Atem, Kunst und Psyche
Grenzüberschreitungen in der Ästhetik des Atmens
Silke Hilgers
Was ist wahrnehmbar, wenn beim Lesen für einen Moment der eigene
Atem zu spüren ist? Wenn sich beim Einatmen eine leichte Bewegung
des Hebens und Weitens einstellt, das Ausatmen mit einem Senken und
Zusammensinken einhergeht? Die Luft in die Nase einströmt und einen
Moment später etwas wärmer wieder heraus? Während sich die Luft in
den Atemwegen ausbreitet, wird frischer Sauerstoff über die Lungenbläschen in die Blutbahnen aufgenommen und in die Zellen transportiert. Jede Zelle hat eine semipermeable Membran, die sie umhüllt und
durch die sie atmet. Sie füllt sich und dehnt sich aus, während sie die Bestandteile der eingeatmeten Luft aufnimmt. Sie wird wieder etwas kleiner, wenn sie die transformierte Luft entlässt, sodass das entstandene
Kohlendioxid über die Blutbahnen abtransportiert wird.1
Auf Basis dieses feinen Austauschs zwischen einem Organismus und
seiner Außenwelt über die Atemluft stelle ich im Folgenden die Übergangsbereiche zwischen Innen und Außen ins Zentrum und gehe der
Frage nach, wie sich diese Bereiche in Atem, Kunst und Psyche auf unterschiedlicher Weise konfigurieren. Eine besondere Rolle spielt hierbei die
Membran, die eine Grenze markiert und gleichzeitig Ort des Austauschs
ist.
1
Vgl. Clauss, Wolfgang/Clauss, Cornelia: Humanbiologie kompakt, Berlin: Springer Spektrum 2009, S. 275–300.
184
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Atem als Lebenshauch
Die Auffassung einer engen Verbindung zwischen Psyche, Atem und Lebendigkeit drückt sich bereits in der Herleitung des Wortes »Psyche«
im Altgriechischen aus, wo der Begriff »ψυχή« (psychḗ) zugleich »Atem«,
»Hauch«, »Seele«, »Gemüt«, »Herz«, »Leben« und »Lebenskraft« bedeutet.2 Im lateinischen Begriff »Anima« findet sich mit »Seele«, »Atem«,
»Luft« und »Leben« eine ähnliche Schnittmenge.3 Der christliche Mythos, bei dem Materie mithilfe göttlichen Odems belebt wird, fügt der
Verbindung zwischen Atem, Psyche und Leben noch ein schöpferisches
Moment hinzu. Es entsteht eine komplexe Wechselbeziehung zwischen
Ein- und Ausatmen, Leben und Tod. In der Darstellung einer sterbenden Person aus dem 16. Jahrhundert entweicht die Seele aus dem Körper
und ein Engel nimmt sie in Empfang. Wie die Atemluft beim Aushauchen tritt die Seele aus dem Mund hinaus. Das Bild weist gleichzeitig eine Analogie zum Geburtsprozess auf, da ein kleines Kind aus dem Körper der sterbenden Person zu treten scheint. Hier ist das Aushauchen
also nicht nur mit dem Tod verbunden, sondern gleichzeitig ein schöpferischer Akt.
In solchen religiösen Vorstellungen mag sich zudem ausdrücken,
dass Atmen nicht nur ein autonomer Prozess ist, der im Organismus
eines Individuums stattfindet. Vielmehr korrespondiert das respiratorische Füllen und Leeren mit einem Gegenüber. Die gegenseitige
Beatmung von gänzlich irdischen Lebewesen unterstreicht auch Linda
Hartley:
»Über den Prozess des Atmens erwecken (inspirieren) und erlöschen
(exspirieren) wir, wir saugen Energie ein für neues Leben und Kreativität und entlassen dieses Leben aus uns heraus in den Tod. Jeder
Ausatem ist ein Verlust, ein Loslassen, aber auch ein Geschenk an das
2
3
Online-Wörterbuch Altgriechisch-Deutsch: https://www.gottwein.de/GrWk/G
r00.php vom 18.10.21.
Online-Wörterbuch Latein-Deutsch: https://de.langenscheidt.com/latein-deut
sch/anima vom 18.10.21.
Atem, Kunst und Psyche
Reich der Pflanzen, die sich vom Kohlendioxid, das wir ausstoßen, ernähren. Jeder Einatem ist ein Gegengeschenk der Pflanzen, die den
Sauerstoff produzieren, den wir benötigen, um unser Leben zu erneuern und aufrechtzuerhalten. Die wechselseitige Abhängigkeit der Lebenssysteme und die Zyklen von Leben, Tod und Wiedergeburt spiegeln sich im Prozess der Atmung.«4
Abbildung 1
Druck aus: Martin Luther: Ain sermon von der Beraitung zum sterben, um 1520,
© akg-images/picture alliance
4
Hartley, Linda: Einführung in Body-Mind Centering. Die Weisheit des Körpers
in Bewegung, Bern: Hans Huber 2012, S. 262.
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Was Hartley hier auf Basis von Verflechtungen zwischen Lebewesen
beschreibt, rückt das Atmen in die Nähe künstlerischen Handelns. So
wie in jeder Zelle Mitochondrien für eine Umwandlung des eingeatmeten Sauerstoffs in Kohlendioxid sorgen, so ist der Kunst eigen, dass sie
ein Ausgangsmaterial transformiert bzw. in einen neuen Kontext stellt.
Auch bei der Verdauung findet eine solche Umwandlung aufgenommener Materie statt, sie verläuft jedoch linear, nämlich zwischen oralem
Aufnehmen und analem Ausscheiden und ist damit auch an zwei unterschiedlichen, einander entgegengesetzten Körperöffnungen verortet.
Bei der Respiration dagegen entfaltet sich eine Wechselbewegung über
die Atemwege, an denen sich sowohl das Ein- als auch das Austreten der
Atemluft vollzieht, sodass ein spezifischer Rhythmus entsteht.5 Nach
Hartley folgt der schöpferische Prozess dem gleichen Rhythmus wie die
Atmung: »Jeder kreative Akt hat seine Empfängnis in der Inspiration,
eine Pause – das ist der Raum, in dem das Potential manifest wird –
und eine Geburt/einen Tod, in dem der geschaffene Akt ›ausgeatmet
wird‹ und ans Licht kommen darf.«6 Auch die Atemtherapeutin Ilse
Middendorf stellt in einem Gedicht diesen Zusammenhang zwischen
Atemrhythmus und künstlerischem Schaffen her:
»Das erste ist warten können – auf
den Atem, der in mich einfließt.
Und ihn begleiten, wenn er mich
verlässt und als Kraft in Erscheinung tritt –
im Klang im Wort, im Werk.«7
Solcherlei Verflechtungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt, zwischen innen und außen sowie das Wechselspiel zwischen Introjektion
und Externalisierung spielen auch in der Psychoanalyse eine zentrale
Rolle, um die es im folgenden Abschnitt geht.
5
6
7
Vgl. Tristani, Jean-Louis: Le Stade du Respir, Paris: Minuit 1978, zit. nach Anzieu,
Didier: Das Haut-Ich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 153.
Ebd.
Middendorf, Ilse: Der erfahrbare Atem in seiner Substanz, Paderborn: Junfermann 1998 (1984), S. 6.
Atem, Kunst und Psyche
Psychoanalyse und Atem
Der Stellenwert des Körpers in der Psychoanalyse hat sich seit ihrer
Entstehung gewandelt. Zusammenfassend konstatiert Sebastian Leikert: »Der Körper hat es nicht leicht in der Psychoanalyse. Nur schwer
findet er seinen Ort.«8 Die Frage der Beachtung des Körpers in der Psychoanalyse betrifft auch den Atem. Jean-Louis Tristani etwa bemängelt,
dass Freud seinen Beobachtungen zu Phänomenen des Atems zu wenig
Beachtung schenkte. Beispielsweise habe Freud zwar den nervösen
Husten seiner Patientin Dora beschrieben, die Analogien zum Keuchen
der Urszene jedoch nicht in seine Reflexionen einbezogen.9
Timo Storck weist darauf hin, dass das Triebkonzept Freuds als psychosomatisch betrachtet werden kann, da es sich auf Prozesse an der
Grenze zwischen Psyche und Soma bezieht. Der Trieb ist nach Freuds
Ansicht im Psychischen repräsentiert, und zwar als Vorstellung oder
Affekt. Die Triebe haben wiederum ihren Ursprung im Körper.10 Dies
macht jedoch auch deutlich, dass das Ich nach Freud aus der Verarbeitung körperlicher Impulse entsteht, nicht aber selbst körperlich ist.
Wenn Freud also sagt »Das Ich ist vor allem ein körperliches«11 , so sieht
er das Ich als eine Instanz, die das Somatische lediglich repräsentiert.12
Leikert knüpft daran die Frage: »Was wäre das Selbst, wenn das Selbst
Körper wäre? […] Was wissen wir von jener Terra incognita des Körpers,
die wir, jenseits der Repräsentanz selbst sind?«13
Lange Zeit hat die Psychoanalyse die Erinnerung ausschließlich
im explizit-deklarativen Gedächtnis verortet, also in dem Bereich des
8
9
10
11
12
13
Leikert, Sebastian: Das sinnliche Selbst. Das Körpergedächtnis in der psychoanalytischen Behandlungstechnik, Frankfurt a.M.: Brandes und Apsel 2019,
S. 13.
Vgl. Tristani, Jean-Louis: Le Stade du Respir, zit. nach D. Anzieu: Das Haut-Ich,
S. 153.
Vgl. Storck, Timo/Brauner, Felix: Körpergefühl, Gießen: Psychosozial-Verlag
2021, S. 24.
Freud, Sigmund: Das Ich und das Es, GW XIII, 1923, S. 253.
Vgl. S. Leikert: Das sinnliche Selbst, S. 13.
Ebd.
187
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Erinnerungsvermögens, der verbal codiert und über Worte zugänglich
ist. Erst nach und nach setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich
Erfahrungen mit der Umwelt auch im Körpergedächtnis, dem implizitprozeduralen Gedächtnis, niederschlagen. Dieser verkörperte Teil des
Gedächtnisses ist bereits intra-uterin vorhanden, und in Form von
emotional-affektiven, motorischen und sensorisch-vegetativen Zustände codiert (zum Beispiel als Erregung, Unruhe, Versunkenheit oder
psychosomatische Innervation). Aus dem Körpergedächtnis rühren
grundlegende Dispositionen wie zum Beispiel Urvertrauen, Urängste
oder das Gefühl, ob man auf der Welt willkommen ist, ebenso wie die
archaischen Grundeinstellungen gegenüber sich selbst. Erst mit dem
Spracherwerb im zweiten Lebensjahr werden Erlebnisse im explizitdeklarativem Gedächtnis in verbal fassbaren Begriffen codiert. Die
verschiedenen Gedächtnismodi bestehen ein Leben lang nebeneinander fort. Erlebnisse, die sich in den Körper eingeschrieben haben,
formen ihn.14 Psyche kann somit als verkörperte Beziehungserfahrung
betrachtet werden.
Besonders plastisch zeigt sich dies am Atem. Die Atmung eines
Kindes wird bei der Geburt durch die Kontraktionen der Gebärmutter
und die vaginale Umhüllung ausgelöst, die auf den Körper des Säuglings
einwirken. Berührungsqualitäten von Bezugspersonen, wie das Halten,
Tragen oder auch Stillen (in seinen unterschiedlichen Erscheinungsweisen) unterstützen die Entfaltung des Atems.15 Die Entstehung einer
spezifischen Atmung eines Menschen basiert also bereits in frühesten
Entwicklungsstadien auf den Interaktionen mit der Umwelt.
14
15
Vgl. ebd., S. 36ff.
Margaret Ribble stellte in den 1940er Jahren anhand von Beobachtung von 600
Säuglingen die These auf, dass sich die Respiration im Kontext von Interaktionen mit der Umwelt formiert, d.h. insbesondere auf Basis des Körperkontakts
mit den elterlichen Bezugspersonen. Durch Säuglingspflege und körperliche
Zuwendung vertiefe sich der Atem, der in den ersten Wochen der Geburt noch
oberflächlich, ungleichmäßig und unzureichend sei. Ribble, Margaret: Infantile experiences in relation to personality development, in: J. McV Hunt (Hg.),
Personality and the behavior disorders, Bd 2, New York: Ronald Press 1944,
zit. nach D. Anzieu: Das Haut-Ich, S. 152.
Atem, Kunst und Psyche
In der Körperpsychotherapie hat die Befassung mit dem Atem einen zentralen Stellenwert, da sich emotionale Zustände in der Respiration zeigen: »Wie wir atmen ist nahezu identisch mit dem, wie wir fühlen.«, so Eline Thornquist und Berit Bunkan.16 Der Atem eignet sich besonders gut als »körperliche Eintrittspforte« zum Erleben, da er eine vegetativ-gesteuerte Funktion ist, die sich gleichzeitig willkürlich muskulär steuern lässt. Anders als bei anderen unbewusst regulierten Körperfunktionen ist es möglich, sich den Atem bewusst zu machen und damit
auch emotionale Zustände wahrzunehmen.17 Der Atem ist daher an der
Schnittstelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem verortet.18
Wilhelm Reich befand, dass Menschen durch eine flachere Atmung
mit ihren Gefühlen weniger in Kontakt kommen, so dass er den flachen
Atem (»Atembremsung«) als Unterdrückung und Verdrängung von
Affekten und damit als Bestandteil der Abwehr ansah.19 Psychische Erkrankungen gehen häufig mit spezifischen Erscheinungen des Atmens
einher. So wird in Zusammenhang mit Depression häufig von einer flachen Atmung berichtet, und Norbert Schrauth bemerkte, dass Personen
mit einer schizoiden Symptomatik manchmal in Verbindung mit einer
Haltungsstarre atmen, als wäre der Atem in kindlichen Angstzuständen
festgehalten.20
16
17
18
19
20
Thornquist Eline/Bunkan, Berit Heir: What is psychomotor therapy? Oslo:
Norwegian University Press 1991, zit. nach Geuter, Ulfried: Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis, Berlin/Heidelberg: Springer
2015, S. 110.
Vgl. Depraz, Natalie: The rainbow of emotions: at the cross- roads of neurobiology and phenomenology. Continental Philosophy Review, 41 (2008), S.
237–259, zit. nach U. Geuter: Körperpsychotherapie, S. 107.
Vgl. Hendricks, Gay/Hendricks, Kathlyn: Die neuen Körpertherapien, München:
Knaur 1994, zit. nach U. Geuter: Körperpsychotherapie, S. 109.
Vgl. Reich, Wilhelm: Die Funktion des Orgasmus: Die Entdeckung des Orgons.
Sexualökonomische Grundprobleme der biologischen Energie, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1987 (1942), S. 233.
Vgl. Schrauth, Norbert: Körperpsychotherapie und Psychoanalyse: Eine vergleichende Studie am Beispiel von Wilhelm Reich, Gerda Boyesen und Alexander
Lowen sowie Sandor Ferenczí, Michael Balint und D.W. Winnicott, Berlin: Leutner 2001, S. 53.
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Umgekehrt kann über die Respiration die psychische Befindlichkeit
beeinflusst werden. Ein tiefer Atem setzt Endorphine frei, bewirkt eine
parasympathische Innervierung, was eine körperliche und psychische
Entspannung unterstützt. und hat positive Effekte auf die Organe sowie
das Schmerzerleben.21 Michael Heller beschreibt, dass Atemübungen
weitreichende Transformationsprozesse anregen können: »Gewinnt ein
Mensch mit eingeschränkter Atmung mehr Atemspielraum, verändert
sich auch seine Art, sich und die Welt wahrzunehmen und zu reagieren«22 , weshalb Künstler*innen solche Atemübungen möglicherweise
immer wieder attraktiv erschienen.
Jenseits solcher körpertherapeutischen Atemübungen steht für die
Psychoanalyse der Zugang zum Unbewussten über die Respiration im
Zentrum. So bemerkt Jean-Louis Tristani, dass Atemstörungen einem
Dilemma zugrunde liegen können. Dies wird beispielsweise an der Aussage einer Patientin deutlich, die er zitiert: »Ich verbrauche so wenig Luft
wie möglich, um meinen Eltern so wenig wie möglich wegzunehmen.
Ich muss ersticken, damit sie atmen können.«23 Die Aussage zeigt, dass
das von der Umwelt Eingehauchte nicht immer positiv, Lebens-spendend und inspirierend ist. So können nach Gendrot und Racamier Hemmungen des Ausatmens in Zusammenhang mit einem internalisierten
bösen Objekt entstehen: Ein Mensch, der an Asthma leidet, ist nach ihrer
Ansicht »dazu verurteilt, das, was er aggressiv in sich aufgenommen hat,
nicht ausstoßen zu können.«24 Hinter dem Einhalten des Atems mag
das Bedürfnis stehen, voll zu bleiben – bzw. die Angst vor der Entleerung.25 Eine solche Verallgemeinerung wird den vielfältigen Ursachen
21
22
23
24
25
Vgl. ebd., S. 108.
Heller, Michael: Bodypsychotherapy: History, Concepts, Methods, New York:
Norten 2012, zit. nach U. Geuter: Körperpsychotherapie, S. 111.
Tristani, Jean-Louis : Le Stade du Respir, zit. nach D. Anzieu : Das Haut-Ich,
S. 153.
Gendrot, Jacques-Alfred/Racamier, Paul-Claude : »Fonction respiratoire et oralité», in : Evolution psychiatrique, 16 (3), 1951, S. 457–478, zit. nach D. Anzieu :
Das Haut-Ich, S. 153.
Vgl. ebd.
Atem, Kunst und Psyche
einer Erkrankung nicht gerecht und Symptome sind in der Psychoanalyse nur individuell deutbar. Eine genaue Überprüfung von Hypothesen
zu den Ursachen eines spezifischen Atemgeschehens ist daher zentral.
Dennoch erscheint es lohnend, Überlegungen zu übergeordneten Themen anzustellen, die sich in bestimmten Phänomenen des Atems ausdrücken könnten. So beschreibt Walter Bräutigam:
»Wenn wir die Störungen und Abwandlungen der Atmung überblicken und von hier zu einem Verständnis dessen kommen wollen, was
sich darin ausdrückt, so ist unbezweifelbar, daß in den Veränderungen
der Atmung eine gefühlshafte Verbindung zur Welt dargestellt wird,
Hingabe und Beschenkt-werden, Angreifen und Erleiden. In der asthmatischen Abwandlung der Atmung erscheint die Unterbrechung dieses Austausches, sowohl, wenn man von ihrem psychologischen, wie
von ihrem physiologischen Gehalt ausgeht.«26
Bräutigam führt weiterhin aus, dass Menschen im Asthmaanfall von
der Umwelt abgeschlossen sind, was die freundlichen oder aggressiven
Interaktionen mit anderen Menschen betrifft und auch die physiognomisch-relevanten Bestandteile der Umwelt.
Liegt der Schwerpunkt solcher Überlegungen noch im Sinne einer
Ein-Personen-Psychologie ganz bei einem*einer Patient*in, so hat in einigen modernen Ansätzen der Psychoanalyse das relationale Geschehen
zwischen Patient*in und Analytiker*in einen deutlich größeren Stellenwert. Sebastian Leikert stellt Intersubjektivität und zwischenleibliche
Aspekte in der Analyse ins Zentrum und beschreibt die Beobachtung
seines eigenen Atems in der Therapie mit einer Patientin: Frau B. habe
leise, konfus, undeutlich und scheinbar ohne Bezug zu ihm gesprochen.
»Sie berichtete sich überstürzend, ohne Blickkontakt oder Redepausen, in denen ich hätte nachdenken oder intervenieren können. Ihr
Atem war flach, und ich hatte die Empfindung, dass sie nur in den
26
Bräutigam, Walter: Über die psychosomatische Spezifität des Asthma Bronchiale, in: Psyche, 9, 1954, S. 520f.
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Hals atmete und der Atem nicht ihren Leib füllte. Mir ging es während der Vorgespräche nicht gut. Ich schrieb hektisch mit, um die biographischen Informationen festzuhalten, fühlte mich von Spannungen angefüllt und nutzlos. Wenn ich mich auf meine Leiblichkeit konzentrierte, hatte ich das Gefühl zu ersticken. Der Impuls, mich zu entspannen, wurde immer wieder unterbrochen, weil ich mich bemühte
Informationen aufzunehmen und den inhaltlichen Diskurs leidlich zu
begleiten.«27
Leikert beschreibt, wie in den nächsten Sitzungen eine längere Dauer
und das Liegen erste Veränderungen mit sich brachten:
»In der ersten Doppelstunde auf der Couch erwähnte Frau B. den Ratschlag einer früheren Therapeutin, sie solle sich Oasen schaffen. Das
Wort ›Oase‹ erlebte ich wie ein Fenster, durch das Luft in einen stickigen Raum eindringen konnte. Ich trank die Luft des Wortes ›Oase‹ wie
Wasser nach einer Wüstenwanderung und entspannte mich ein wenig. Intersubjektiv wurde jetzt mehr Ruhe möglich, Gesprächspausen
stellten sich ein. Frau B. begann, sich selbst zu lauschen.«28
In der Folgestunde berichtet Frau B. von der guten Beziehung, die sie
mit ihrem Großvater verband. Leikert sieht dies als eine assoziative Resonanz auf das Gelingen einer Verbindung zwischen den Äußerungen
der Patientin und seinem Körperselbst in der Analyse, die über den Weg
eines vertieften intersubjektiven Atemgeschehens möglich wurde.29
Gemäß einer solchen intersubjektiven Betrachtungsweise muss
auch die psychoanalytische Kunstrezeption nicht nur darauf basieren, ein ästhetisches Objekt semiotisch zu deuten. Vielmehr stellt
sich die Frage, welche Resonanz sich im Kontakt mit einem Werk bei
der betrachtenden Person bemerkbar macht30 – beispielsweise in der
27
28
29
30
S. Leikert: Das sinnliche Selbst, S. 156.
Ebd.
Vgl. ebd., S. 157.
Vgl. Storck, Timo: »Das nachtragende Kunstwerk. Fort/Da in Malerei, Film und
(Pop-)Musik«, in: Sebastian Leikert (Hg.), Zur Psychoanalyse ästhetischer Prozesse in Musik, Film und Malerei, Gießen: Psychosozial-Verlag 2015, S. 150.
Atem, Kunst und Psyche
Bewusstwerdung, ob und wie sich der Atem während der Rezeption
verändert.
In Anbetracht negativer »respiratorischer Introjekte«31 und maligner Symbiosen32 stellt sich die Frage nach Hüllen, die an den Schnittstellen menschlicher Interaktionen trennen und schützen können und
gleichzeitig einen Austausch zwischen innen und außen ermöglichen.
Dies bringt Membranen ins Spiel.
Membranen
Membranen als dünne Strukturen flächiger Ausdehnung weisen unterschiedliche Qualitäten auf. Sie können schwingen, übertragen, filtern,
permeabel oder gänzlich undurchlässig sein, und es ist ihnen eigen,
dass sie zwei Sphären voneinander trennen.33 Membranen haben die
besondere physikalische Eigenschaft, unter Belastung nur Zugkräfte
aufzunehmen und an ihre Ränder weiterzugeben, wodurch Phänomene
wie Seifenblasen möglich werden.34 Begrifflich hergeleitet bedeutet »Membrane« mittelhochdeutsch »Pergament«, was den Weg zur
Zeichnung weist, die auf einem Stück Papier entstehen kann. William
Kentridge beschreibt diesen Prozess wie folgt:
»Hat man eine Zeichnung erst einmal begonnen, gibt es ein Gespräch
zwischen dem, was darin erscheint, und dem, wovon man sich vorstellt, dass es erscheinen wird. Die Zeichnung wird zu einer Membran
zwischen der Welt und einem selbst. Man hat ein Gefühl von einem
31
32
33
34
Vgl. Fenichel, Otto: Psychoanalytische spezielle Neurosenlehre, Gießen: Psychosozial-Verlag 2018 (1931).
Maligne Symbiosen: Verschmelzungen mit elterlichen Bezugspersonen, die einer Autonomieentwicklung des Kindes entgegenstehen und sich somit negativ auf das Kind auswirken. Ruppert, Franz: Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Autonomie jenseits von Verstrickungen, Stuttgart: Klett-Cotta,
2010, S. 205.
Vgl. Duden https://www.duden.de/rechtschreibung/Membran
Vgl. https://www.chemie.de/lexikon/Membran.html
193
194
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Nashorn da draußen in der Welt und von dem Blatt, das eine bestimmte Wiedergabe davon zeigt, sowie von der eigenen Projektion dessen,
was das Nashorn ist, auf die Zeichnung. Das macht der Künstler, aber
auch jeder, der die Zeichnung betrachtet. Nehmen wir zum Beispiel
ein Gemälde von Velázquez, auf dem es eine Reihe von Ölfarben- und
Pinselspuren gibt, und in einem bestimmten Moment werden diese
Spuren plötzlich zum Rand eines Capes oder zur Spitze am Kragen
einer Infantin. Es ist nicht einfach so, dass die Farbe der Kragen einer Infantin ist – sie ist es nicht, wir können klar erkennen, dass es eine Reihe von weißen Pinselstrichen neben einem Antwerpen-blauen
Tuch ist. An einem bestimmten Punkt trifft unsere Projektion möglicher Formen und Bilder halbwegs mit der Zeichnung zusammen, und
die Zeichnung oder das Gemälde wird zu einer Membran zwischen
der Welt, wie sie auf uns zukommt, und der Projektion unserer Ideen
oder Bilder auf die Welt. Das wird deutlich, wenn wir eine Zeichnung
ansehen. Wenn eine Zeichnung im Atelier ausgeführt wird, führt sie
folglich nicht zu einer neuen Idee darüber, wie wir an die Welt herangehen, vielmehr nimmt sie unsichtbare Dinge auf, die wir kennen,
aber nicht sehen, und macht sie greifbar.«35
Was Kentridge hier schildert, erinnert an Donald Winnicotts Theorie der
Übergangsobjekte, nach der Kinder Gegenstände oder Körperteile (zum
Beispiel ein Kuscheltier oder die eigene Faust) nutzen, um die Abwesenheit der elterlichen Bezugspersonen zu überbrücken. Das Übergangsobjekt befindet sich für das Kind an der Grenze zwischen innen – also
dem Ich – und der externen Welt – dem Nicht-Ich. Winnicott spricht
im Überschneidungsbereich von beiden vom intermediären Raum. Das
Kind hat das Objekt zwar »erfunden«, weil es das Objekt emotional besetzt. Dies ist also Teil seines Innenlebens, gehört aber dennoch nicht zu
seinem Selbst. Äußere Objekte verbinden sich auf diese Weise mit inneren Objekten.36
35
36
Kentridge, William: No it is !, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König
2017, S. 28.
Vgl. Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Klett-Cotta
2006, S. 10–15.
Atem, Kunst und Psyche
Das Übergangsobjekt ist nach Winnicott ein erster Schritt zum Spiel
und damit zu kreativem Handeln. Ein*e Künstler*in externalisiert ein
Stück des eigenen Selbst in ein ästhetisches Objekt. Gleichzeitig internalisiert er*sie es, zum Beispiel über Identifizierung. Dies ist nach psychoanalytischem Verständnis eine Hin- und Herbewegung, durch die sich
das Selbst neu konstituieren und reifen kann und die an die eingangs
beschriebene Rhythmik der Atembewegung anknüpft.
Thomas Helbig verweist auf den »Screen-Membran« als Grenze
sowohl zwischen Zuschauer- und Kinoraum als auch zwischen dem
»medial Jenseitigen und dem körperlich Diesseitigen«.37 Er verdeutlicht
die vielfältigen Möglichkeiten des Überschreitens der Screen-Membran.
Dies kann durch die empathische Einfühlung in die Filmbilder geschehen, durch die das Publikum von einem Film berührt wird, mithilfe
von filmischen Erzählstoffen, in denen Zuschauende in die Leinwand
»einsteigen« und Teil der filmischen Handlung werden oder durch die
Art und Weise, wie Schnitt und Montage die Leinwand durchbrechen
können.38
Anders als im Sauerstoff-Kohlendioxid-Austausch zwischen Pflanzen und Menschen, ist eine dauerhafte unvermittelte Beatmung von
Menschen untereinander lebensbedrohlich. In der Performance »Breathing in - Breathing out« (1977) von Marina Abramovič und Ulay ist die
Interdependenz zweier Personen, die im Atem miteinander verbunden sind, nach kurzer Zeit spürbar ein Ringen um Existenz, da beide
Kohlendioxid ein- und ausatmen. Edith Kollaths Arbeit »Liminal Passage« dagegen ermöglicht das gemeinsame Atmen zweier Menschen
mithilfe eines Glasobjekts mit Mundstücken. Über ein Mundteil fließt
die ausgeatmete Atemluft einer Person in das Gefäß, an dessen Boden
sich destilliertes Wasser befindet. Dort wird die Atemluft gereinigt und
kann nun von einer Person am anderen Ende eingeatmet werden. Dies
37
38
Helbig, Thomas: »›Look at us but do not touch‹. Ta(s)tsachen und (Be-)rührungen im Film«, in: all-over | Magazin für Kunst und Ästhetik, 12, 2017, S. 17–28,
hier S. 21.
Vgl. ebd.
195
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ermöglicht einen gemeinsamen Atemprozess, der durch das vermittelnde Medium des Wassers sowohl intim als auch ungefährlich ist.
Das Partizipationswerk macht deutlich, dass das gegenseitige Beatmen
von Menschen untereinander eines Objekts bedarf, das sich wie eine
Membran zwischen beide legt.
Die Installation Nothing von Pipilotti Rist besteht aus einer überdimensional großen Seifenblasen-Maschine, die neblige Luft in fragile
Hüllen bläst.39 Die filigranen Membranen mit ihrem luftigen Inhalt fliegen einen Moment durch den Raum, bevor sie absinken und am Boden
zerplatzen, wodurch die Luft in Form sichtbaren Nebels freigegeben
wird. Die spielerische Leichtigkeit, mit der dies geschieht, erinnert an
das Zitat von Linda Hartley, in dem das Loslassen in der Ausatmung mit
einem Beschenken einhergeht.
Abbildungen 2 & 3
Screenshots Nothing von Pipilotti Rist, YouTube 2022
Obwohl es sich um eine schlichte Maschine in industrieller Ästhetik handelt, wirkt der Vorgang auf mich beseelt, was einerseits durch
die Bewegung und den Flug der fragilen Objekte zustande kommen
mag, andererseits durch das magisch Schöne und verspielt Kindliche,
das Seifenblasen innewohnt. Jede Seifenblase hat in ihrer Fragilität
eine schmerzlich kurze Lebensdauer. Nachdem ihr die Maschine Luft
eingehaucht hat, ist es nach einem Moment des Fliegens auch schon
39
https://www.youtube.com/watch?v=BjXN49CwPZs
Atem, Kunst und Psyche
wieder vorbei. Wenn die Membranen zerplatzt sind, löst sich der darin enthaltene Nebel buchstäblich in Luft auf. So mag die Maschine
daran erinnern, dass auch die menschliche Körperhülle einer Vergänglichkeit unterliegt. Der aufgehende Nebel aktualisiert den Eindruck
eines entweichenden Lebenshauchs in obiger Abbildung aus dem 16.
Jahrhundert. Gleichzeitig erscheint die Installation wie eine abstrakte
Inszenierung des Pygmalion-Mythos, da die Künstlerin ihren Objekten
mithilfe der Maschine Leben einhaucht, und sei es für einen kurzen Moment. So kann das Kunstwerk auch den Betrachtenden Leben
einhauchen. Indem das Publikum die ausgeatmete Ästhetik in sich
aufnimmt, wird sie buchstäblich zu Inspiration.
Solche Überlegungen können auch darauf verweisen, dass das
künstlerische Schaffen nicht mit einer Überhöhung der eigenen Person
einhergehen muss, die Linn Burchert zurecht im Zusammenhang mit
dem Pygmalion-Mythos kritisiert:
»Sprichwörtlich ist der künstlerische Atem im Pygmalion-Mythos
geworden, demzufolge der Künstler gottgleich seiner Skulptur Leben
einhaucht. Der Habitus des Künstlers als Erzeuger von Leben wurde
in der Moderne immer wieder aufgegriffen – zumeist seitens männlicher Künstler, welche die ausgesprochene Vitalität ihrer Werke
proklamierten.«40
Von diesem mythologischen Erbe heben sich die Arbeiten der Regisseurin, Perfomerin und Medienkünstlerin Janne Nora Kummer ab. In
ihnen geht es um Membranen, die mithilfe einer Apparatur entstehen.
In einer Serie von sog. Prototypen sind maschinelle Komponenten als
Bindeglied zwischen Individuum und Milieu zentral. Ausgehend von
Donna Haraways Idee der Cyborg als Schnittstelle zwischen organischen und technischen Welten, fungieren technische Objekte hierbei als
Instrumente einer erweiterten körperlich-sinnlichen Wahrnehmung.
40
Burchert, Linn: »Atem. Künste, Technologien und Architekturen der Moderne
und Gegenwart«, in: Dies./Iva Rešetar (Hg.), Atem. Gestalterische, ökologische
und soziale Dimensionen. Breath. Morphological, Ecological and Social Dimensions, Berlin/Boston: De Gruyter 2021, S. 1–27, hier S. 15.
197
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Dies geschieht nicht im Sinne einer neoliberalen (Selbst-)Optimierung,
sondern als Kommunikation mit der Umgebung. Durch ein Feedbacksystem wird erfahrbar, was die eigene körperliche Präsenz in der
Mitwelt auslöst und welche Auswirkung diese Reaktion auf den Körper
hat. Beispielsweise nimmt der von Kummer und Lena Maria Eikenbusch
entwickelte Nature-Communicate-Glove mithilfe unterschiedlicher Sensoren Umweltwerte auf und misst CO2-Gehalt, Erdfeuchtigkeit, Puls
und Rotation der Hand. Die Messwerte werden in visuelle Signale umgewandelt und fungieren als Feedback-System zwischen menschlichem
Körper und seiner Umgebung. Die Materialität einer Membran basiert
hier also auf einer sensorischen Apparatur, wodurch neue Möglichkeitsräume des Austauschs in einer Hin- und Herbewegung zwischen
Individuum und Außenwelt entstehen. Weiterhin hat Kummer einen
textilen Atemsensor entworfen, den Breathing-Belt (nach einem Modell
von Hannah Perner-Wilson). Der Atem einer Person, die den BreathingBelt trägt, wird an anderem Ort durch übertragene Daten als Licht und
Nebel visualisiert. Ihre körperliche Präsenz wird auf diese Weise für
eine andere, räumlich entfernte Person wahrnehmbar. Die atmende
Person ist zugleich körperlich und körperlos präsent, da und nicht da.
In der Verwobenheit von Atem, Psyche und Ästhetik wird deutlich,
dass es nicht die eine Membran gibt, durch die ein Aufeinandertreffen
von Individuum und Milieu erfolgt. Vielmehr diffundieren innere und
äußere Objekte mithilfe zahlreicher Strukturen und Gewebe mit ihren
unterschiedlichen organisch-körperlichen, psychischen oder materialen Beschaffenheiten. So kann der gegenseitige Austausch in der
Respiration erfrischen und inspirieren. Im Sinne einer intersubjektiven
Beziehung mit einem Kunstwerk, erscheint nicht nur interessant, ob
und wie Kunstwerke selbst atmen, sondern auch, welche Atemräume
sie eröffnen und in welcher Art und Weise sie zu beatmen vermögen.