkenntnisse durch ihr Fachwissen. Am zweiten Tagungstag hatten die Teilnehmenden
die Gelegenheit, sich in Workshops mit Projekten zur Forderung der Integration in den Bereichen Schule, komrnunale Verwaltung und Gesundheitswesen
auseinanderzusetzen. Die Tagung endete mit erner Podiumsdiskussion tiber
die Bedeutung der Medien in Bezug aufIntegration.
Die regen Diskussionen wah rend der Veranstaltung zeigten, wie wichtig es
ist, sich dem Thema Integration aus unterschiedlichen Perspektiven zu nahern.
Urn diese unterschiedlichen Perspektiven weiteren Interessierten zuganglich
zu machen, haben wir uns entschlossen, die Beitrage der Tagung zu veroffentlichen.
Nicht allen Vortragenden war es moglich, sich mit einem Beitrag an dem
vorliegenden Tagungsband zu beteiligen. Zudem hat sich die Diskussion rund
urn das Therna Integration seit 2009 - logischerweise - weiterentwickelt. Wir
haben daher zu den Autorinnen und Autoren, die ihren Beitrag der Tagung
2009 veroffentlichen, auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgenornrnen, die zwar nicht an der Tagung teilgenornmen haben, deren For-
139
Ulrike Izuora
"Zuviel Verstandnis rur einen AusHinder tut auch weh"
Herausforderungen ethnologischer Migrationsforschung
in Deutschland
151
Sarah Weber
Indigene Dberlebensschule als Beispiel von Integration in den USA
165
Noemie Waldhubel
Teil4:
Der ethnologische Blick: Projekte zur Integration von Menschen
mit Migrationsvorgeschichte
rur
andere Kulturen zu sensibilisieren
Kleine Schritte - die Versuche,
Oder: Ein Pladoyer fur die Entwicklung elner Didaktik der Ethnologie ... 177
Veronika Ederer
Fit flir multi-kulti:
Interkulturelle Streitschlichterausbildung in der Schule
187
Irmgard Hellmann de Manrique
Autorinnen und Autoren
205
9
Sabine Kfocke-Dajfa
Stadt Munster
2008
Strasser, Sabine
2009
Zur politischen bkonomie der "primitiven" Gesellschaften. Zwei Studien.
Frankfurt a.M.
Vertovec, Steven
2009
Transnationalism. London und New York.
Viehoff-Heithorn, Theresa
2008
"Wir sind Deutsche und AusHinderinnen". Identitat von Frauen mit Migrationshintergrund. Eine ethnologische Untersuchung. Munster: Universitat
Munster.
Internetquellen:
Bundeszentrale fUr politische Bildung
www.bpb.de
Information und Technik Nordrhein-Westfalen
www.it.nrw.de
Interkultur
http://www.interkulturpro.de/ilcpdflikp_disknrs.pdf
http://www.interkulturpro.de/ik_pdf/ikp_Kernergebnisse_Studie_Migranten.pdf
Sinusstudie
Sinus Sociovision 2007: Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in
Deutschland.
52
Guido Sprenger
Bewegte Zugeh6rigkeiten. Nationale Spannungen, transnationale Praktil<:en
und transversale Politile. Wien.
Terray, Emmanuel
1974
Unser Phantom Leitkultur
Leitbild Migration und Integration. Munster.
Die Kultur der Deutschen zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein Problem mit
ihrer Kultur hat. Das ist kein Wunder, denn Zum einen ist es reichlich kuhn,
einen Begriff wie "Kultur" uberhaupt zu verwenden} eine Art atherischen
Bandes zu beschw6ren zwischen Grundgesetz und Gebriidern Grimm, Widerstand gegen Napoleon und Weihnachtsbiiumen, Goethe und Bratwurst. Zum
'anderen aber ist der Begriff Kultur selbs!. der heute von zahlreichen Gruppen
zur Bezeichnung ihrer Identitat und Eigenart verwendet wird, in wesentlichen
Ziigen eine deutsche Erfindung. Er entstand aus einem seltsamen Zusammenspiel von Gleichheiten und Unterschieden, einer Spannung, die sich bis heute
nicht aufl6sen lasst.
Diese Spannung lebt auch in der Integratiansdebatte fart. Sie nimmt Form
an in dem Begriff "Leltkultur", der Ende der 1990er Jahre aufkam und bis ca.
2006 zu einem ihrer wichtigsten Diskussionspunlcte wurde: Sollten sich Menschen mit Migrationsvorgeschichte an einer "deutschen Leitkultur" arientieren, und sollte das als Gradrnesser ihrer Integration genommen werden? Und
wenn ja, was genau beinhaltet diese .,Leitkultur"?
Obwohl die Debatte urn den Begriff selbst heute weniger helli gefiihrt wird
aIs noch vor einigen Jahren, so bleibt doch die damit gestellte Frage unbeantwortet: Worin besteht Integration in kultureller Hinsicht? Wie viel kulturelle
Annaherung kann und darf in Deutschland von Zugewanderten erwartet werden - und wie viel kulturelle Differenz kann man Deutschland zumuten?
Die folgenden Dberlegungen k6nnen auf diese Fragen keine Antworten
bieten. Sie hinterfragen eher die Frage: Warurn ist es fiir "uns Deutsche" so
wichtig, von Menschen mit Migrationsvorgeschichte Anpassung, mindestens
deutliches Entgegenkornrnen zu erwarten? Warurn benutzen wir dafiir den
Begriff "Kultur", der ja so schwarnrnig, vieldeutig und umstritten ist? Erst wenn
wir wissen, warum wir die Frage nach der Leitkultur stelIen, konnen wir uns
dariiber Gedanken machen, wie konkret die Integration von Menschen mit
Migrationsvorgeschichte aussehen k6nnte.
Zwei Aspekte dieser Fragen sollen hier hervorgehoben werden: Zum einen
ist kulturelle Identitiit nie einfach das, was die Mitglieder eines Gerneinwesen
teilen, sondern mehr noch} was sie von anderen unterscheidet. Wie die Identi-
53
Unser Phantom Leitkultur
Guido Sprenger
hit bestimmt wird, hangt daher davon ab, wer diese Anderen sind. Zum zweiten
soil dem Leitkulturbegriff ein ethnologischer Kulturbegriff entgegengestellt
werden. Dann wird sichtbar, wie fruchtbar die Widerspruche sind, auf denen
der Leitkulturbegriffberuht.
Kultur als Kontrastmittel
Der Begriff Kultur, so wie er in "Leitkultur" auftaucht, erscheint stets dann,
wenn es urn Abgrenzung und Identitatssuche geht. Kultur, namlich das, "was
unsere Gesellschaft zusammenhiilt",l ist nicht einfach da und muss nur durch
genaues Beschreiben bestimmt werden. Sie entsteht unter der Bedingung der
Abgrenzung: Wir sind deshalb nicht die, die wir sind, weil wir etwas gemeinsam haben, sondern well wir in einer ganz bestimmten historischen Situation
anders sein wollen als Andere - und zwar anders als ganz bestimmte Andere;
erst unter dieser Vorgabe werden dann die Gemeinsamkeiten definiert.
Historisch gesehen erzeugt der Begriff der Leitkultur ein unaufhebbares
Paradox. Er taucht gerade dann auf, wenn sich die Deutschen in ihrer Identitat
bedroht flihlen, 1m gegenwartigen Fall durch Menschen mit Migrationsvorgeschichte, die kultllrell anders sind. Dann erscheint die Forderung, diese hatten
sich an der deutschen Leitkultur Zll orientieren. Der Begriff der Leitkultur wird
im Allgemeinen auf Bassam Tibi zuruckgefuhrt, der Ende der 1990er die Diskussion in Deutschland angestoBen hat. Ihm ging es, wie seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern, darum, einen mitunter sehr selbstbewusst bis aggressiv
auftretenden Islamismus in seine Schranken zu verweisen - wohlgemerkt, es
ging nicht urn den Islam 1m Allgemeinen, zumal Tibi selbst Muslim ist. Auch
der Zusatz der "deutschen" Leitkultur karn erst spater in der Debatte hinzu man wird sehen, warum das naher lag als jene europaische Leitkultur, die Tibi
im Sinn hatte.
Die Schwierigkeit liegt natiirlich darin, zu bestirnmen, worin diese Leitkultur nun genau genommen besteht. Weder Essen noch Bildung, auch nicht
das Christentum, sondern allenfalls "christIiche Werte" - die sich auch ohne
Religion legitimieren lassen - sollten den Befiirworterinnen und Befiirwortern
der "deutschen Leitlcultur" zufolge dazu gehOren. Stattdessen wird haufig die
Position vertreten, Menschen mit Migrationsvorgeschichte hatten sich an Gesetz, Verfasslmg und demokratische Grundwerte, insbesondere die Trennung
Lammert 2oo6a.
54
von Religion und Staat zu halten; das ist auch Tibis Standpunkt. 2 In diesem
Zusammenhang wurden bereits fri.ih in der Debatte, auch von Seiten der CDU,
die Werte von "Toleranz und Offenheit", der "Aufkliirung und Moderne" als
Kennzeichen deutscher Leitkultur beschworen. 3 Mit dieser Strategie hat sich
der Leitkulturgedanke jedoch in eine unauflasbare Schwierigkeit gebracht.
Der historische Hintergrund des deutschen Kulturbegriffs ist flir das Verstandnis dieses Problems unumganglich, denn die historischen Bedingungen
leben in den heutigen Formen weiter. Der Kulturbegriff entstand urspriinglich
im Gegensatz zur Aufldarung im engeren Sinne. Die wirkmachtigsten Denker
der franzosischen AufkHirung des 18. Jahrhunderts propagierten eine universale Vernunft des Menschen. Die Umsetzung der Vernunft ins soziale Leben
. hieB "Zivilisation". Je entwickelter die Vernunft, desto zivilisierter das Gemeinwesen: Damit entstand eine Vorgabe, nach der verschiedene Gemeinwesen
universal verglichen und bewertet werden konnten.
Ab der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts und noch starker im '9. Jahrhundert jedoch formulierten deutsche Intellektuelle, insbesondere Johann
Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt, eine Gegenposition: Es gebe
eben keine universale Vernunft und damit auch keinen universalen MaBstab
fUr die Fortschrittlichkeit von Gemeinwesen; vielmehr verfiige jedes Volle
iiber eine ihm eigene Kultur, einen ,Yolksgeist", wie es zu Anfang hieB, der
sein Gemeinwesen bestimme. Zwar kanne man den Grad vergleichen, in dem
die einzelnen Volker die Eigenheit ihrer Kultur entwickelt hatten - und hier
galten die Italiener, die alten Griechen und die Deutschen als vorbildlich aber das Ergebnis dieser Entwicklung ist eben kulturelle Differenz, und die
daraus entstandenen Gemeinwesen sind wesensmaBig unterschiedlich. Kultur
erscheint hier also als ein Prinzip der Unterscheidung, welches grundlegend
ist fur das menschliche Zusammenleben: keine funktionierende Gesellschaft
ohne eine ihr eigene Kultur, im weitesten Sinne einen "Volkscharakter". Aus
dieser Perspektive ist der Mensch deshalb Mensch, well er eine Kultur hat, die
ihn von Menschen mit anderer Kultur unterscheidet - im Gegensatz zu der
lclassisch auflclarerischen Position, nach welcher der Mensch zuerst durch seine
Vernunft Mensch ist und eine differenzierte KuItur nur als Nebenprodukt der
Geschichte besitzt. 4
2
3
4
Z. B. Tibil998: 56£.
Adolphs 2000, zit. nach Spankus 2012. Die letztere, vorz-ugliche Arbeit war mir fiir die
Orientierung in der Literatur auEerst niitzlich.
Bunz11996: 19 ff.
55
Unser Phantom Leitkultur
Guido Sprenger
Dieser Gegensatz zwischen aufkUirerischer Vernunft und lokaler Kultur als Definition des Menschen zieht sich bis in die Gegenwart durch die Debatten. Auf
der einen Seite stehen diejenigen, die nur unmutig den Kopf schiitteln, wenn
einige Gerneinwesen sich dagegen sperren, soleh verniinftige und niitzliche
Einrichtungen wie freie Marktwirtschaft, Biornedizin oder Dernokratie allzunehmen, die hier als moderne Manifestationen universal giiltiger Vernunft
erscheinen; "Kultur" und "Tradition" werden recht pauschal bemiiht, urn zu
erkHiren, warum ihre Einfiihrung nicht so leicht ist. Aus dieser Sicht erscheint
Kultur als Denkverbot lmd Vernunftbremse.
Auf der anderen Seite stehen heute jene, die sich gegen die Universalisierung von spezifisch westlich-modernen Ideen wehren, und nicht nur gegen die
Ideen, sondern auch die daraus abgeleiteten Autoritatsanspriiche. Von postkolonialen Staaten bis zu ethnischen Minderheiten benutzen zahlreiche Gruppen
den Begriff der "Kultur", urn ihre eigenstandige Lebensweise, ihre Rechte und
ihr Land vor dem Zugriff machtigerer Zentren zu schiitzen.
1m Begriff der Leitkultur verbinden sich aber das Bediirfnis nach Selbst·
schutz und der Wille zur AutorWit. In beiden Kontexten, im gegenwartigen
wie in dem des 18. Jahrhunderts, stellt die Debatte urn die deutsche Kultur eine
Reaktion auf eine als bedrohlich empfundene Herausforderung von auGen dar:
damals das zunehmend zentralistisch organisierte und auch auf dem Gebiet
der Sprache und Literatur tonangebende Frankreich, auf der anderen Seite das
zersplitterte Deutschland; heute ein nach zwei Kriegen und dem Dritten Reich
an seiner Identitat zweifelndes Deutschland und Menschen mit Migrationsvorgeschichte, insbesondere aus der islamischen Welt, deren Integration Sorge
bereitet.
Was bedeutet das fur die Definition der deutschen Kultur? Wie hat sie sich
seit den Aufklarungsdebatten verandert? Wer heute die deutsche Leitkultur als
offen, tolerant tilld aufklarerisch bestimmt, impliziert, dass die Menschen mit
Migrationsvorgeschichte hier ein Defizit aufweisen, denn sonst hatten sie ja
keine Anpassungsprobleme - will heiBen, dass die Beschworung einer aufgeklarten deutschen Leitkultur den Menschen mit Migrationsvorgeschichte unterstellt, sie hatten die Aufklarung verpasst und seien eben nicht tolerant. Bezeichnend ist die Aufzahlung der mit der deutschen Leitkultur unvereinbaren
Kulturziige durch den Bundestagsprasidenten Norbert Lammert: "Dominanz
des Mannes" und "Auspruch auf unmittelbare Geltung gottlichen Rechts":'
Was wir von tillS wissen, ist, dass wir keine radilcalen Islamisten sind.
Indem wir aber heute die Abgrenzungsstrategie, die dem Kulturbegriff vor 200
Jahren unterIag, in der Gegenwart fortfiihren, geraten wir in eine kuriose Lage.
Der Kulturbegriff wurde historisch stets zum Einsatz gebracht, urn substanzielle
Unterschiede in den Werten glaubhaft zu machen, und nicht, urn einen universalen Humanismus der Aufldarung zu propagieren. Eine deutsche Leitlrnltur
jedoch, die sich mit der Aufkliirung identifiziert, hebelt die eigentliche Daseins·
berechtigung des historischen Kulturbegriffs aus. Der universal giiltige Anspruch
der Aufkliirung verwandelt sich pl6tzlich in ein Charakteristikum lokaler Kultur.
Nun ist das im Grunde genomrnen schon richtig: Die Aufklarung ist in der
Tat ein spezifisches Produkt europiiischer Geschichte und Kultur, diese Einsicht teilen auch so manche Befiirworterinnen und Befiirworter der Leitkultur.
'Es ware toricht, fremde Gesellschaften nach einem MaBstab zu messen, den wir
allein fur die unsrigen erfunden haben. Doch ist es sehr vielleichter, Aufklarung
als Kultur zu behaupten als sie zu praktizieren. Die Aufkliirung hat schlieBlich
auch die Menschenrechte hervorgebracht: Gelten diese dann nicht mehr fiir
die Gesellschaften auBerhalb von Europa? Ein Deutscher lebt mit seiner Fami·
lie in einem Land, in dem die Dominanz des Mannes gesetzlich festgelegt ist:
Muss er sich, urn seiner Integration willen, entsprechend patriarchal gegeniiber
seiner Familie verhalten? So wahr es ist, dass die Aufklarung ein westliches
Kulturprodukt ist, bei solehen Aussichten wird vielen von uns unwohl.
Die Auflcliirung und den Humanismus zu einem Binnenphiinomen Westeuropas zu erkliiren, funktioniert also nicht so einfach; sie erhalten ihren Wert
und ihre Bedeutung letztlich aufgrund ilires universalen Anspruchs. Allerdings
teilen sie diese Universalitat auch mit anderen Systernen von Werten und Ideen, wie z. B. dem Islam. 6 Die Debatten, die dieser Widerspruch hervorbringt,
lconnen hier nicht einmal angerissen werden.
Festzuhalten bleibt aber, dass die Behauptung, Toleranz, Offenheit und
Aufkliirung sei so etwas wie "Kultur" zu recht lcuriosen Verrenlcungen cler Begriffe fiihren muss - insbesondere auch fur jene AuBenstehenden, die an der
westeuropiiischen Geistesgeschichte nur marginal teilgenommen haben. Wir
konnen es den Migrantinnen und Migranten nicht veriiheln, wenn sie nicht
verstehen, was wir von ihnen wollen. Wir verstehen es seIber nicht.
Denn kaum etwas ist missverstiindlicher als der Kulturbegriff. Schauen wir
noch einmal darauf, womit die Vertreterinnen und Vertreter des LeitkuIturgedankens diesen konkretisieren wollen. Bassam Tibi verfolgt ein durchaus
auflcliirerisches Zie!: Die humanistischen und freiheitlichen Verfassungs-
5
6
56
Lammert 2006b: 14.
Siehe u. a. den Austausch zwischen Ulrich Beck (2004) und Bruno Latour (2004).
57
Guido Sprenger
grundsatze der europaischen Lander sollten die Grundlage einer europaischen
Leitkultur werden - die Idee einer deutschen hingegen lehnte er ab.' Neben
der Forderung nach Verfassungstreue erheben andere Vertreterinnen und
Vertreter des Leitkulturgedankens noch den Anspruch, dass Menschen mit
Migrationsvorgeschichte der deutschen Sprache machtig zu sein haben. Das
sind einfache, leicht durchschaubare Forderungen, die mit der Bewaltigung des
Alltags zu tun haben; wir ben6tigen fUr sie keinen Kulturbegriff.
Schauen wir aber auf das, was als Gegenteil der deutschen Leitkultur identifiziert wird, dann wird das BUd sehr viel klarer - und es nimmt auch deutlicher
"kulturelle" 2uge an, 2uge, die nicht allein pragmatisch sind: Immer wieder
betonen die BefUrworterinnen und BefUrworterinnen des Begriffs. dass Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen mit eben jener deutschen Leitkultur nicht
vereinbar sind. Die "deutsche Leitkultur" richtet sich explizit gegen Gesellschaften, in denen die Manner die Frauen, der Staat das Volle unterdriicken und
die Politik mit Religion betrieben wird: eine recht prazise Zusammenfassung
von Klischees iiber den Vorderen Orient. Nun fragt man sich: Gibt es derzeit
irgendwo jemanden, der sich auf die Weltbiihne stellt und verkundet, Ehrenmorde seien der Stolz seiner Kultur? Wohl kaum - die "deutsche Leitkultur"
einigt sich hier auf den kleinsten gemeinsamen Nenner des Selbst-Seins, und
das vor allem durch das Mittel des Kontrastes.
Was auch immer also als "deutsche Kultur" verstanden wird, ist nicht das,
was aIle Deutschen teilen; es ist das, was in einer ganz bestimmten historischen
Situation anders als die anderen sein soIl. 1m 18. Jahrhundert war die Quelle
der deutschen Identitat in hohem Maile Frankreich; in der Integrationsdebatte
ist eine seltsam verallgemeinerte Idee vom Islam der Bezugspunkt. So kommt
es, dass viele Verfechterinnen und Verfechter der deutschen Leitkultur Werte
beschworen. die vor 200 Jahren noch als undeutsch und vielmehr franzosisch
gegolten hatten.
Das aber ist eine der Grunderkenntnisse der Ethnologie: dass man iiber
die eigene Kultur nur reden kann, wenn man dabei zugleich von der fremden
redet; und dass eine eigene Identitat nur moglich ist, wenn man sie von einer
anderen abgrenzt. Erst die Idee der Anderen macht eine Vorstellungvon Kultur
iiberhaupt moglich; aber auch auf ganz konkreter Ebene bestimmt sich das Eigene stets durch die Unterscheidung von einem spezifischen Anderen. 8
7
8
58
Tibi 1998: 56 f.
Die Literatur dazu ist auGerst umfangreich. Bin klassischer Aufsatz von groBer Wirlcung ist Barth 1969. Bine gute Zusammenfassung bietet Baumann 1999.
Unser Phantom Leitkultur
Von der Politik zur Ethnologie
Doch ist Kultur nichts als Abgrenzung? Hier miissen wir unterscheiden zwischen Kultur, wie die Ethnologie sie derzeit versteht, und "Kultur", einem
Begriff, der in Deutschland eine zentrale Rolle fUr das Selbstverstandnis und
das anderer Gesellschaften spiel!. Dass es kulturelle Unterschiede gibt, ist unbestritten. Begebe ich mich in ein Gemeinwesen, das von dem mir vertrauten
sozial oder raumlich entfernt ist, bemerke ich die Differenz: Die Sprache, die
Umgangsformen, die Lebensweise sind mir fremd, und ich spiire das unmittelbar an meiner mangelnden Kompetenz zu kommunizieren. Ich muss also
Kommunikationsformen neu erlernen. Einige dieser Unterschiede sind leicht
erkennbar, so zum Beispiel die Sprache; andere hingegen lassen sich nur
schwer fassen, wenn es z. B. urn die Arten sozialer Beziehungen geht und die
Erwartungen, die an diese Beziehungen gestellt werden, oder, noch weiter gehend, wenn unterschiedliche Vorstellungen von Weltordnung. Kausalitat und
Verantwortung ins Spiel kommen. Die Unterschiede sind also hochkomplex,
mal subtil und mal offenkundig, mehrdimensionalund daher malleicht und
mal schwer zu erlernen. Fur diese komplexe Erfahrung von Unterschied hat
sich der Begriff "kulturell" erfolgreich eingeburgert, und zwar sowohl in den
Wissenschaften als auch in der Offentlichkeit.
Der Schritt von der Differenzerfahrung hin zum Begriff der Kultur hingegen ist kein selbstverstandlicher, und er nimmt in der Ethnologie und in der
Offentlichkeit sehr unterschiedliche Formen an. Grab vereinfachend lasst sich
sagen: Der ethnologische Kulturbegriff befasst sich mit der Spezifizitat von
Kommunikationen und sozialen Beziehungen. Der Kulturbegriffhingegen, der
die Leitkulturdebatte gestaltet, soli die geteilten Ideen und Werte der Mitglieder eines Gemeinwesens bezeichnen. Der Kulturbegriff der Leitkulturdebatte
orientiert sich an der Identitat, dem Gleich-Sein, der der Ethnologie bezieht
jedoch auch die Alteritat mit ein, das Anders-Sein. Der Kulturbegriff der Leitkulturdebatte ist mit Normen befasst;9 der der Ethnologie mit Beschreibungen.
Fur den Kulturbegriff der Leitkulturdebatte sind innere Widerspruche daher
unbequem, fUr den der Ethnologie hingegen sind sie unumganglich.
Wenn die deutsche Leitkultur also angeblich Werte von Offenheit und
Toleranz umfasst, wird damit weniger die empirisch untersuchte Wirklichkeit
des deutschen Zusarnmenlebens beschrieben, sondern eine Norm: Man meint
damit nicht, dass die Deutschen offen und tolerant sind, sondern dass sie es
9
Spankus 2012.
59
Guido Sprenger
sein sollen. Gleichzeitig aber versucht man mit dem Leitkultur-Begriff den spezifischen Unterschied, der zwischen Deutschen und einer bestimmten Art von
Menschen mit Migrationsvorgeschichte sptirbar wird, flir die deutsche Seite
eindeutig zu formulieren: Hier geht es also wieder darum, einen Ist-Zustand
zu behaupten. Dieser Zustand aber ergibt sich aus einer Beziehung, namlich
zwischen Deutschland und seinen Fremden, und daher Hi-sst er sich gar nicht
rur die deutsche Seite allein formulieren.
Das ethnologische Verstandnis von Kultur leitet sich also von der Beobachtung ab und beinhaltet Wandelbarkeit, Vielstimmigkeit, Widerspruch. Dass die
Ethnologie diesen Kulturbegriff entwickelt hat, ergab sich aus der empirischen
Unmoglichkeit, das "Wesen" einer Kultur in Begriffen von eindeutig geteilten
Werten oder gemeinsamen Charakterziigen dingfest zu machen. Aus dieser
Sicht sind es weniger Normen, die dem sozialen Leben einer Gemeinschaft
zugrunde liegen, sondern eher spezifische Wertkonflikte, Bruchlinien und
Widerspriiche. die den Kommunikationsprozess gliedern, antreiben und nicht
erlahmen lassen. Denn wenn es keine Widersprtiche gibt. woriiber sollte man
dann noch reden?
Trotzdem, und aus den oben genannten historischen Griinden, beharrt
man in Deutschland gern auf dem Begriff der "Kultur" - und "Leitkultur" gar,
ein Wort, das Jtirgen Habermas in seinem Aufsatz in der New York Times nicht
zu iibersetzen vermochte. 1O Die deutsche Geistesgeschichte hatte groGen Antell am internationalen Erfolg des Begriffs,l1 aber seiner Verwendung haftet
etwas sehr Deutsches an, etwas, woriiber die Deutschen versuchen, ihren Unterschied zu den Anderen zu fassen. Dabei wird der Kulturbegriffvollig tiberfrachtet - schlichtere Konzepte wie Verfassungstreue tiiten denselben Dienst.
Diese Einsicht hat konsequenterweise zu Skepsis und Ablehnung des Begriffes
geflihrt. 12
Aus ethnologischer Sicht ist jedoch Kultur ein dynamischer Prozess, dessen strukturierende Merkmale spezifische Widerspriiche und unaufhebbare
Wertekonflikte darstellen. Schauen wir also einmal aus dieser Perspektive auf
den Begriff der "Kultur", wie er in Deutschland verwendet wird; schauen wir
auf ihn als einen Begriff. der uns eine Menge sagen kann tiber die Menschen,
die ihn verwenden. Aus diesem Blickwinkel scheint es, dass es weniger getellte Werte und Ideen sind, welche die deutsche "Kultur" ausmachen, sondern
10 Habermas 2010.
11 Kuper 1999 und Stocking 1968.
12 Prominent z. B. Kiinast 2006.
60
Unser Phantom Leitkultur
vielmehr der Zweifel an der eigenen ldentitat, der Widerspruch zwischen dem
Glauben an die Existenz einer "deutschen Kuhur" und den historischen Belegen fur deutsche Gespaltenheit und Uneinigkeit.
Solche Widersprtiche sind kulturell gesehen auBerst produktiv und fuhren
zu einer Vielzahl von Perspektiven und Stellungnahmen. Giibe es einen einzelnen, getellten Wert, so giibe es auch einen MaGstab, an dem sich erkennen
lieGe, "wie dentsch etwas ist" - sagen wir, ein Buch. ein Gesetz, eine Entscheidung. Kultur als strukturierender Widerspruch hingegen legt keine MaBstabe
fest, sondern produziert jene Vielfalt, die wir im tatsiichlichen sozialen Leben
beobachten k6nnen - eine Vielfalt, die von erhitzten Stellnngnahmen flir den
einen oder anderen Standpunkt bis zur demonstrativen Gleichgiiltigkeit reicht.
bazu tritt noch, dass diese Widerspriiche flir bestimmte Personen und Zusammenhiinge von Bedeutung sind, fur andere hingegen nicht.
Den Widerspruch, der dem Begriff "Kultur" in Deutschland innewohnt,
habe ich bereits oben benannt: Der Begriff soIl das Einzigartige, wesensmaBig
Getei!te der Deutschen bezeichnen, aber seinen lnhalt erhalt er stets durch Abgrenzung. Was in welcher Epoche und in welchem Zusammenhang als deutsch
gilt, hiingt davon ab, wie die Beziehungen zu den jeweils Anderen verstanden
werden. Friiher war deutsch, was nicht franzesisch ist; heute ist deutsch, was
nicht islamistisch ist. Fiihrt man hingegen in den Urlaub in den Siiden, so ist es
plotzlich deutsch, Sandalen mit Socken zu tragen.
Der strukturierende Widerspruch "Kultnr" spielt aber nur in bestimmten
Zusammenhiingen iiberhaupt eine Rolle. So ist die Frage nach der "deutschen
Kultur" relevant rur die Auflagen, die Menschen mit Migrationsvorgeschichte
gemacht werden, jedoch unbedeutend fur die Frage, ob unsere Handys und
Hosen in China hergestellt werden. Nowak beginnt seine Kritik an der deutschen Fixierung auf "Kultur" mit einer langen Liste jener Alltagsdinge, die
nicht deutschen Ursprungs sind, vom Schriftsystem bis zur Kartoffel. 13 Das
aber zeigt nicht, dass es "deutsche Kultur" nicht gibt, sondern dass sie als Konstrukt, als Idee in ganz bestirnmten Zusammenhiingen auftaucht. Selbst wenn
wir also kulturelle Charakteristilca flir bestimmte Bereiche erkennen kennen,
heillt das nicht, dass sie in allen Bereichen des sozialen Lebens von Bedeutung
sind.
Aber gerade wei! der deutsche Begriff "Kultur" nicht eindeutig gefullt ist,
stehl er jederzeit berelt, jene lnhalte aufzunehmen, die die Debalte fordern.
Vielleicht wird der Unterschied zwischen "Deutschen" und "Muslimen" ei13 Nowak 2006.
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nes Tages ebenso an Brisanz verlieren, wie es beim "Kulturkampf" zwischen
Protestanten und Katholiken im neufofmierten Deutschen Reich nach 1871
geschehen ist, und eine neue Front wird geoffnet: Auf welche Art werden wir
deutsch sein, wenn wir uns von den Chinesen oder Indern abgrenzen wollen?
Auch dann wird der Begriff "Kultur" weiterhin seine Aufgabe als dynamischer
Widerspruch erfullen, der unsere ldentitatsdebatte aufeuert.
Das Erkenntnisinteresse der Ethnologie Hegt jedoch darin, solehe widerspriichlichen Kulturproduktionen zu beobachten und zu verstehen, nicht aber
zu bewerten. Aus dieser Sieht gibt es bei den Standpunkten zur Leitkulturdebatte keine "guten" und "schlechten"; man kann aber, wie ich das hier versucht
habe, die inneren Widerspriiche aufzeigen, die die VielfaIt der Standpunkte
hervorbringen. Dass Ethnologinnen und Ethnologen selbst Gemeinwesen angehOren und daher ebenso ein Recht auf ihren Standpunkt haben, steht auf einem anderen Blatt - oder vielleicht besser, auf der Riickseite desselben Blattes.
Es Hegt also im Wesen des Leitkulturbegriffes, dass er sieh dauerhaft dagegen sperrt, mit einem eindeutigen InhaIt gefiillt zu werden. Der Begriff"Kultur"
nimmt fur viele Deutsche einen zentralen Platz im Selbst- und Fremdverstandnis ein, aber das tut er deshalb, weil er in sich widerspriichlich ist. Allein das
Hisst die Debatte um ihn nicht erloschen. Ihn mit einem konkreten Kanan von
Weften, Verhaltensregeln und Ideen zu fullen, hief~,
ihn seiner Wirkmacht zu
entkleiden. Denn die Debatte urn das Wesen def deutschen "Kultur" ist seit
iiber 200 Jahren eine def spezifischen Formen, mit denen Deutsche versuchen,
das Verhiiltnis Deutschlands zu seinen bedeutungsvoilen Anderen zu verarbeiten. Wer hingegen versucht, die Beziehungen zu den gefuhlt Fremden mit dem
Begriff der LeitkuItur endgiiItig zu regein, wird scheitern: Der Begriff ist darauf
angelegt, kontrastierende Standpunkte hervorzubringen, und nieht Einheit
und Gemeinsamkeit.
Heifit das denn nun, dass es deutsche Kultur - nun ohne Anfuhrungszeichen - nicht gibt? Perspektiven gibt es wohl. Gerade weil sie, wie aile Kulturen,
offen, kontextabhiingig und widerspriichHch ist, kann die deutsche Kultur
unentwegt das Andere aufnehmen und verarbeiten. Wenn Menschen mit
Migrationsvorgeschiehte Stellung nehmen zu der "Kultur"-Debatte, die ihnen
in Deutschland zugemutet wird, nehmen sie selbst Standpunkte ein, die von
dieser Debatte hervorgebracht werden. Schon im Akt des kritischen Abwagens, des Entgegenkommens oder des Sich-Wehrens demonstrieren sie, dass
sie in die deutsche Kultur, mit all ihren Widerspriichen, integriert sind. Denn
Integration bedeutet nicht Widerspruchsfreiheit;14 sie bedeutet, einen Platz
innerhalb eines Systems einzunehmen. 15
Bassam Tibi ist ein vorziigliches Beispiel. Als syrischer Muslim, der in
Deutschland studiert und sich etabliert hat, hat er zielsicher der deutschen
Kulturdebatte den so diskussionsbefruchtenden Begriffder Leitkultur gegeben.
Gleiehsam als hatte er die deutsche ldeologie und die gegenwartige Lage exakt
analysiert und sei dann zu dem Schluss gekommen, der DiskufS erfordere nun
einmal den Begriff der Leitkultur, hat er ihn in die Debatte eingebracht. Wie
gesagt, Tibi selbst fordert keine deutsche Leitkultur, sondern eine europiiische.
Dass er fur diese Idee jedoch den Begriff der "Kultur" bemiiht, ist hingegen,
nun ja, "typisch deutsch". lnsofern verkorpert er die Rolle des notwendigen
Fremden, ohne den das Eigene nicht existieren kann. 16
Die deutsche Kulturdebatte ist ein Feld von Stimrnen, von denen nicht aIle
mit der Markierung "deutsch" gekennzeichnet sein miissen. Doch diese Art
von Integration ist weder absolut und exklusiv, noch griindet sie auf Gemeinsamkeit; sie basiert auf der Ptlege der Differenz. Wer mitmacht, egal wie er sich
selbst nennt, gehort dazu.
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