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Bewahren – Vergessen – Erinnern

2019, Außerordentliches

BEWAHREN-VERGESSEN-ERINNERN VON DER AUFGABE EINER ERINNERUNGSKULTUR AM BEISPIEL DER RABBINISCHEN TRADITION Es ist mir naturgemäß eine große Ehre, meinem verehrten Kollegen, Freund und langjährigen Weggefährten am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte, Albert Lichtblau, einen Beitrag zu seinem Geburtstag zu widmen. Albert Lichtblaus Expertise, seine umfassenden Studien in den Bereichen Erinnerungskultur, Oral History und Genozidforschung, paaren sich mit einer herausragenden Persönlichkeit, der im positivsten Sinne jegliche Allüre fehlt und die in so erfrischender Weise hemdsärmelig daherkommt, wie es für wahrhaft große Wissenschaftler, die Eitelkeit nicht nötig haben, vorbildlich ist. Über sechs Jahre haben wir gemeinsam am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte in Salzburg gearbeitet, kannten uns längst vorher, haben dieses Zentrum mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen aufgebaut. Im folgenden Beitrag möchte ich ein Thema aufgreifen, das Albert Lichtblau seit Langem beschäftigt, Erinnerung. An wenigen Beispielen versuche ich, ein paar Impulse dazu aus meinem Fach zu geben, der Judaistik mit Schwerpunkt auf rabbinische Literatur. Ich beginne mit einer Erzählung: Es war einmal ein reicher, frommer, aber kinderloser Mann. Auch im fortgeschrittenen Alter hörte er nicht auf, um einen Sohn bei Gott zu bitten. Nach vielen Gebeten wurde er schließlich erhört und bekam tatsächlich den ersehnten Sohn. Er erzog ihn im Sinne der Tradition und trug ihn auf seinen Schultern zum Lehrhaus. Er gab dem Lehrer den Rat, seinem Sohn das biblische Buch Genesis nahezubringen, jenes Werk, das von der Ehre Gottes handelt, des Schöpfers der Welt und Erhalters aller Völker. Als der Sohn größer wurde und sich bereits allein auf den Schulweg machte, fiel er Räubern in die Hände, die ihn in ein fremdes Königtum brachten, das Buch Genesis in Händen. Als der Knabe sich bereits einige Jahre als Sklave am Königshof aufhielt, erkrankte der König des Reiches. Er wünschte, dass man ihm ein Buch aus der Bibliothek bringe. Die Wahl fiel durch Zufall auf Genesis. Da aber keiner am Hof dieses Buch zu lesen und auszulegen vermochte, holte man den Jungen, der schließlich vom König reich belohnt wurde und wieder nach Hause zurückkehren durfte. Diese Geschichte, hier kurz nacherzählt, wird in einem mittelal

Gerhard Langer BEWAHREN – VERGESSEN – ERINNERN VON DER AUFGABE EINER ERINNERUNGSKULTUR AM BEISPIEL DER RABBINISCHEN TRADITION Es ist mir naturgemäß eine große Ehre, meinem verehrten Kollegen, Freund und langjährigen Weggefährten am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte, Albert Lichtblau, einen Beitrag zu seinem Geburtstag zu widmen. Albert Lichtblaus Expertise, seine umfassenden Studien in den Bereichen Erinnerungskultur, Oral History und Genozidforschung, paaren sich mit einer herausragenden Persönlichkeit, der im positivsten Sinne jegliche Allüre fehlt und die in so erfrischender Weise hemdsärmelig daherkommt, wie es für wahrhaft große Wissenschaftler, die Eitelkeit nicht nötig haben, vorbildlich ist. Über sechs Jahre haben wir gemeinsam am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte in Salzburg gearbeitet, kannten uns längst vorher, haben dieses Zentrum mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen aufgebaut. Im folgenden Beitrag möchte ich ein Thema aufgreifen, das Albert Lichtblau seit Langem beschäftigt, Erinnerung. An wenigen Beispielen versuche ich, ein paar Impulse dazu aus meinem Fach zu geben, der Judaistik mit Schwerpunkt auf rabbinische Literatur. Ich beginne mit einer Erzählung: Es war einmal ein reicher, frommer, aber kinderloser Mann. Auch im fortgeschrittenen Alter hörte er nicht auf, um einen Sohn bei Gott zu bitten. Nach vielen Gebeten wurde er schließlich erhört und bekam tatsächlich den ersehnten Sohn. Er erzog ihn im Sinne der Tradition und trug ihn auf seinen Schultern zum Lehrhaus. Er gab dem Lehrer den Rat, seinem Sohn das biblische Buch Genesis nahezubringen, jenes Werk, das von der Ehre Gottes handelt, des Schöpfers der Welt und Erhalters aller Völker. Als der Sohn größer wurde und sich bereits allein auf den Schulweg machte, fiel er Räubern in die Hände, die ihn in ein fremdes Königtum brachten, das Buch Genesis in Händen. Als der Knabe sich bereits einige Jahre als Sklave am Königshof aufhielt, erkrankte der König des Reiches. Er wünschte, dass man ihm ein Buch aus der Bibliothek bringe. Die Wahl fiel durch Zufall auf Genesis. Da aber keiner am Hof dieses Buch zu lesen und auszulegen vermochte, holte man den Jungen, der schließlich vom König reich belohnt wurde und wieder nach Hause zurückkehren durfte. Diese Geschichte, hier kurz nacherzählt, wird in einem mittelal- © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 134 | Gerhard Langer terlichen Midrasch, einer gelehrten jüdischen Auslegung zu einem biblischen Text, in diesem Fall zu den Zehn Geboten (Asseret ha-dibrot),1 überliefert. Eine seiner Botschaften ist, dass der, der lernt, das Gelernte erinnert und es auszulegen vermag, am Ende belohnt wird. Mehr noch: An dieser Stelle wird das Buch Genesis besonders hervorgehoben, das in der Lernabfolge traditionell nicht am Anfang steht. Vielmehr soll man mit dem Buch Levitikus zu lernen beginnen, einem Text, der von der Heiligkeit Gottes, des Kults, des Menschen, von Reinheit und Unreinheit, von Schuld und Sühne handelt, ein Buch, in dem vor allem Israel als heiliges Volk ganz in die Nähe Gottes gerückt wird und sich gerade nicht mit anderen Völkern mischen oder ihre Gebräuche übernehmen soll. Anders das Buch Genesis, das schon von Beginn an verdeutlicht, dass alle Menschen vor Gott gleich sind, dass die Völker ihre eigene Geschichte haben, dass Israel seinerseits segensreich für die ganze Welt wirkt. Somit propagiert dieser Midrasch auch die Verbindung zu den Völkern, das Leben mit ihnen, den regen Austausch über die Quellen der Kultur. Ein anderer Midrasch aus etwa derselben Zeit erzählt eine weitaus traurigere Geschichte. Elle ezkera spielt zur Zeit der römischen Herrschaft und nach der Niederschlagung des Aufstandes von 132–135 n. Chr. (Bar Kochba).2 Der römische Kaiser beschließt, das Gesetz des Mose gemeinsam mit Weisen und Ältesten zu lesen, beginnend mit dem Buch Genesis. Als er die Bibelstelle Ex 21,16 erreicht, wo es heißt: „Wer einen Menschen raubt, gleichgültig, ob er ihn verkauft hat oder ob man ihn noch in seiner Gewalt vorfindet, wird mit dem Tod bestraft“, erinnert er sich an die Geschichte von Josef, den seine Brüder verkaufen und der schließlich am pharaonischen Hof landet. Diesen Text hat der Kaiser bereits in der Genesis gelesen. Er lässt daraufhin den Palast mit Schuhen füllen, um an das Bibelwort Am 2,6 zu erinnern („So spricht der HERR: Wegen der drei Verbrechen, die Israel beging, wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen für ein Paar Sandalen“), und die zehn bekanntesten jüdischen Gelehrten holen. Er fragt sie, welche Strafe einen Menschen ereilen soll, der einen anderen stiehlt und verkauft, und bekommt die entsprechende Antwort, dass ein solcher Mensch des Todes schuldig sei. Der Kaiser entscheidet darauf, dass die Gelehrten sterben sollen. Sie werden für den Verkauf Josefs durch seine Brüder als entfernte Verwandte in einer Art Generationenhaftung verantwortlich gemacht und hingerichtet. In diesem Fall erweist es sich als fatal, dass der König, man denke an einen Nachfahren des im ersten Midrasch genannten Herrschers, Kenntnis des Buches Genesis hatte. Hätte 1 2 Vgl. Anat Shapira (Hg.), Midrash Aseret ha-Dibrot (A Midrash on the Ten Commandments). Text, Sources and Interpretation, Jerusalem 2005. Elle ezkera, auch Aseret haruge malchut („Die zehn Märtyrer“) genannt. Er handelt von den zehn Märtyrern der rabbinischen Frühzeit, darunter Rabbi Aqiva und Chanina ben Teradjon. Vgl. Gottfried Reeg (Hg.), Die Geschichte von den Zehn Märtyrern. Synoptische Edition mit Übersetzung und Einleitung, Tübingen 1985. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 Bewahren – Vergessen – Erinnern | 135 man die jüdische Tradition vor dem fremden Gebieter fernhalten sollen? Erzählungen wie diese stellen nur einen winzigen Teil dessen dar, womit sich Judaistik und Jüdische Studien beschäftigen, und gleichwohl steckt in ihnen ein Mikrokosmos jüdischer Kultur und Geschichte. Beide Erzählungen eint eine gemeinsame Grundlage. Judentum basiert auf der Weitergabe von Lehre, auf dem Stoff der Überlieferung, aus der hebräischen Bibel. Sie ist gültig bleibende Lebensweisung. Über viele Generationen weitergegeben und in ihrer Auslegung aktualisiert, bildet sie einen zentralen Lernstoff, der noch durch eine Fülle von weiteren Stoffen ergänzt wird. Die Bibel ist freilich mehr als nur Text, sie ist theologische Urkunde ebenso wie Basis juristischer Entscheidungen, Darlegung jüdischer Geschichte, die sich in ihren Grundzügen wiederholt, Lebensweisheit und -orientierung. An die Welt vermittelt, bringt sie im ersten Fall Segen, im zweiten den Tod. Darin spiegelt sich das zentrale Dilemma einer Kultur wie der jüdischen, die über weite Strecken ihrer Existenz Teil eines größeren, eines umfassenderen Kulturraumes war, eines paganen, christlichen oder muslimischen, säkular(istisch)en, kommunistischen usw. oder einer Gemengelage verschiedener unterschiedlicher Einflüsse. Paradigmatisch steht das Judentum für eine Minderheit, die gleichzeitig akkulturierender Teil eines größeren Kontextes ist und sich selbst zu beschreiben, zu definieren, zu strukturieren bestrebt bleibt. Sollte man sich öffnen, die eigenen Ideen teilen, einen Beitrag zur Weltkultur leisten und selber einer sein oder aber, wie es der zweite Midrasch suggeriert, die Überlieferung als ausschließliches Gut für Israel eifersüchtig hüten und den Kontakt mit den „Anderen“ weitgehend meiden? Die Antwort bleibt offen, und die Zonen dazwischen sind vielfältig und bunt. Denn das Judentum bewahrt seine Identität gerade dadurch, dass es diese immer neu zu definieren versucht, in Abgrenzung und gleichzeitiger Akkulturation. Es ist heute weitgehend bekannt, dass aus dem Judentum die zentralen Impulse für das Christentum und den Islam stammen, weniger aber, dass umgekehrt zu allen Zeiten das Judentum sich von den jeweiligen großen Kulturen, natürlich vom Christentum und dem Islam, aber ebenso von der persischen Kultur und – nicht zuletzt in den Bereichen der Erzählungen – darüber hinaus gehenden Kulturräumen maßgeblich beeinflussen ließ. Recht, Philosophie, aber auch Theologie und Ethik waren Teil eines umfassenden kulturellen Einflussbereiches, dem sich das Judentum nicht entzog, sondern an dem es im Gegenteil aktiv mitwirkte, von dem es vieles übernahm, wobei es eigenständige Akzente setzte. Umso mehr wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, wie weit der Austausch, die Einbindung in die jeweilige Kultur, gehen sollte und durfte, ohne in Gefahr zu geraten, wie es etwa im chinesischen Judentum geschah, einfach in der umgebenden Welt aufzugehen oder umgekehrt, keinerlei Möglichkeit zu bekommen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und für den eigenen Glauben verfolgt zu werden. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 136 | Gerhard Langer Judaistik oder Jüdische Studien als Fächer einer Universität, als Teil einer kulturwissenschaftlich orientierten Forschung und Ausbildung untersuchen dieses Phänomen in einem umfassenden und verschiedene Disziplinen umspannenden Zusammenhang und sind grundsätzlich für alle offen. Im Unterschied zu einer theologischen Lehranstalt oder einer Jeschiwa, also einer religiösen Akademie, blicken sie auf ihren Gegenstand mit der Verpflichtung auf eine ideologiefreie und religiös offene Außensicht, ohne dies als ‚wertfrei‘ oder ‚objektiv‘ misszuverstehen. Kein Fach ist frei von Überzeugungen und grundlegenden Übereinkünften, wie etwa der Ablehnung jeglicher Form des Antijudaismus oder des Antisemitismus, auch im Hinblick auf einen modernen Antizionismus. Gleichzeitig sichern sich Judaistik und Jüdische Studien durch Methodenvielfalt und beständigen Austausch am internationalen Wissenschaftsdiskurs eine Distanz zu vorschneller Vereinnahmung und eine Neutralität gegenüber verschiedenen Gruppierungen in- und außerhalb des jüdischen Spektrums. Sie untersuchen die kulturellen, gesellschaftlichen, historischen Kontexte des Judentums über die Jahrhunderte, sie sind gebunden an eine Kenntnis verschiedener Sprachen, vor allem des Hebräischen, aber überdies des Griechischen, Aramäischen, Jiddischen, Judenspanischen etc. Sie sind quellenorientiert, wobei der Begriff der Quelle hier sehr weit gefasst ist und materielle wie schriftliche, mündliche und filmische Zeugnisse umfasst. Einer breiten Öffentlichkeit ist es bewusst, dass die jüdische Tradition sich als eine Kultur der Erinnerung versteht. So wurde vor allem durch Yosef H. Yerushalmis gleichnamiges Buch der hebräische Begriff „Zachor“ („Erinnere dich“) zu einem häufig zitierten Synonym für die Bedeutung des Gedenkens und Erinnerns.3 Das Judentum als Erinnerungskultur par excellence zu umschreiben, mag eine Verkürzung des viel umfassenderen Gewebes jüdischer kultureller Identität sein, trifft aber zweifelsfrei einen bedeutenden Teil. Judaistik und Jüdische Studien reihen sich in die Disziplinen ein, die das Erinnern als kollektive Notwendigkeit einmahnen, darunter nicht zuletzt die Zeitgeschichte. Es gilt, die gesellschaftlichen ‚Wunden‘ aufzudecken und sie dadurch zu heilen zu versuchen, dass man sie in schonungsloser Therapie behandelt und aufarbeitet. Dabei muss man – gemeinsam mit Soziologie, Geschichte und Psychologie etc. – in die tieferen Schichten dringen, in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die dazu beigetragen haben, dass diese Wunden, um im Bild zu bleiben, geschlagen wurden. Sie gehen aber noch einen Schritt weiter, indem sie die religiös-kulturellen Quellen befragen, die über viele Jahrhunderte jüdische Erinnerung transportiert haben, um durch sie zu lernen, sie auszuwerten, sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zuallererst braucht es demnach in allen Bereichen intensive Quellenstudien. Dankenswerterweise ist es in den 3 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 Bewahren – Vergessen – Erinnern | 137 letzten Jahrzehnten ruhig geworden um eine lakrimose Geschichtsschreibung, in der Jüdinnen und Juden ausschließlich als Opfer einer jahrhundertelangen (diasporischen) Unterdrückungs- und Verfolgungserfahrung präsentiert wurden. Ohne dass das Pendel ins Gegenteil umschlagen darf – man muss vor einer Verherrlichung der ‚hybriden‘ Diasporaerfahrung dringend warnen –, lassen sich die Wolken einer negativen Erinnerung durch die sonnigen Perspektiven einer selbstbewusst eigenständigen und gleichzeitig ungemein vernetzten Kultur beschreiben. In den Anfängen war etwa die Wiener Judaistik, an der ich jetzt tätig bin, immerhin in der Nachkriegsgeschichte im deutschen Sprachraum in einer Vorreiterrolle, getragen von dem Bemühen, durch Wissen um das und Lernen aus dem Judentum vorhandene Vorurteile abzubauen, nach dem Schrecken der Shoah vor allem ein nichtjüdisches Publikum – christlich geprägt – zu sensibilisieren. Hand in Hand mit Initiativen des jüdischchristlichen Dialogs war die Judaistik Teil eines Informationsprozesses nach der Shoah, der zweifellos auch zu einem Wandel innerhalb der Kirchen beitrug, der sich u.a. im katholischen Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965 mit dem Titel Nostra aetate dokumentierte, in dem das Judentum in positiven Farben gezeichnet wurde. Wie zufällig fiel die 50-jährige Erinnerung an dieses Dokument in das Jahr der 650-JahrFeier der Universität Wien, 2015. Die Judaistik beschäftigte sich stark mit den Quellen des Judentums in der Antike, die maßgeblich jüdische Identität prägten und bis heute unverzichtbarer Lehr- und Lernstoff einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit ihr sind. Sie waren zudem für ein christliches Publikum aufgrund ihrer Nähe zu den Ereignissen um Jesus von besonderem Interesse. Dazu kamen die mittelalterlichen Quellen, die antike Texte zum einen kommentierten und fortschrieben, aber gleichzeitig neue Herausforderungen, wie die philosophische Durchdringung, die kontroversielle Auseinandersetzung mit dem Christentum und Islam, annahmen und zu einer neuen Blüte (in arabischer und hebräischer Sprache) führten. Hier entstanden auch die großen Werke der Grammatik, religionsgesetzliche Sammlungen, Kommentare, Predigten, Mystik (Kabbala) und zum ersten Mal Werke in den großen Sprachen der Diaspora, dem Jiddischen und Spaniolischen. Durch sie wurde die Tradition breiter zugänglich. Der Buchdruck schuf ungeahnte Verbreitungsmöglichkeiten, und es entstanden immer wieder Auseinandersetzungen mit der Frage, wie und auf welcher Basis es sich als Jüdin oder Jude in nichtjüdischer Umwelt leben ließ. Der christlich-jüdische Dialog ist zwar heute keineswegs unbedeutend geworden, dennoch zeichnet sich ein Wandel in der Schwerpunktsetzung ab. Die Jüdischen Studien als interdisziplinär ausgerichtete, oft interfakultär strukturierte Initiativen, die im deutschen Sprachraum ab den 1980er-Jahren boomten, konzentrierten das Interesse stärker auf das Judentum als zeitgenössisches Phänomen bzw. auf die Neuzeit und setzten in Bezug auf die Erinnerungskultur nicht zuletzt mit Instrumenten der Oral History neue © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 138 | Gerhard Langer Akzente. Dies ging einher mit einer Kritik an der Judaistik als einer philologischen Disziplin, deren Schwerpunkte im Erwerb der (hebräischen) Sprache und in der Kenntnis des antiken und mittelalterlichen Judentums lägen, wobei die Periode ab der Aufklärung vernachlässigt würde. Eine moderne Judaistik kann weniger denn je auf die hebräische Sprache verzichten, ist sie doch neben dem Englischen die inzwischen bedeutendste Wissenschaftssprache in diesem Bereich. Zudem erschließen sich die Quellen nur durch eine Kenntnis des raffinierten Sprachspiels, einer stark mit den Finessen der Sprache agierenden Hermeneutik. Gleichwohl haben die Jüdischen Studien mit ihrer Schwerpunktsetzung auf die Moderne wichtige Lücken geschlossen, neue Felder eröffnet, faszinierende Einsichten ermöglicht. Auf der anderen Seite erkennt man heute auch in den Jüdischen Studien sehr genau, dass eine Betrachtung des Judentums losgelöst von einer vertieften Kenntnis der Traditionsbezüge unbefriedigend bleibt und daher der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Judaistik notwendig ist. Heute erscheint die Unterscheidung von Jüdischen Studien und Judaistik überholt.4 Vielmehr erschließt die Judaistik – als ein Teil der Jüdischen Studien in einem umfassenden Sinn verstanden – die weiten Felder des Judentums in ihren sprachlichen, religiöskulturellen und literarischen Tiefen, während Sozial- und Politikwissenschaften, die historischen Wissenschaften, die Philosophie, die Musik-, Kunst- und Medienwissenschaften und natürlich die modernen Philologien das Ihre dazu beitragen, Phänomene des Jüdischen umfassend verstehbar und begreifbar zu machen. Die Judaistik kann dazu beitragen, die Erinnerung an die Elemente aufzubewahren, die im Zuge der Moderne scheinbar verloren gegangen sind. Gleichwohl zeigt sie, dass sie in den meisten Fällen in gebrochener und säkularisierter Form erhalten wurden oder aber in neuem Gewande weiterleben. Damit erweist sie sich beispielsweise als wichtige Brücke zu den modernen Philologien, indem sie literarische Dokumente von oder über Jüdinnen und Juden analysieren hilft. Die deutschsprachige und prospektiv vor allem die jiddischsprachige Literatur stellen dabei einen gewissen Schwerpunkt dar, ebenso aber der Film als Medium von Jüdinnen und Juden und/oder über Jüdinnen und Juden mit seiner ganz spezifischen Ästhetik, ‚Sprache‘ und Form. Eine moderne Erinnerungskultur bedeutet demnach auch, die Tiefendimension oraler, filmischer oder literarischer Dokumente zu erforschen und hinter dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen Text jene Bezüge aufzudecken, die dem oberflächlichen Blick verborgen bleiben. Hier ist ein Wort zur jüdischen Geschichtsschreibung zu sagen. Man kann sie einerseits mit Namen wie Flavius Josephus, mit Historikern wie Azaria dei Rossi, Heinrich Graetz oder Simon Dubnow, mit Kreuzzugschroniken und Memorbüchern verbinden, 4 Vgl. Günter Stemberger, Einführung in die Judaistik, München 2002. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 Bewahren – Vergessen – Erinnern | 139 an die großen Sammlungen von Oral History erinnern (Claude Lanzmanns Shoah oder Steven Spielbergs USC Shoah Foundation), man sollte aber darüber hinaus – gerade aus judaistischer Sicht – einen anderen Blick auf die Geschichte erwähnen, der über viele Jahrhunderte jüdische Geschichtsauffassung prägte. Der bedeutende Judaist Jacob Neusner formulierte einmal, dass „Israel nach einem beständigen Muster lebt, das weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft kennt“.5 Auch wenn diese Aussage in ihrer Radikalität für die jüdische Tradition ein wenig überzogen scheint, so drückt sich in ihr eine wichtige Weisheit aus. Alle Geschichte ist eine Kette von Wiederholungen, von wiedererkennbaren Elementen und Grundmustern. Jedes kleine Teilchen davon hat Bezug zum Gesamten, weshalb nichts in der Geschichte ohne Folgen bleibt. Im Grunde gilt, was der Theologe Zwickel für die biblische Geschichtsschreibung zusammenfasst, überdies für die spätere jüdische Traditionsliteratur: „Unser Verständnis von Geschichtsschreibung ist relativ modern. Will man heute den Geschichtsablauf graphisch darstellen, bildet man ihn als Strahl ab. Die Vergangenheit liegt links auf dem Strahl, die Zukunft rechts, die Gegenwart ist ein flüchtiger Punkt. Ein alter Semit hätte ein anderes Bild für die Darstellung der Geschichte gewählt: einen Kreis. Viele wesentliche Dinge kehren immer wieder. […] Das führt auch zu einem anderen Verständnis von Texten, die Geschichte beschreiben. Sie werden nicht als mögliche exakte Wiedergabe eines vergangenen Zeitabschnitts verstanden, sondern als ein Ereignis, das sich in ähnlicher Weise mehrfach wiederholen kann und deshalb aufgeschrieben wird. Die Vergangenheit hat immer wieder eine Relevanz für die aktuelle Gegenwart, und deshalb wird sie berichtet. Geschichte ist – um die hier exaktere englische Ausdrucksweise aufzunehmen – nicht history, sondern story.“6 Bestimmte schicksalsträchtige Vorgänge oder Verhaltensweisen wiederholen sich von Zeit zu Zeit. So wird der große Fasttag Tischa be-Av, der 9. Av (Juli-August), als Datum verstanden, an dem eine Reihe von Unglücksfällen passierte, die mit der Exodusgeschichte beginnen, die Zerstörungen des ersten und des herodianischen Tempels umfassen und in der Zerstörung Jerusalems nach dem Bar-Kochba-Aufstand enden.7 Mit dem Tag werden bis heute tragische Ereignisse in Verbindung gebracht, so der Gipfelpunkt der Vertreibung der Juden aus Spanien am 31. Juli 1492, die Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka 1942 oder die Bombardierung eines Gemeindezentrums in Argentinien 1994.8 5 6 7 8 Jacob Neusner, The Halakhah. Historical and Religious Perspectives, Leiden u.a. 2002, 141. Wolfgang Zwickel, Das Heilige Land. Geschichte und Archäologie, München 2009, 15 f. So z.B. in der Mischna Taanit 4.6 u.ö. Vgl. https://www.chabad.org/library/article_cdo/aid/946703/jewish/What-Happened-on-theNinth-of-Av.htm (20.2.2019). © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 140 | Gerhard Langer Biblische Ereignisse sind Grundpfeiler immer wiederkehrender Erfahrung, im positiven wie im negativen Sinn, und nicht selten werden historische Ereignisse zum Ausgangspunkt für grundlegende ethisch-moralische Lehrtexte: Die mehrfach in der rabbinischen Tradition (u.a. im babylonischen Talmud Gittin 55b–56a) erzählte Version von der Tempelzerstörung des Jahres 70 berichtet z.B. von einem Gastmahl, bei dem irrtümlich statt eines Mannes namens Qamtza der Feind des Gastgebers eingeladen worden war, der Bar Qamtza hieß. Dieser irrtümlich Eingeladene wird trotz seines mehrfach geäußerten Angebotes, Kosten des Gastmahls zu übernehmen, hinausgeworfen. Infolge dieses Fehlverhaltens des Gastgebers rächt er sich, denunziert die Juden beim Kaiser, und das Unglück nimmt seinen Lauf. Geschichte ist nie frei von Moral, im Gegenteil, sie spiegelt das Verhalten der Menschen wider, ist die direkte Folge des richtigen oder falschen Handelns, ist Konsequenz und gleichzeitig nicht eindimensional. Auch wenn Israel durch sein Fehlverhalten historische Schläge einstecken muss, werden die Vollstrecker nicht verteidigt, nicht zu willenlosen Werkzeugen eines alles bestimmenden Gottes. Sie bleiben aktiv Handelnde, tragen ihre Schuld, werden zur Rechenschaft gezogen. Und selbst Gott muss sich – beispielsweise von Rachel – wegen seines Vorgehens gegen Israel Kritik gefallen lassen. Der Midrasch Klagelieder Rabba (Peticha 24) berichtet, wie angesichts der Zerstörung des Tempels und der Exilierung Israels Gott selbst vom Entsetzen gepackt ist, weil er Israel nicht schützte und den Feinden überließ. Sein Weinen und Wehklagen ist Ausdruck seiner inneren Wandlung, der Erkenntnis, in seinem Strafgericht zu weit gegangen zu sein. Vom Mitleid Gottes ist die Rede, als Rachel zu ihm geht und die Verbannung ihrer Kinder anklagt. Gott lässt auf den Einspruch Rachels sein Mitleid aufleuchten und verspricht Rettung. Gute und böse Figuren der Bibel sind bleibende Erinnerungsträger und erlauben beständig aktualisierende Neufüllungen. Esau-Edom wird mit Rom und dem Christentum identifiziert, Jakob selbstredend mit Israel. Die Geschichte der Ester – eine Rettung aus tiefster Bedrohung in der Diaspora – wird immer neu adaptiert und findet Ausdruck in Purimspielen. Wie ein ewiger Kreislauf ineinander verwobener Ursachen und Wirkungen ist Geschichte von der alten Zeit bis heute verzahnt. Dies lässt sich am eben genannten biblischen Esterbuch, das in der Tradition ausgiebig ausgestaltet wurde, gut demonstrieren. Der vom Stamm Benjamin kommende König Saul hatte einst Agag, den König der Amalekiter (1 Sam 15) verschont, von dem schließlich Haman abstammt, der Israel nach dem Esterbuch mit dem Genozid bedroht. Der Judäer David wiederum verschonte den ebenfalls aus Benjamin stammenden Schimi ben Gera (2 Sam 16), der ihn verflucht hatte. Deshalb kann als dessen Nachfahre Mordechai erstehen, der Onkel der Ester, welcher maßgeblichen Anteil an der Rettung der Juden vor dem Verbrecher Haman hat. Haman selbst stammt also von Amalek ab, dem Enkel Esaus. Amalek ist für das Judentum Sinn- © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 Bewahren – Vergessen – Erinnern | 141 bild der Erinnerung und des Vergessens gleichzeitig. So heißt es in der Bibel, in Dtn 25,17–19: „Denk daran, was Amalek dir unterwegs angetan hat, als ihr aus Ägypten zogt: wie er unterwegs auf dich stieß und, als du müde und matt warst, ohne jede Gottesfurcht alle erschöpften Nachzügler von hinten niedermachte. Wenn der HERR, dein Gott, dir von allen deinen Feinden ringsum Ruhe verschafft hat in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, damit du es in Besitz nimmst, dann lösche die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel aus! Du sollst nicht vergessen.“ Die Grundfeindschaft wird in einer Grundsituation lokalisiert, dem Auszug aus Ägypten. Die Verfolgung der unschuldigen Nachzügler, der Überfall auf die Schwächsten, ist Sinnbild des falschen Verhaltens. Amalek wurde so über die Jahrhunderte zur Identifikationsfigur für das grundlegend Böse, den skrupellosen Angreifer, den Vernichter. Immer neu wird Amalek aufgeladen, identifiziert oder aber ins Symbolhafte verklärt oder verallgemeinert, wie dies mein Basler Kollege Alfred Bodenheimer in jüngerer Zeit mehrfach in Vorträgen vor Augen geführt hat. Am Ende der Tage erst, in Verbindung mit dem Kommen des Messias, wird Amalek gänzlich besiegt. Das besagt nichts anderes, als dass Israel mit dem Bösen leben muss. Saul hatte die Gelegenheit vertan, Amalek und damit die Bedrohung ein für alle Mal zu vernichten. Als geschichtliches Phänomen hat Amalek überlebt. Jede Generation ist daher aufgefordert, die Erinnerung auszulöschen und gleichzeitig nicht zu vergessen. Dies kennzeichnet die in der Antike bekannte abolitio nominis, bei uns besser bekannt unter dem Begriff der damnatio memoriae („Verdammung des Andenkens“). Dabei wurde der Name der Person, deren Erinnerung ausgelöscht werden sollte, ausradiert, herausgemeißelt. Wie Charles Hedrick überzeugend darstellte, sollte dieser Akt jedoch keineswegs dazu dienen, die Person vergessen zu machen, sondern gerade durch die Auslöschung und Verfluchung des Namens wurde das Gedächtnis bewusst wachgehalten.9 Die oft verwendete alte hebräische Formel „jimach schmo (we zikhro)“, die so viel besagt wie „möge sein Name (und sein Gedächtnis) ausgelöscht werden“, wurde und wird häufig angehängt, wenn Verbrecher benannt werden. Auch hier ist die damnatio memoriae in der doppelten Bedeutung gegenwärtig. In der Auslöschung liegt Verachtung, Verurteilung, aber gleichzeitig auch eine beständige Mahnung. So bedeutet das Nichtvergessen nichts anderes als Erinnerung an Amaleks Verbrechen, das Löschen der Erinnerung aber das Austilgen seiner ‚Verehrung‘ genauso wie 9 Charles W. Hedrick Jr., History and Silence. Purge and Rehabilitation of Memory in Late Antiquity, Austin 2000. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 142 | Gerhard Langer seiner möglichen unangebrachten Überhöhung, Verteufelung oder Dämonisierung. Da man auf das ‚Phänomen‘ Amalek immer vorbereitet sein muss, darf es nicht aus den strategischen Überlegungen verschwinden, wohl aber aus den Herzen. Das Verbrechen bleibt für alle Generationen gegenwärtig, der Verbrecher bleibt erkennbar, auch wenn er keine Erwähnung verdient. Die jüdische Tradition bietet noch eine weitergehende Lösung der scheinbaren Aporie von Erinnern und Austilgen an. Der babylonische Talmud (Gittin 57b und Sanhedrin 96b) berichtet davon, dass die Enkel Hamans, also des Nachfahren Amaleks aus dem Esterbuch, in Bnei Brak Tora unterrichten würden. Indem Amaleks Nachfahren jüdische Gelehrte wurden, verschwand der alte Amalek, verwandelte sich in eine andere, neue, zukunftsträchtige Persönlichkeit als Teil Israels. Auf diese Weise wurde es möglich, dass die Nachkommen der Täter*innen die Erinnerung an die Verbrechen und das Austilgen der Erinnerung an Amalek einmahnen konnten. Der radikale Bruch mit einer Vorgeschichte und der Eintritt in eine neue Identität sind jederzeit möglich, sofern sie aus ehrlicher Überzeugung geschehen. Die Aufgabe einer Erinnerungskultur ist klar umrissen. Sie bewahrt das Gedächtnis im positiven Sinn wie die Erinnerung an die verschiedenen negativen Ereignisse, Haltungen und Ideologien. Sie plädiert dabei aber auch für ein Vergessen im Sinne einer bewussten und gezielten ‚Entzauberung‘ der Faszination des Negativen. Ich möchte an dieser Stelle noch ein weiteres Beispiel anführen. In einer längeren Erzählung im palästinischen Talmud wird die Geschichte der Gibeoniten aufgegriffen, die nach dem biblischen Buch Josua durch eine List erreichen, dass sie von den Israeliten bei der Landnahme verschont werden. Sie geben sich als Fremde aus, obwohl sie Bewohner des Landes sind, und werden in Israel integriert. Jahrhunderte später versucht Saul die Gibeoniten zu töten. Daraufhin lässt Gott eine Hungersnot im Land ausbrechen, aus der erst David das Volk befreien kann, indem er den Gibeoniten Rache für die Taten Sauls gestattet und ihnen sieben Männer aus der Verwandtschaft Sauls ausliefert. Diese sehr komplexe Geschichte wird von den Rabbinen in Qidduschin 4,1,65b-c aufgegriffen und zu einer Lehrerzählung umgewandelt. In ihr möchte David die Gibeoniten davon abhalten, von der Rache Gebrauch zu machen. „David schickte (nach ihnen) und sagte zu ihnen: ‚Was ist (zwischen) euch und dem Hause Saul?‘ Sie sagten zu ihm: ‚Weil er sieben Männer von uns getötet hat: zwei Holzhauer, zwei Wasserträger und (jeweils) einen (Synagogen-)Aufseher, einen Schreiber und einen (Synagogen-)Diener.‘ Er sagte zu ihnen: ‚Was wollt ihr nun?‘ Sie sagten zu ihm: ‚Es sollen uns sieben Männer von seinen Nachkommen gegeben werden, und wir wollen sie (zum Tode) aussetzen vor dem HERRN zu Gibea von Saul, den Auserwählten des HERRN‘ (2 Sam 21,6). Er sagte zu ihnen: ‚Was für einen Nutzen habt ihr, wenn sie getötet werden? Nehmet euch © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 Bewahren – Vergessen – Erinnern | 143 (stattdessen) Silber und Gold.‘ Sie sagten: ‚Es ist uns nicht gelegen an Silber [und Gold] bei Saul und seinem Hause‘ (2 Sam 21,4). Er sagte: Vielleicht schämt sich die Hälfte vor der anderen Hälfte, so nehme ein jeder (einzeln) von ihnen und man besänftige sich vor sich selbst. Und er sagte (erneut) zu ihm (d.h. dem Einzelnen): Was für einen Nutzen hast du, wenn sie getötet werden?! Nimm dir (stattdessen) Gold und Silber. Aber (der Betreffende) sagte: ‚Es ist uns nicht gelegen an Silber [und Gold] bei Saul und seinem Hause‘ (2 Sam 21,4). ‚Es ist mir nicht (daran) gelegen steht (wörtlich) geschrieben.‘ In jenen Stunden sagte David: Drei gute (Charakter-)Gaben gab der Heilige, gepriesen sei Er, Israel: sie sind barmherzig, schamhaft und voller guter Taten. Sie sind barmherzig. Woher (ist dies zu belegen)? (Es steht geschrieben:) ‚Und er (= Gott) wird dir Barmherzigkeit geben‘ (Dtn 13,8). Sie sind schamhaft. Woher (ist dies zu belegen)? (Es steht geschrieben:) ‚[Und Mose sagte zum Volk: Fürchtet euch nicht! Denn Gott ist gekommen, um euch zu prüfen], und damit die Furcht vor ihm auf euren Gesichtern sei, [auf dass ihr nicht sündigt]‘ (Ex 20,20). Dies ist ein Zeichen für den Schamhaften, dass er nicht sündigt. Und bei jedem, der keine Scham des Gesichtes hat, ist es sicher, dass seine Väter nicht am Berg Sinai gestanden haben. Sie sind voll guter Taten. Woher (ist dies zu belegen)? (Es steht geschrieben:) ‚Der HERR, dein Gott, wird dir den Bund und die Wohltat bewahren‘ (Dtn 7,12). Aber jene (guten Gaben) war(en) bei ihnen (= den Gibeoniten) nicht (zu finden), nicht eine (!) von ihnen; sofort trat (David) auf und hielt sie (vom Altar) fern, denn es steht geschrieben: ‚Und die Gibeoniten waren nicht von den Kindern Israels (2 Sam 21,2). Auch Esra hielt sie (vom Altar) fern […]. Und auch zukünftig wird der Heilige, gepriesen sei Er, sie (vom Altar) fernhalten‘.“10 Davids Einsatz für sein Volk wird hier besonders betont. Der Text enthält eine Reihe von spannenden und zukunftsweisenden Bezügen zur Identität Israels und zur Frage des Umgangs mit Geschichte. Die Gibeoniten werden als Proselyten markiert, deren Konversion zu Israel aber mit großen Mängeln versehen ist. So lehnen die Rabbinen die von den Gibeoniten eingeforderte Blutrache bzw. Sippenhaftung ab. Das Angebot von Gold und Silber durch David entspricht der rabbinischen Auffassung in Bezug auf die Talion, wonach zugefügter Schaden durch Finanzleistung kompensiert werden muss (z.B. der Wert eines Auges für das Auge etc.). In der Erzählung werden Grundlagen für die Zugehörigkeit zu Israel ausgearbeitet. Demnach bedarf es bestimmter charakterlicher Eigenschaften wie Barmherzigkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und des Tuns guter Taten, die den Gibeoniten fehlen, weshalb sie nicht zum inneren Kreis des Judentums gehören können. Es geht demnach um Abgrenzung in einem komplexen Sinn, ohne dass hier religiöse Elemente oder Glaubensfragen behandelt würden. Die Zugehörigkeit ergibt sich 10 Übersetzung mit leichten Änderungen nach: Heinz-Peter Tilly (Übers.), Qiddushin = Antrauung (Übersetzung des Talmud Yerushalmi 3.7), Tübingen 1995. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 144 | Gerhard Langer ausschließlich aus dem richtigen oder falschen Verhalten und hat ihre Wurzeln in der Geschichte. Während die Gibeoniten aufgrund ihres Verhaltens als Konvertiten versagen, werden andere zu bedeutenden Hoffnungsträgern. Dazu gehört die Konvertitin Rut, die Urgroßmutter Davids, ebenso wie Rachav, jene Prostituierte, die nach Jos 2 den israelitischen Kundschaftern in Jericho vor den Verfolgern Unterschlupf gewährt. Nach dem Talmud Megilla 14b heiratet sie niemand Geringeren als Josua, den wichtigsten Mann der Epoche. Aus der Ehe stammt in weiterer Folge schließlich Hulda, eine der bedeutendsten Prophetinnen, aber auch der Prophet Jeremia und eine Reihe von Priestern ab. Gedächtnisstiftende Personen der Bibel werden konsequent mit Figuren und Namen identifiziert, die in biblischen Texten vorkommen, jedoch keine weitere Beachtung mehr finden. Aber da die Bibel nach rabbinischer Ansicht ein vollkommener Text ist, muss jeder Name gedeutet werden. So kommt es, dass z.B. Miriam, die Schwester von Mose und Aaron, gleich eine Fülle von Namen bekommt. So deutet man die etwas sperrigen und mit vielen Namen versehenen Texte aus dem Chronikbuch auf bedeutende Persönlichkeiten wie sie. Wenn es etwa in 1 Chr 2,18 f heißt: „Kaleb, der Sohn Hezrons, zeugte mit seiner Frau Azuva und der Jeriot … Als Azuva starb, heiratete Kaleb Efrata, die ihm den Hur gebar“, so identifiziert man Azuva und Efrata im talmudischen Traktat Sota 12a mit Miriam. Sie hieß Azuva – auf Hebr. Verlassene –, weil sie nach dem Numeribuch Mose kritisierte und dafür von Gott mit Aussatz bestraft wurde und gemieden wurde. Nach ihrer Genesung jedoch wurde sie von Kaleb geheiratet und gebar ihm als gewissermaßen ‚Neugeborene‘ einen Sohn. Ihr Name ist dann Efrata, was Fruchtbare bedeutet. In 1 Chr 4,5–7 heißt es: „Aschhur, der Vater Tekoas, hatte zwei Frauen, Hela und Naara. […] Die Söhne der Chela waren: Zeret, Zohar und Etnan.“ Die Rabbinen interpretieren in Sota 12a: „Aschhur ist Kaleb: und warum wurde er Aschhur genannt? Weil sein Gesicht sich verdunkelte durch das viele Fasten. ‚Der Vater‘ – weil er wie ein Vater für sie (Miriam) wurde. ‚Tekoa‘ – weil er sein Herz an den Vater im Himmel heftete (taka). ‚Hatte zwei Frauen‘ – das bedeutet, dass Miriam wie zwei Frauen wurde. ‚Chela und Na’ara‘ – sie war sowohl Chela als auch Na’ara, denn zuerst war sie Chela (hebr. krank) und zum Schluss wurde sie Na’ara (hebr. junges Mädchen). ‚Die Söhne der Chela waren: Zeret, Zohar und Etnan.‘ ‚Zeret‘ – (Miriam wird so genannt,) weil sie zur Rivalin (hebr. zara) ihrer Zeitgenossinnen wurde (durch ihre Erscheinung). ‚Zohar‘ – weil ihr Gesicht (strahlend) wie der Mittag wurde (hebr. zohorajim). ‚Etnan‘ – weil jeder, der sie sah, seiner Frau ein Geschenk (hebr. etnan) machte.“ Es geht an dieser Stelle nicht einfach nur um ein intellektuelles Spiel mit Namen, sondern um eine zutiefst bedeutsame Interpretation der religiösen, sozialen und kulturellen Bedeutung von Figuren aus der biblischen Geschichte. Miriam hat nach rabbinischer Ansicht © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 Bewahren – Vergessen – Erinnern | 145 schon als Kind durch ihren eminenten Einsatz und ihr rebellisches Auftreten gegenüber ihren Eltern dafür gesorgt, dass diese nicht aufgehört haben, Kinder zu zeugen. Nur so konnte Mose entstehen. Dieser Einsatz wird ihr im Alter gelohnt. Sie wird auf wunderbare Weise wieder jung und fruchtbar. Mögen solche Erzählungen märchenhaft erscheinen und in ihrer literarischen Kunstfertigkeit als grandiose Fingerübung der Rabbinen daherkommen, so steckt in ihnen ein wichtiges Element der Erinnerungskultur. Man erinnert sich an bedeutende Persönlichkeiten, an herausragende kulturstiftende, existenzsichernde role models. Diese können sich durch besondere Gelehrsamkeit, Klugheit, aber auch durch ihr soziales und ethisches Handeln auszeichnen. Dabei ist letztlich unerheblich, was sie vor ihren wichtigen und für die Existenz Israels bedeutsamen Taten waren. Ob unschuldiges Kind wie Miriam oder Prostituierte wie Rachav – entscheidend ist das Verhalten. Gedächtnis und Erinnerung beziehen sich nicht nur auf dunkle Epochen und Perioden der Bedrohung, sondern ebenso auf die unzähligen positiven Erfahrungen, Ereignisse und Errungenschaften. Gedächtniskultur erinnert an die vielen kleinen und großen Schritte in der Geschichte und damit natürlich an die Menschen, denen wir sie zu verdanken haben. Auch dazu hat die jüdische Tradition vieles zu sagen, redet vom Neuen unter beständiger Wertschätzung der Überlieferung, verlangt Innovation und Bewahrung der Erinnerung, greift immer wieder auf die bewährten Vorbilder zurück, um Neues zu umschreiben. In einem berühmten Talmudabschnitt (Menachot 29b) lauscht Mose nach seinem Tod im himmlischen Lehrhaus der Auslegung des Rabbi Aqiva, eines wichtigen Gelehrten des 2. Jahrhunderts. Für Mose ist dies neu, obwohl Aqiva nichts anderes tun will, als die Botschaft des Mose wiederzugeben. Selbst wenn also nach dem biblischen Wort des Kohelet eigentlich „nichts Neues unter der Sonne“ existiert, so ist doch jede Generation aufgefordert, Neues hervorzubringen, vielleicht gerade indem sie das Vorhandene neu deutet und auf innovative Weise zur Geltung bringt. So steht zudem alle Wissenschaft auf der Basis vorhandener Gelehrsamkeit. Nicht alles kann und muss bewahrt werden, selbst dazu hat die jüdische Tradition ihre Erkenntnisse beizutragen. Vieles ging verloren, wurde vergessen, manches scheint nicht mehr zeitgemäß und ist es auch nicht. Der eine oder andere Zugang kann sogar verworfen werden, abgelehnt oder aber, obwohl nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entsprechend, immerhin als für eine frühere Zeit gültig gewürdigt werden. Auch das ist Erinnerungskultur. Als der Jerusalemer Tempel bestand, drehte sich alles um ihn, um den Kult, die Opfer. Nachdem er zerstört worden war, gelang es erstaunlich gut, den Verlust wettzumachen, indem neue zentrale Identifikationsmodelle entstanden, vor allem die Beschäftigung mit der durch die Gelehrten vermittelten Lehre der Tora. Der Tempel blieb im kollektiven Gedächtnis gegenwärtig, die Erinnerung an ihn ersetzte das reale Opfer, und neue Orte der Liturgie und des Gebets wie die Synagoge wurden neben dem Lehrhaus © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 146 | Gerhard Langer zu Zentren der Gemeinschaft und der Weitergabe und Entwicklung jüdischer Tradition. Feste und Feiern entwickelten sich in beständiger Adaption in Auseinandersetzung mit Christentum und Islam. Manchmal genügt es nicht, Altes zu adaptieren, dann braucht es neue Feiern und Feste, neue Erinnerungszeichen und -wege. Das bezeugen etwa das nachbiblische Fest Chanukka oder der Jom ha-Schoah (im Gedenken an die Opfer der Shoah und den Widerstand). In jedem Fall braucht es Orte der Bildung, in denen jede Generation ihre Chance erhält, zu lernen, Wissen zu erwerben. Denn ohne sie ist Erinnerung unmöglich, versiegt der Strom der Überlieferung und kann Neues nicht wachsen. Wer nicht zu fragen weiß und die Neugierde verliert, wird ebenfalls nicht am Strom der Überlieferung teilhaben, wie es die Erzählung um die Nachfolge des Mose im babylonischen Talmud Temura 15b–16a deutlich ausdrückt: „Rabbi Jehuda sagte im Namen Ravs: Als Mose in den Garten Eden einging, sagte er zu Josua: Befrage mich über alles, was dir zweifelhaft erscheint. Er antwortete ihm: Mein Meister! Habe ich dich je auch nur eine Stunde verlassen und bin an einen anderen Ort gegangen? Steht nicht im Hinblick auf mich in der Tora: ‚Aber sein Diener Josua, der Sohn Nuns, wich nicht vom Zelt‘ (Ex 33,11). Sofort verließ Mose seine Kraft und er (Josua) vergaß 300 Halachot und 700 Zweifel kamen ihm. Darauf standen alle Israeliten auf, um ihn zu töten. Der Heilige, gepriesen sei Er, sagte zu ihm (Josua): Es ist unmöglich zu dir zu sprechen. Geh und beschäftige sie mit Krieg, wie es heißt: ‚Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sagte der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, dem Diener des Mose: Mein Knecht Mose ist gestorben. Mach dich also auf den Weg und zieh über den Jordan hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde!‘ (Jos 1,1–2).“ Die jüdische Tradition hat Bildung als eines der höchsten Ziele menschlicher Entwicklung starkgemacht. Bildung dient dabei der Heranbildung einer umfassend von ihr durchdrungenen Gesamtpersönlichkeit, die nicht nur Fachwissen besitzt, sondern ethisch zu handeln versteht. Im obigen Beispiel ist Wissen der Kriegsführung bei Weitem überlegen, was natürlich ebenso etwas aussagt über die rabbinische Sichtweise auf bewaffneten Widerstand und Militarismus. Aber Wissen ist nicht neutrales erlerntes Handwerkszeug zur Berufsausübung, sondern umfassender Menschen bildender Lebensmittelpunkt. Wissen macht den Menschen sensibel für das Richtige und Gute, wenngleich es ihn nicht davon abhält, das Böse zu wollen, ihm aber die ‚Waffe‘ in die Hand gibt, diesen in ihm liegenden Teil zu besiegen. Die Frage, inwieweit durch Aufklärung und Wissensvermittlung Menschen beeinflusst werden (können) – auch in ihrer Einstellung etwa gegenüber dem Judentum –, ist schwierig zu beantworten. Die Judaistik hat den Anspruch vor allem in ihren Anfängen mit Sicherheit erhoben und sich als eine Institution verstanden, die © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0 Bewahren – Vergessen – Erinnern | 147 durch Bildung Einstellungen prägen will. Ich meine, dass sich kulturwissenschaftlich agierende Judaistik und Jüdische Studien heute ebenfalls nicht auf einen neutralen Punkt der Beschreibung und Analyse von Phänomenen zurückziehen dürfen. Ihr eminent gesellschaftspolitischer und erzieherischer Anspruch bleibt bestehen, selbst wenn sich die Mittel und die Methoden, mit denen Lehre und Forschung sich präsentieren, wandeln und der Anspruch auf Menschenbildung subtiler wird. Die beständige Selbstreflexion ist notwendig und geschieht in dauerndem Austausch mit den Nachbardisziplinen. Als Anliegen, dem sich die Judaistik und die Jüdischen Studien in besonderer Weise verschreiben, bleibt der in der universitären Gelöbnisformel ausgedrückte Anspruch, „nach bestem Wissen und Gewissen zur Lösung der Probleme der menschlichen Gesellschaft beizutragen“. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG Wien https://doi.org/10.7767/9783205233077 | CC BY-NC-ND 4.0