Gerhard Langer
BEWAHREN – VERGESSEN – ERINNERN
VON DER AUFGABE EINER ERINNERUNGSKULTUR
AM BEISPIEL DER RABBINISCHEN TRADITION
Es ist mir naturgemäß eine große Ehre, meinem verehrten Kollegen, Freund und langjährigen Weggefährten am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte, Albert Lichtblau, einen
Beitrag zu seinem Geburtstag zu widmen. Albert Lichtblaus Expertise, seine umfassenden Studien in den Bereichen Erinnerungskultur, Oral History und Genozidforschung,
paaren sich mit einer herausragenden Persönlichkeit, der im positivsten Sinne jegliche
Allüre fehlt und die in so erfrischender Weise hemdsärmelig daherkommt, wie es für
wahrhaft große Wissenschaftler, die Eitelkeit nicht nötig haben, vorbildlich ist. Über
sechs Jahre haben wir gemeinsam am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte in Salzburg
gearbeitet, kannten uns längst vorher, haben dieses Zentrum mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen aufgebaut. Im folgenden Beitrag möchte ich ein Thema aufgreifen,
das Albert Lichtblau seit Langem beschäftigt, Erinnerung. An wenigen Beispielen versuche ich, ein paar Impulse dazu aus meinem Fach zu geben, der Judaistik mit Schwerpunkt auf rabbinische Literatur. Ich beginne mit einer Erzählung:
Es war einmal ein reicher, frommer, aber kinderloser Mann. Auch im fortgeschrittenen Alter hörte er nicht auf, um einen Sohn bei Gott zu bitten. Nach vielen Gebeten wurde er schließlich erhört und bekam tatsächlich den ersehnten Sohn. Er erzog ihn im Sinne der Tradition und trug ihn auf seinen Schultern zum Lehrhaus. Er gab dem Lehrer den
Rat, seinem Sohn das biblische Buch Genesis nahezubringen, jenes Werk, das von der Ehre
Gottes handelt, des Schöpfers der Welt und Erhalters aller Völker. Als der Sohn größer
wurde und sich bereits allein auf den Schulweg machte, fiel er Räubern in die Hände, die
ihn in ein fremdes Königtum brachten, das Buch Genesis in Händen. Als der Knabe sich
bereits einige Jahre als Sklave am Königshof aufhielt, erkrankte der König des Reiches. Er
wünschte, dass man ihm ein Buch aus der Bibliothek bringe. Die Wahl fiel durch Zufall
auf Genesis. Da aber keiner am Hof dieses Buch zu lesen und auszulegen vermochte, holte man den Jungen, der schließlich vom König reich belohnt wurde und wieder nach Hause zurückkehren durfte. Diese Geschichte, hier kurz nacherzählt, wird in einem mittelal-
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terlichen Midrasch, einer gelehrten jüdischen Auslegung zu einem biblischen Text, in
diesem Fall zu den Zehn Geboten (Asseret ha-dibrot),1 überliefert. Eine seiner Botschaften
ist, dass der, der lernt, das Gelernte erinnert und es auszulegen vermag, am Ende belohnt
wird. Mehr noch: An dieser Stelle wird das Buch Genesis besonders hervorgehoben, das
in der Lernabfolge traditionell nicht am Anfang steht. Vielmehr soll man mit dem Buch
Levitikus zu lernen beginnen, einem Text, der von der Heiligkeit Gottes, des Kults, des
Menschen, von Reinheit und Unreinheit, von Schuld und Sühne handelt, ein Buch, in
dem vor allem Israel als heiliges Volk ganz in die Nähe Gottes gerückt wird und sich gerade nicht mit anderen Völkern mischen oder ihre Gebräuche übernehmen soll. Anders das
Buch Genesis, das schon von Beginn an verdeutlicht, dass alle Menschen vor Gott gleich
sind, dass die Völker ihre eigene Geschichte haben, dass Israel seinerseits segensreich für
die ganze Welt wirkt. Somit propagiert dieser Midrasch auch die Verbindung zu den Völkern, das Leben mit ihnen, den regen Austausch über die Quellen der Kultur.
Ein anderer Midrasch aus etwa derselben Zeit erzählt eine weitaus traurigere Geschichte. Elle ezkera spielt zur Zeit der römischen Herrschaft und nach der Niederschlagung
des Aufstandes von 132–135 n. Chr. (Bar Kochba).2 Der römische Kaiser beschließt, das
Gesetz des Mose gemeinsam mit Weisen und Ältesten zu lesen, beginnend mit dem Buch
Genesis. Als er die Bibelstelle Ex 21,16 erreicht, wo es heißt: „Wer einen Menschen raubt,
gleichgültig, ob er ihn verkauft hat oder ob man ihn noch in seiner Gewalt vorfindet,
wird mit dem Tod bestraft“, erinnert er sich an die Geschichte von Josef, den seine Brüder verkaufen und der schließlich am pharaonischen Hof landet. Diesen Text hat der
Kaiser bereits in der Genesis gelesen. Er lässt daraufhin den Palast mit Schuhen füllen,
um an das Bibelwort Am 2,6 zu erinnern („So spricht der HERR: Wegen der drei Verbrechen, die Israel beging, wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen für ein Paar Sandalen“), und die zehn bekanntesten jüdischen Gelehrten holen. Er fragt sie, welche Strafe einen Menschen ereilen soll,
der einen anderen stiehlt und verkauft, und bekommt die entsprechende Antwort, dass
ein solcher Mensch des Todes schuldig sei. Der Kaiser entscheidet darauf, dass die Gelehrten sterben sollen. Sie werden für den Verkauf Josefs durch seine Brüder als entfernte
Verwandte in einer Art Generationenhaftung verantwortlich gemacht und hingerichtet.
In diesem Fall erweist es sich als fatal, dass der König, man denke an einen Nachfahren
des im ersten Midrasch genannten Herrschers, Kenntnis des Buches Genesis hatte. Hätte
1
2
Vgl. Anat Shapira (Hg.), Midrash Aseret ha-Dibrot (A Midrash on the Ten Commandments).
Text, Sources and Interpretation, Jerusalem 2005.
Elle ezkera, auch Aseret haruge malchut („Die zehn Märtyrer“) genannt. Er handelt von den zehn
Märtyrern der rabbinischen Frühzeit, darunter Rabbi Aqiva und Chanina ben Teradjon. Vgl.
Gottfried Reeg (Hg.), Die Geschichte von den Zehn Märtyrern. Synoptische Edition mit Übersetzung und Einleitung, Tübingen 1985.
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man die jüdische Tradition vor dem fremden Gebieter fernhalten sollen? Erzählungen
wie diese stellen nur einen winzigen Teil dessen dar, womit sich Judaistik und Jüdische
Studien beschäftigen, und gleichwohl steckt in ihnen ein Mikrokosmos jüdischer Kultur
und Geschichte.
Beide Erzählungen eint eine gemeinsame Grundlage. Judentum basiert auf der Weitergabe von Lehre, auf dem Stoff der Überlieferung, aus der hebräischen Bibel. Sie ist
gültig bleibende Lebensweisung. Über viele Generationen weitergegeben und in ihrer
Auslegung aktualisiert, bildet sie einen zentralen Lernstoff, der noch durch eine Fülle
von weiteren Stoffen ergänzt wird. Die Bibel ist freilich mehr als nur Text, sie ist theologische Urkunde ebenso wie Basis juristischer Entscheidungen, Darlegung jüdischer
Geschichte, die sich in ihren Grundzügen wiederholt, Lebensweisheit und -orientierung.
An die Welt vermittelt, bringt sie im ersten Fall Segen, im zweiten den Tod. Darin spiegelt sich das zentrale Dilemma einer Kultur wie der jüdischen, die über weite Strecken
ihrer Existenz Teil eines größeren, eines umfassenderen Kulturraumes war, eines paganen, christlichen oder muslimischen, säkular(istisch)en, kommunistischen usw. oder
einer Gemengelage verschiedener unterschiedlicher Einflüsse. Paradigmatisch steht das
Judentum für eine Minderheit, die gleichzeitig akkulturierender Teil eines größeren Kontextes ist und sich selbst zu beschreiben, zu definieren, zu strukturieren bestrebt bleibt.
Sollte man sich öffnen, die eigenen Ideen teilen, einen Beitrag zur Weltkultur leisten und
selber einer sein oder aber, wie es der zweite Midrasch suggeriert, die Überlieferung als
ausschließliches Gut für Israel eifersüchtig hüten und den Kontakt mit den „Anderen“
weitgehend meiden? Die Antwort bleibt offen, und die Zonen dazwischen sind vielfältig
und bunt.
Denn das Judentum bewahrt seine Identität gerade dadurch, dass es diese immer neu
zu definieren versucht, in Abgrenzung und gleichzeitiger Akkulturation. Es ist heute
weitgehend bekannt, dass aus dem Judentum die zentralen Impulse für das Christentum
und den Islam stammen, weniger aber, dass umgekehrt zu allen Zeiten das Judentum
sich von den jeweiligen großen Kulturen, natürlich vom Christentum und dem Islam,
aber ebenso von der persischen Kultur und – nicht zuletzt in den Bereichen der Erzählungen – darüber hinaus gehenden Kulturräumen maßgeblich beeinflussen ließ. Recht,
Philosophie, aber auch Theologie und Ethik waren Teil eines umfassenden kulturellen
Einflussbereiches, dem sich das Judentum nicht entzog, sondern an dem es im Gegenteil
aktiv mitwirkte, von dem es vieles übernahm, wobei es eigenständige Akzente setzte.
Umso mehr wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, wie weit der Austausch, die
Einbindung in die jeweilige Kultur, gehen sollte und durfte, ohne in Gefahr zu geraten,
wie es etwa im chinesischen Judentum geschah, einfach in der umgebenden Welt aufzugehen oder umgekehrt, keinerlei Möglichkeit zu bekommen, am gesellschaftlichen Leben
teilzunehmen und für den eigenen Glauben verfolgt zu werden.
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Judaistik oder Jüdische Studien als Fächer einer Universität, als Teil einer kulturwissenschaftlich orientierten Forschung und Ausbildung untersuchen dieses Phänomen in
einem umfassenden und verschiedene Disziplinen umspannenden Zusammenhang und
sind grundsätzlich für alle offen. Im Unterschied zu einer theologischen Lehranstalt oder
einer Jeschiwa, also einer religiösen Akademie, blicken sie auf ihren Gegenstand mit der
Verpflichtung auf eine ideologiefreie und religiös offene Außensicht, ohne dies als ‚wertfrei‘ oder ‚objektiv‘ misszuverstehen. Kein Fach ist frei von Überzeugungen und grundlegenden Übereinkünften, wie etwa der Ablehnung jeglicher Form des Antijudaismus
oder des Antisemitismus, auch im Hinblick auf einen modernen Antizionismus. Gleichzeitig sichern sich Judaistik und Jüdische Studien durch Methodenvielfalt und beständigen Austausch am internationalen Wissenschaftsdiskurs eine Distanz zu vorschneller
Vereinnahmung und eine Neutralität gegenüber verschiedenen Gruppierungen in- und
außerhalb des jüdischen Spektrums. Sie untersuchen die kulturellen, gesellschaftlichen,
historischen Kontexte des Judentums über die Jahrhunderte, sie sind gebunden an eine
Kenntnis verschiedener Sprachen, vor allem des Hebräischen, aber überdies des Griechischen, Aramäischen, Jiddischen, Judenspanischen etc. Sie sind quellenorientiert, wobei
der Begriff der Quelle hier sehr weit gefasst ist und materielle wie schriftliche, mündliche und filmische Zeugnisse umfasst.
Einer breiten Öffentlichkeit ist es bewusst, dass die jüdische Tradition sich als eine
Kultur der Erinnerung versteht. So wurde vor allem durch Yosef H. Yerushalmis gleichnamiges Buch der hebräische Begriff „Zachor“ („Erinnere dich“) zu einem häufig zitierten Synonym für die Bedeutung des Gedenkens und Erinnerns.3 Das Judentum als Erinnerungskultur par excellence zu umschreiben, mag eine Verkürzung des viel umfassenderen Gewebes jüdischer kultureller Identität sein, trifft aber zweifelsfrei einen bedeutenden Teil. Judaistik und Jüdische Studien reihen sich in die Disziplinen ein, die das
Erinnern als kollektive Notwendigkeit einmahnen, darunter nicht zuletzt die Zeitgeschichte. Es gilt, die gesellschaftlichen ‚Wunden‘ aufzudecken und sie dadurch zu heilen
zu versuchen, dass man sie in schonungsloser Therapie behandelt und aufarbeitet. Dabei
muss man – gemeinsam mit Soziologie, Geschichte und Psychologie etc. – in die tieferen
Schichten dringen, in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die dazu beigetragen haben,
dass diese Wunden, um im Bild zu bleiben, geschlagen wurden. Sie gehen aber noch einen
Schritt weiter, indem sie die religiös-kulturellen Quellen befragen, die über viele Jahrhunderte jüdische Erinnerung transportiert haben, um durch sie zu lernen, sie auszuwerten, sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zuallererst braucht es
demnach in allen Bereichen intensive Quellenstudien. Dankenswerterweise ist es in den
3
Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988.
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letzten Jahrzehnten ruhig geworden um eine lakrimose Geschichtsschreibung, in der
Jüdinnen und Juden ausschließlich als Opfer einer jahrhundertelangen (diasporischen)
Unterdrückungs- und Verfolgungserfahrung präsentiert wurden. Ohne dass das Pendel
ins Gegenteil umschlagen darf – man muss vor einer Verherrlichung der ‚hybriden‘ Diasporaerfahrung dringend warnen –, lassen sich die Wolken einer negativen Erinnerung
durch die sonnigen Perspektiven einer selbstbewusst eigenständigen und gleichzeitig
ungemein vernetzten Kultur beschreiben.
In den Anfängen war etwa die Wiener Judaistik, an der ich jetzt tätig bin, immerhin
in der Nachkriegsgeschichte im deutschen Sprachraum in einer Vorreiterrolle, getragen
von dem Bemühen, durch Wissen um das und Lernen aus dem Judentum vorhandene
Vorurteile abzubauen, nach dem Schrecken der Shoah vor allem ein nichtjüdisches Publikum – christlich geprägt – zu sensibilisieren. Hand in Hand mit Initiativen des jüdischchristlichen Dialogs war die Judaistik Teil eines Informationsprozesses nach der Shoah,
der zweifellos auch zu einem Wandel innerhalb der Kirchen beitrug, der sich u.a. im
katholischen Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965 mit dem Titel Nostra aetate dokumentierte, in dem das Judentum in positiven Farben gezeichnet wurde.
Wie zufällig fiel die 50-jährige Erinnerung an dieses Dokument in das Jahr der 650-JahrFeier der Universität Wien, 2015. Die Judaistik beschäftigte sich stark mit den Quellen
des Judentums in der Antike, die maßgeblich jüdische Identität prägten und bis heute
unverzichtbarer Lehr- und Lernstoff einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit
ihr sind. Sie waren zudem für ein christliches Publikum aufgrund ihrer Nähe zu den
Ereignissen um Jesus von besonderem Interesse. Dazu kamen die mittelalterlichen Quellen, die antike Texte zum einen kommentierten und fortschrieben, aber gleichzeitig neue
Herausforderungen, wie die philosophische Durchdringung, die kontroversielle Auseinandersetzung mit dem Christentum und Islam, annahmen und zu einer neuen Blüte
(in arabischer und hebräischer Sprache) führten. Hier entstanden auch die großen Werke der Grammatik, religionsgesetzliche Sammlungen, Kommentare, Predigten, Mystik
(Kabbala) und zum ersten Mal Werke in den großen Sprachen der Diaspora, dem Jiddischen und Spaniolischen. Durch sie wurde die Tradition breiter zugänglich. Der Buchdruck schuf ungeahnte Verbreitungsmöglichkeiten, und es entstanden immer wieder
Auseinandersetzungen mit der Frage, wie und auf welcher Basis es sich als Jüdin oder
Jude in nichtjüdischer Umwelt leben ließ.
Der christlich-jüdische Dialog ist zwar heute keineswegs unbedeutend geworden,
dennoch zeichnet sich ein Wandel in der Schwerpunktsetzung ab. Die Jüdischen Studien
als interdisziplinär ausgerichtete, oft interfakultär strukturierte Initiativen, die im deutschen Sprachraum ab den 1980er-Jahren boomten, konzentrierten das Interesse stärker
auf das Judentum als zeitgenössisches Phänomen bzw. auf die Neuzeit und setzten in
Bezug auf die Erinnerungskultur nicht zuletzt mit Instrumenten der Oral History neue
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Akzente. Dies ging einher mit einer Kritik an der Judaistik als einer philologischen Disziplin, deren Schwerpunkte im Erwerb der (hebräischen) Sprache und in der Kenntnis
des antiken und mittelalterlichen Judentums lägen, wobei die Periode ab der Aufklärung
vernachlässigt würde.
Eine moderne Judaistik kann weniger denn je auf die hebräische Sprache verzichten,
ist sie doch neben dem Englischen die inzwischen bedeutendste Wissenschaftssprache
in diesem Bereich. Zudem erschließen sich die Quellen nur durch eine Kenntnis des raffinierten Sprachspiels, einer stark mit den Finessen der Sprache agierenden Hermeneutik. Gleichwohl haben die Jüdischen Studien mit ihrer Schwerpunktsetzung auf die Moderne wichtige Lücken geschlossen, neue Felder eröffnet, faszinierende Einsichten ermöglicht. Auf der anderen Seite erkennt man heute auch in den Jüdischen Studien sehr genau,
dass eine Betrachtung des Judentums losgelöst von einer vertieften Kenntnis der Traditionsbezüge unbefriedigend bleibt und daher der Austausch mit den Kolleginnen und
Kollegen aus der Judaistik notwendig ist.
Heute erscheint die Unterscheidung von Jüdischen Studien und Judaistik überholt.4
Vielmehr erschließt die Judaistik – als ein Teil der Jüdischen Studien in einem umfassenden Sinn verstanden – die weiten Felder des Judentums in ihren sprachlichen, religiöskulturellen und literarischen Tiefen, während Sozial- und Politikwissenschaften, die historischen Wissenschaften, die Philosophie, die Musik-, Kunst- und Medienwissenschaften und natürlich die modernen Philologien das Ihre dazu beitragen, Phänomene des
Jüdischen umfassend verstehbar und begreifbar zu machen.
Die Judaistik kann dazu beitragen, die Erinnerung an die Elemente aufzubewahren,
die im Zuge der Moderne scheinbar verloren gegangen sind. Gleichwohl zeigt sie, dass
sie in den meisten Fällen in gebrochener und säkularisierter Form erhalten wurden oder
aber in neuem Gewande weiterleben. Damit erweist sie sich beispielsweise als wichtige
Brücke zu den modernen Philologien, indem sie literarische Dokumente von oder über
Jüdinnen und Juden analysieren hilft. Die deutschsprachige und prospektiv vor allem
die jiddischsprachige Literatur stellen dabei einen gewissen Schwerpunkt dar, ebenso
aber der Film als Medium von Jüdinnen und Juden und/oder über Jüdinnen und Juden
mit seiner ganz spezifischen Ästhetik, ‚Sprache‘ und Form. Eine moderne Erinnerungskultur bedeutet demnach auch, die Tiefendimension oraler, filmischer oder literarischer
Dokumente zu erforschen und hinter dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen
Text jene Bezüge aufzudecken, die dem oberflächlichen Blick verborgen bleiben.
Hier ist ein Wort zur jüdischen Geschichtsschreibung zu sagen. Man kann sie einerseits mit Namen wie Flavius Josephus, mit Historikern wie Azaria dei Rossi, Heinrich
Graetz oder Simon Dubnow, mit Kreuzzugschroniken und Memorbüchern verbinden,
4
Vgl. Günter Stemberger, Einführung in die Judaistik, München 2002.
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an die großen Sammlungen von Oral History erinnern (Claude Lanzmanns Shoah oder
Steven Spielbergs USC Shoah Foundation), man sollte aber darüber hinaus – gerade aus
judaistischer Sicht – einen anderen Blick auf die Geschichte erwähnen, der über viele
Jahrhunderte jüdische Geschichtsauffassung prägte. Der bedeutende Judaist Jacob Neusner formulierte einmal, dass „Israel nach einem beständigen Muster lebt, das weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft kennt“.5 Auch wenn diese Aussage in ihrer Radikalität für die jüdische Tradition ein wenig überzogen scheint, so drückt sich in ihr eine
wichtige Weisheit aus. Alle Geschichte ist eine Kette von Wiederholungen, von wiedererkennbaren Elementen und Grundmustern. Jedes kleine Teilchen davon hat Bezug zum
Gesamten, weshalb nichts in der Geschichte ohne Folgen bleibt. Im Grunde gilt, was der
Theologe Zwickel für die biblische Geschichtsschreibung zusammenfasst, überdies für
die spätere jüdische Traditionsliteratur:
„Unser Verständnis von Geschichtsschreibung ist relativ modern. Will man heute den
Geschichtsablauf graphisch darstellen, bildet man ihn als Strahl ab. Die Vergangenheit liegt
links auf dem Strahl, die Zukunft rechts, die Gegenwart ist ein flüchtiger Punkt. Ein alter
Semit hätte ein anderes Bild für die Darstellung der Geschichte gewählt: einen Kreis. Viele
wesentliche Dinge kehren immer wieder. […] Das führt auch zu einem anderen Verständnis von Texten, die Geschichte beschreiben. Sie werden nicht als mögliche exakte Wiedergabe eines vergangenen Zeitabschnitts verstanden, sondern als ein Ereignis, das sich in ähnlicher Weise mehrfach wiederholen kann und deshalb aufgeschrieben wird. Die Vergangenheit hat immer wieder eine Relevanz für die aktuelle Gegenwart, und deshalb wird sie berichtet. Geschichte ist – um die hier exaktere englische Ausdrucksweise aufzunehmen – nicht
history, sondern story.“6
Bestimmte schicksalsträchtige Vorgänge oder Verhaltensweisen wiederholen sich von Zeit
zu Zeit. So wird der große Fasttag Tischa be-Av, der 9. Av (Juli-August), als Datum verstanden, an dem eine Reihe von Unglücksfällen passierte, die mit der Exodusgeschichte
beginnen, die Zerstörungen des ersten und des herodianischen Tempels umfassen und in
der Zerstörung Jerusalems nach dem Bar-Kochba-Aufstand enden.7 Mit dem Tag werden
bis heute tragische Ereignisse in Verbindung gebracht, so der Gipfelpunkt der Vertreibung
der Juden aus Spanien am 31. Juli 1492, die Deportation der Juden aus Warschau nach
Treblinka 1942 oder die Bombardierung eines Gemeindezentrums in Argentinien 1994.8
5
6
7
8
Jacob Neusner, The Halakhah. Historical and Religious Perspectives, Leiden u.a. 2002, 141.
Wolfgang Zwickel, Das Heilige Land. Geschichte und Archäologie, München 2009, 15 f.
So z.B. in der Mischna Taanit 4.6 u.ö.
Vgl. https://www.chabad.org/library/article_cdo/aid/946703/jewish/What-Happened-on-theNinth-of-Av.htm (20.2.2019).
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Biblische Ereignisse sind Grundpfeiler immer wiederkehrender Erfahrung, im positiven wie im negativen Sinn, und nicht selten werden historische Ereignisse zum Ausgangspunkt für grundlegende ethisch-moralische Lehrtexte: Die mehrfach in der rabbinischen Tradition (u.a. im babylonischen Talmud Gittin 55b–56a) erzählte Version von
der Tempelzerstörung des Jahres 70 berichtet z.B. von einem Gastmahl, bei dem irrtümlich statt eines Mannes namens Qamtza der Feind des Gastgebers eingeladen worden
war, der Bar Qamtza hieß. Dieser irrtümlich Eingeladene wird trotz seines mehrfach
geäußerten Angebotes, Kosten des Gastmahls zu übernehmen, hinausgeworfen. Infolge
dieses Fehlverhaltens des Gastgebers rächt er sich, denunziert die Juden beim Kaiser, und
das Unglück nimmt seinen Lauf. Geschichte ist nie frei von Moral, im Gegenteil, sie spiegelt das Verhalten der Menschen wider, ist die direkte Folge des richtigen oder falschen
Handelns, ist Konsequenz und gleichzeitig nicht eindimensional. Auch wenn Israel durch
sein Fehlverhalten historische Schläge einstecken muss, werden die Vollstrecker nicht
verteidigt, nicht zu willenlosen Werkzeugen eines alles bestimmenden Gottes. Sie bleiben aktiv Handelnde, tragen ihre Schuld, werden zur Rechenschaft gezogen. Und selbst
Gott muss sich – beispielsweise von Rachel – wegen seines Vorgehens gegen Israel Kritik
gefallen lassen. Der Midrasch Klagelieder Rabba (Peticha 24) berichtet, wie angesichts
der Zerstörung des Tempels und der Exilierung Israels Gott selbst vom Entsetzen gepackt
ist, weil er Israel nicht schützte und den Feinden überließ. Sein Weinen und Wehklagen
ist Ausdruck seiner inneren Wandlung, der Erkenntnis, in seinem Strafgericht zu weit
gegangen zu sein. Vom Mitleid Gottes ist die Rede, als Rachel zu ihm geht und die Verbannung ihrer Kinder anklagt. Gott lässt auf den Einspruch Rachels sein Mitleid aufleuchten und verspricht Rettung.
Gute und böse Figuren der Bibel sind bleibende Erinnerungsträger und erlauben
beständig aktualisierende Neufüllungen. Esau-Edom wird mit Rom und dem Christentum identifiziert, Jakob selbstredend mit Israel. Die Geschichte der Ester – eine Rettung
aus tiefster Bedrohung in der Diaspora – wird immer neu adaptiert und findet Ausdruck
in Purimspielen.
Wie ein ewiger Kreislauf ineinander verwobener Ursachen und Wirkungen ist
Geschichte von der alten Zeit bis heute verzahnt. Dies lässt sich am eben genannten biblischen Esterbuch, das in der Tradition ausgiebig ausgestaltet wurde, gut demonstrieren.
Der vom Stamm Benjamin kommende König Saul hatte einst Agag, den König der Amalekiter (1 Sam 15) verschont, von dem schließlich Haman abstammt, der Israel nach dem
Esterbuch mit dem Genozid bedroht. Der Judäer David wiederum verschonte den ebenfalls aus Benjamin stammenden Schimi ben Gera (2 Sam 16), der ihn verflucht hatte.
Deshalb kann als dessen Nachfahre Mordechai erstehen, der Onkel der Ester, welcher
maßgeblichen Anteil an der Rettung der Juden vor dem Verbrecher Haman hat. Haman
selbst stammt also von Amalek ab, dem Enkel Esaus. Amalek ist für das Judentum Sinn-
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bild der Erinnerung und des Vergessens gleichzeitig. So heißt es in der Bibel, in Dtn
25,17–19:
„Denk daran, was Amalek dir unterwegs angetan hat, als ihr aus Ägypten zogt: wie er unterwegs auf dich stieß und, als du müde und matt warst, ohne jede Gottesfurcht alle erschöpften Nachzügler von hinten niedermachte. Wenn der HERR, dein Gott, dir von allen deinen
Feinden ringsum Ruhe verschafft hat in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, damit du es in Besitz nimmst, dann lösche die Erinnerung an Amalek unter dem
Himmel aus! Du sollst nicht vergessen.“
Die Grundfeindschaft wird in einer Grundsituation lokalisiert, dem Auszug aus Ägypten.
Die Verfolgung der unschuldigen Nachzügler, der Überfall auf die Schwächsten, ist Sinnbild des falschen Verhaltens. Amalek wurde so über die Jahrhunderte zur Identifikationsfigur für das grundlegend Böse, den skrupellosen Angreifer, den Vernichter. Immer neu
wird Amalek aufgeladen, identifiziert oder aber ins Symbolhafte verklärt oder verallgemeinert, wie dies mein Basler Kollege Alfred Bodenheimer in jüngerer Zeit mehrfach in
Vorträgen vor Augen geführt hat. Am Ende der Tage erst, in Verbindung mit dem Kommen des Messias, wird Amalek gänzlich besiegt. Das besagt nichts anderes, als dass Israel
mit dem Bösen leben muss. Saul hatte die Gelegenheit vertan, Amalek und damit die Bedrohung ein für alle Mal zu vernichten. Als geschichtliches Phänomen hat Amalek überlebt.
Jede Generation ist daher aufgefordert, die Erinnerung auszulöschen und gleichzeitig
nicht zu vergessen. Dies kennzeichnet die in der Antike bekannte abolitio nominis, bei
uns besser bekannt unter dem Begriff der damnatio memoriae („Verdammung des Andenkens“). Dabei wurde der Name der Person, deren Erinnerung ausgelöscht werden sollte,
ausradiert, herausgemeißelt. Wie Charles Hedrick überzeugend darstellte, sollte dieser
Akt jedoch keineswegs dazu dienen, die Person vergessen zu machen, sondern gerade
durch die Auslöschung und Verfluchung des Namens wurde das Gedächtnis bewusst
wachgehalten.9
Die oft verwendete alte hebräische Formel „jimach schmo (we zikhro)“, die so viel
besagt wie „möge sein Name (und sein Gedächtnis) ausgelöscht werden“, wurde und wird
häufig angehängt, wenn Verbrecher benannt werden. Auch hier ist die damnatio memoriae in der doppelten Bedeutung gegenwärtig. In der Auslöschung liegt Verachtung, Verurteilung, aber gleichzeitig auch eine beständige Mahnung.
So bedeutet das Nichtvergessen nichts anderes als Erinnerung an Amaleks Verbrechen, das Löschen der Erinnerung aber das Austilgen seiner ‚Verehrung‘ genauso wie
9
Charles W. Hedrick Jr., History and Silence. Purge and Rehabilitation of Memory in Late Antiquity, Austin 2000.
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seiner möglichen unangebrachten Überhöhung, Verteufelung oder Dämonisierung. Da
man auf das ‚Phänomen‘ Amalek immer vorbereitet sein muss, darf es nicht aus den strategischen Überlegungen verschwinden, wohl aber aus den Herzen. Das Verbrechen bleibt
für alle Generationen gegenwärtig, der Verbrecher bleibt erkennbar, auch wenn er keine
Erwähnung verdient.
Die jüdische Tradition bietet noch eine weitergehende Lösung der scheinbaren Aporie von Erinnern und Austilgen an. Der babylonische Talmud (Gittin 57b und Sanhedrin
96b) berichtet davon, dass die Enkel Hamans, also des Nachfahren Amaleks aus dem
Esterbuch, in Bnei Brak Tora unterrichten würden. Indem Amaleks Nachfahren jüdische
Gelehrte wurden, verschwand der alte Amalek, verwandelte sich in eine andere, neue,
zukunftsträchtige Persönlichkeit als Teil Israels. Auf diese Weise wurde es möglich, dass
die Nachkommen der Täter*innen die Erinnerung an die Verbrechen und das Austilgen
der Erinnerung an Amalek einmahnen konnten. Der radikale Bruch mit einer Vorgeschichte und der Eintritt in eine neue Identität sind jederzeit möglich, sofern sie aus ehrlicher Überzeugung geschehen.
Die Aufgabe einer Erinnerungskultur ist klar umrissen. Sie bewahrt das Gedächtnis
im positiven Sinn wie die Erinnerung an die verschiedenen negativen Ereignisse, Haltungen und Ideologien. Sie plädiert dabei aber auch für ein Vergessen im Sinne einer
bewussten und gezielten ‚Entzauberung‘ der Faszination des Negativen.
Ich möchte an dieser Stelle noch ein weiteres Beispiel anführen. In einer längeren
Erzählung im palästinischen Talmud wird die Geschichte der Gibeoniten aufgegriffen,
die nach dem biblischen Buch Josua durch eine List erreichen, dass sie von den Israeliten
bei der Landnahme verschont werden. Sie geben sich als Fremde aus, obwohl sie Bewohner des Landes sind, und werden in Israel integriert. Jahrhunderte später versucht Saul
die Gibeoniten zu töten. Daraufhin lässt Gott eine Hungersnot im Land ausbrechen, aus
der erst David das Volk befreien kann, indem er den Gibeoniten Rache für die Taten Sauls
gestattet und ihnen sieben Männer aus der Verwandtschaft Sauls ausliefert. Diese sehr
komplexe Geschichte wird von den Rabbinen in Qidduschin 4,1,65b-c aufgegriffen und
zu einer Lehrerzählung umgewandelt. In ihr möchte David die Gibeoniten davon abhalten, von der Rache Gebrauch zu machen.
„David schickte (nach ihnen) und sagte zu ihnen: ‚Was ist (zwischen) euch und dem Hause
Saul?‘ Sie sagten zu ihm: ‚Weil er sieben Männer von uns getötet hat: zwei Holzhauer, zwei
Wasserträger und (jeweils) einen (Synagogen-)Aufseher, einen Schreiber und einen (Synagogen-)Diener.‘ Er sagte zu ihnen: ‚Was wollt ihr nun?‘ Sie sagten zu ihm: ‚Es sollen uns sieben Männer von seinen Nachkommen gegeben werden, und wir wollen sie (zum Tode) aussetzen vor dem HERRN zu Gibea von Saul, den Auserwählten des HERRN‘ (2 Sam 21,6).
Er sagte zu ihnen: ‚Was für einen Nutzen habt ihr, wenn sie getötet werden? Nehmet euch
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(stattdessen) Silber und Gold.‘ Sie sagten: ‚Es ist uns nicht gelegen an Silber [und Gold] bei
Saul und seinem Hause‘ (2 Sam 21,4). Er sagte: Vielleicht schämt sich die Hälfte vor der
anderen Hälfte, so nehme ein jeder (einzeln) von ihnen und man besänftige sich vor sich
selbst. Und er sagte (erneut) zu ihm (d.h. dem Einzelnen): Was für einen Nutzen hast du,
wenn sie getötet werden?! Nimm dir (stattdessen) Gold und Silber. Aber (der Betreffende)
sagte: ‚Es ist uns nicht gelegen an Silber [und Gold] bei Saul und seinem Hause‘ (2 Sam 21,4).
‚Es ist mir nicht (daran) gelegen steht (wörtlich) geschrieben.‘
In jenen Stunden sagte David: Drei gute (Charakter-)Gaben gab der Heilige, gepriesen sei
Er, Israel: sie sind barmherzig, schamhaft und voller guter Taten. Sie sind barmherzig. Woher
(ist dies zu belegen)? (Es steht geschrieben:) ‚Und er (= Gott) wird dir Barmherzigkeit geben‘
(Dtn 13,8). Sie sind schamhaft. Woher (ist dies zu belegen)? (Es steht geschrieben:) ‚[Und
Mose sagte zum Volk: Fürchtet euch nicht! Denn Gott ist gekommen, um euch zu prüfen],
und damit die Furcht vor ihm auf euren Gesichtern sei, [auf dass ihr nicht sündigt]‘ (Ex
20,20). Dies ist ein Zeichen für den Schamhaften, dass er nicht sündigt. Und bei jedem, der
keine Scham des Gesichtes hat, ist es sicher, dass seine Väter nicht am Berg Sinai gestanden
haben. Sie sind voll guter Taten. Woher (ist dies zu belegen)? (Es steht geschrieben:) ‚Der
HERR, dein Gott, wird dir den Bund und die Wohltat bewahren‘ (Dtn 7,12). Aber jene (guten
Gaben) war(en) bei ihnen (= den Gibeoniten) nicht (zu finden), nicht eine (!) von ihnen;
sofort trat (David) auf und hielt sie (vom Altar) fern, denn es steht geschrieben: ‚Und die
Gibeoniten waren nicht von den Kindern Israels (2 Sam 21,2). Auch Esra hielt sie (vom Altar)
fern […]. Und auch zukünftig wird der Heilige, gepriesen sei Er, sie (vom Altar) fernhalten‘.“10
Davids Einsatz für sein Volk wird hier besonders betont. Der Text enthält eine Reihe von
spannenden und zukunftsweisenden Bezügen zur Identität Israels und zur Frage des
Umgangs mit Geschichte. Die Gibeoniten werden als Proselyten markiert, deren Konversion zu Israel aber mit großen Mängeln versehen ist. So lehnen die Rabbinen die von
den Gibeoniten eingeforderte Blutrache bzw. Sippenhaftung ab. Das Angebot von Gold
und Silber durch David entspricht der rabbinischen Auffassung in Bezug auf die Talion,
wonach zugefügter Schaden durch Finanzleistung kompensiert werden muss (z.B. der
Wert eines Auges für das Auge etc.). In der Erzählung werden Grundlagen für die Zugehörigkeit zu Israel ausgearbeitet. Demnach bedarf es bestimmter charakterlicher Eigenschaften wie Barmherzigkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und des Tuns guter Taten,
die den Gibeoniten fehlen, weshalb sie nicht zum inneren Kreis des Judentums gehören
können. Es geht demnach um Abgrenzung in einem komplexen Sinn, ohne dass hier
religiöse Elemente oder Glaubensfragen behandelt würden. Die Zugehörigkeit ergibt sich
10 Übersetzung mit leichten Änderungen nach: Heinz-Peter Tilly (Übers.), Qiddushin = Antrauung (Übersetzung des Talmud Yerushalmi 3.7), Tübingen 1995.
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ausschließlich aus dem richtigen oder falschen Verhalten und hat ihre Wurzeln in der
Geschichte. Während die Gibeoniten aufgrund ihres Verhaltens als Konvertiten versagen, werden andere zu bedeutenden Hoffnungsträgern. Dazu gehört die Konvertitin Rut,
die Urgroßmutter Davids, ebenso wie Rachav, jene Prostituierte, die nach Jos 2 den israelitischen Kundschaftern in Jericho vor den Verfolgern Unterschlupf gewährt. Nach dem
Talmud Megilla 14b heiratet sie niemand Geringeren als Josua, den wichtigsten Mann
der Epoche. Aus der Ehe stammt in weiterer Folge schließlich Hulda, eine der bedeutendsten Prophetinnen, aber auch der Prophet Jeremia und eine Reihe von Priestern ab.
Gedächtnisstiftende Personen der Bibel werden konsequent mit Figuren und Namen
identifiziert, die in biblischen Texten vorkommen, jedoch keine weitere Beachtung mehr
finden. Aber da die Bibel nach rabbinischer Ansicht ein vollkommener Text ist, muss
jeder Name gedeutet werden. So kommt es, dass z.B. Miriam, die Schwester von Mose
und Aaron, gleich eine Fülle von Namen bekommt. So deutet man die etwas sperrigen
und mit vielen Namen versehenen Texte aus dem Chronikbuch auf bedeutende Persönlichkeiten wie sie. Wenn es etwa in 1 Chr 2,18 f heißt: „Kaleb, der Sohn Hezrons, zeugte
mit seiner Frau Azuva und der Jeriot … Als Azuva starb, heiratete Kaleb Efrata, die ihm
den Hur gebar“, so identifiziert man Azuva und Efrata im talmudischen Traktat Sota 12a
mit Miriam. Sie hieß Azuva – auf Hebr. Verlassene –, weil sie nach dem Numeribuch
Mose kritisierte und dafür von Gott mit Aussatz bestraft wurde und gemieden wurde.
Nach ihrer Genesung jedoch wurde sie von Kaleb geheiratet und gebar ihm als gewissermaßen ‚Neugeborene‘ einen Sohn. Ihr Name ist dann Efrata, was Fruchtbare bedeutet.
In 1 Chr 4,5–7 heißt es: „Aschhur, der Vater Tekoas, hatte zwei Frauen, Hela und Naara.
[…] Die Söhne der Chela waren: Zeret, Zohar und Etnan.“ Die Rabbinen interpretieren
in Sota 12a:
„Aschhur ist Kaleb: und warum wurde er Aschhur genannt? Weil sein Gesicht sich verdunkelte durch das viele Fasten. ‚Der Vater‘ – weil er wie ein Vater für sie (Miriam) wurde. ‚Tekoa‘
– weil er sein Herz an den Vater im Himmel heftete (taka). ‚Hatte zwei Frauen‘ – das bedeutet, dass Miriam wie zwei Frauen wurde. ‚Chela und Na’ara‘ – sie war sowohl Chela als auch
Na’ara, denn zuerst war sie Chela (hebr. krank) und zum Schluss wurde sie Na’ara (hebr. junges Mädchen). ‚Die Söhne der Chela waren: Zeret, Zohar und Etnan.‘ ‚Zeret‘ – (Miriam wird
so genannt,) weil sie zur Rivalin (hebr. zara) ihrer Zeitgenossinnen wurde (durch ihre Erscheinung). ‚Zohar‘ – weil ihr Gesicht (strahlend) wie der Mittag wurde (hebr. zohorajim). ‚Etnan‘
– weil jeder, der sie sah, seiner Frau ein Geschenk (hebr. etnan) machte.“
Es geht an dieser Stelle nicht einfach nur um ein intellektuelles Spiel mit Namen, sondern
um eine zutiefst bedeutsame Interpretation der religiösen, sozialen und kulturellen Bedeutung von Figuren aus der biblischen Geschichte. Miriam hat nach rabbinischer Ansicht
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schon als Kind durch ihren eminenten Einsatz und ihr rebellisches Auftreten gegenüber
ihren Eltern dafür gesorgt, dass diese nicht aufgehört haben, Kinder zu zeugen. Nur so
konnte Mose entstehen. Dieser Einsatz wird ihr im Alter gelohnt. Sie wird auf wunderbare Weise wieder jung und fruchtbar. Mögen solche Erzählungen märchenhaft erscheinen und in ihrer literarischen Kunstfertigkeit als grandiose Fingerübung der Rabbinen
daherkommen, so steckt in ihnen ein wichtiges Element der Erinnerungskultur. Man
erinnert sich an bedeutende Persönlichkeiten, an herausragende kulturstiftende, existenzsichernde role models. Diese können sich durch besondere Gelehrsamkeit, Klugheit,
aber auch durch ihr soziales und ethisches Handeln auszeichnen. Dabei ist letztlich unerheblich, was sie vor ihren wichtigen und für die Existenz Israels bedeutsamen Taten
waren. Ob unschuldiges Kind wie Miriam oder Prostituierte wie Rachav – entscheidend
ist das Verhalten.
Gedächtnis und Erinnerung beziehen sich nicht nur auf dunkle Epochen und Perioden der Bedrohung, sondern ebenso auf die unzähligen positiven Erfahrungen, Ereignisse und Errungenschaften. Gedächtniskultur erinnert an die vielen kleinen und großen
Schritte in der Geschichte und damit natürlich an die Menschen, denen wir sie zu verdanken haben. Auch dazu hat die jüdische Tradition vieles zu sagen, redet vom Neuen
unter beständiger Wertschätzung der Überlieferung, verlangt Innovation und Bewahrung der Erinnerung, greift immer wieder auf die bewährten Vorbilder zurück, um Neues zu umschreiben. In einem berühmten Talmudabschnitt (Menachot 29b) lauscht Mose
nach seinem Tod im himmlischen Lehrhaus der Auslegung des Rabbi Aqiva, eines wichtigen Gelehrten des 2. Jahrhunderts. Für Mose ist dies neu, obwohl Aqiva nichts anderes
tun will, als die Botschaft des Mose wiederzugeben. Selbst wenn also nach dem biblischen
Wort des Kohelet eigentlich „nichts Neues unter der Sonne“ existiert, so ist doch jede
Generation aufgefordert, Neues hervorzubringen, vielleicht gerade indem sie das Vorhandene neu deutet und auf innovative Weise zur Geltung bringt.
So steht zudem alle Wissenschaft auf der Basis vorhandener Gelehrsamkeit. Nicht alles
kann und muss bewahrt werden, selbst dazu hat die jüdische Tradition ihre Erkenntnisse beizutragen. Vieles ging verloren, wurde vergessen, manches scheint nicht mehr zeitgemäß und ist es auch nicht. Der eine oder andere Zugang kann sogar verworfen werden,
abgelehnt oder aber, obwohl nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entsprechend,
immerhin als für eine frühere Zeit gültig gewürdigt werden. Auch das ist Erinnerungskultur. Als der Jerusalemer Tempel bestand, drehte sich alles um ihn, um den Kult, die
Opfer. Nachdem er zerstört worden war, gelang es erstaunlich gut, den Verlust wettzumachen, indem neue zentrale Identifikationsmodelle entstanden, vor allem die Beschäftigung mit der durch die Gelehrten vermittelten Lehre der Tora. Der Tempel blieb im
kollektiven Gedächtnis gegenwärtig, die Erinnerung an ihn ersetzte das reale Opfer, und
neue Orte der Liturgie und des Gebets wie die Synagoge wurden neben dem Lehrhaus
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zu Zentren der Gemeinschaft und der Weitergabe und Entwicklung jüdischer Tradition.
Feste und Feiern entwickelten sich in beständiger Adaption in Auseinandersetzung mit
Christentum und Islam. Manchmal genügt es nicht, Altes zu adaptieren, dann braucht
es neue Feiern und Feste, neue Erinnerungszeichen und -wege. Das bezeugen etwa das
nachbiblische Fest Chanukka oder der Jom ha-Schoah (im Gedenken an die Opfer der
Shoah und den Widerstand).
In jedem Fall braucht es Orte der Bildung, in denen jede Generation ihre Chance
erhält, zu lernen, Wissen zu erwerben. Denn ohne sie ist Erinnerung unmöglich, versiegt
der Strom der Überlieferung und kann Neues nicht wachsen. Wer nicht zu fragen weiß
und die Neugierde verliert, wird ebenfalls nicht am Strom der Überlieferung teilhaben,
wie es die Erzählung um die Nachfolge des Mose im babylonischen Talmud Temura
15b–16a deutlich ausdrückt:
„Rabbi Jehuda sagte im Namen Ravs: Als Mose in den Garten Eden einging, sagte er zu Josua:
Befrage mich über alles, was dir zweifelhaft erscheint. Er antwortete ihm: Mein Meister!
Habe ich dich je auch nur eine Stunde verlassen und bin an einen anderen Ort gegangen?
Steht nicht im Hinblick auf mich in der Tora: ‚Aber sein Diener Josua, der Sohn Nuns, wich
nicht vom Zelt‘ (Ex 33,11). Sofort verließ Mose seine Kraft und er (Josua) vergaß 300 Halachot und 700 Zweifel kamen ihm. Darauf standen alle Israeliten auf, um ihn zu töten. Der
Heilige, gepriesen sei Er, sagte zu ihm (Josua): Es ist unmöglich zu dir zu sprechen. Geh und
beschäftige sie mit Krieg, wie es heißt: ‚Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben
war, sagte der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, dem Diener des Mose: Mein Knecht Mose
ist gestorben. Mach dich also auf den Weg und zieh über den Jordan hier mit diesem ganzen
Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde!‘ (Jos 1,1–2).“
Die jüdische Tradition hat Bildung als eines der höchsten Ziele menschlicher Entwicklung starkgemacht. Bildung dient dabei der Heranbildung einer umfassend von ihr durchdrungenen Gesamtpersönlichkeit, die nicht nur Fachwissen besitzt, sondern ethisch zu
handeln versteht. Im obigen Beispiel ist Wissen der Kriegsführung bei Weitem überlegen, was natürlich ebenso etwas aussagt über die rabbinische Sichtweise auf bewaffneten
Widerstand und Militarismus. Aber Wissen ist nicht neutrales erlerntes Handwerkszeug
zur Berufsausübung, sondern umfassender Menschen bildender Lebensmittelpunkt.
Wissen macht den Menschen sensibel für das Richtige und Gute, wenngleich es ihn nicht
davon abhält, das Böse zu wollen, ihm aber die ‚Waffe‘ in die Hand gibt, diesen in ihm
liegenden Teil zu besiegen. Die Frage, inwieweit durch Aufklärung und Wissensvermittlung Menschen beeinflusst werden (können) – auch in ihrer Einstellung etwa gegenüber
dem Judentum –, ist schwierig zu beantworten. Die Judaistik hat den Anspruch vor allem
in ihren Anfängen mit Sicherheit erhoben und sich als eine Institution verstanden, die
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durch Bildung Einstellungen prägen will. Ich meine, dass sich kulturwissenschaftlich
agierende Judaistik und Jüdische Studien heute ebenfalls nicht auf einen neutralen Punkt
der Beschreibung und Analyse von Phänomenen zurückziehen dürfen. Ihr eminent
gesellschaftspolitischer und erzieherischer Anspruch bleibt bestehen, selbst wenn sich
die Mittel und die Methoden, mit denen Lehre und Forschung sich präsentieren, wandeln und der Anspruch auf Menschenbildung subtiler wird. Die beständige Selbstreflexion ist notwendig und geschieht in dauerndem Austausch mit den Nachbardisziplinen.
Als Anliegen, dem sich die Judaistik und die Jüdischen Studien in besonderer Weise verschreiben, bleibt der in der universitären Gelöbnisformel ausgedrückte Anspruch, „nach
bestem Wissen und Gewissen zur Lösung der Probleme der menschlichen Gesellschaft
beizutragen“.
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