Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Auswirkungen der Beschneidungsdebatte und staatlicher Überwachung
islamischer Organisation auf Identitätsbildung und Integration in
Deutschland
Forschungsleitung: Kerem Öktem, Universität Oxford
Das Forschungsprojekt „Signale der Mehrheitsgesellschaft“ wurde von Network Turkey in Kooperation mit dem
Zentrum für Europastudien der Universität Oxford (ESC) durchgeführt.
Herausgeber
Zentrum für Europastudien
St Antony's College, Universität Oxford
70 Woodstock Road Oxford OX2 6HR
http://www.sant.ox.ac.uk/esc/
Oxford, September 2013
Text © Kerem Öktem 2013
Sämtliche Inhalte sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Zustimmung
des Urhebers vervielfältigt werden. Ausgenommen ist die Vervielfältigung für akademische und gemeinnützige
Zwecke.
Cover: „Die Beschneidung“ von Giulio Romano (Orbetto)
The research project Signals of the Majority was realized by Network Turkey in cooperation with the European
Studies Centre, University of Oxford.
Published by
European Studies Centre
St Antony's College, University of Oxford
70 Woodstock Road, Oxford OX2 6HR
http://www.sant.ox.ac.uk/esc/
Text © Kerem Öktem, 2013. The moral rights of the authors have been asserted.
All rights reserved. No part of this publication may be reproduced or disseminated or transmitted in any form or by
any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, or stored in a retrieval system, or
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the UK Copyright, Designs and Patens Act, 1988.
Cover: The Circumcision by Giulio Romano (Orbetto)
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Auswirkungen
der
Beschneidungsdebatte
und
staatlicher
Überwachung islamischer Organisation auf Identitätsbildung und
Integration in Deutschland
Forschungsleitung: Kerem Öktem, Universität Oxford
Ein Projekt von
Mit der freundlichen Unterstützung von
Forschungsleitung
Dr. Kerem Öktem, Universität Oxford, European Studies Centre
Forschungsbegleitung
Prof. Dr. Werner Schiffauer, Universität Viadrina, Frankfurt/Oder
Dr. Bastian Vollmer, Universität Oxford, COMPAS
Interviewdurchführung, -auswertung und Berichtserarbeitung
Jenny Ebner, Freie Universität Berlin (Teilprojekt Beschneidung)
Meral Barış, Universität Viadrina, Frankfurt/Oder (Teilprojekt Überwachung)
Hakan Tosuner, Universität Viadrina, Frankfurt/Oder (Teilprojekt Überwachung)
Akademischer Beirat
Dr. Naika Furoutan, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Roy Karadağ, Universität Bremen
Sarina Strumpen, Universität Rostock
Projektkoordination
Daniel Grütjen, Network Turkey
Forschungslogistik
Jan Taşçı, Network Turkey
Eine Zusammenarbeit von
Network Turkey
und
Universität Oxford, European Studies Centre
Mit der freundlichen Unterstützung von
Open Society Foundations / At Home in Europe repräsentiert durch
Nazia Hussain, Open Society Foundation-London
Manfred Lautenschläger Stiftung
Forschungsteam
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................VI
Anmerkungen .............................................................................................. VI
Danksagung................................................................................................ VII
Kurzbeschreibung der Forschungsergebnisse...................................................... VIII
Executive Summary....................................................................................... XI
Teil A. Theoretische Ausgangsüberlegungen: Integrations- und Sicherheitsparadoxe ...... 1
Teil B. Die Beschneidungsdebatte und ihre Folgen für Juden und Muslime in Deutschland 9
Einleitung................................................................................................... 9
1 Die Beschneidungsdebatte: Überblick und Kontext .............................................. 9
2 Befunde und Themen ................................................................................. 11
2.1 Wahrnehmung der Debatte ...................................................................... 11
2.1.1 Konfrontationspunkte ....................................................................... 11
2.1.2 Diskursive Bilder zur Beschneidung ....................................................... 15
2.1.3 Akteure und Medien......................................................................... 16
2.2 Gesellschaftlicher Kontext ....................................................................... 17
2.2.1 Antisemitismus und anti-muslimischer Rassismus ....................................... 17
2.2.2 Spezifischer Minderheitendiskurs und Othering ......................................... 19
2.2.3 Religionsfeindlichkeit und Säkularisierungsdiskurs ..................................... 21
2.2.4 Vergleich mit anderen Debatten .......................................................... 24
2.3 Verortung in der Gesellschaft und Zugehörigkeitsgefühl .................................... 26
2.3.1 Willkommenskultur und Ausgrenzungsdiskurse .......................................... 26
2.3.2 Zugehörigkeitsgefühl und gesellschaftliche Positionierung ............................ 27
2.3.3 Besondere Rolle von Juden in Deutschland .............................................. 33
2.4 Die Beschneidungsdebatte als Turning Point .................................................. 35
2.4.1 Antisemitische Narrative als Ende der Schonzeit ....................................... 35
2.4.2 Enttäuschung und Entfremdung ........................................................... 37
2.4.3 Veränderung des Selbstverständnisses ................................................... 39
2.5 Fazit des Teilprojekts Beschneidung ........................................................... 42
Teil C. Überwachung des „Legalistischen Islam“: "Wer ist ein guter Muslim"? ............... 45
Einleitung.................................................................................................. 45
1 Deutsche Islampolitik und der „legalistische Islamismus“: Überblick und Kontext ....... 46
1.1 Islamistisches Personenpotential ............................................................... 48
1.2 Probleme des Expertenwissens des Verfassungsschutzes .................................... 50
2 Befunde und Themen ................................................................................. 53
2.1. Auswahl der Gesprächspartner ................................................................. 54
2.2. Gesellschaftliche Selbstverortung der Gesprächsteilnehmer .............................. 54
2.3 Auswirkung der Überwachung auf Individuen und Organisationen ......................... 56
2.3.1 Auswirkungen auf das Individuum ......................................................... 57
2.3.2 Auswirkungen auf die Gemeindearbeit .................................................. 57
2.3.3 Interne Distanzierung von Dachverbänden ......................................... 58
2.3.4 Aberkennung der Gemeinnützigkeit ................................................. 59
2.3.5 Belastung der Beziehungen zu anderen muslimischen Akteuren ................ 59
2.4 Individuelle und kollektive Bewältigungsstrategien ..................................... 62
2.4.1 Individuelle Strategien: Risikominderung und religiöse Versicherung .......... 62
2.4.2 Emotionen: Entfremdung, Polemik und Humor .................................... 64
2.4.3 Kollektiver Umgang mit der Überwachung ......................................... 64
2.4.4 Solidaritätserfahrung von (nicht-muslimischen) Partnern ........................ 66
2.5 Perspektiven auf den Verfassungsschutz und den NSU-Skandal ....................... 67
2.5.1 Die Erwartung von Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft .............. 69
2.5.2 Der NSU Skandal als Wendepunkt .................................................... 70
2.6 Fazit des Teilprojekts Überwachung ...................................................... 72
Schlussbetrachtung ............................................................................... 77
Anhang .............................................................................................. 81
Interviewleitfaden Teilprojekt Beschneidung ................................................ 81
Interviewleitfaden Teilprojekt Überwachung ................................................ 84
Übersicht der Gesprächsteilnehmer ........................................................... 85
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen
DITIB
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion
IGD
Islamische Gemeinschaft in Deutschland
IGMG
Islamische Gemeinschaft Milli Görüş
MJD
Muslimische Jugend in Deutschland
NSU
Nationalsozialistischer Untergrund
ZDJ
Zentralrat der Juden in Deutschland
ZMD
Zentralrat der Muslime in Deutschland
Sprachregelung
In diesem Bericht wird, wenn es aus dem Zusammenhang klar ersichtlich ist, dass
entweder männliche oder männliche und weibliche Subjekte gemeint sind, die
männliche Form benutzt. Wenn außerhalb der Zitate die erste Person Plural
benutzt wird, sind damit die Forschungsleitung und die Interviewer gemeint.
Pseudonyme
Aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre und auf der Grundlage von ethischen
Überlegungen werden in diesem Text unter anderem auch Pseudonyme gewählt.
Diese sind in der Übersicht der Gesprächsteilnehmer (siehe Anhang) gekennzeichnet.
Zitierweise
Im theoretischen Einführungsteil verwenden wir bibliografische Kurzangaben im
Text, zusammen mit einem Veröffentlichungsverzeichnis am Ende des Kapitels. Die
Quellen in den beiden empirischen Kapiteln sind in den Fußnoten angegeben.
Elektronische Quellen
Alle in diesem Bericht zitierten Internetadressen waren am 9. September 2013
online abrufbar.
Danksagung
Die vorliegende Studie Signale aus der Mehrheitsgesellschaft ist dank einer
kurzen, aber intensiven Kooperation mit zahlreichen Kollegen und Partnern zu
Stande gekommen. Besonderer Dank gebührt der großzügigen Unterstützung
durch das „At Home in Europe“ Projekt der Open Society Foundations, vertreten
durch Nazia Hussain, London, sowie der Manfred Lautenschläger Stiftung,
Heidelberg, für ihre willkommene Zusatzfinanzierung.
Die Mitglieder des Akademischen Beirats unter Leitung von Prof. Werner
Schiffauer (Frankfurt/Oder) waren Sarina Strumpen (Rostock), Dr. Bastian
Vollmer (Oxford), Dr. Naika Furoutan (Berlin) und Dr. Roy Karadağ (Bremen). Sie
haben einen wesentlichen Beitrag zu der wissenschaftlichen Vorbereitung des
Projekts und seiner Durchführung geleistet. Prof. Schiffauer und Dr. Vollmer
haben darüber hinaus maßgeblich an der Erstellung des Endberichts mitgewirkt.
Dr. Dimitris Antoniou (Princeton) und Dr. Cand. Eldar Sarajlić (New York) haben
die Hintergrundpapiere erarbeitet und die zentralen Konfliktlinien in der Beschneidungsdebatte in einer Arbeitssitzung zusammen mit Prof. Adam Becker
(New York) erörtert.
Ganz besonders möchte ich die Arbeit des Forschungsteams hervorheben, das
aus Jenny Ebner (Berlin), Meral Barış und Hakan Tosuner (beide Frankfurt/Oder)
bestand. Ihrem engagierten Einsatz und Eifer verdanke ich die aussagekräftigen
Interviews, die die Grundlage für diese Studie bilden, sowie deren Auswertung
und Aufbereitung für die Berichterstattung.
Network Turkey begleitete das Forschungsprojekt logistisch und administrativ
und organisierte Räume an der Humboldt Universität zu Berlin für die
Arbeitssitzungen. Die Zusammenarbeit mit Daniel Grütjen und Jan Taşçı (beide
Network Turkey), die zusammen mit Judith Bruhn auch den Bericht korrekturgelesen haben, war ein hervorragendes Beispiel internationaler Kooperation über
Skype und E-Mail. Dem Engagement von Elke Teichert vom Sekretariat des
Instituts für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie der EuropaUniversität Viadrina verdanken wir die reibungslose Organisation zusätzlicher
Projektmittel.
Zu guter Letzt möchte ich meinen Kollegen in Oxford danken, allen voran
meinem Mentor Prof. Timothy Garton Ash und Edward Mortimer, mit denen ich
fast zeitgleich eine Studie zur „Freiheit in Vielfalt“1 erarbeitet habe. Auch die
Diskussionen mit Prof. Kalypso Nicolaidis, Prof. Paul Betts, Prof. Jane Caplan
und Dr. Reem Abou-El-Fadl möchte ich hier besonders hervorheben. Ihnen allen
danke ich für die gelungene Zusammenarbeit.
Kerem Öktem, Istanbul im September 2013
1
Timothy Garton Ash, Edward Mortimer und Kerem Öktem (2013) Freedom in Diversity:
Ten Lessons for Public Policy from Britain, Canada, France, Germany and the USA,
Oxford, St Antony’s College.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | VII
Kurzbeschreibung der Forschungsergebnisse
Individuelles
Sicherheitsempfinden
und ein klares Signal
der Mehrheitsgesellschaft, dass
Andersartigkeit
willkommen ist, sind
Grundvoraussetzungen
für eine liberale
Gesellschaft.
Individuelles Sicherheitsempfinden und ein klares Signal der Mehrheitsgesellschaft, dass Andersartigkeit willkommen ist, sind Grundvoraussetzungen
für eine erfolgreiche Integration und eine liberale Gesellschaft, in der sich auch
Mitglieder von Minderheiten frei entfalten können. Das Forschungsprojekt
„Signale aus der Mehrheitsgesellschaft“ und der vorliegende Bericht
beschäftigen sich mit zwei Fallstudien, um den Fragen nachzugehen, inwieweit
Verwaltungshandeln in Deutschland gegenüber Minderheiten und Migranten
diskriminierend ist und wie öffentliche Debatten ausgrenzend wirken können.
Auf dieser Grundlage rekonstruieren wir die Folgen solchen Handelns für die
Identitätsbildung von Individuen, die sich mit ausgrenzenden Diskursen und
Verwaltungshandeln konfrontiert sehen.
Beschneidungsdebatte
Die erste Fallstudie umfasst die sogenannte Beschneidungsdebatte, die in Folge
eines Urteils des Kölner Verwaltungsgerichts im Sommer 2012 entflammte.
Dieses stuft die Beschneidung Minderjähriger als Körperverletzung ein. Nach
einer stark polarisierenden öffentlichen Diskussion, einer Gesetzesinitiative der
Bundesregierung und dem Beschluss des Bundestages im Dezember desselben
Jahres, rituelle Beschneidungen von Jungen zu legalisieren, fand die Debatte ihr
vorläufiges Ende. Die qualitativen Interviews, die wir mit jüdischen
Gesprächsteilnehmern, darunter Rabbiner, Gemeindevertreter und Akademiker,
führten, weisen jedoch darauf hin, dass die Beschneidungsdebatte in
Deutschland bei vielen Juden als Wendepunkt wahrgenommen wird. Besonders
ausgeprägt ist das Entsetzen über die Vehemenz und die Bandbreite der AntiBeschneidungsposition sowie die diskursiven Bilder, die im Laufe der Debatte
von Beschneidungsgegnern gezeichnet wurden. Besonders Bilder von Juden als
schlechte Eltern, als Kindesschänder, aber auch als prä-rationale
Religionsgemeinschaft, die sich anzupassen hat, sind hier zu nennen. Ein
Rabbiner, selbst Nachfahre von Holocaustüberlebenden, spricht in diesem
Zusammenhang von einem deutschen Überlegenheitsdenken, das sich in dem
Versuch „Juden zu veredeln“ ausdrückt. Auch fragen sich einige
Gesprächspartner, ob die „Schonzeit“ für Juden in Deutschland nun drohe
auszulaufen.
Während diese Erfahrungen für die jüdischen Gesprächspartner schockierend
und verletzend sind, und einige von ihnen die Existenzgrundlage für jüdisches
Leben in Deutschland als prekär bezeichnen, reagieren die muslimischen
Gesprächspartner weniger entrüstet. Sie verorten den zentralen Wendepunkt in
der öffentlichen Diskussion eher in den Streitgesprächen, die nach der
Veröffentlichung von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ aufkamen.
Für sie ist die Beschneidungsdebatte nur ein tiefsitzender islamfeindlicher
Diskurs unter vielen. Und dennoch wird die Beschneidungsdebatte von Juden
VIII | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
wie Muslimen als ein ausgrenzendes Erlebnis wahrgenommen, in dem die
eigenen Traditionen von der Mehrheitsgesellschaft als fremdartig und primitiv
abgewertet werden. Die Inhalte dieser öffentlichen Debatten sowie ihre
Vehemenz und Kompromisslosigkeit fanden Eingang in die Alltagswelten der
Gesprächspartner. Trotz dieser gemeinsamen Erfahrung ausgrenzender Diskurse
zeigt sich eine konfessionsübergreifende Solidarisierung nur in Anfängen und
scheitert letztendlich an den symbolischen Frontlinien des palästinensischisraelischen Konflikts.
Überwachung muslimischer Organisationen
Die Überwachung muslimischer Organisationen und besonders solcher, die dem
„legalistischen Islamismus“ zugerechnet werden, ist Gegenstand der zweiten
Fallstudie. Hier geht es um die Frage nach den Auswirkungen langanhaltender
und in Verfassungsschutzberichten öffentlich gemachter Observierungen von
Gemeinden und Verbänden. Viele der befragten Mitglieder von Organisationen
aus diesem Spektrum können nicht nachvollziehen, warum gerade sie, die
Gewalt und Radikalität ablehnen und sich in die Mehrheitsgesellschaft als
Muslime einbringen wollen, durch die Observierung stigmatisiert werden.
Besonders die Serie von Attentaten des Nationalsozialistischen Untergrundes und
die ursprünglich weitgehend anti-türkische Medienberichterstattung, die sich in
dem Begriff „Döner-Morde“ manifestiert, scheint das Vertrauen der
Gesprächspartner in den Rechtsstaat zerrüttet zu haben. Auch wird die
anhaltende Observierung von Gemeinden als eine Zermürbungsstrategie
erfahren, in Folge derer sich einige Mitglieder aus dem gesellschaftlichen Leben
zurückziehen oder Mitgliedschaften in oder Sympathien mit islamischen
Gruppierungen verschweigen, um berufliche oder gesellschaftliche Nachteile zu
vermeiden.
Fast alle Gesprächspartner schätzen die Arbeit des Verfassungsschutzes
aufgrund der Deutungsmacht der Behörde und der postulierten Neutralität, die
ihr zugesprochen wird, als problematisch ein. Zudem belastet die Unterteilung
in „gute“ und „schlechte“ Muslime innerislamische Diskussionen stark. Dennoch
ist bei vielen der interviewten Funktionsträger in Gemeinden und Verbänden
eine Entschiedenheit festzustellen, auf eine stärkere Akzeptanz in der
Mehrheitsgesellschaft hinzuarbeiten. Die relativ positive Erfahrung besonders
des Rechtsweges und die z.T. fast paradox hohe Wertschätzung der deutschen
Justiz, aber auch die gruppeninterne Solidarität scheinen dies zu ermöglichen.
Das
Sicherheitsgefühl
von Angehörigen
jüdischer und
islamischer
Gemeinden in
Deutschland
ist stark
beeinträchtigt.
Fazit und Handlungsempfehlungen an die Politik und die politiknahe
Forschung
Die hier untersuchten Fallstudien bieten eine Momentaufnahme der deutschen
Gesellschaft und ihrer Bereitschaft, mit Andersartigkeit umzugehen. Beide
suggerieren, dass das Sicherheitsgefühl von Angehörigen jüdischer und
islamischer Gemeinden stark beeinträchtigt ist. Dies erschwert es, auf die
ohnehin sehr vorbehaltlichen Integrationsangebote der Mehrheitsgesellschaft
einzugehen. Für jüdische Bürger ist der größere historische Kontext von
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | IX
erheblicher Bedeutung, aber auch alltägliche Erfahrung von
Friedhofschändungen, Anschlägen auf Synagogen und tätlichen Angriffen. Für
viele Muslime, und besonders Immigranten aus der Türkei, ist die jüngste
deutsche Geschichte beladen mit den Anschlägen von Solingen und Mölln, dem
Mord an Marwa Al-Sharbini und den NSU Attentaten sowie den
kulturrassistischen Diskussionen um Muslime und den Islam, die im Rahmen der
Sarrazin-Debatte an Vehemenz zugenommen haben. Auch hier ist das
Sicherheitsgefühl von Muslimen in Deutschland stark beeinträchtigt und die
Hoffnung, von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden, eher prekär.
Hinzu kommt, dass die Überwachung und Stigmatisierung nicht gewalttätiger
und nicht radikaler islamischer Gruppen ihr Integrations- und internes
Reformpotenzial verkennt und eine mittelfristige Einbindung solcher Gruppen in
den „Mainstream“ verhindert.
Auf Grundlage dieser empirisch fundierten Beobachtungen formulieren wir die
folgenden Empfehlungen an Politik und die politiknahe Forschung:
Erörterung der aktuellen Debattenkultur in Deutschland und Bewertung
der Wirkung besonders polarisierender Debatten auf das
Zusammenleben in Deutschland. Hier geht es darum, zu untersuchen,
inwieweit öffentliche Debatten dahingehend unterstützt werden
können, dass sie aufklärerisch statt polarisierend geführt werden, aber
auch um die Einschätzung der Auswirkungen bisheriger Debatten.
Überdenken langanhaltender Observierungsstrategien von muslimischen
Organisationen und Auswertung ähnlicher Fälle, wie der Observierung
der sozialistischen linken und der Berufsverbote der 1970er Jahre. Es
ist auch zu klären, inwieweit eine langanhaltende und öffentlich
gemachte Überwachung, die nicht zu einem Verbot führt, in einem
liberalen Rechtsstaat prinzipiell vertreten werden kann.
Ausgleich
zwischen
den
Sicherheitsbedürfnissen
der
Mehrheits-
gesellschaft und dem Sicherheitsbedürfnis von Migranten und
Angehörigen religiöser Minderheiten. Ohne (Selbst-)Sicherheit und ein
gewisses Maß an „Willkommenskultur“ ist Integration weder nachhaltig
für das Individuum noch bereichernd für die Gesamtgesellschaft.
X | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Executive Summary
Diversity in a liberal society, where members of various minorities can thrive
together with members of the majority depends on at least two conditions: A
clear signal of welcome from the majority society and the safeguarding of the
individual security of migrants. This brief summarizes the findings of the Open
Society Foundation-funded research project Signals from the majority and
discusses two cases which are characterized by discriminating state behaviour
and exclusionist public debates in Germany and charts their impact among
immigrant and minority communities. The research is based on 29 qualitative indepth interviews, transcribed and analysed with qualitative data analysis
software.
The circumcision debate
The circumcision debate erupted in summer 2012, after a local administrative
court in Cologne effectively outlawed male circumcision in Germany. Polarising
and emotionally charged, the debate came to a tentative halt after the federal
government presented a draft law re-legalizing male circumcision and the
federal parliament voted in its favour. The interviews we conducted with Jewish
respondents, community representatives and academics suggest that many Jews
in Germany experienced the circumcision debate as a turning point in their
relationship with the majority society. It was the severe and belligerent nature
of the debates and the wide range of actors coming out forcefully against
circumcision, which shocked many Jewish respondents. They were particularly
dismayed by the discursive images, which surfaced in these debates. They
depict Jews as bad parents, child molesters and members of a pre-rational
religious community, which needs to be assimilated to conform to German
values. A rabbi and son of holocaust survivors remarked that he saw traces of
German suprematism and the attempt to “ennoble Jews” and teach them “what
real Judaism is” (i.e. suggest that liberal Judaism supposedly does not require
circumcision).
Many Jewish research partners experienced the debate as intrusive and
disrespectful, and some voiced serious concerns about the future of Jewish life
in Germany. The Muslim respondents however were less indignant. For Muslims,
the decisive turning point appears to have been the preceding debate on the
supposedly corrosive effect on Germany’s economy of Muslim immigration,
which was sparked by the publication of Thilo Sarrazin’s book “Germany
abolishes itself’ (Deutschland schafft sich ab). Published in 2010, the book sold
more than 1.5 million copies and argued that genetic, religious and cultural
predispositions explain the economic underperformance of Muslim immigrants
and particularly of Turks. For the Muslim respondents, the circumcision debate
appeared hence only as one more Islamophobic debate among many. Still, both
Jews and Muslims saw the circumcision debate as an alienating signal from the
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | XI
German majority society that denigrated their shared traditions as foreign and
primitive. The harsh nature of the debates came to bear on their daily
interactions with Germans and on their their identities as Jews and Muslims in
Germany. Despite this shared experience, however, Jewish Muslim solidarity
came only to a feeble start and ultimately failed in the context of the symbolic
faultiness of the Israeli Palestinian conflict.
Surveillance of Muslim organizations
The second case study dealt with Muslim organizations, particularly those that
are defined as “legalistic Islamist” movements by the Agency for the Protection
of the Constitution (Verfassungsschutz). These are non-violent, non-radical
Islamist and post-Islamist movements that are, however, deemed to be in
potential violation of the German constitution. We were interested in gauging
the impact on individuals and communities of long-term surveillance and the
Agency's publication strategy. Many of the members of these organizations were
at a loss as to why their group was subjected to surveillance, as they explicitly
reject violence, disagree with radical Islamist doctrine und seek to participate
in German society as pious Muslims. The series of murders of Turks, as well as a
Greek and a German police woman, by a terrorist group called the National
Socialist Underground (National Sozialistischer Untergrund, NSU), the initial
media reporting that reframed the murders as internal Turkish criminal affairs
(i.e. Doner Kebab murders) and the unresolved role of the local
Verfassungsschutz seemed to have eroded the respondents’ trust in German
institutions. Continued surveillance is indeed perceived as a strategy of
attrition. Some members of Islamic organisations under surveillance therefore
either leave these organizations or opt for risk minimizing behaviour –such as
the nondisclosure of membership– in order to avoid career setbacks or social
stigmatization.
Almost all respondents thought that the activities of the Agency were highly
problematic and criticized the power of interpretation, which it has acquired
together with the authority to define who is deemed a “good Muslim” and who
is not. This categorization also poisons debates within the different Muslim
communities, which are polarised, inter alia, by their status as observed or nonobserved community. Despite this generally negative frame of experience, most
respondents remain determined to struggle for recognition and acceptance by
the majority society. They seem to be supported in their quest by a sometimes
almost paradoxical respect for the German judiciary, but also by the solidarity
experienced within the in-group.
Conclusions and recommendations for political actors and practice-oriented
research
The two case studies represent a snapshot of German society and its ability to
engage with otherness and diversity. Both suggest that members of Jewish and
Muslim communities face challenges to their individual sense of security, which
XII | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
in turn hampers their ability to accept the rather conditional integration offers
made by the state and the majority society. Many Jewish citizens tend to see
exclusionist debates in the light of Germany’s history, but also through daily
experience of the desecration of cemeteries, attacks on synagogues and
individual violent assaults. For many Muslims, and particularly immigrants from
Turkey, Germany’s recent history is fraught with memories of the arson attacks
of Mölln in 1992 and Solingen in 1993, the murder in court of Marwa Al-Sharbini,
the murders committed by the National Socialist Underground and the culturally
racist sentiment against Muslims and Islam, which has become more assertive
since the Sarrazin debate in 2010. For Muslims too, the sense of security is
compromised and the hope to be accepted by the majority society as equal
citizens is only limited. To this overall picture we need to add that the
surveillance and stigmatization of non-violent and non-radical Muslim groups
underestimates and curtails their potential for internal reform and prevents
their mainstreaming in the medium term.
Based on these empirical observations, we would like to make the following
recommendations for political actors and practice-oriented research. We
believe that there is an urgent need for
an impact assessment on minority communities of the polarized and
polarizing debates of the last few years, as well as a campaign to
support enlightening rather than inciting public debates on otherness
and difference,
a
reconsideration
of
the
long-term
surveillance
of
Muslim
organizations, based on the evaluation of comparable cases of
surveillance such as that of the Socialist left in the 1970s. It also vital
to ascertain whether long-term observation that has not and is very
unlikely to lead to an eventual ban and that due to its public nature
stigmatizes organizations and their members, is reconcilable with
liberal notions of the rule of law,
a balance of the security concerns of the majority society and the
security needs of immigrants and members of religious minorities.
Without the notion of individual security of immigrants and minorities
and the availability of “Hospitability”, integration will neither be
sustainable for individuals, nor will it enrich society at large.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | XIII
XIV | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Teil A. Theoretische Ausgangsüberlegungen:
Integrations- und Sicherheitsparadoxe
Mitglieder von Minderheiten und Migrantengruppen müssen fortlaufend
Entscheidungen fällen, die ihren Platz in der Mehrheitsgesellschaft2 betreffen.
Dies sind bewusste und unbewusste Entscheidungsprozesse, die Teil eines
andauernden Aushandlungsprozesses sind, der sich im Alltag, im öffentlichen
Raum und im Kontakt mit Behörden und Mitmenschen verschiedenen Ursprungs
abspielt. Hier unterscheiden sich Mitglieder von Minderheiten und Immigranten
nicht grundsätzlich von anderen Akteuren in der Gesellschaft: Die alltägliche
Aushandlung der eigenen Position steht im Zentrum gesellschaftlicher
Interaktion. Ein Hauptunterschied besteht jedoch zwischen Einwanderern und
Minderheiten auf der einen Seite und Individuen, die sich der
Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen, auf der anderen. Mitglieder von
Minderheiten und Migrantengruppen müssen Entscheidungen bezüglich ihrer
Verortung in der Gesellschaft im Kontext von Ausgrenzung und sozialer
Herabsetzung fällen. Um ihre Identität zu entwickeln, müssen sie immer wieder
Kompromisse zwischen ihrer Gruppenidentität (ob selbstempfunden oder extern
projiziert, emisch oder etisch) und den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft
finden. Dies sind schwerwiegende Entscheidungen. Individuen sind einerseits
dem Druck ausgesetzt, den Erwartungen, Normen und Werten der
Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden, d.h. sich zu integrieren und „so wie
wir zu werden“, und andererseits den Erwartungen der „Ingroup“ zu
entsprechen, d.h. auch weiterhin authentische Mitglieder dieser Gruppe zu
bleiben. Der Bruch mit Erwartungen der Ingroup ist oft mit hohen Kosten
verbunden, die durch intervenierende Faktoren wie Klassenzugehörigkeit,
Ethnizität und Gender weiter verschärft werden. Marginalisierung und
Ausschluss aus der Ingroup sind mögliche Sanktionen. Andererseits kann der
Verlust des Rückhalts der Ingroup auch dazu führen, dass das Individuum sich
nun der Mehrheitsgesellschaft bedingungslos ausgeliefert fühlt.
Mehr noch als Individuen, deren legitime Mitgliedschaft in und Loyalität zu der
Mehrheitsgesellschaft normalerweise nicht in Zweifel gezogen wird, sind
Migranten und Mitglieder von Minderheiten daher auf das angewiesen, was der
britische Soziologie Anthony Giddens „ontologische Sicherheit“ nennt. Hierunter
verstehen wir das Grundbedürfnis von Individuen nach einem „Gefühl von
2
Der Begriff der Mehrheitsgesellschaft ist durchaus problematisch und vermutlich ein
deutsches Unikum, für das es keine Entsprechung im Französischen oder Englischen
gibt. Oft wird der Begriff zusammen mit dem ebenso problematischen Begriff der
„Parallelgesellschaft“ des Soziologen Wilhelm Heitmeyer benutzt, der auf einer
Wertung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen basiert. Hier verwenden wir den
Begriff als ein Synonym für den Teil der Bevölkerung in Deutschland, der sich der Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlt.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 1
Kontinuität und Ordnung in Ereignissen, eingeschlossen derer, die sich nicht in
der unmittelbar erfahrenen Umwelt des Individuums befinden“ (Giddens, 1991:
9).3 Es ist daher die Freiheit von Bedrohungen für die Eigenidentität, eine
Identität, die sich, wie bereits beschrieben, in einem konstanten Prozess der
Aushandlung mit der Umwelt befindet, die erforderlich ist, damit Individuen aus
einem Minderheitenkontext einen „sicheren“ Platz in der Mehrheitsgesellschaft
finden können.
Die Fähigkeit und
Kapazität sich in
der Mehrheitsgesellschaft zu
engagieren ist
davon abhängig, ob
das Integrationsangebot der
Mehrheitsgesellschaft glaubwürdig ist.
Die Fähigkeit und Kapazität sich in der Mehrheitsgesellschaft zu engagieren oder
zu integrieren ist daher wesentlich geprägt davon, ob das Angebot (und das
Beharren auf Integration) der Mehrheitsgesellschaft glaubwürdig und
dementsprechend die Erwartung angemessen ist, auch tatsächlich als
vollwertiges Mitglied angenommen zu werden. Die Idee der Gastfreundschaft
oder der Begriff der Hospitalität (Benhabib, 2006) und das Ausmaß, in dem
Migranten und Minderheiten von der Mehrheitsgesellschaft, von staatlichen
Stellen und Mediendiskursen positiv angenommen und „Willkommen“ geheißen
werden, ist hier daher von besonderer Bedeutung.
Das Integrationsparadox
Das Forschungsprojekt Signale aus der Mehrheitsgesellschaft setzt an diesem
Punkt an und baut auf der Kernannahme auf, dass in Deutschland, wie auch in
vielen anderen europäischen Ländern, ein sogenanntes „Integrationsparadox“
besteht. Auf der einen Seite ist hier ein niedriges Niveau an ontologischer und
physischer Sicherheit für Migranten und Minderheiten zu konstatieren.
Zahlreiche tödliche Übergriffe auf Migranten und die symbolische Gewalt
gegenüber Moscheen, Synagogen und besonders jüdischen Friedhöfen setzen
klare Zeichen, die von Mitgliedern der Minderheitengruppen und Migranten nicht
nur zur Kenntnis genommen werden, sondern zu einem zentralen Moment ihrer
Identitätsbildung in Deutschland werden. Auf der anderen Seite gibt es seitens
der Mehrheitsgesellschaft eine sehr akzentuierte Insistenz auf „Integration“ und
„Assimilation“, aber wenig Ansatzpunkte für „Inklusivität“.
Unsere Hypothese ist daher, dass diese Konstellation von Negativfaktoren –
Abwesenheit von ontologischer Sicherheit seitens der Mitglieder von
Minderheiten und Migrantengruppen bei gleichzeitiger Insistenz auf Integration
ohne Angebote der Inklusivität auf mehrheitsgesellschaftlicher Seite – bei der
Entscheidung für Integration nicht hilfreich ist. Ganz im Gegenteil scheint diese
Konstellation von Faktoren die Opportunitätskosten für Individuen, die sich mit
der Mehrheitsgesellschaft arrangieren wollen, zu erhöhen und erst die
Grundlagen für „Parallelgesellschaften“ zu schaffen. Deren Enstehung wird
besonders in Deutschland oft für Integrationsprobleme verantwortlich gemacht
werden. Verkürzt ausgedrückt: Wenn Mitgliedern einer bestimmten sozialen
oder ethnischen Gruppe der Eintritt in bestimmte Clubs verwehrt wird und sich
daraufhin einige Mitglieder dieser Gruppe zusammentun, um ihre eigenen Clubs
3
Alle Zitate in diesem Abschnitt sind aus dem Englischen übersetzt.
2 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
zu eröffnen, dann ist das Grundproblem nicht die Existenz des „parallelen
Clubs“, sondern die ursächliche Präsenz diskriminierenden Handelns.
Bei der Diskussion um die Schnittstellen zwischen Migration, Minderheiten und
Sicherheit geht es uns daher nicht um das Sicherheitsempfinden und die Ängste
der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Institutionen. Es geht uns um die
Perspektive von Mitgliedern der Minderheiten- und Migrantengemeinschaften
und darum, wie das Integrationsparadox individuelle Entscheidungen beeinflusst
und inwieweit es Individuen mit Migrations- oder Minderheitenhintergrund
ermöglicht, sich in Deutschland „heimisch“ oder „zu Hause“ zu fühlen. Mit
dieser Perspektivverschiebung positionieren wir das Forschungsprojekt auch im
Kontext der kritischen Sicherheitsstudien, die weniger an den
Sicherheitsvorstellungen hegemonialer Institutionen und staatlicher
Sicherheitsdiskurse interessiert sind, sondern an den Erfahrungen der Subjekte
der Versicherheitlichung4 und, im vorliegenden Fall, an den Erfahrungen der
Migranten und Minderheiten sowie an den Infrastrukturen der Macht und
Überwachung. Es geht uns also um das Verständnis, wie Muslime, aber auch –
obwohl in anderer Form – Juden in Deutschland zum Objekt unterschiedlicher
Sicherheitsdiskurse werden und wie sich diese Erfahrung auf ihr eigenes
Sicherheitsgefühl und ihre Identitätsbildung auswirken.
Das Sicherheitsparadox
Der zweite Ausgangspunkt dieses Forschungsprojektes ist ein weiteres Paradox,
das Etienne Balibar identifiziert. Balibar’s Kontext ist das Erstarken der extrem
rechten und ausländerfeindlichen Front National in den achtziger Jahren: „Es ist
ein Paradox, gar eine Provokation“, so Balibar, „die Hauptursache für die
Unsicherheit in Frankreich unter jenen zu suchen, deren Existenz durch ein
Maximum an Unsicherheit gekennzeichnet ist, unter Arbeitsmigranten“ (zitiert
nach Freedman, 2004: 1). Dieses „Sicherheitsparadox“ können wir auch in der
„Angst vor niedrigen Zahlen“ von Arjun Appadurai (2006) wiederfinden, d.h. in
der Angst der Mehrheitsgesellschaft vor einer relativ kleinen, wirtschaftlich und
symbolisch marginalisierten Minderheit, mit sehr begrenztem Zugang zu
Ressourcen der Machtausübung.
Das Grundproblem ist nicht
die Existenz von
„parallelen
Clubs“, sondern
die ursächliche
Präsenz
diskriminierenden
Die Versicherheitlichung der Migrationsdebatte in der Europäischen Union und in
ihren Mitgliedstaaten ist freilich nichts Neues. Die Debatte begann lange vor
dem 11. September 2001 und ist ursächlich mit der Schaffung eines „grenzfreien
Europas“ verbunden (Kostakopoulou, 2001; auch Huysmanns, 2006), dessen
primäre Sicherheitsrisiken schon bald in „Immigration, Drogenhandel und
internationaler Kriminalität“ gefunden wurden. Doch es ist nicht zu verkennen,
dass die Anschläge auf das World Trade Centre in New York eine neuartige Welle
4
Handelns.
Gemeint ist hier der in der englischsprachigen Literatur geläufige Begriff der
„Securitization“, d.h. der Definition aller Aspekte einer bestimmten Gruppe oder eines
bestimmten Themas unter dem Blickwinkel der Sicherheit einer anderen Gruppe oder
eines Staates (z.B. Islam in Gesellschaften mit nicht-muslimischer Bevölkerungsmehrheit). Der Begriff der „Versicherheitlichung“ ist nicht unproblematisch, wird aber
hier als direkte Übersetzung des englischen Wortes benutzt.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 3
Sicherheit wird in
öffentlichen
Diskussionen oft
als „Sicherheit
des Landes“ oder
als Sicherheit der
Nicht-Migranten,
also der Mehrheits
-gesellschaft
verstanden.
von Sicherheitsmaßnahmen und eine Ausweitung des Bedrohungsgefühls
verursacht haben, die auf einem grundsätzlich anderen und höheren Niveau der
Angst operieren (Tirman, 2006). Seit dem 11. September ist die „Politik des
Unbehagens“ immer wieder bestimmend gewesen (Bigo und Tsoukala, 2008). In
den Vereinigten Staaten wie auch in Europa hat der „War on Terror“ maßgeblich
zu einem Framing von Immigration und Migranten als Sicherheitsfrage
beigetragen. In Frankreich hat dies zu „zunehmend repressiven und
ausgrenzenden Maßnahmen und zu einer entsprechenden Rechtsprechung
geführt,
zusammen
mit
einer
erstarkenden
Insistenz
auf
Integration“ (Freedman, 2004: 3). Ähnliche Entwicklungen können überall in
Europa beobachtet werden, nicht zuletzt in Deutschland.
Ein zentraler Bestandteil dieser exklusionistischen Wende ist die Ausweitung der
Kapazitäten der Überwachung von muslimischen Migranten, die in den
Vereinigten Staaten wie in der EU oft als potenzielle Unterstützer islamistischen
Terrors angesehen werden. Lazaridis unterstreicht in diesem Zusammenhang,
dass „Muslime (als Migranten oder Angehörige ethnischer Minderheiten)
besonders stark ausgeprägten Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen
unterzogen werden“ (Lazaridis, 2011: 1). In einigen Fällen können diese
Maßnahmen so weit gehen, dass die Sicherheitspraxis, zu einer „Technik des
Regierens“ (Huysmanns, 2006: 6) wird, oder sogar die Form einer Politik des
Ausnahmezustands im Sinne von Agamben (Agamben, 2005) annimmt.
Es gibt einen weiteren Aspekt, der in der kritischen Sicherheitsliteratur seit
9/11von besonderer Bedeutung ist: Der „Teufelskreis von Angebot und
Nachfrage für Sicherheit“ (Karyotis, 2011: 3). Dies ist ein selektiver Zyklus, der
durch eine konstant anwachsende Nachfrage für die Überwachung und
Versicherheitlichung einiger Akteure, wie z.B. organisierter Muslime, geprägt
ist, während andere Gruppen, wie z.B. rechtsextreme Netzwerke, diesem
„Sicherheitshype“ entgehen können. Der Fall der effektiven Nichtbeobachtung
des Nationalsozialistischen Untergrunds ist hier ein gutes Beispiel. Aus diesen
Fällen der Versicherheitlichung bestimmter Gruppen und ihrer Überwachung
leiten sich auch Fragen nach der Legitimität solch selektiven Staatshandelns und
demokratischer Rechenschaftspflicht ab. Diese Fragen werden wir ebenfalls
berücksichtigen.
Das Forschungsprojekt Signale
Sicherheit wird in öffentlichen Diskussionen oft als „Sicherheit des Landes“ oder
als Sicherheit der Nicht-Migranten, also der Mehrheitsgesellschaft verstanden.
Ausgenommen von diesen Sicherheitsdiskursen ist aber die Sicherheit jener, die
zum Objekt von Überwachung und des sogenannten „Framing“ (als z.B.
gewaltbereit oder kindesmisshandelnd) werden. Dies wird in Teil B näher
betrachtet. Im Forschungsprojekt Signale sind dies die Angehörigen der
muslimischen und jüdischen Gemeinden in Deutschland. Wie Balibar in seinem
„Sicherheitsparadox“ betont, sind Migranten par definitionem sozial,
4 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
wirtschaftlich und politisch benachteiligt und können sich daher nicht oder nur
beschränkter „ontologischer Sicherheit“ erfreuen. Dieser Zustand wird weiter
durch die „Unsicherheit der Dislokation“ (Bilici, 2011: 597) und die
problematische Erfahrung der Migration, aber auch durch die historische
Besonderheit jüdischer Identität in Deutschland verstärkt. Interessanterweise
beobachtete Freedman schon 2004 in Frankreich, dass die
Sicherheitsperspektive „die Vulnerabilität verschiedener Kategorien von
Migranten erhöht hat“ (Freedman, 2004: 3). Die wachsende Unsicherheit von
Migranten und besonders von Muslimen in verschiedenen europäischen Ländern
ist auch in neueren Studien belegt (Lazaridis, 2011; Togral, 2011; Pallida, 2011).
Über fünfzig Prozent der Befragten in einer Studie in den Vereinigten Staaten
konstatieren einen signifikanten Zuwachs der „empfunden Bedrohung“ von
Muslimen und anderen Migrantengruppen seit 9/11 (Tirman, 2006: 3).
In diesem kritischen Augenblick und parallel zu dem für Deutschland wichtigen
potenziellen Wendepunkt des NSU-Gerichtsverfahrens untersuchen wir die
Auswirkung von Versicherheitlichung und Überwachung auf muslimische und
jüdische Gemeinden. Das Ziel ist nicht die Offenlegung von ungleichen
Machtgefällen, die die Beziehungen zwischen Staat und Mehrheitsgesellschaft
auf der einen Seite und Migranten und Mitgliedern von Minderheiten auf der
anderen Seite regulieren. Diese Asymmetrien halten wir in allen Gesellschaften
für konstituierend, also auch in der deutschen. Wir sind an der
Sicherheitsdebatte interessiert, da wir der Ansicht sind, dass „Hospitalität“ und
„ontologische Sicherheit“ unabdingbare Voraussetzungen für die Integration von
Migranten und Minderheiten und ihrer Akzeptanz in der deutschen
Mehrheitsgesellschaft sind.
Auf Grundlage der oben angeführten Erwägungen wollen wir uns zwei klar
begrenzten, wenn auch miteinander in Verbindung stehenden
Sicherheitsdomänen widmen. Der erste Fall beschäftigt sich mit der
„Beschneidungsdebatte“, die der Domäne der rassischen und kulturellen
Fantasien und Ängste zugeordnet werden kann (zumindest aus Sicht der
Mehrheitsgesellschaft) sowie der Erfahrung der radikalen Ablehnung der eigenen
Identität und Kultur (bei Juden und Muslimen). Der zweite Fall entspricht
konventionellen Formen der Versicherheitlichung und erkundet die öffentliche
und in der deutschen Öffentlichkeit kaum kritisch begleitete Überwachung postislamistischer Gruppen wie Milli Görüş durch den Verfassungsschutz (Schiffauer,
2010). Nicht als post-islamistisch, aber ebenso als Teil des sogenannten
„legalistischen Islamismus“ wird die Muslimische Jugend in Deutschland e.V.
verstanden. Dem Verein wird eine sich oberflächlich an der freiheitlichrechtlichen Grundordnung orientierte latente Grundgesetzaversion attestiert.
„Hospitalität“ und
„ontologische
Sicherheit“ sind
Voraussetzungen
für die Integration
von Migranten
und Minderheiten
und ihrer
Akzeptanz in der
deutschen Mehrheitsgesellschaft
sind.
Beide Fälle legen eine Untersuchung nahe, da ihre Wahrnehmung stark zwischen
der Mehrheitsgesellschaft und den Angehörigen von Minderheiten und
Migrantengruppen divergiert. In beiden Fällen kann man Anzeichen
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 5
Dieses
Forschungsprojekt
baut auf
insgesamt 29
Interviews auf,
die zwischen
Dezember 2012
und April 2013
durchgeführt und
ausgewertet
wurden.
epistemischer Gewalt nachweisen und beide Fälle enthalten wichtige
symbolische Momente in der Konstruktion deutscher, jüdischer und muslimischer
Identität (sowie aller ebenfalls zutreffenden Bindestrichidentitäten) in
Deutschland.
Datensammlung und -auswertung
Dieses Forschungsprojekt baut auf insgesamt 29 Interviews auf, die zwischen
Dezember 2012 und April 2013 durchgeführt und ausgewertet wurden. In beiden
Fallstudien rekonstruieren wir die Auswirkungen versicherheitlichender
„Frames“ und ausgrenzenden Staatshandelns auf Muslime und Juden. Empirische
Grundlage sind Experteninterviews mit Gemeindemitgliedern, Vertretern von
Gemeindeorganisationen und Verbänden sowie engagierten Individuen, die im
Schneeball-Verfahren angesprochen wurden. Für das Teilprojekt Beschneidung
wurden zehn Interviews vor allem mit jüdischen Mandatsträgern und politisch
aktiven Persönlichkeiten durchgeführt. Das Teilprojekt Überwachung stützt sich
auf neunzehn Interviews, die mit Mitgliedern und Mandatsträgern aus Verbänden
wie der Islamischen Gemeinde Milli Görüş e.V. (IGMG), der Muslimischen Jugend
Deutschland e.V. (MJD) und der Islamischen Gemeinschaft Deutschlands e.V.
(IGD) durchgeführt wurden. Diese Verbände werden vom Verfassungsschutz dem
„legalistischen Islam“ zugerechnet.
Die Interviews wurden mit Hilfe von zwei halbstandardisierten Frageleitfäden
durchgeführt. Bei diesen Interviews handelte es sich um oft lange und
detaillierte Tiefeninterviews, in denen sich die Interviewpartner und
-partnerinnen zu traumatischen Erfahrungen äußerten. Viele der interviewten
Muslime (und einige jüdische Befragte) baten mit Rücksicht auf ihre persönliche
Situation darum, nicht mit Namen aufgeführt zu werden. In diesen Fällen haben
wir uns für Pseudonyme entschieden, die keinen Rückschluss auf die
tatsächliche Person zulassen, jedoch dem gleichen ethnischen und kulturellen
Kontext entstammen (siehe Übersicht der Gesprächsteilnehmer im Anhang).
Alle Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und mit Hilfe eines
elektronischen Datenauswertungsprogramms kodiert und analysiert. Die
Vorstellung der Befunde in beiden Teilberichten orientiert sich an den Themen
der Interviews und an der sich aus der Analyse ergebenden Kategorienstruktur.
Die dem Bericht zu Grunde liegenden Zitate basieren ausschließlich auf diesen
Interviews und wurden, wo dies mit Hinsicht auf Lesbarkeit und Verständlichkeit
zweckmäßig schien, gekürzt bzw. leicht korrigiert.
6 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Literaturverzeichnis
Giorgio Agamben (2005) State of Exception, Chicago: The University of Chicago
Press.
Arjun Appadurai (2006) Fear of Small Numbers: An Essay on the Geography of
Anger, Durham, Duke University Press.
Seyla Benhabib (2006) Another cosmopolitanism, Oxford, Oxford University
Press.
Didier Bigo and Anastassia Tsoukala (2008) Terror, Insecurity and Liberty:
Illiberal Practices of Liberal Regimes after 9/11, Abingdon; New York,
Routledge.
Mucahit Bilici (2011) Homeland Insecurity: How Immigrant Muslims Naturalise
America in Islam, Comparative Studies in Society and History, Vol. 53, Issue 3,
July 2011.
Jane Freedman (2004) Immigration and Insecurity in France, Aldershot,
Ashgate.
Anthony Giddens (1991) Modernity and Self-Identity: Self and Society in the
Late Modern Age, Cambridge, Polity.
Jef Huysmans (2006) The Politics of Insecurity: Fear, Migration, and Asylum in
the EU, London; New York, Routledge.
Georgios Karyotis (2011) The Fallacy of securitizing Migration: Elite Rationality
and Unintended Consequences, in: Gabriella Lazaridis, Security, Insecurity, and
Migration in Europe, Farnham; Burlington, Vt., Ashgate, pp. 13-30.
Theodora Kostakopoulou (2001) Citizenship, Identity and Immigration in the
European Union: Between Past and Future, Manchester, Manchester Univ. Press.
Gabriella Lazaridis (2011) Security, Insecurity, and Migration in Europe,
Farnham; Burlington, Vt., Ashgate.
Salvatore Palidda (2011) Racial Criminalization of Migrants in the 21st Century,
Farnham; Burlington, Vt., Ashgate.
Werner Schiffauer (2010) Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der
Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş, Berlin, Suhrkamp Verlag.
John Tirman (2006) Immigration and Insecurity: Post-9/11 Fear in the United
States, MIT CIS Audits of the Conventional Wisdom, Issue 9, MIT Center for
International Studies.
Burcu Togral (2011) Convergence of Securitization of Migration and ‘New
Racism’ in Europe: Rise of Culturalism and Disappearance of Politics, in:
Gabriella Lazaridis, Security, Insecurity, and Migration in Europe, Farnham;
Burlington, Vt., Ashgate, pp. 219-238.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 7
8 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Teil B. Die Beschneidungsdebatte und ihre
Folgen für Juden und Muslime in Deutschland
Einleitung
In diesem ersten Teil wird untersucht, wie sich die Beschneidungsdebatte als
gesamtgesellschaftliches Handeln auf das Sicherheitsgefühl von Juden und
Muslimen in Deutschland auswirkt. Aufbauend auf der in der Einleitung
skizzierten Problemstellung, wird dabei der Frage nachgegangen, wie die
Beschneidungsdebatte in jüdischen und muslimischen Kontexten
wahrgenommen, kontextualisiert und durch spezifisch historische Erfahrungen
interpretiert wird. Es wird aufgezeigt, wie sich die betroffenen Juden und
Muslime zu den antisemitischen und anti-muslimischen Diskursen äußern und
positionieren. Zudem wird die Wirkung der Debatte auf das jüdisch-muslimische
Verhältnis in Deutschland untersucht und nach möglichen Allianzen gefragt.
Sehen jüdische Gemeinden Muslime aufgrund der Beschneidungsdebatte anders,
gibt es die Möglichkeit einer Kooperation jenseits der geopolitischen Trennlinien
zwischen Juden und Muslimen?
Der erste Teil ist wie folgt gegliedert: In Kapitel 1 wird einleitend ein kurzer
Überblick über die Debatte gegeben und dabei insbesondere auf deren
Vorgeschichte, beteiligte Akteure und deren Positionen eingegangen. Daraufhin
werden in Kapitel 2 die empirischen Befunde präsentiert und in einem Fazit
Schlussbetrachtungen gezogen.
1 . D i e B e s c h n e i d u n g s d e b a t t e : Ü b e r b l i c k u n d K o n t e xt
Am 7. Mai 2012 entschied das Landgericht Köln, dass die rituelle Beschneidung
von minderjährigen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung zu werten ist.
Mit diesem Urteil wurde eine religiöse Tradition, die in Deutschland vornehmlich
von Juden und Muslimen praktiziert wird, als rechtswidrig erklärt und die
betroffenen Personen – Eltern und Ärzte oder Beschneider – kriminalisiert.
Die öffentliche Debatte über das Urteil setzte allerdings erst einen Monat
später, mit dem Erscheinen eines Artikels in der Financial Times Deutschland am
27. Juli 2012 ein.5 In diesem Artikel kommt vor allem der Jurist Holm Putzke zu
Wort, ein entschiedener Gegner der Beschneidung, der erstmals 2008 im
deutschen Ärzteblatt ein Verbot von Beschneidungen forderte und auf dessen
strafrechtliche Auslegungen sich der Kölner Richter in seinem Urteilsspruch
beruft. Infolge des Artikels setzte eine öffentliche Diskussion ein, die als
„Beschneidungsdebatte“ in deutschen und internationalen Medien, der Politik
5
Siehe http://www.ftd.de/politik/deutschland/:koerperverletzung-gericht-stellt-reli
gioese-beschneidung-unter-strafe/70054618.html.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 9
und in weiten Teilen der Öffentlichkeit Beachtung fand. Die wesentlichen
Argumentationslinien, die sich sowohl in der Urteilsfindung des Kölner Richters
als auch in der weiteren Debatte gegenüberstanden, sind das Recht auf freie
Religionsausübung sowie das Elternrecht einerseits und das Recht auf
körperliche Unversehrtheit und das Kindeswohl andererseits.
Neben der Auseinandersetzung in Medien und Politik wurde die Frage, ob
religiöse Beschneidungen mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar sind, in der
gesamten Gesellschaft diskutiert. In der Debatte standen u.a. Kinder- und
Menschenrechtler, erklärte Atheisten, Ärzte und Juristen Vertretern jüdischer
und muslimischer Verbände gegenüber. Letztere wurden zudem von kirchlichen
Verbänden in ihrem Protest gegen das Kölner Urteil unterstützt. Rabbiner aus
unterschiedlichen deutschen Groß- und Kleinstädten berichten von Hass-Mails.
Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen mussten verstärkt werden.
Als Antwort auf die „virtuelle Pogromstimmung“6 organisierte die jüdische
Gemeinde in Berlin einen „Kippa-Flashmob“7, bei dem mehrere Hundert Kippatragende Personen den Kurfürstendamm entlang zogen, um gegen den
antisemitisch motivierten Überfall auf Rabbiner Daniel Alter zu protestieren.
Einige Tage später demonstrierten die Teilnehmer einer interreligiösen
Kundgebung gegen das Beschneidungsverbot in der Berliner Innenstadt, wobei
mehrere prominente Vertreter jüdischer und muslimischer Gemeinden ihre
Kritik am Kölner Urteil vortrugen.8
Nach internationaler Kritik, Selbstkritik der Bundeskanzlerin und
einvernehmlicher Kritik von jüdischen und muslimischen Verbänden wurde das
Beschneidungsverbot auf die Tagesordnung der Bundestagsversammlung gesetzt
und die Regierung nach intensiven Diskussionen mit der Klärung der unsicheren
Rechtslage beauftragt.9 Am 12. Dezember 2012 wurde ein Gesetzentwurf der
Bundesregierung mit großer Mehrheit angenommen, der religiöse
6
7
8
9
10
So beschreibt der Frankfurter Rabbiner Andrew Steiman seine Erlebnisse im Zuge der
Debatte zu der auch tägliche Hass-Mails gehören, siehe http://www.fr-online.de/
rhein-main/diskussion-um-beschneidung-kurz-den-rabbi-beschimpfen,1472796,
17011464.html.
Siehe http://www.berliner-zeitung.de/berlin/demo-mit-kippa-kopfbedeckung-kippaflashmob-gegen-antisemitismus,10809148,17025434.html.
Eine Presseschau zu der Demonstration findet sich hier: http://beschneidungsdemo.
wordpress.com/.
Als Beispiel für internationale Reaktionen siehe http://www.spiegel.de/panorama/
justiz/europaeische-rabbiner-kritisieren-koelner-urteil-zu-beschneidung-a844100.html.
Pressemitteilung des ZDM: http://zentralrat.de/20584.php.
Pressemitteilung des ZDJ: Zum Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung von
Jungen: http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3705.html.
Zur Stellungnahme der Bundeskanzlerin siehe http://www.sueddeutsche.de/politik/
diskussion-ueber-religioeses-ritual-merkel-will-beschneidung-erlauben-1.1414103.
Siehe http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/42042381_ kw50_de_
beschneidung/.
10 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Beschneidungen, sofern sie „nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ erfolgen,
legalisiert.10 Juden und Muslime begrüßten das Urteil und der Zentralrat der
Juden erklärte die Ausbildung der religiösen Beschneider, der Mohalim, zu
formalisieren.11
Trotz Klärung der Rechtslage sind bei den betroffenen Juden und Muslimen
Unsicherheit und ein verändertes Selbstverständnis sowie ein Misstrauen dem
Staat und seinen Institutionen gegenüber zurückgeblieben. Die Reaktionen aus
der Mehrheitsbevölkerung deuten auf ein signifikantes Unverständnis und eine
weitgehende Ablehnung der Tradition der Beschneidung hin, die vor allem das
deutsch-jüdische Verhältnis nachhaltig beeinflussen.
2. Befunde und Themen
Zur Datenerhebung wurden qualitative Leitfadeninterviews mit jüdischen und
muslimischen Personen durchgeführt. Es wurden insgesamt sieben jüdische
(sechs Männer und eine Frau) und drei muslimische männliche Personen
interviewt. Die Gesprächspartner wurden aufgrund ihres Status als Experten
ausgewählt, d.h. sie haben sich aktiv in die Debatte eingebracht oder bekleiden
repräsentative Funktionen in jüdischen oder muslimischen Gemeinden (siehe
Anhang). Die Dauer der Interviews betrug im Schnitt eine Stunde. Alle
Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und mit dem
Datenauswertungsprogramm MaxQDA kodiert und analysiert. Die Vorstellung der
Befunde orientiert sich an den Kategorien und Themen der Interviews und ist
gegliedert in die Abschnitte Wahrnehmung der Debatte, Gesellschaftlicher
Kontext der Debatte, Verortung in der Gesellschaft und Zugehörigkeitsgefühl,
sowie die Beschneidungsdebatte als „Turning Point“.
2.1 Wahrnehmung der Debatte
Die Interviewpartner haben die Beschneidungsdebatte aus verschiedenen
Perspektiven wahrgenommen und unterschiedliche Konfrontationspunkte erlebt
sowie Diskursstränge und Akteure persönlich unterschiedlich erfahren. Hier geht
es daher um die differenzierte Darstellung der Rezeption der Debatte.
2.1.1 Konfrontationspunkte
An der Beschneidungsdebatte haben sich verschiedene Akteure mit
unterschiedlichen Standpunkten beteiligt. Die Spannweite der Positionen der
Beschneidungsgegner reicht dabei von der Betrachtung ritueller Beschneidungen
an minderjährigen Jungen als einer „leichten Form“ der Genitalverstümmelung
11
Siehe folgende Pressemitteilungen: Zur Verabschiedung des Gesetzes zur Beschneidung von Jungen: http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3924.html.
Zentralrat organisiert Ausbildung von Mohalim in Deutschland: http://
www.zentralratdjuden.de/de/article/3773.html.
ZMD begrüßt Beschluss des Bundestages zur Beschneidung: http://
zentralrat.de/21548.php.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 11
bis hin zu der Annahme, die rituelle Beschneidung werde, wie auch die
Hexenverbrennung, historisch überwunden. Dies zeigt, dass beim Thema rituelle
Beschneidung von Jungen eine enorme Vielfalt an Meinungen und Ansichten
zusammenkommt, die von unterschiedlichen Weltbildern, Sozialisationskontexten und Gruppenzugehörigkeiten geprägt ist. In diesem Abschnitt werden
die wesentlichen Konfrontationspunkte aus der Sicht der betroffenen Juden und
Muslime dargestellt.
Kinderrechte vs. Glaubensfreiheit und Erziehungsrecht
In der Beschneidungsdebatte stehen unterschiedliche Menschenrechte in
Konflikt: das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf freie
Ausübung der Religion und Glaubensfreiheit. Dass sich die religiös begründete
Beschneidung an minderjährigen Jungen in diesem Spannungsfeld befindet, ist
allen Interviewpartnern bewusst. Damit geht die Einsicht einher, dass die
Gegner der rituellen Beschneidung nicht grundsätzlich von Antisemitismus oder
anti-muslimischem Rassismus motiviert sind, sondern in der vorliegenden
Debatte tatsächlich eine ethische Abwägungsfrage vorhanden ist. Dies
verdeutlicht die folgende Aussage von Sergey Lagodinsky, Jurist und Mitglied der
Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin:
Also das ist objektiv gesehen eine spannungsreiche Frage und deswegen bin ich da
auch nicht der Meinung, das nur auf Antisemitismus oder anti-muslimische
Ressentiments zurückzuführen, sondern darauf, dass eben hier eine sehr
schwierige Abwägungsfrage tatsächlich vor uns ist. Deswegen will ich da nicht
reduktionistisch sein. Also es gibt Leute, die wirklich mit besten, nicht nur, aber
auch mit besten Absichten eben eine gegensätzliche Meinung vertreten haben.
Aufbauend auf dem Spannungsfeld von ritueller Beschneidung als Menschenrecht
einerseits und Verstoß gegen die Menschenrechte andererseits, waren die
Interviewpartner der Meinung, dass die Frage der Rechtmäßigkeit von ritueller
Beschneidung bzw. ihrer Vereinbarkeit mit dem deutschen Rechtssystem eine
legitime Frage darstellt, wie Rabbiner David Cohen bemerkt:
Die Frage danach, ob rituelle Beschneidung mit deutschem Recht vereinbar ist,
bzw. ob das gesetzlich geregelt werden kann oder gesetzlich geregelt werden
muss, ist als solche noch eine legitime Frage, das kann man diskutieren, wie ich ja
jetzt schon mehrfach angedeutet habe. Das Problem ist dann, was ich ja auch aus
dem Titel Ihrer Arbeit herausgehört habe, was am Rande dieser Debatte steht.
Dementsprechend empfanden die Gesprächspartner nicht die juristische
Debatte zur Beschneidung an sich als problematisch, sondern vielmehr die damit
einhergehenden ausgrenzenden Zuschreibungen, Vorurteile und Vorwürfe. Ein
wesentlicher Konfliktpunkt ist das Kindeswohl, auf das sich in der Debatte die
gegensätzlichen Parteien in ihrer Argumentation berufen. Zum Beispiel schwingt
in einem Plädoyer gegen Beschneidung aufbauend auf dem Argument, dass diese
nicht dem Wohl des Kindes entspreche, die diskursive Vorstellung mit, dass
Juden und Muslime nicht an dem Wohl ihrer Kinder interessiert sind bzw. diese
nicht (ausreichend) lieben. Diese Definition des Kindeswohls anhand der Normen
der Mehrheitsgesellschaft wurde von Shlomit Tulgan, Jüdin türkischer Herkunft
und in der Bildungsabteilung einer jüdischen Kultureinrichtung tätig,
insbesondere vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen und von der
Mehrheitsgesellschaft getragenen Verfolgung und Vernichtung europäischer
Juden kritisiert:
12 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Also ich versuche ja immer in der ganzen Diskussion den Holocaust rauszulassen.
Aber im Endeffekt ganz rauslassen kann man ihn doch auch wieder nicht und wenn
wir jetzt nur von meinen eigenen Emotionen sprechen in dieser Situation, dann
kann ich echt sagen, dass ich in dem Moment schon auch dachte, ach jetzt macht
ihr euch auf einmal Sorgen um das Wohl unserer Kinder? Und vor 60, oder 70, 80
Jahren, was war da? Das war schon natürlich ein bisschen so der Gedanke. Jetzt
kommt ihr und wollt uns sagen, was für unsere Kinder das Beste ist?
Von einigen Gesprächspartnern wurde, zusätzlich zu der Kritik an der Dominanz
der mehrheitsgesellschaftlichen Vorstellung von Kindeswohl, Empörung darüber
geäußert, dass ihnen diese mehrheitsgesellschaftliche Definition von einer
außenstehenden Autorität (hier das Kölner Landesgericht) aufgezwungen wurde.
Entgegen der in der Kölner Urteilsbegründung vorgebrachten Definition des
Kindeswohls und der im Diskurs vorherrschenden Bilder körperlicher
Unversehrtheit, bemerkt David Cohen, dass Eltern ständig gezwungen sind,
Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen, die ihre physische und psychische
Entwicklung beeinflussen könne:
Die Frage ist für mich ganz einfach, die einzige Frage, die man halbwegs
verträglich diskutieren kann: ist es möglich, das in deutschem Recht zu
genehmigen oder muss das zwingend verboten werden? Das ist für mich die
relevante Frage. Ich denke nicht, dass es Körperverletzung ist. Natürlich bestimmt
man etwas für sein Kind, natürlich kann man so argumentieren. Aber das tun wir
permanent. Auf welche Schule geht unser Kind? Welchen Sport macht unser Kind?
Kriegt es eine Zahnspange oder nicht? Kriegt es Hormone zum Wachstum anregen
oder nicht? Wir treffen ja laufend Entscheidungen und dazu gehört auch die Frage
zu welcher Religionsgemeinschaft dein Kind gehört.
Das obige Zitat spricht ebenfalls den von den betroffenen Juden und Muslimen
vorgebrachten Aspekt des Elternrechts an. Im Fall der rituellen Beschneidung
geht es den Gesprächspartnern nicht nur um das Recht auf die religiöse
Erziehung ihrer Kinder, sondern darüber hinaus ist es von fundamentaler
Bedeutung, mit Hilfe der Beschneidung die Zugehörigkeit zum Judentum zu
manifestieren, wie der im interreligiösen Dialog engagierte Jurastudent Mike
Delberg herausstellt:
Es gab Leute, die gesagt haben, dass sie es nicht okay finden. Dass Beschneidung
ein bleibender Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes ist und dass
das Kind nicht darüber entscheiden kann. Dem Kind wird eine Religion
aufgezwungen und wir finden das nicht okay. Aber dann habe ich darauf auch
genauso geantwortet. Für ein Kind die Entscheidung zu treffen, nicht beschnitten
zu werden, also nicht ein vollwertiger Teil der jüdischen Community zu sein, die
Möglichkeit zu nehmen, eine Bar Mitzwa zu haben, bedeutet ja auch, dass man
dem Kind etwas aufzwingt, sagen wir mal den Atheismus bis zu 14 Jahren, was ja
auch ein Vorschlag gewesen ist, wenn man sagt, dass die Kinder selbst
entscheiden können, wenn sie religionsmündig sind. Bis 14 Jahren den Atheismus
aufzuzwingen, ist ja auch nicht richtig. Was ist denn eine Religion? Was ist denn
Atheismus, was ist Judentum, Islam und Christentum? Es ist auch eine
Weltanschauung und warum soll die eine Weltanschauung besser sein als die
andere, bzw. wer sind die Leute, die meinen, zu wissen, dass das besser ist. Das
sind die größten Konfrontationspunkte gewesen. Einerseits, dass man die Kinder
verletzt und andererseits, dass man meint, ihnen etwas aufzuzwingen.
Ach jetzt macht
ihr euch auf
einmal Sorgen um
das Wohl unserer
Kinder? Und vor
60, oder 70, 80
Jahren, was war
da?
Die Frage der rituellen Beschneidung berührt demnach auch die grundsätzliche
Frage der freien Ausübung von Religion, die alle Gesprächspartner in der
Debatte gefährdet sehen. Anti-religiös motivierte Anti-Beschneidungsmetaphorik
wurde in der Debatte z.B. vom Arbeitskreis Laizisten in der SPD bedient, die auf
ihrer Facebook-Seite für die Unterzeichnung einer Petition zum Verbot von
ritueller Beschneidung werben.12 Der Historiker und Publizist Alexander Hasgall
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 13
versteht diese Haltung als Tendenz „Religionsfreiheit als eine Freiheit von
Religion zu verstehen“ und nicht als die Freiheit der Ausübung von Religion. Die
von anti-religiösen Einstellungen motivierten Beschneidungsgegner wehren sich
gegen die Auffassung, dass eine Religion auf anderen Werten aufbauen kann, als
denen der Mehrheitsgesellschaft. Das Wirken dieser Anti-Beschneidungsmetaphorik ist enorm und zeigt sich u.a. darin, dass in der Bevölkerung, unter
Berufung auf die Kinderrechte, eine mehrheitliche Zustimmung zu einem
Beschneidungsverbot vorherrscht, wie Hasgall bemerkt:
Und in der Statistik in der Bevölkerung hast du eine mehrheitliche Zustimmung zu
einem Beschneidungsverbot und wie gesagt auch unter politischen Eliten, grad
eben mit dieser Mischung von so eher naiven Vorstellungen oder vereinfacht
reduzierenden Vorstellungen von Kinderrechten, in denen man das Recht auf
religiöse Erziehung gar nicht wahrnimmt, und von einem starken Wirken dieser
Laizisten auch, eine Tendenz Religionsfreiheit nur noch als eine Freiheit von
Religion zu verstehen und nicht als Freiheit der Religionsausübung, was ja immer
auch darauf basiert, dass wenn du eine Religion ausübst, dass du andere Werte
auch auslebst wie die Mehrheitsgesellschaft.
Medizinische Folgewirkungen?
Eine weitere Ebene der Konfrontation betrifft die Frage der Gesundheit und der
medizinischen Folgen von Beschneidungen, die Gegenstand mehrerer
wissenschaftlicher Untersuchungen und Langzeitstudien ist.13 Allerdings lässt
sich kein direkter Zusammenhang von Beschneidung und gesundheitlichen
Vorteilen aufgrund der methodologischen Diversität der Studien und des Fehlens
eines wissenschaftlichen Konsenses feststellen und somit auch keine
medizinische Empfehlung für das routinierte Durchführen von Beschneidungen
aussprechen.14 Jedoch werden z.B. in Ländern mit einer hohen Rate an HIVInfektionen von der WHO Beschneidungen als mögliche Präventionsmaßnahme
explizit empfohlen.15
Der Konfrontationspunkt der medizinischen Folgen und den damit
zusammenhängenden Diskursen über Folgewirkungen und Komplikationen von
Beschneidungen wird von mehreren Gesprächsteilnehmern angesprochen. Die
Argumentationen dieser Gesprächspartner beziehen sich dabei auf die
12
13
14
15
16
Auf der Facebook-Seite des „Berliner Gesprächskreises Laizistinnen und Laizisten in
der SPD“ findet sich ebenso ein Link für eine Online-Petition zur Straffreiheit von
Beschneidungen, siehe https://www.facebook.com/laizistischesozisberlin?fref=ts.
Eine ausführliche Analyse der Diskurse um die medizinischen Vor- und Nachteile von
Beschneidungen hat das Ramer Institut des American Jewish Committee erstellt:
Siehe http://www.ajc-germany.org/de/ajc-studie-deckt-unwissenschaftlicheargumente-der-beschneidungsdebatte-auf.
Vgl. Eldar Sarajlic (2012) The Circumcision Controversy. A Case for Critical
Liberalism. New York. Unveröffentlichtes Hintergrundpaper für das Forschungsprojekt Signale.
Siehe http://www.who.int/hiv/topics/malecircumcision/en/.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Argument der hygienischen Vorteile von
ritueller Beschneidung in der Meinung von Shlomit Tulgan „hinkt“, da es ihrer
Meinung nach eher als ein Rechtfertigungsgrund für rituelle Beschneidungen zu sehen
ist.
14 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
gesundheitlichen Vorzüge der Beschneidung von Männern, und die Ablehnung
der Vorstellung, dass Beschneidungen Traumata auslösen oder die männliche
Sexualität negativ beeinflussen. 16 David Cohen betont, dass die Reaktionen bzgl.
möglicher Risiken von Beschneidungen übertrieben sind und wissenschaftlichen
Erkenntnissen widersprechen. Insbesondere Mustafa Yoldaş, der selbst Arzt ist
und rituelle Beschneidungen durchführt, insistiert darauf, dass männliche
Beschneidungen medizinisch von Vorteil sind und „diese Wahrheit in
Deutschland nicht anerkannt ist“. Um sein Argument zu belegen, betont er, dass
in den USA ca. 70% der Neugeborenen beschnitten werden. Des Weiteren stellt
er den in der Debatte vorgebrachten Traumadiskurs in Frage:
Da frage ich mich, wo bitte die Traumatisierung dieses Kindes ist? Traumatisierung
wäre, wenn man das verböte und die Familien bei dem nächsten Urlaub in die
Türkei oder nach Afrika flögen, wo es nicht überall hygienische hohe Standards
gibt, wie in Deutschland. Wo manchmal mit einem rostigen Rasiermesser der
Dorffrisör sich an den Jungs vergeht sozusagen, muss man ja sagen. Ob das dem
Kindeswohl dient mit einem Beschneidungsverbot, vermag ich zu bezweifeln.
Der Traumadiskurs in der Beschneidungsdebatte wird auch von Mike Delberg
heftig kritisiert, der, dass er eine Umfrage in seinem Freundeskreis durchgeführt
hat, um herauszufinden, ob seine männlichen beschnittenen Freunde ein
Trauma von ihrer Beschneidung davongetragen haben.
Wie gesagt, ich habe in meinem gesamten Freundeskreis rumgefragt und ich habe
nicht eine einzige Person – und ich habe wirklich versucht aus den Leuten
herauszukitzeln, ob sie ein Trauma davongetragen haben – aber es gab keine
Person, die mir jemals gesagt hat, dass sie ein Trauma davongetragen hat, dass sie
es bereut, dass sie es rückgängig machen möchte. Keinen einzigen Menschen.
In ähnlicher Weise kritisiert David Cohen die Nicht-Belegbarkeit der
Traumatheorie und setzt diese zusätzlich in den Kontext der zugeschriebenen
Vorstellung einer negativ erlebten Sexualität:
Es gibt keine Traumata! Es gibt keinen Beweis für ein Trauma oder Ähnliches. Das
ist ja auch was mich so fassungslos macht [...] gravierende sexuelle Störungen,
Ausdruck einer lustfeindlichen Spiritualität, was ist denn das für ein Schwachsinn?
Judentum hat zur Sexualität einen positiven Bezug. Sexualität ist etwas Gott
gegebenes, etwas Wichtiges, etwas Wunderschönes und etwas Heiliges. Eine
lustvolle und positive Wahrnehmung von Sexualität wird durch die Beschneidung
nicht behindert und nicht zerstört.
Gravierende
sexuelle Störungen,
Ausdruck lustfeindlicher
Spiritualität, was
ist das für ein
Schwachsinn?
2.1.2 Diskursive Bilder zur Beschneidung
Wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, waren die Gesprächspartner
nicht grundsätzlich von der Beschneidungsdebatte als juristischem Diskurs, also
der Frage nach der Vereinbarkeit von ritueller Beschneidung mit dem deutschen
Grundgesetz, schockiert. Stattdessen waren die in der Debatte mitschwingenden
diskursiven Bilder und Vorstellungen für alle Gesprächspartner äußerst
verletzend. Diese reichen von einer Gleichsetzung der Beschneidung mit
Kinderquälerei und Hexenverbrennung zu der Wahrnehmung des Aktes der
Beschneidung als ein blutiges Ritual oder als sexueller Missbrauch von Kindern.
Die Vorstellung, dass Beschneidungen unhygienisch sind oder ein Ritual, bei dem
der halbe Penis abgehackt wird gehen einher mit Phantasien von beschnittenen
Männern als unvollständigen Menschen.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 15
Die Vehemenz und Kompromisslosigkeit, mit der die Debatte geführt wurde,
steht dabei im Gegensatz zur Eigenwahrnehmung von Beschneidung als Teil der
eigenen Identität, die keine negativen Folgewirkungen und Traumata
hervorruft, sondern als ein positiver Aspekt der eigenen Identität
wahrgenommen wird. Zudem wird in der Debatte laut Alexander Hasgall der
„moderne“ Aspekt der Beschneidung ausgeblendet, der es ermöglicht, eine
globale jüdische Identität zu leben und zudem Orthodoxe, Liberale und Säkulare
verbindet. Hier offenbart sich der enge Zusammenhang zwischen Akzeptanz,
Identität und Sicherheit.
2.1.3 Akteure und Medien
Die Rolle der Medien wird von mehreren Gesprächspartnern kritisiert. Rabbiner
Cohen erinnert der Umgang der Medien mit der Beschneidungsdebatte an ihren
Umgang mit dem Nahostkonflikt, bei dem seiner Meinung nach ebenfalls sehr
„unsachlich und einseitig polemisiert wird“. Mike Delberg bemerkt, dass in der
Berichterstattung zur Beschneidungsdebatte häufig dieselben Personen eine
öffentliche mediale Stimme bekommen, was dazu führt, dass ihre Meinung eine
Allgemeingültigkeit und Glaubwürdigkeit bekommt. Zu einem einflussreichen
Akteur zählt allen Gesprächspartnern nach der Rechtswissenschaftler Holm
Putzke, der sich neben seinem juristischen Wirken v.a. durch seine AntiBeschneidungspolemik hervorgetan hat. Des Weiteren werden Rolf Herzberg,
Necla Kelek und Organisationen wie die Giordano Bruno Stiftung und der
deutsche Kinder- und Ärztebund genannt.
Laut Delberg haben die Medien die Debatte zudem „künstlich aufgeputscht“,
was dazu geführt hat, dass die Diskussion stark emotionalisiert wurde und sich
medial zwei Richtungen herausgebildet haben, die entsprechend polarisieren.
Delberg hebt die Berichterstattung des Springer Verlags positiv hervor und
kritisiert die FAZ, die „Vorurteile abgepfeffert hat und in welche Richtung die
gehen, das wissen wir ja“.17 Die Rolle der Medien im Schaffen einer
Willkommenskultur ist von erheblicher Bedeutung. Delberg vermutet, dass u.a.
aufgrund der polemisierenden, von antisemitischen Untertönen getragenen
Mediendebatten jüdische Personen beginnen, aus Schweden auszuwandern, und
bemerkt im selben Atemzug, dass er hofft, dass es in Deutschland „niemals so
weit kommt“.
Weitere Einschätzungen der Rolle der Medien in der Debatte sind von
persönlichen Erfahrungen und Interessen der Interviewteilnehmer geprägt. Levi
Salomon, Regisseur und Sprecher des Jüdischen Forums für Demokratie und
gegen Antisemitismus, kritisiert insbesondere einige Medienmeldungen im
17
In der Berichterstattung der FAZ kommen hauptsächlich Gegner von Beschneidung zu
Wort, siehe z.B. Sonja Süss und Philip Eppelsheim: http://www.faz.net/aktuell/
politik/inland/beschneidungsdebatte-auch-die-seele-leidet-11827698.html.
16 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Vorfeld der von ihm mitorganisierten Demonstration für das Recht auf
Beschneidung, die unter dem Tenor „die jüdische Gemeinde marschiert
gemeinsam mit der HAMAS“ verfasst wurden. Demgegenüber hebt er einen
Artikel in der TAZ von Çiğdem Akyol18 positiv hervor, die sich kritisch mit dem
Verhalten der Antideutschen oder „israelsolidarischen Kreise“ im Bezug auf die
Debatte auseinandersetzt.
Neben der Berichterstattung in Zeitungen wurde die Beschneidungsdebatte
ebenfalls in mehreren Fernsehtalkshows zum Thema. Um einen Einblick in die
Wahrnehmung dieser Sendungen zu geben, soll im Folgenden kurz auf Shlomit
Tulgans Einschätzung einer Talkrunde bei Anne Will unter dem Motto „Streit um
das Beschneidungsurteil – Religionsfreiheit ade?“, eingegangen werden. 19 In der
Talkshow waren von der jüdischen Gemeinde der orthodoxe Rabbiner Yithsak
Ehrenberg und als muslimische Vertreterin die Journalistin Khola Mariam Hübsch
eingeladen, die den „Beschneidungsgegnern“ Seyran Ateş (Anwältin und
Frauenrechtlerin), Holm Putzke (Jurist) und Angelika Kallwass
(Fernsehmoderatorin, Psychotherapeutin und Atheistin) gegenüberstanden. Am
Beispiel dieser Sendung kritisiert Shlomit Tulgan die grundsätzliche Art der
Repräsentation jüdischer Personen in der medialen Debatte. Ihrer Meinung nach
konnte sich der orthodoxe Rabbiner Ehrenberg in der Diskussion nur bedingt
argumentativ behaupten. Anstatt Rabbiner Ehrenberg hätte sie sich einen
Rabbiner auf dem Podium gewünscht, der „orthodox, aber trotzdem weltlich“
argumentieren können und „im Thema drin“ sei. Die Präsenz von Rabbiner
Ehrenberg bedient demnach eine gewisse Vorstellung von Juden oder dem
Judentum in Deutschland. In dieser Verbildlichung des jüdischen Lebens finden
zudem die Bemühungen um die Herausbildung der Vielfalt jüdischer
Lebensweisen, die, laut Tulgan, durch die Debatte enorm zurückgeworfen
wurden, kaum Beachtung.
2.2 Gesellschaftlicher Kontext
Die Einschätzung des gesellschaftlichen Kontextes durch die Gesprächspartner,
der die Debatte begünstigt und getragen hat, ist von besonderer Bedeutung.
Dabei wird besonders der Antisemitismus und anti-muslimische Rassismus
genannt, aber auch ein spezifischer Minderheitendiskurs, in dem die Kultur der
Mehrheitsgesellschaft als Norm gesetzt wird und statt auf Inklusion auf
Anpassung insistiert wird und zuletzt auch der Vorwurf der
Religionsfeindlichkeit, die mit einem Säkularisierungsdiskurs einhergehe. Um die
gesellschaftliche Kontextualisierung der Debatte abzurunden, wird schließlich
ein Einblick in die Vergleichbarkeit mit anderen Debatten gegeben.
18
Vgl. http://www.taz.de/!100929.
19
Einzusehen unter http://www.youtube.com/watch?v=XrjA0YMeHHA.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 17
2.2.1 Antisemitismus und anti-muslimischer Rassismus
Die Beschneidungsdebatte zeugt nach Meinung der Interviewpartner von einem
Wandel des gesellschaftlichen Klimas und der Debattenkultur in Bezug auf Juden
in Deutschland. Antijüdische Klischees scheinen eher akzeptiert zu werden, wie
das folgende Zitat von Mike Delberg nahelegt:
Ich hätte nicht gedacht, dass so eine Diskussion in Deutschland jemals nochmal
aufkommen würde. Man merkt natürlich, wenn man auch viel in politischen
Ebenen unterwegs ist, dass Antisemitismus und sagen wir mal antijüdische – ich
rede jetzt gerade von der jüdischen Ebene – antijüdische Klischees zum
allgemeinen Gesprächsthema und salonfähig geworden sind. Dieses Klima ist
gerade in den letzten ein, zwei Jahren dabei sich extrem zu wandeln. Früher
haben sich die Leute teilweise noch nicht getraut etwas gegen den Holocaust oder
gegen jüdische Personen zu sagen, allein aus Angst und Respekt vor der
Vergangenheit, so kommt jetzt immer mehr die Meinung herauf, dass jüdische
Leute auf der deutschen Schuld des Holocausts sitzen und das man sich deswegen
alles gefallen lassen muss.
Ich hätte nicht
gedacht, dass so
eine Diskussion in
Deutschland
jemals nochmal
aufkommen
würde.
Den zweiten Punkt, den Delberg in diesem Zitat anspricht, die Vorstellung, dass
„jüdische Leute auf der Schuld des Holocausts sitzen“, wird auch von David
Cohen als ein zentraler Wendepunkt in der veränderten Debatte in Bezug auf
Juden in Deutschland interpretiert. Den Anfangspunkt dieser Veränderung sehen
die Gesprächsteilnehmer in der Rede von Martin Walser in der Paulskirche am
11. Oktober 1998, in der er Auschwitz als „Moralkeule“ gegenüber der
deutschen Öffentlichkeit bezeichnete und damit implizierte, dass bestimmte
Themen nicht öffentlich angesprochen werden dürften. Vor dem Hintergrund
dieses Diskurses wäre es laut Cohen „naiv“ gewesen, von der
Beschneidungsdebatte „wirklich überrascht“ gewesen zu sein:
Also ich denke, dass seit einigen Jahren, wie soll ich das sagen, das spitzt sich ja
in so eine Richtung auch zu. Da gibt es ja die relativ bekannte Rede von Herrn
Walser in der Paulskirche mit der er meiner Meinung nach eben auch dieser
Polemik und dieser hochproblematischen Form der Auseinandersetzung am Rande
der Beschneidungsdebatte Tor und Tür geöffnet hat. Nicht nur in dieser Debatte
sondern im Allgemeinen auch. Ich habe latent oder unterschwellig die
Befürchtung, dass so etwas oder Schlimmeres passiert, seit Walser damit in der
Form an die Öffentlichkeit gegangen ist.
In einem ähnlichen Kontext steht die Debatte über Günther Grass und sein
Gedicht „Was gesagt werden muss“, die für Levi Salomon als Beweis dafür gilt,
wie stark antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung vertreten sind. Unter
anderem jedoch bedingt durch die enorme Kritik an Grass’ Gedicht, die
Unterstützung seitens intellektueller Kreise und seinen zahlreichen Erfahrungen
im Bereich der Bekämpfung von Antisemitismus hat er darauf vertraut, dass
Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft nicht toleriert wird. Dieses
Vertrauen wurde aber im Zuge der Beschneidungsdebatte erschüttert. Für
Salomon ist dies ein klarer Hinweis dafür, dass Antisemitismus und Rassismus
auch „in der Mitte der Gesellschaft“ präsent sind.
Alexander Hasgall hingegen betont den Zusammenhang zwischen Antisemitismus
und antiislamischen Positionierungen der Beschneidungsgegner, da Kritik an
rituellen Beschneidungen die Möglichkeit bietet, rassistische und antisemitische
Ressentiments zu kanalisieren. Insofern lässt sich die Feindschaft gegenüber
Muslimen auch als Wegbereiter für antisemitische Einstellungen interpretieren.
18 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Für Hasgall stellte es daher „nur eine Frage der Zeit“ dar, dass, nachdem sich
Debatten über Integration oftmals auf muslimische Personen beziehen,
irgendwann auch „eine jüdische Tradition“ angegangen wird.
Die muslimischen Gesprächspartner hingegen interpretieren die
Beschneidungsdebatte im Kontext von Rassismus. Für Zülfukar Çetin stellt der
Beschneidungstopos ein Instrument zur Legitimation von Rassismus dar und ist
Teil eines Zivilisierungsdiskurses, der die Gesellschaft in zivilisierte und nichtzivilisierte Menschen einteilt. Die Beschneidungsdebatte wird dabei als Teil
eines Alltagsrassismus wahrgenommen. Aus diesem Grund war Zülfukar Çetin
nicht überrascht, als er zum ersten Mal von dem Kölner Urteil hörte, da seiner
Meinung nach Muslime ständig mit neuen stigmatisierenden Themen konfrontiert
werden. Seine Wahrnehmung des Kölner Urteils und die Interpretation der
Debatte verweisen zudem auf die Selbstpositionierung als Muslim in
Deutschland, die im Gegensatz zum Zugehörigkeitsgefühl der jüdischen
Gesprächspartner steht (vgl. 2.3 Verortung in der Gesellschaft und
Zugehörigkeitsgefühl).
Ein Aspekt der Stigmatisierung von Muslimen ist die Zuschreibung oder
Unterstellung antisemitischer Einstellungen. Zu diesem Punkt bemerkt Salih
Alexander Wolter, dass die Auslagerung von Antisemitismus an muslimische
Migranten, die ebenfalls im Kontext der Post-9/11-Ära stark zugenommen hat,
in der Beschneidungsdebatte nicht mehr als Argument funktioniert. Dieser
Aspekt verweist auf einen spezifischen Minderheitendiskurs in Deutschland, in
dem, laut Zülfukar Çetin, das Problem immer bei den „Anderen“ und während
der Beschneidungsdebatte speziell bei der „Religion der Anderen“ gesucht wird.
Und was eben
bleibt […] dass
man sich jetzt
auch noch
pausenlos
Gedanken über
das Aussehen und
den Zustand des
Schwanzes macht.
2.2.2 Spezifischer Minderheitendiskurs und Othering
Die Gesprächspartner sehen die Beschneidungsdebatte als Anhaltspunkt dafür,
dass in Deutschland anstelle einer auf Inklusion zielenden Willkommenskultur
ein spezifischer Minderheitendiskurs vorherrscht, in dem die Kultur der
Mehrheitsgesellschaft als Norm gesetzt und Traditionen von Minderheiten nicht
anerkannt oder respektiert werden. Einseitige Integrationsforderungen gehen
mit einem hohen Maß an Anpassungsdruck auf die Minderheiten in Deutschland,
hier Juden und Muslime, einher. Diese werden im Zuge dessen als die Anderen
definiert. Somit ergibt sich ein permanentes gesellschaftliches Othering, Um es
in den Worten von Rabbiner Goldstein auszudrücken:
Der Vorsitzende der Gemeinde, Michael Friedmann, sagt Deutschland ist ein gutes
Land. Aber immer gibt es ein Thema gegen die Juden, aber auch andere, Muslime
und andere.
Salih Alexander Wolter bringt den Aspekt des Otherings in Bezug auf
muslimische Männer mit folgender Bemerkung auf den Punkt:
Und was eben bleibt und über Jahre bleiben wird, ist dieses Othering, dass
pausenlos gegen muslimische Männer jeden Alters aufgebracht wird, dass man sich
jetzt auch noch pausenlos Gedanken über das Aussehen und den Zustand des
Schwanzes macht. Diese zweifelhafte neue Qualität ist jetzt auch noch
dazugekommen und das war so verletzend, das wird wohl über Jahre bleiben
glaube ich.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 19
Die Debatte scheint also die Grenzen der „multikulturellen“ Gesellschaft
aufzuzeigen, wie Alexander Hasgall festgestellt hat. Gesellschaftliche Diversität
wird nur in einem bestimmten, von der Mehrheitsgesellschaft gesetztem
Rahmen, anerkannt. Einer vermeintlichen Andersartigkeit, die nicht integrierbar
scheint, wird mit Repression statt Toleranz begegnet, wie Hasgall
folgendermaßen ausführt:
Gewisse Formen
von Diversität
werden
akzeptiert
werden, aber
sobald dann
etwas nicht
integrierbar ist
und nicht
verstehbar ist,
wird das nicht
akzeptiert.
Ich glaube, dass wir in einer enorm komplexen gesellschaftlichen Situation sind,
dass eigentlich die Gesellschaft immer liberaler wird, immer diverser, dass
gleichzeitig aber in gewissen Momenten Leute auch mehr Probleme haben mit
Differenz. Also das gewisse Formen von Diversität akzeptiert werden, aber sobald
dann doch etwas nicht integrierbar ist und nicht verstehbar ist, das dann nicht
einfach als Teil einer Toleranz akzeptiert wird, sondern dann auch durchaus
schnell repressive Züge zum Vorschein kommen.
Demnach handelt es sich bei der Beschneidungsdebatte um eine
Vielfaltsdiskussion, die davon zeugt, dass die Gesellschaft immer diverser und
komplexer wird. Angehörige der Mehrheitsgesellschaft können häufig mit dieser
Komplexität nicht umgehen und kritisieren Angehörige von Minderheiten, sobald
sie nicht mehr den mehrheitsgesellschaftlich entworfenen Bildern entsprechen.
Auch Sergey Lagodinsky interpretiert die Beschneidungsdebatte als eine
Vielfaltsdiskussion oder einen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft über die
Minderheiten mit dem Versuch, die Normen der Normalität zu definieren und
diese den Minderheiten zu oktroyieren. In ähnlicher Weise argumentiert Mike
Delberg, der die Beschneidungsdebatte als Signal an Minderheiten versteht, sich
den Normen der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Die Weltanschauung der
Mehrheitsgesellschaft wird als Norm gesetzt und da die religiös begründete
Beschneidung nicht den Normen der Mehrheitsgesellschaft entspricht, wird sie
nicht anerkannt. In der Beschneidungsdebatte hat sich anhand des Kölner Urteils
gezeigt, wie sich diese Normsetzung über Gesetze manifestiert, z.B. anhand der
Behauptung, dass Ärzte, die Beschneidungen durchführen, den hippokratischen
Eid verletzen würden. Weitere mehrheitsgesellschaftliche Normen, die in der
Debatte aufgezwungen werden und die die verweigerte Anerkennung von
religiöser Diversität offenlegen, sind laut Delberg Vorstellungen über
Kindererziehung und Liebe, das Verständnis von Freiheit und die Vorstellungen
über Religiosität und Atheismus.
Das Oktroyieren mehrheitsgesellschaftlicher Normen scheint mit der NichtAnerkennung von Traditionen und des Expertenwissens von Minderheiten
einherzugehen; im Fall der Beschneidung ist dies das Wissen der Mohalim.
Rabbiner Goldstein kritisiert, dass Ärzte weniger Erfahrungen mit
Beschneidungen haben, aber als Experten gelten, also einen Status haben, der
ihm als religiöser Beschneider oder Mohel abgesprochen wird. Dieser Gegensatz
reiht sich ein in den Diskurs der aufgeklärten Ärzte bzw. der wissenschaftlichen
mehrheitsgesellschaftlichen Autorität über unaufgeklärte Religionen, der zur
Legitimation mehrheitsgesellschaftlicher Herrschaftsinteressen dient. In der
Debatte wird so ein alleiniger Glaube an die Wissenschaft forciert, in der sich
Medizin als neue Religion verstehen lässt und Ärzte selbst in religiösen Fragen
als Autoritäten gelten. Das Kölner Urteil oder auch die Berliner
20 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Beschneidungsverordnung20 zeigen das Unvermögen des Staates, ein spezifisches
Wissen von Minderheiten anzunehmen und zu respektieren, wie Alexander
Hasgall kritisiert.
Die Gründe für diesen Normierungsdiskurs sehen die Gesprächspartner zum
einen in der Unwissenheit über Bräuche und Traditionen von Minderheiten, die
gleichzeitig Zeugnis über das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland
ablegen, und zum anderen in einer spezifisch deutschen Mentalität, die sich
durch Argwohn und Skepsis gegenüber Unbekanntem auszeichnet, wie Shlomit
Tulgan ausführt:
Vielleicht ist sowieso irgendwo ein Argwohn schon da und man hatte nie so etwas
Richtiges in der Hand und ist von selbst nie drauf gekommen und dachte ja
wirklich das ist ja tatsächlich so, jetzt haben wir endlich mal was, wo wir die am
Schwanz packen können sozusagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Was ich in
Deutschland persönlich gemerkt habe ist, dass alles was man nicht so wirklich
kennt, das kann nicht gut sein. Man sagt doch, da gibt es doch diesen Spruch, was
der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht. Und das trifft wirklich auf Deutschland
im Großen und Ganzen, auf die deutsche Mentalität, sehr stark zu. Das ist zwar
jetzt sehr verallgemeinernd. Es gibt natürlich immer Ausnahmen, vor allem in
Großstädten usw., aber im Großen und Ganzen ist das meine Erfahrung, die ich
gemacht habe.
Des Weiteren weist Shlomit Tulgan darauf hin, dass das Aufzwingen
mehrheitsgesellschaftlicher Vorstellungen und Normen hinderlich für
Diskussionen und Entwicklungen in den jeweiligen Religionsgemeinschaften ist.
Die Diskussion über rituelle Beschneidung, wie auch über andere religiöse
Rituale und Bräuche, sollten eher in den jeweiligen Religionsgemeinschaften,
frei von mehrheitsgesellschaftlicher Normsetzung, diskutiert werden. Diesem
Punkt stimmt Sergey Lagodinsky zu und betont, dass die Debatte Möglichkeiten
versperrt, innerhalb von religiösen Gemeinschaften zu diskutieren und so eine
komplett gegensätzliche Wirkung als die von den Beschneidungsgegnern
gewünschte erzielt wird.
Neben Unwissenheit und einem spezifischem Argwohn gegenüber vermeintlich
Fremden wird der Diskurs gegenüber Minderheiten aus einer universalistischen
Perspektive geführt, die Allgemeingültigkeit beansprucht und sich insbesondere
20
Vom Berliner Senat wurde am 05. September 2012 die „Berliner Rechtspraxis zum
Umgang mit Beschneidungen“ verabschiedet, die, gedacht als eine Übergangsregelung bis zu einer bundesweiten einheitlichen Regelung, die Praxis der religiösen Beschneidungen in Berlin unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin ermöglichen
sollte. Zu den Auflagen zählten unter anderem die Notwendigkeit einer schriftlichen
Einwilligungserklärung der Eltern, die Vorlage einer schriftlichen Dokumentation der
religiösen Motivation und die Voraussetzung, dass Beschneidungen von einem approbierten Arzt durchgeführt werden, siehe http://www.berlin.de/sen/justiz/presse/
archiv/20120905.1035.374740.html. Die Berliner Rechtspraxis wurde von jüdischen
und muslimischen Verbänden kritisiert, vgl. die Stellungnahme des American Jewish
Committee dazu unter: http://www.ajc-germany.org/de/ajc-studie-deckt-unwissen
schaftliche-argumente-der-beschneidungsdebatte-auf.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 21
in Fragen von Religion und Säkularismus herauskristallisiert, wie der nächste
Abschnitt zeigen wird.
Ein Großteil
2.2.3 Religionsfeindlichkeit und Säkularisierungsdiskurs
Alle Gesprächspartner berichten, dass Religionsfeindlichkeit eine Rolle in der
Debatte und in der Motivation der Beschneidungsgegner spielt. 21 Dabei
kritisieren die Gesprächspartner insbesondere das spezifische Verständnis von
Religion, das dem religionsfeindlichen Diskurs (vor und während der
Beschneidungsdebatte) zu Grunde liegt und dem ein „aufgeklärtes“, säkulares
Weltbild gegenüber gesetzt wird, wie im folgenden Zitat von Mike Delberg
deutlich wird:
Ja, es ist eine Feindlichkeit gegenüber Religionen, das stimmt. Ein Großteil der
‚aufgeklärten Gesellschaft‘ denkt, dass das System mit Religionen überholt ist und
fühlt sich erhaben darüber und das ist genau der Fehler.
der ‚aufgeklärten
Gesellschaft‘
denkt, dass
Die Sichtweise auf Religion als ein abstraktes und überholtes System,
einhergehend mit der versuchten Durchsetzung der Normen der „aufgeklärten“
Mehrheitsgesellschaft widerspricht der eigenen Vorstellung von Religion als
moralischem Wert, der intergenerational weitergegeben wird und als
Lebensmotivation dient, wie Delberg weiter ausführt:
das System mit
Religion sind für mich moralische Werte, ist für mich der Glaube in etwas, was
größer ist als man selbst, und wenn das einen motiviert, dann lass es die Leute
doch motivieren. Ich würde jeden glauben lassen, was er glauben möchte, wenn
es nicht meinen privaten Alltag tangiert.
Religionen überholt ist und fühlt
sich erhaben
darüber und
das ist genau
der Fehler.
Dabei sind es zum Großteil Unwissenheit über religiöse Werte und die
verschiedenen Bedeutungsebenen von Religion, die Religionsfeindlichkeit und
das Festhalten an mehrheitsgesellschaftlichen Normen bedingen. Vor diesem
Hintergrund kritisiert Alexander Hasgall Reaktionen von Personen aus seinem
Umfeld, die beim Thema Antisemitismusbekämpfung grundsätzlich seine
Position teilen, aber im Zuge der Beschneidungsdebatte mit einer
Problemstellung konfrontiert waren, die nicht in ihr Weltbild passt. Anstatt das
Anliegen der betroffenen Juden zu unterstützen, erfährt Hasgall Ablehnung, die
ihm verdeutlicht, dass das Festhalten an der eigenen ideologischen Position, die
mit einer „grundlegenden Anti-Religionshaltung“ verbunden ist, wichtiger ist,
als die Bereitschaft Solidarität zu zeigen. Hasgall kritisiert, dass das Beharren
auf die Durchsetzung des eigenen atheistisch geprägten Weltbildes zum einen
den diskursiven Rahmen der Debatte völlig vernachlässigt und zum anderen das
Zustandekommen des Weltbildes nicht reflektiert. Die eigene Sozialisation in
eine christlich bestimmte Gesellschaft wird von daher nicht reflektiert und
stattdessen ein Universalismus der eigenen Argumente postuliert, der mit einer
universalen Setzung des eigenen Weltbildes einhergeht. Ein Aspekt dieser Nicht-
21
Eine Ausnahme bildet Shlomit Tulgan, in deren Wahrnehmung es in der Debatte nicht
um Religionsfeindlichkeit an sich ging, sondern explizit um dem Judentum und dem
Islam zugehörige Bräuche. Allerdings räumt sie ein, dass religiöse oder gläubige Menschen in Europa „belächelt“ werden, was sich als anti-religiöse Stimmung verstehen
lässt.
22 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Beachtung der eigenen religiösen Sozialisation ist die unhinterfragte
Übertragung christlicher Vorstellungen auf das Judentum, wodurch
fundamentale Aspekte dieser Religion, wie der Gedanke der Kollektivität oder
der Praxis, als Jude geboren zu werden, missachtet werden. Dass Judentum
mehr bedeutet, als die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und die
jüdische Identität mehrere Komponenten beinhalten kann, wird ebenso
ausgeblendet.22 Juden und Muslime werden so zu Projektionsflächen für
Religionsfeindlichkeit, wobei das Beschneidungstopos als Stellvertreter für das
„Ausleben von einem Vulgäratheismus“ dient, wie Hasgall resümiert:
Ich persönlich denke immer, es geht doch nicht nur um Anti-Religion, sondern es
geht auch ganz konkret um das eigene Verhältnis, das natürlich christlich, oder in
Deutschland sozialisierte, egal ob Ost oder West, Menschen mit dem eigenen
religiösen Erbe haben. So erscheint es mir hier zurzeit, dass es in dem Sinne in
Deutschland viele Menschen, wenn sie sich als Atheisten bewegen, sie daher auch
so einen Konflikt mit dem eigenen, mit Religion, haben, und bei vielen die
Beschneidung durchaus auch so ein Stellvertreter oder auch ein Ort ist, wo sie
einen Vulgäratheismus ausleben konnten/können ohne Rücksicht auf Verluste. Und
wie gesagt, da fand ich halt das Problem, das Juden oftmals oder auch die
Muslime da nur Statisten sind für die Religionsfeindlichkeit.
Die Kritik am Nicht-Hinterfragen des Zustandekommens der eigenen
Religionsfeindlichkeit wird ebenso von Salih Alexander Wolter geteilt, der
betont, dass dekonstruktivistische, postkoloniale und rassismuskritische
Reflektionen in der Auseinandersetzung mit Religionsfeindlichkeit völlig fehlen.
Die Abwehr der Auseinandersetzung führt zudem zu der Unterstellung, dass
Religion nach einem Muster funktioniert, „wie wir es mehrheitlich kennen“.
Diese Wahrnehmung wiederum, an der mit „Verbissenheit“ festgehalten wird,
bedingt ein einseitiges Bild vom Islam und verhindert den Blick auf das weit
gefächerte Spektrum im Islam. Auch Levi Salomon betont die „Militanz“ der
Beschneidungsgegner, die aus einer religionsfeindlichen, atheistischen Position
heraus argumentieren und ordnet diese in die Prägung durch ein atheistisches
Weltbild ein, das, ausgehend von einer „wissenschaftlichen AntiReligionsdisziplin“ in der Sowjetunion, seinen Eingang in linke Diskurse und die
anti-religiöse Sozialisation in der DDR gefunden hat.
22
Als zentralen Unterschied zwischen Christentum und Judentum benennt Alexander
Hasgall die religiöse Symbolik, die u.a. auf die historischen Entstehungsbedingungen
der beiden Religionen zurückzuführen ist. Im Gegensatz zum Christentum, das sich zu
einer Weltreligion entwickelt hat, ist das Judentum als eine Stammesreligion entstanden. Während für die Zugehörigkeit zum Christentum das innere Bekenntnis ausschlaggebend ist, sind im Judentum nach außen gerichtete Symbole, die eine kollektive Identität durch praktische Handlungen nachvollziehbar machen (z.B. durch ein
gemeinsames Gebet), von Bedeutung. Von daher kritisiert Hasgall den Vorschlag,
symbolische Beschneidungen durchzuführen, wie von einigen Beschneidungsgegnern,
unter Berufung auf ein Gerücht über Juden in England, die (angeblich) symbolische
Beschneidungen praktizieren, gefordert wurde. Dieser Vorschlag wiederum offenbart
die massive Verwurzelung im Symbolsystem des christlichen Denkens, das sich z.B.
auch anhand der Darstellung von Taufe als fortschrittlich zeigt, wie ein Kommentator
auf der Webseite der Laizisten in der SPD behauptet.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 23
Ein weiterer von Alexander Hasgall vorgetragener Kritikpunkt bezeht sich auf
die anti-religiöse Rhetorik im Beschneidungsdiskurs als Diskurs der Mehrheit über
die Minderheiten, der dazu diene, die Dominanz der mehrheitsgesellschaftlichen
Werte sicherzustellen. Ein Beleg hierfür ist das in der Debatte deutlich
gewordene Verständnis von Religionsfreiheit, in dem es eher um die Freiheit von
Religion geht und das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung ignoriert wird:
Grad eben mit dieser Mischung von so eher naiven Vorstellungen oder vereinfacht
reduzierenden Vorstellung von Kinderrechten, in denen man das Recht auf
religiöse Erziehung gar nicht wahrnimmt und von einem starken Wirken dieser
Laizisten auch, eine Tendenz Religionsfreiheit nur noch als eine Freiheit von
Religion zu verstehen und nicht als Freiheit der Religionsausübung, was ja immer
auch darauf basiert, dass wenn du eine Religion ausübst, dass du andere Werte
auch auslebst wie die Mehrheitsgesellschaft.
Die in der Debatte vorgetragene Religionsfeindlichkeit geht mit einem
Säkularisierungsdiskurs einher, den Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter
dem umstrittenen laizistischen Staatsverständnis der Türkei gegenüberstellen.
Die im Beschneidungsdiskurs vorgebrachte Behauptung, dass der Eingriff den
säkularen Prinzipien des Landes widerspreche, wird u.a. durch die einflussreiche
Rolle der Kirche in Deutschland widerlegt.23
2.2.4 Vergleich mit anderen Debatten
Um die gesellschaftliche Kontextualisierung der Beschneidungsdebatte
abzurunden, soll ein kurzer Überblick über andere Debatten, die das
mehrheitsgesellschaftliche Verhältnis zur Minderheit betreffen, gegeben werden
und dabei insbesondere die unterschiedliche Bewertung der Debatte für
jüdische und muslimische Gesprächspartner aufgezeigt werden. Auf die Frage
nach der Vergleichbarkeit der Beschneidungsdebatte mit anderen Debatten
wurde diese von allen jüdischen Gesprächspartnern als besonders
hervorgehoben. Laut Alexander Hasgall hebt sich die Beschneidungsdebatte von
anderen Debatten im Kontext von Rassismus und Antisemitismus durch ein
enormes Interesse und durch eine massive Abwehr ab. Als ein Beispiel für die
Exklusivität der Debatte berichtet er von intensiv geführten FacebookDiskussionen über das Kölner Urteil von Menschenrechtsaktivisten, die in ihrer
Meinung extrem gespalten waren:
In dem Punkt war mir eigentlich bewusst, also z.B. wie lange dann die Leute
kommentiert haben, dass es nicht einfach eines dieser Themen ist, also
Antisemitismus, Rassismus gibt es immer wieder so in dem Sinne Skandälchen in
Anführungszeichen, so einer dieser wirklich, wie soll ich sagen, eine Debatte, die
irgendwie eine andere Qualität hat, wie alle anderen Debatten.
Auch Mike Delberg und Shlomit Tulgan bewerten die Beschneidungsdebatte als
einmalig und unvergleichlich mit vorangegangenen Debatten, da sie im
23
In diesem Zusammenhang beruft sich Salih Alexander Wolter auf die folgende Studie:
Eva Müller (2013) Gott hat hohe Nebenkosten: Wer wirklich für die Kirchen zahlt,
Köln, Kiepenheuer und Witsch. Sie zeigt, dass die Kirche der zweitgrößte Arbeitgeber
in Deutschland ist.
24 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Gegensatz zur Schächtungsdebatte emotional und speziell ist und es um
Menschen und nicht um Tiere geht. Ähnlich argumentiert Sergey Lagodinsky,
den die Debatte an die Kopftuch- und die Schächtungsdebatte erinnert. Seiner
Meinung nach hat aber die Beschneidungsdebatte eine besondere Schärfe und
Spannung hat, da es um Kinder geht. Der Prätext der Schächtungsdebatte ist
jedoch ein ähnlicher, wie David Cohen anmerkt, denn bei der Debatte um das
Schächten steht das Recht auf freie Ausübung der Religion dem Tierschutz
gegenüber. Das Verbot des betäubungslosen Tötens von Tieren ist eine legitime
Frage, die sich in einer demokratischen Gesellschaft stellen kann, in der
zwangsläufig „eine Seite in den sauren Apfel beißen muss“. Laut Cohen ist es
ebenfalls legitim, nach der Vereinbarkeit von ritueller Beschneidung mit dem
deutschen Grundgesetz zu fragen. Die Art und Weise, wie die Debatte geführt
wurde, und die Polemik am Rande der Debatte sind jedoch unvergleichbar mit
anderen gesellschaftlichen Diskursen und werden von ihm und anderen
jüdischen Gesprächspartnern als „Turning Point“ interpretiert.
Im Gegensatz zu den jüdischen Gesprächspartnern sehen die muslimischen
Gesprächspartner die Beschneidungsdebatte als Bestandteil einer Reihe von
ausschließenden und islamfeindlichen Diskursen im Kontext von Migration.
Mustafa Yoldaş interpretiert die Debatte als „konsequente Fortsetzung des
Kulturkampfes, den wir über Buschkowsky, Sarrazin, von Necla Kelek über
Parallelgesellschaften, Zwangsheirat, Ehrenmord, Extremismus, Terrorismus in
den letzten Jahren in der Post-9/11-Ära hier erfahren haben“, und unterstreicht
damit die mehrheitsgesellschaftliche Wahrnehmung von Muslimen als
Sicherheitsrisiko.
Zülfukar Çetin ist ebenfalls nicht überrascht von der Beschneidungsdebatte, da
er Muslime in Deutschland täglich mit neuen Vorwürfen und Themen
konfrontiert sieht:
Also es sind wirklich tägliche Konflikte, Themen, die einfach wie eine Flut
kommen und diese Flut haben wir noch nicht hinter uns und ich glaube, wir sind
einfach in einer Flut, aus der wir raus wollen, aber nicht können.
Als Beispiele für ausschließende Diskurse gegenüber Muslimen in Deutschland
nennt er die ausgrenzenden Debatten über Salafisten, die Betonung von
24
25
26
Die Beschneidungsdebatte ist eine
konsequente
Fortsetzung des
Kulturkampfes, von
Buschkowsky,
Sarrazin, Necla
Kelek, Parallelgesellschaften,
Zwangsheirat,
Ehrenmord zu
Extremismus und
Terrorismus.
Heinz Buschkowsky (2012) Neukölln ist überall, Berlin, Ullstein Verlag.
Intersexuelle oder intergeschlechtliche Menschen sind Personen, die mit körperlichen
Merkmalen geboren werden, die medizinisch als „geschlechtlich uneindeutig“ gelten.
Bei der Intersexualitätsdebatte geht es u.a. um die Frage, ob Operationen zur
Geschlechtsfestlegung bei intersexuellen Kindern einen Verstoß gegen das
Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit darstellen, vgl. die ausführliche
Darstellung der Debatte bei Heinz-Jürgen Voß (2012) Intersexualität-Intersex. Eine
Intervention, Münster, Assemblage.
Vgl. die Videoaufzeichnung der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zum Thema „Grundrechte von intersexuellen
Menschen“ vom 25. Juni 2012 unter http://www.bundestag.de/dokumente/
textarchiv/2012/39209706_kw26_pa_familie/.
.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 25
Antisemitismus unter jungen muslimischen Männern, die „Vermisst“-Kampagne
des Innenministeriums, die jungen Menschen, die sich für den Islam
interessieren, eine Radikalisierung unterstellt, die Kopftuchdebatte, Debatten
über Parallelgesellschaften, die zuletzt vom Neuköllner Bürgermeister Heinz
Buschkowsky in seinem Buch Neukölln ist überall24 beschworen wurden, die
rassistischen Äußerungen Thilo Sarrazins, das Islambild Necla Keleks, die NSUMorde und schließlich Debatten über die Integrierbarkeit bestimmter Migranten.
Diese Aufzählung wird von Salih Alexander Wolter um die Intersexualitätsdebatte25 ergänzt, die am Tag der öffentlichen Bekanntmachung des Kölner
Urteils zur parlamentarischen Beratung anstand. 26 Da er die Gefahr sah, dass die
beiden Debatten vermengt werden, hat er, gemeinsam mit Heinz-Jürgen Voß,
eine Stellungnahme zur Abgrenzung der beiden Debatten verfasst.27
In diesem Kapitel ist deutlich geworden, dass die Beschneidungsdebatte von den
jüdischen Gesprächspartnern in einen gesellschaftlichen Kontext eingeordnet
wird, der durch zunehmenden Antisemitismus, mehrheitsgesellschaftlichen
Normierungs- und Anpassungsdruck gegenüber Minderheiten und
Religionsfeindlichkeit gekennzeichnet ist. Jedoch wird die Beschneidungsdebatte als außergewöhnlich und speziell wahrgenommen, was sich an der
Unvergleichbarkeit mit vorangegangenen Debatten zeigt. Von den muslimischen
Gesprächspartnern hingegen wird die Debatte als „ein Instrument zur
Legitimation von Rassismus“ oder „Teil eines Kulturkampfes“ interpretiert, was
darauf hinweist, dass die Beschneidungsdebatte nur einen Teilaspekt des
mehrheitsgesellschaftlichen Diskurses über Muslime in Deutschland darstellt,
wie der Vergleich mit anderen Debatten deutlich gezeigt hat. Diese Feststellung
verweist auf die unterschiedliche gesellschaftliche Verortung von Juden und
Muslimen, die eingehender im folgenden Unterkapitel diskutiert wird.
2.3 Verortung in der Gesellschaft und Zugehörigkeits gefühl
In diesem Unterkapitel sollen die gesellschaftliche Verortung und das
Zugehörigkeitsgefühl der Gesprächspartner beschrieben werden, um
aufzuzeigen, welche Veränderungen diese durch die Beschneidungsdebatte
erfahren haben. Dazu werden einleitend grundlegende Anmerkungen zur
Selbstwahrnehmung als Minderheit in Deutschland und zur vorgefundenen
Willkommenskultur gemacht. Daraufhin werden das Zugehörigkeitsgefühl und
die gesellschaftliche Positionierung der Gesprächspartner dargestellt und
hierbei insbesondere auf Unterschiede zwischen Juden und Muslimen
eingegangen. Diese Unterschiede werden detailliert anhand der Reaktionen auf
den Urteilsspruch des Kölner Richters und dem Aktivismus gegen das Kölner
Urteil vorgestellt. Anschließend wird anhand der Aussagen der Gesprächspartner
27
Siehe „Court rules that circumcision constitutes bodily harm-the circumcision of the
foreskin in boys is not equivalent to violent medical treatments directed against intersexes“ in Salih Alexander Wolter, Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß (2012)
Interventionen gegen die deutsche Beschneidungsdebatte, Münster, Assemblage: 8790.
26 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
der Frage nachgegangen, welchen Ausschlag die historisch bedingte Rolle von
Juden in Deutschland in der Debatte gegeben hat.
2.3.1 Willkommenskultur und Ausgrenzungsdiskurse
Da die Wahrnehmung einer sogenannten Willkommenskultur subjektiv sehr
unterschiedlich eingeschätzt wird, lässt sich an dieser Stelle kein einheitliches
Bild zeichnen. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, dass der Begriff der
Willkommenskultur im Zuge der Beschneidungsdebatte von allen
Gesprächspartnern in Frage gestellt wurde.
Mike Delberg z.B. identifiziert Deutschland als „meine Heimat“ und berichtet
davon, sich im Allgemeinen willkommen zu fühlen: „Deutschland liebt mich“.
Die Beschneidungsdebatte sendet jedoch widersprüchliche Signale, da sich viele
der Gesprächspartner verunsichert fühlen und die oft aggressive Debatte als
hetzerisch empfinden. Trotz eines antisemitischen Klimas in der
Mehrheitsgesellschaft und der Konfrontation mit Antisemitismus aus Teilen der
arabischen Community, so Delberg, sieht er seine persönliche Zukunft in
Deutschland. Eine wichtige Rolle spielt dabei sein ausgeprägtes
Zugehörigkeitsgefühl, das u.a. auf Vertrauen in das Handeln der aktuellen
Regierung und die Selbstsicherheit über seine gesellschaftliche Position, mit den
damit zusammenhängenden Möglichkeiten, aufbaut. Auch Sergey Lagodinsky
berichtet, dass die Form der Debatte zu Verunsicherung und dem Gefühl nicht
willkommen zu sein geführt hat, Charlotte Knoblochs Frage „wollt ihr uns Juden
noch?“28 also berechtigt ist.
Hingegen stellt Mustafa Yoldaş fest, dass Muslime in Deutschland ohnehin nicht
als gleichwertig anerkannt werden:
In Deutschland werden wir den gesellschaftlichen Frieden nur erreichen, wenn
alle das Gefühl haben, dass sie gleichwertig und Bürger erster Klasse sind. Aber
wenn man versucht, ein System von Kasten hier aufrechtzuerhalten, wo die
Muslime so lange gut sind, solange sie eine Zierde der Demokratie und des
Pluralismus darstellen, aber sobald sie Ansprüche erheben, mitreden zu wollen, in
die Ecke gedrängt werden, dann haben wir ein Problem.
Diese Einschätzung verweist auf die Grenzen der Anerkennung von Pluralität,
was Mike Delberg wie folgt ausdrückt:
Man kann nicht ein bisschen Islam, ein bisschen Judentum, ein bisschen
Christentum in Deutschland haben. Wir sind eine multireligiöse Gesellschaft. Das
ist auch von unserem letzten Bundespräsidenten explizit so proklamiert und
gewünscht worden und da muss man sagen, möchte man das Gesamte oder
möchte man es nicht haben?
Die Muslime sind
so lange gut, so
lange sie eine
Zierde der
Demokratie und
des Pluralismus
darstellen, aber
sobald sie
Ansprüche
erheben, werden
sie in die Ecke
gedrängt.
Juden und Muslime sind Minderheiten in Deutschland, die jedoch
unterschiedlichen Ausgrenzungsdiskursen ausgesetzt sind, was Auswirkungen auf
das Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit hat. Die unterschiedliche
28
http://www.sueddeutsche.de/politik/beschneidungen-in-deutschland-wollt-ihr-unsjuden-noch-1.1459038.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 27
gesellschaftliche Positionierung von Juden und Muslimen ist auch in der
Beschneidungsdebatte deutlich geworden und hat unterschiedliche Reaktionen
hervorgebracht.
2.3.2 Zugehörigkeitsgefühl und gesellschaftliche Positionierung
Das Zugehörigkeitsgefühl und die Einschätzung der eigenen gesellschaftlichen
Positionierung sind, wie auch die Wahrnehmung der Willkommenskultur, stark
von den subjektiven Erlebnissen der Gesprächspartner abhängig. Obwohl kein
explizites Gefühl von Zugehörigkeit geäußert wird, lässt sich die Sicherheit über
die eigene gesellschaftliche Position an Aussagen, Handlungen oder Reaktionen
der Gesprächspartner ablesen.
Ein Gesprächspartner, der sein Gefühl von Zugehörigkeit explizit äußert ist Mike
Delberg, der sich als Patriot bezeichnet, da seine Zukunft in Deutschland liegt,
er dort sein Leben verbringen und in die Politik gehen möchte. Auf die in der
Beschneidungsdebatte vorgenommene Pauschalisierung von Juden als Barbaren
oder Menschen, die aus dem Dschungel kommen, hat er mit Schock reagiert und
seine Beziehung zu Deutschland zeitweilig in Frage gestellt:
Ich bin ein super integriertes Mitglied der Gesellschaft. Ich bin Deutscher, ich
fühle mich als Deutscher, ich habe zwar einen russisch-ukrainischen Background,
aber worin bin ich barbarischer als jemand, der seit zehn Generationen hier wohnt
und nicht jüdisch ist?
Das Zugehörigkeitsgefühl und die Gewissheit über die gesellschaftliche
Positionierung zeigt sich am Vertrauen in ein schnelles Handeln der Regierung,
das von Delberg und weiteren Gesprächspartnern geäußert wurde, die von ihr
erwarten, das Sicherheitsgefühl für Juden in Deutschland wiederherzustellen.
Die Selbstwahrnehmung der eigenen gesellschaftlichen Positionierung lässt sich
jedoch nicht von der Fremdwahrnehmung entkoppeln, wie das folgende Zitat in
Bezug auf ein mögliches Verbot von rituellen Beschneidungen von Alexander
Hasgall verdeutlicht:
Man spricht gerne vom jüdisch-christlichen Erbe, oft geht es dann aber um die
abrahamitischen Religionen. Also man kann nicht eine Minderheit haben, die
immer hier gelebt hat, die Teil dieser Gesellschaft ist und im Hinblick auf die
Juden auch Teil des Grundgesetzes, also der Rechtsschreibung in Deutschland ist,
ihnen plötzlich aufgrund eines Wertewandels in der Mehrheitsgesellschaft etwas
zu verbieten.
Hasgalls Aussage verdeutlicht, dass Juden als Teil der deutschen Gesellschaft
und Geschichte wahrgenommen werden und dass, um diese Zugehörigkeit zu
verdeutlichen, im öffentlichen Diskurs gerne das jüdisch-christliche Erbe betont
wird. Aber auch in der Selbstwahrnehmung gehören Juden und jüdische
Traditionen zu Deutschland. Vor diesem Hintergrund kritisiert Hasgall ein
mögliches Verbot von Beschneidungen, das einen Wertewandel in der
Mehrheitsgesellschaft aufzeigt, der dazu führt, dass jüdische Traditionen als
fremd wahrgenommen werden. Die gesellschaftliche Positionierung von Juden in
Deutschland zeigt sich zudem an der mehrheitsgesellschaftlichen Vorstellung
von Juden, die im Gegensatz zu Bildern über Muslime steht, wie Hasgall betont.
Er beschreibt dieses Bild von Juden, als „leichte philosemitische Form von
28 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Verklärung, wo man sich vorstellt, das sind so die netten Leute mit den
Chanukka Leuchten, die da Freitag Abend so ein schönes Essen machen“. Die
Beschneidungsdebatte hat diese Vorstellung jedoch um ein Bild von Juden
erweitert, „die da plötzlich mit dem Skalpell rumfuchteln“.
Während die Zugehörigkeit des Judentums zu Deutschland betont wird, wird
dem Islam diese Art der Zugehörigkeit aberkannt und die Zugehörigkeit von
Muslimen zu Deutschland in Frage gestellt. Das Bild, welches von Muslimen in
Deutschland und der Tradition der Beschneidung entworfen wird, lässt sich mit
der Aussage von Mustafa Yoldaş in Bezug auf das Urteilsvermögen des Kölner
Richters beschreiben:
Also summa summarum muss auch ein Richter sich an den Lebensrealitäten der
Menschen orientieren. Ich behaupte stark, dass die Richter am Landgericht in Köln
keinen jüdischen, keinen muslimischen Freund haben, mit dem sie [...] sich
zusammengesetzt haben und gefragt haben, na wie läuft es denn bei euch, was
macht ihr denn da, wie geht das über die Bühne, darf ich mal zuschauen? Bevor
man ein Urteil fällt. Stattdessen sitzt man in seiner Kammer, hat seine Langeweile
und das Buch von Necla Kelek, liest darin und kommt auf die Szene, wo ihre
Brüder auf bestialische Weise in der Türkei beschnitten werden und stellt das bei
sich selber vor mit 50 Jahren. O Gott (lacht)! Also das ist wahrscheinlich der
Grund gewesen dieses Urteil zu fällen.
Aufgrund der mehrheitsgesellschaftlichen Vorstellungen über den Islam und die
Muslime werden an diese andere Integrationsforderungen gestellt, wie Shlomit
Tulgan feststellt:
Die muslimische Seite besteht einfach zu 99 Prozent aus Menschen mit
Migrationshintergrund und man hat gelernt sich hier auch ein bisschen dezenter zu
benehmen in gewissen Angelegenheiten als Mensch mit Migrationshintergrund. Es
geht immer ums Anpassen usw. und dann möchte man natürlich auch der
deutschen Gesellschaft tatsächlich beweisen, wir haben uns euch angepasst, wir
sind zivilisierte Menschen, wir sind keine Barbaren und man ist auch sehr
verunsichert und eingeschüchtert als Immigrant.
Im Gegensatz zu der unsicheren gesellschaftlichen Position von muslimischen
Migranten, ist die Jüdische Gemeinde laut Tulgan „ziemlich etabliert in der
Gesellschaft, hat eine Lobby, einen Zentralrat und so weiter und so fort“. Die
Unterschiede in der gesellschaftlichen Positionierung wertet Tulgan als
ausschlaggebend
für
die
unterschiedlichen
Reaktionen
und
Bewältigungsstrategien von Juden und Muslimen, die im Folgenden eingehender
dargestellt werden.
Reaktionen auf das Kölner Urteil und emotionale Bewältigungsstrategien
Die Reaktionen der jüdischen Gesprächspartner auf das Kölner Urteil und die
anschließende Debatte reichen von Schock, Fassungslosigkeit, Traurigkeit,
Überraschung über Verwunderung bis zu dem Gefühl, dass irgendwo ein Fehler
passiert sein muss. Shlomit Tulgan, die von dem Urteil zuerst über Facebook
gehört hat, berichtet, dass sie anfangs dachte, es sei ein schlechter Witz oder
ein Missverständnis. Nachdem sie mehr Informationen aus den Medien
bekommen hat und ihr die Relevanz des Urteils und der Debatte klar wurde, war
sie schockiert:
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 29
Das kann einfach nicht wahr sein, das war mein erster Gedanke. Mit der Zeit habe
ich natürlich mit den Medien und so das mitbekommen und habe verstanden, dass
das nicht ein schlechter Witz ist, sondern dass das wirklich ernst gemeint ist und
das war natürlich für mich ein Schock.
Sergey Lagodinsky hingegen betont, dass er längerfristig mit solch einem Urteil
gerechnet hat, da er selbst Jurist ist und ihm die juristischen Diskurse zur
Rechtmäßigkeit von rituellen Beschneidungen bekannt waren. Trotz allem ist er
verwundert über das Urteil, äußert jedoch seine Überzeugung der guten
Absichten der Beschneidungsgegner, die nicht alle von Antisemitismus motiviert
sind.
Im Gegensatz zu den emotionalen Reaktionen der jüdischen Gesprächspartner
war Mustafa Yoldaş aufgrund der „gesamtgesellschaftlichen Debatte auf dem
Rücken der Muslime“ von dem Urteil nicht überrascht und bemerkt lachend:
Ich habe schon gewartet, wann sie anfangen, an unserem Zipfel zu ziehen. Das
war ja auch das einzige Tabugebiet, wo sie uns nicht angefasst haben und jetzt
wollen sie solange an der Vorhaut unserer Jungs reißen oder ziehen bis das
einreißt, habe ich gedacht.
Im Gegensatz zu diesem sarkastischen Umgang mit dem Kölner Urteil beschreibt
Tulgan ausführlich ihr Entsetzen in Bezug auf das Urteil und die Angst, dass es
ihr eigenes Leben tangieren könnte, z.B. falls sie einen Sohn bekäme und
gezwungen wäre, in ein anderes Land zu fahren, um ihn beschneiden zu lassen.
Sorge um die Realisierung von Beschneidungen von den potentiell eigenen
Kindern äußert auch Mike Delberg, der u.a. durch diese Sorge politisch aktiv
geworden ist und sich somit intensiv in die Debatte eingebracht hat.
Mobilisierung und Öffentlichkeitsarbeit
Neben Mike Delberg haben sich auch alle anderen Gesprächspartner im Zuge der
Debatte gegen das Kölner Urteil und den Anti-Beschneidungsdiskurs engagiert.
Dieses Engagement reicht von der Teilnahme an Facebook-Diskussionen über
intensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bis hin zur Teilnahme an und
Organisation von Demonstrationen.29
Als Reaktion auf das Kölner Urteil hat Levi Salomon, in seiner Funktion als
Sprecher des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus
(JFDA), eine Pressemitteilung mit einer Stellungnahme zum Urteil
herausgebracht, um „der Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass Minderheiten
in Deutschland nicht so leben können, wie sie wollen und einige Menschen der
Meinung sind, dass es zumindest für Juden das Ende des jüdischen Lebens in
Deutschland wäre“. Als nächsten Schritt hat er eine Podiumsdiskussion an der
Humboldt-Universität in Berlin organisiert, auf der der Religionswissenschaftler
29
An dieser Stelle sei angemerkt, dass das hohe Maß an Aktivismus der Gesprächspartner sicher nicht repräsentativ als Umgangsstrategie verstanden werden kann, da alle
Gesprächspartner (bis auf Shlomit Tulgan) aufgrund ihrer öffentlichen Rolle in der
Debatte oder einer einschlägigen Institution ausgewählt wurden.
30 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Prof. Jens Schröter, die Fraktionsvorsitzende der Grünen Renate Künast, der
Rechtswissenschaftler Prof. Jan Dirk Roggenkamp und Salomon selbst über
„individuelle Religionsfreiheit nach dem Beschneidungsurteil“ diskutiert haben.
Salomon ist auf der Podiumsdiskussion „als Zeuge“ aufgetreten und hat von
seinen eigenen Erfahrungen in Bezug auf das Beschneidungsverbot in der
Sowjetunion berichtet. Die Podiumsdiskussion war gut besucht, was Salomon
bewusst gemacht hat, dass es nötig ist, ein politisches Signal zu senden, das
allerdings nicht nur von der jüdischen, sondern auch von der muslimischen Seite
kommen muss. Daraufhin hat er gemeinsam mit einem engagierten
Organisationsteam begonnen, eine interreligiöse Demonstration gegen das
Beschneidungsurteil vorzubereiten. Im Vorfeld der Demonstration hat sich
Salomon bemüht, möglichst viele Institutionen und dabei insbesondere auch
muslimische Institutionen für die Teilnahme an der Demonstration zu gewinnen,
um ein starkes politisches Signal zu senden und um bei der Öffentlichkeit und
den Medien ein Bewusstsein für die Tragweite des Urteils zu schaffen.
Mike Delberg betont ebenfalls die Notwendigkeit einer Solidarisierung von Juden
und Muslimen in der Debatte. Zu diesem Zweck hat er gemeinsam mit einem
jüdischen und einem muslimischen Freund die Online-Petition „Wir gegen
Rechtsbeschneidung“ gestartet, in der die Kriminalisierung von religiöser
Beschneidung kritisiert und deren Straffreiheit gefordert wird. Delberg ist
ebenfalls in interreligiösen Organisationen wie der JUGA (Jung, gläubig, aktiv)
aktiv und hat zur Debatte Stellungnahmen in verschiedenen Zeitungen, u.a. der
Bild und dem Stadtmagazin Zitty, abgegeben. An Delbergs Aktivismus gegen das
Kölner Urteil und dem Einfordern seiner Rechte zeigt sich sein
Zugehörigkeitsgefühl, die Selbstsicherheit im Hinblick auf die eigene
gesellschaftliche Position und das Vertrauen darauf, mit seinen Forderungen
ernst genommen zu werden. Durch sein Einmischen übernimmt er
Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen, was sich ebenfalls als
Zeichen seines Zugehörigkeitsgefühls verstehen lässt:
Wären wir jetzt nicht auf die Straße gegangen, hätten wir uns jetzt nicht
eingesetzt, dann hätte es in eine komplett andere Richtung laufen können und
dann hätten wir jetzt das Verbot. Was würde ich meinen Enkelkindern sagen,
wenn ich alt bin und sie auf meinem Schoß sitzen, warum das nicht mehr geht. Ich
könnte es nicht. Deswegen lieber jetzt aktiv werden, als später bedauern, dass
man es nicht gemacht hat.
Zusätzlich zu seiner Öffentlichkeitsarbeit hat er an mehreren Demonstrationen
und Protestveranstaltungen gegen das Urteil teilgenommen. Dabei ist es ihm
sehr wichtig, seine jüdische Identität (z.B. verbildlicht durch das Tragen einer
Kippa) selbstbewusst nach Außen zu tragen. Auf einer Demonstration gegen das
Kölner Urteil trägt Mike ein T-Shirt mit dem Schriftzug „Beschnitten - and you
30
Vgl. auch http://jungle-world.com/artikel/2012/30/45934.html, http://
www.taz.de/!101193/, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/tacheles/
1897749/.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 31
know it“ und einem abwärts zeigenden Pfeil, welches häufig in verschiedenen
Medien auftaucht, was er stolz im Interview berichtet. Delberg vertraut darauf
vom Großteil der Gesellschaft „gewollt“ zu sein, obwohl die Debatte einen
„Wendepunkt“ im Umgang mit Juden in Deutschland markiert.
Ich habe öfters
mit Muslimen
gesprochen […]
und die haben es
u.a. damit
begründet, ja, wir
sind das ja
gewohnt, wir
hatten das Kopftuch, jetzt haben
wir halt noch die
Beschneidung.
Weitere Formen des politischen Engagements fanden über Diskussion in den
Parteien statt. Alexander Hasgall, der im Vorstand des Arbeitskreises Juden in
der Sozialdemokratie engagiert ist, hat sich intensiv an den Diskussionen in der
Partei beteiligt. Sergey Lagodinsky ist Mitglied der Grünen, hat einen Antrag
gegen die Kriminalisierung von Beschneidungen eingereicht und sich an
mehreren Podiumsdiskussionen beteiligt. Hasgall und Lagodinsky waren
ebenfalls publizistisch in der Debatte involviert. 30
Auch die muslimischen Gesprächspartner haben sich publizistisch und
öffentlichkeitswirksam in die Debatte eingemischt. Salih Alexander Wolter und
Zülfukar Çetin haben gemeinsam mit Heinz-Jürgen Voß die Publikation
„Interventionen gegen die deutsche Beschneidungsdebatte“ herausgebracht 31, in
der sie kritisch den Diskursverlauf beleuchten und die zu Grunde liegenden
Herrschaftsverhältnisse sowie die antisemitischen und anti-muslimischen
Einstellungen aufzeigen. Des Weiteren betreibt Salih Alexander einen OnlineBlog, in dem er über die Debatte berichtet und für die Unterstützung der Online
-Petition gegen die Kriminalisierung von Beschneidung geworben hat. 32 Zülfukar
Çetin hat sich ebenfalls an der vom Gunda-Werner-Institut der Heinrich-BöllStiftung initiierten Online-Debatte „Beschneidung von Jungs: Was ist der
Streitwert aus feministisch-intersektionellen Perspektiven“ mit dem Aufsatz
„Bereits die Frage ist falsch gestellt“ beteiligt. 33 Mustafa Yoldaş berichtet
ebenfalls, dass er im Zuge der Debatte „an vorderster Front“ mit dabei war und
u.a. bei dem TV-Magazin „Mona Lisa“, dem Spiegel, NDR-Info und der
Morgenpost „diverse Artikel und Statements abgegeben“ hat.
Alle jüdischen Gesprächspartner berichten, dass sie die Zusammenarbeit von
Juden und Muslimen im Zuge der Debatte als grundsätzlich gut bewerten und
dennoch die Reaktion und das Verhalten von muslimischen Verbänden und
Einzelpersonen als zögerlich wahrnehmen. Dieses Verhalten erklärt sich Mike
Delberg damit, dass prominente muslimische Politiker (wie z.B. Cem Özdemir
von den Grünen) in Parteien organisiert sind, die keine klare Position zum
Kölner Urteil bezogen haben, was ein öffentliches Engagement erschwert. Seine
inoffizielle Begründung ist jedoch, wie er lächelnd hinzufügt, dass „wir das für
sie übernommen haben“. Sergey Lagodinsky hingegen vermutet, dass sich das
zögerliche Verhalten der muslimischen Verbände mit einer anderen Bedeutung
31
Salih Alexander Wolter, Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß (2012) Interventionen
gegen die deutsche Beschneidungsdebatte, Münster, Assemblage.
32
http://salihalexanderwolter.de/.
33
http://streit-wert.boellblog.org/2013/03/13/bereits-die-frage-ist-falsch-gestellt/.
32 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
von Beschneidung im Islam oder auch der Möglichkeit, diese im höheren Alter
durchzuführen, erklären lässt.
Eine andere Bewertung der Reaktion der muslimischen Verbände und
Organisationen nimmt Shlomit Tulgan vor, die sie als „gemäßigt“ beschreibt,
während die jüdische Seite „hysterisch“ reagiert hat. Tulgan vermutet, dass sich
die muslimischen Verbände und Organisationen „nicht getraut haben so
lautstark raus zu schreien, wie die jüdische Seite“, da diese über mehr
gesellschaftlichen Einfluss verfügt. Alexander Hasgall interpretiert das
zögerliche Verhalten im Vergleich zu der intensiven Reaktion von jüdischer Seite
als Zeichen dafür, dass Muslime von mehreren Debatten betroffen sind, die ihr
Zugehörigkeitsgefühl in Frage stellen:
Ich habe öfters mit Muslimen gesprochen, mit jüngeren auch, die waren ja oft
weniger aktiv und die haben es u.a. damit begründet, ja, wir sind das ja gewohnt,
wir hatten das Kopftuch, wir hatten die Debatte, jetzt haben wir halt noch die
Beschneidung. Gleichzeitig sind wir auch ganz froh, dass die Juden auch betroffen
waren, weil wäre es nur um Muslime gegangen, dann wäre das Verbot schon da.
Was immer schwierig ist, wenn man es nicht weiß.
2.3.3 Besondere Rolle von Juden in Deutschland
Von allen Gesprächspartnern wurde betont, dass die historisch bedingte
Sonderrolle von Juden in Deutschland aufgrund der Shoa in der Debatte
ausgeblendet wurde. Dieses Ausblenden zeigt sich nicht nur am Urteilsspruch
des Kölner Richters und der vorübergehenden Kriminalisierung einer zentralen
jüdischen Tradition, sondern auch am Tenor der Debatte und der vorgebrachten
Polemik, die laut Rabbiner Cohen „komplett unangemessen“ sei. Auch Mike
Delberg äußert Unverständnis darüber, dass die Diskussion über rituelle
Beschneidung im Judentum gerade in Deutschland aufkommt:
Da stellt sich natürlich die Frage, warum die Diskussion in Deutschland aufkommt,
mit der Vergangenheit und auch wenn ich mit der Keule des Holocaust jetzt noch
mal schwinge, wirklich mit dieser Vorgeschichte und dieser Schuld der
Generationen, die davor waren, dass eine Diskussion so geführt wird. Nicht dass
sie aufkommt, das ist schon das eine Faktum, aber das sie so geführt wird, so
gehässig und so aggressiv.
Da stellt sich natürlich die Frage,
warum die
Diskussion in
Deutschland aufkommt. Warum
sie so geführt
wird, so gehässig
und so aggressiv.
Das Unverständnis darüber, dass die Beschneidungsdebatte gerade in
Deutschland geführt wurde, zeigt sich auch an internationalen Reaktionen auf
die Debatte und dabei insbesondere an Interventionen Überlebender der Shoa.
Das Bewusstsein über die Unverhältnismäßigkeit der Debatte zeigt sich an der
Aussage der Bundeskanzlerin in Bezug auf ein mögliches Beschneidungsverbot:
„Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation“.34 Nach dem Kölner Urteilsspruch
vom 7. Mai 2012 und dessen Bekanntwerden Ende Juni, wurde das Thema
Beschneidung ausführlich im Bundestag und im Ethikrat debattiert und die
34
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeskanzlerin -merkel-warnt-vorbeschneidungsverbot-a-844671.html.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 33
Bundesregierung mit dem Entwurf einer gesetzlichen Regelung zur Beschneidung
beauftragt. Der Gesetzesentwurf über „den Umfang der Personensorge bei einer
Beschneidung des männlichen Kindes“ wurde am 12. Dezember 2012 mit einer
Mehrheit von 434 Stimmen (100 Gegenstimmen und 46 Enthaltungen)
angenommen.
Es ist aber auch in
dieser Debatte für
uns, und alle
Muslime der
Eindruck, diesmal
ist der Kelch an
uns vorbeigegangen.
Auch wenn das Kölner Urteil das Sicherheitsgefühl der Gesprächspartner
beeinflusst hat, herrschte doch ein gewisses Vertrauen vor, dass die Regierung
schnell handeln und ein neues Gesetz verabschieden würde. Mike Delberg
betont sein Vertrauen in die CDU und seine Zufriedenheit mit ihrer eindeutigen
Positionierung im Laufe der Debatte. Auch Alexander Hasgall betont, dass er
eigentlich zu keinem Moment dachte, dass Beschneidung wirklich verboten
werden würde, was ebenfalls eine Selbstsicherheit über die gesellschaftliche
Positionierung verdeutlicht. Diese Selbstsicherheit baut u.a. auf der historisch
bedingten Rolle von Juden in Deutschland auf, die es laut Hasgall unmöglich
macht, eine jüdische Tradition zu kriminalisieren. Zudem gilt es, in der Debatte
auch das Ansehen Deutschlands im Ausland zu wahren. Dieses Verhältnis war
ihm in dem Moment klar, „als es hieß, es herrsche Fraktionszwang in der CDU“.
Das schnelle Zustandekommen des neuen Gesetzes und v.a. dessen Inhalt
werten die muslimischen Gesprächspartner als ein Zeichen für die besondere
Rolle von Juden in Deutschland, denn „wenn es da jetzt nur um 3 oder 4
Millionen Muslime in Deutschland gegangen wäre“ vermutet Salih Alexander
Wolter, wäre es nicht dazu gekommen. Auch Mustafa Yoldaş betont die
besondere Rolle von Juden mit folgender Feststellung:
Es ist aber auch in dieser Debatte für uns, und alle Muslime haben diesen
Eindruck, diesmal der Kelch an uns vorbeigegangen. Nur weil die Juden mit uns im
selben Boot sitzen, weil man vor dem Hintergrund der deutschen jüngeren
Geschichte es nicht fertig gebracht hat, den Juden ihre Glaubenspraxis völlig zu
verbieten in dieser Frage. Und weil man der Öffentlichkeit sozusagen schwer
vermitteln konnte, warum man bei den einen erlaubt und den anderen verbieten
will, hat man gesagt, okay, dann müssen wir eine Lösung finden, wie wir das
weiterhin aufrechterhalten. [...] Ich habe noch nie einen Moslem getroffen, der
gesagt hat, du täuschst dich darin. Wenn die Juden diese Tradition der
Beschneidung nicht hätten, bin ich mir 100% sicher, diese Sache wäre in
Deutschland schon längst verboten worden. Das heißt, man hat auch da eine
Diskriminierung unter den Minderheitsreligionen.
Hinsichtlich der Frage, ob die Rolle von Juden in Deutschland verantwortlich für
das neue Gesetz ist, bzw. ob es ohne die jüdische Minderheit in Deutschland ein
Beschneidungsverbot gegeben hätte, sind sich die jüdischen Gesprächspartner
uneins. Während Shlomit Tulgan die Position der muslimischen Gesprächspartner
teilt und sich über ihre Sonderstellung unter den Minderheiten in Deutschland
bewusst ist, betont Mike Delberg, dass diese Sonderrolle nicht ausschlaggebend
für das neue Gesetz ist:
Wenn die Vergangenheit nicht ausreicht, um eine solche Diskussion nicht
aufkeimen zu lassen, dann reicht sie auch nicht aus, ein solches Gesetz
durchzubringen. Es ist kein Gesetz, was an den Holocaust geknüpft ist. Es ist kein
Gesetz, was an die ewige Geschichte geknüpft ist. Es ist ein Gesetz, dass an eine
gesellschaftliche Lebensweise geknüpft ist, die Leute praktizieren. Das ist nichts
34 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Barbarisches, nichts Schlimmes oder Illegales, ganz im Gegenteil. Die Sicherheit
zur Ausübung eines solchen Brauchs muss vom Staat gewährleistet werden.
Auch Sergey Lagodinsky kritisiert die u.a. von muslimischen Verbänden
vorgebrachte Annahme, dass Beschneidungen in Deutschland weiterhin nur
möglich sind, da Juden in Deutschland „Sonderrechte“ genießen. Er empfindet
es als „unsolidarisch“ und „unfair“, in dem Handeln der Regierung eine
Privilegierung von Juden erkennen zu wollen. Als Beleg hierfür zieht er das
Verhalten jüdischer Verbände und Organisationen im Rahmen der Debatte
heran, die sich „aus dem Fenster lehnen“ und „vorkämpfen“ mussten. Dieses
Engagement hat ihm seitens muslimischer Verbände gefehlt und er hätte sich
mehr Zusammenarbeit und Zusammenschluss der jüdischen und muslimischen
Minderheiten gewünscht.
Auch Levi Salomon hat das „tatkräftige Wirken muslimischer Organisationen“
vermisst. Er kritisiert ebenfalls die von mehreren Seiten artikulierte
Behauptung, dass Juden eine bevorzugte Rolle in Deutschland hätten und sich
daher „keiner wagt gegen Juden vorzugehen“. Diese Behauptung findet er
abwegig, da Juden eher weniger Einfluss als Muslime haben, da sie auf
mehreren Ebenen unterrepräsentiert sind. Zum einen ist die Gruppe der Juden
zahlenmäßig kleiner, ferner gibt es weniger jüdische als muslimische
Abgeordnete und Politiker und weniger Juden, die in einflussreichen
öffentlichen Institutionen vertreten sind oder als Journalisten arbeiten. Jedoch
findet Salomon nicht, dass zwischen Juden und Muslimen ein
Konkurrenzverhältnis besteht.
Die Debatte öffnet jedoch auch Möglichkeiten, das jüdisch-muslimische
Verhältnis neu zu bestimmen, wie Alexander Hasgall bemerkt, denn die Debatte
zeigt, dass Juden und Muslime gleichermaßen von ausgrenzenden Diskursen aus
der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sind und „im selben Boot sitzen“.
2.4 Die Beschneidungsdebatte als Turning Point
Im vorhergehenden Abschnitt wurde die gesellschaftliche Positionierung
dargestellt und die unterschiedliche Selbst- und Fremdverortung von Juden und
Muslimen in Deutschland aufgezeigt. Es ist deutlich geworden, dass die
Beschneidungsdebatte für Muslime auf mehreren Ebenen keinen maßgeblichen
Wendepunkt in ihrem Selbstverständnis oder ihrer gesellschaftlichen
Positionierung bedeutet. Aus muslimischer Sicht ist die Beschneidungsdebatte
nur eine Debatte unter vielen. Im Gegensatz dazu betonen alle jüdischen
Gesprächspartner, dass die Beschneidungsdebatte für sie in ihrem
Selbstverständnis als Juden und als Teil einer Minderheit in Deutschland einen
Wendepunkt oder einen „Turning Point“ darstellt.
35
http://www.giordano-bruno-stiftung.de/materialien/broschueren-flyer-stiftung.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 35
In diesem Abschnitt werden die verschiedenen Aspekte dieses Wendepunkts in
der Selbstwahrnehmung der jüdischen Gesprächspartner aufgezeigt. Aufbauend
auf die hervorgehobenen Dimensionen des gesellschaftlichen Kontextes der
Debatte wird hier gezeigt, wie diese Spannungen in der Beschneidungsdebatte
kulminiert sind. Im Anschluss an die in 2.3 vorgestellten Befunde zur
gesellschaftlichen Verortung wird die veränderte Selbstwahrnehmung
hinsichtlich der eigenen gesellschaftlichen Positionierung diskutiert.
Wir tragen natürlich ein Trauma
mit uns herum
und dazu gehört
das Bewusstsein,
dass es derartige
Ritualmord- und
Ritualverstümmelungslegenden
immer gegeben
hat.
2.4.1 Antisemitische Narrative als Ende der Schonzeit
Aufbauend auf den diskursiven Vorstellungen und Bildern der Debatte soll es
hier um die Beurteilung und die Einschätzung von deren Tragweite gehen. Dabei
wird gezeigt, wie sich die Gesprächspartner zum mehrheitsgesellschaftlichen
Diskurs in Bezug setzen und welche Veränderungen die Beschneidungsdebatte in
dieser Bezugnahme bewirkt hat. Wie mehrmals angesprochen, sind alle
Gesprächspartner von dem Tenor der Debatte und der von antisemitischen
Narrativen begleiteten Polemik der Beschneidungsgegner entsetzt. So behauptet
z.B. die Giordano-Bruno-Stiftung auf ihrem Kampagnenflyer „Mein Körper gehört
mir!“, dass aus den abgeschnittenen Vorhäuten Hauttransplantate gemacht
werden, die gewinnbringend verkauft werden. 35 Diese Behauptung, die an
Ritualmordlegenden des Mittelalters anknüpft und Juden als gewinnorientierte
und rücksichtslose Charaktere porträtiert, wird von David Cohen vor dem
Hintergrund der traumatischen Erfahrungen von Verfolgung kontextualisiert:
Wir tragen natürlich ein Trauma der Geschichte mit uns herum und dazu gehört
das Bewusstsein, dass es derartige Ritualmord- und Ritualverstümmelungslegenden
immer gegeben hat und diese Angst, dieses Gefühl, dieses Wissen wird da in dieser
Debatte ja völlig skrupellos und perfekt bedient.
Das Beispiel der Behauptung der Giordano Bruno Stiftung und deren öffentliche
Bekanntmachung sowie viele weitere Beispiele zeigen, dass es im Zuge der
Debatte einen Bruch gibt im diskursiven Umgang mit Juden in Deutschland, den
Alexander Hasgall als „Ende der Schonzeit“ benennt:
Also Juden sind ja in Deutschland oftmals Menschen, mit denen man sich nicht
ernsthaft beschäftigt. Sondern man hat ein bestimmtes Bild von Juden gehabt, das
natürlich auch aus historischen Gründen hervorgerufen wurde, und von gewissen
Dingen, die natürlich Teil dieses Paradigmas waren. Also man sagt nicht, „Juden
verstümmeln Kinder“, das war in dem Sinne ein Konsens, und dass das plötzlich
aufgebrochen ist, also dass man sich fragt, dass überhaupt dieser Vorwurf in jener
Form ernst genommen wird, das fand ich in der Tat diesen Paradigmenwechsel,
und wirklich das Ende der Schonzeit in dem Sinne.
Hasgalls Zitat macht deutlich, dass der gesellschaftliche Konsens in Bezug auf
Juden in der Beschneidungsdebatte aufgebrochen ist, da antisemitische
Aussagen in der Mehrheitsgesellschaft nun nicht mehr als antisemitisch gelten,
Akzeptanz finden und kritiklos vorgebracht werden können. Die Überlagerung
von Vorwürfen gegenüber Juden mit antisemitischen Narrativen weist auf einen
Paradigmenwechsel im Umgang mit Juden hin, der, so Hasgall, die
Dämonisierung von Juden ermöglicht hat.
36 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Der Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit Juden, der sich an Vorwürfen in
Verbindung mit traditionell antisemitischen Narrativen zeigt, wurde zudem mit
ungeheurer Polemik vorgebracht, die von mehreren Gesprächspartnern kritisiert
wird. Als weitere Beispiele werden Diskussionen in den Parteien und die Debatte
um die medizinischen Vor- und Nachteile der Beschneidung angeführt. David
Cohen berichtet, dass er über die Polemik im Zusammenhang mit der Debatte
„fassungslos“ ist, da sie im extremen Gegensatz zu seiner eigenen
Wahrnehmung von Beschneidung steht, die er als Teil seiner eigenen Identität
wahrnimmt, und die keine Folgewirkungen oder Traumata hervorgerufen hat.
Zudem wurde die Debatte „immer weiter hoch gekocht“ und hat aus seiner
Perspektive „erschreckende Ausmaße“ angenommen. Auch Mike Delberg sei
„erschrocken“ über den polemischen Ton. Er betont insbesondere die Form der
Debatte, die „heftigen“ Diskussionen in den Parteien und die verschiedenen
Gesetzesentwürfe, die auf ein Verbot von Beschneidungen an minderjährigen
Jungen abzielten. Delberg stellt die Wählbarkeit von Parteien in Frage, die das
Recht auf freie Ausübung von Religion nicht anerkennen wollen.
Für Delberg markiert die Debatte einen Wendepunkt im Umgang mit Juden, da
ausgrenzende Diskurse, die sich im Vorfeld v.a. auf Muslime bezogen haben
(z.B. in der Sarrazin-Debatte), im Zuge der Beschneidungsdebatte auf Juden
ausgeweitet werden. Sergey Lagodinsky versteht die Debatte als eine
„Enthemmung“ des Diskurses in Bezug auf Juden, da „sehr viel auf den Tisch
gekommen ist, was vorher nur vermutet wurde“. Aus diesem Grund deutet die
Debatte auf einen „Tiefpunkt und in gewissem Sinne auch eine Zäsur in der
deutsch-jüdischen Beziehung“.
Die antisemitischen Narrative im Beschneidungsdiskurs stehen zudem in
Verbindung
mit
einem
aufklärerischen
Anspruch,
der
die
Assimilationsforderungen der Mehrheitsgesellschaft widerspiegelt. David Cohen
kritisiert, dass der Definitions- und Deutungsanspruch auf seine Religion von
Beschneidungsgegnern, die ihm in aufklärerischer Manier seine Religion erklären
wollen, nicht anerkannt wird:
Wir veredeln die
Juden jetzt mal,
also ihr müsst nur
dieses blutrünstige
Ritual lassen und
dann passt ihr
wieder wundervoll
in diese
Gesellschaft.
Also was mir mehrfach an öffentlichen Diskussionen aufgefallen ist, also da haben
Leute teilweise versucht mir das Judentum zu erklären, also das Beschneidung für
das Judentum nicht so notwendig wäre und das es ja angeblich, was nicht stimmt,
relevante Strömungen innerhalb des Judentums gibt, die Beschneidung abschaffen
wollen und Ähnliches. [...] Hallo? Wer ist hier der Rabbiner? Ich weiß, das hört
sich bestimmt albern an und dann hat es noch einen sehr unangenehmen
Charakter, was ich da so raus höre, also diesen Anspruch wir veredeln die Juden
jetzt mal ein bisschen, also ihr müsst ja nur dieses blutrünstige Ritual lassen und
dann passt ihr wieder wundervoll in diese Gesellschaft. Wir haben Euch einen
Schritt nach vorne gebracht oder so. Das ist unerträglich, das ist wirklich
unerträglich!
36
37
http://www.choices.de/grenzen-der-tradition.
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/offener-brief-zur-beschneidungreligionsfreiheit-kann-kein-freibrief-fuer-gewalt-sein-11827590.html.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 37
2.4.2 Enttäuschung und Entfremdung
Als ein Wendepunkt wird ebenfalls die Enttäuschung und Entfremdung
gegenüber bestimmten Akteuren aus der Mehrheitsgesellschaft verstanden, von
denen sich die Gesprächspartner Unterstützung und Solidarität in der Debatte
erhofft hatten. Von den jüdischen Gesprächspartnern werden insbesondere
Akteure genannt, die der Elite der Mehrheitsgesellschaft zuzuordnen sind oder
die sich eigentlich durch Engagement gegen Antisemitismus auszeichnen. Zudem
werden Akteure aus dem Menschenrechtsbereich genannt. Von Alexander
Hasgall werden beispielsweise die Menschenrechtsorganisation „Terre de
Femmes“ oder die „deutsche Kinderhilfe“ herausgestellt, die seiner Meinung
nach am „vorurteilsbeladensten und aggressivsten agiert“ haben. Eine Folge
dieses Agierens ist, dass antisemitische Einstellungen durch die Äußerungen der
Beschneidungsgegner aus der Elite gefördert und gesellschaftlich legitimiert
werden, wie David Cohen an der von Irmingard Schewe-Gerigk vorgenommenen
Gleichsetzung von Beschneidung mit Witwenverbrennung 36 feststellt:
Ich finde dieses Beispiel mit der Gleichsetzung von Beschneidung mit
Witwenverbrennung eines der schlagendsten. Das sind Menschen, das ist eine
Frau, Politikerin der Grünen, sie ist auch Vorsitzende von Terre de Femmes.[...]
Weil, ich bin kein Antisemit, natürlich nicht, das sind sie alle nicht, aber was
verfolgen die denn? Das hat ja effektiv Folgen, wenn Menschen aus den Eliten sich
so in der Öffentlichkeit äußern, dann hat das natürlich auch eine Breitenwirkung.
Das ist einfach verheerend und erschreckend.
Ein weiteres Beispiel ist der in der FAZ veröffentlichte Brief mit dem Titel
„Religionsfreiheit kann kein Freibrief für Gewalt sein“37 von mehreren hundert
Ärzten, Juristen und anderen gesellschaftlich einflussreichen Personen, den Levi
Salomon als „unerträglich“ wahrgenommen hat, da Ärzte zur gesellschaftlichen
Elite gehören und erheblichen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs nehmen
können. Die Meinungsmache gegen rituelle Beschneidungen haben die jüdischen
Gesprächspartner, die sich öffentlich für Beschneidungen ausgesprochen haben,
durch so genannte Hass-Mails und Drohungen zu spüren bekommen, die von
ihnen als antisemitisch eingestuft werden. Mike Delberg hebt insbesondere die
Anzeige eines Arztes gegen Rabbiner Goldberg aus Hof als antisemitischen
Anlass hervor:
Da gab es z.B. einen Rabbi in Hof, der Beschneidungen durchgeführt hat und ein
Arzt aus Hessen hat ihn angezeigt. Da fragt man sich doch warum? Ich glaube nicht
an den Gutmenschen. Ich glaube auch nicht daran, dass, wenn man einer
Gesinnung folgt, dass man so krankhaft ist, dass man Beschneidungsanzeigen
durchliest in irgendwelchen Gemeindeblättern, um sich dann rauszupicken,
welcher Rabbi wann irgendwas gemacht hat. Das ist für mich konkret ein
antisemitischer Anlass gewesen. [...] Das war schockierend.
Eine weitere Ebene der Enttäuschung betrifft das Unverständnis über das
Agieren von Personen, die im Prinzip pro-jüdische Positionen teilen. Alexander
38
39
Dies sind ehemalige Anhänger antifaschistischer und anti-nationalistischer linker
Gruppierungen, die eine besonders Israel-freundliche Politik verfolgen.
http://www.ruhrbarone.de/demo-gegen-beschneidungsverbot-die-hamas-marschiertmit/.
38 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Hasgall nimmt Bezug auf die „internen Kämpfe in antideutschen38 Zirkeln“, die
ihm gezeigt haben, „wem man in diesem sich israelsolidarisch anti-antisemitisch
gebenden Umfeld noch trauen kann und wer da praktisch die eigene
ideologische Borniertheit über das ernsthafte Eingehen stellt. Judentum, das
hat sich eben gezeigt, kann auch ein Projektiv für Freundschaft oder
Israelsolidarität sein“. Hasgalls Enttäuschung rührt u.a. daher, dass er bei
Personen, die sich gegen Antisemitismus aussprechen und engagieren, keine
Bereitschaft gefunden hat, im Zuge der Debatte ihr eigenes Weltbild und antireligiöse Haltungen zu hinterfragen.
Enttäuschung über das Verhalten von Personen, die „früher mal gute Arbeiten
im Bereich der Antisemitismusbekämpfung geleistet haben“, äußert ebenso Levi
Salomon, der insbesondere von den Diskussionen im Vorfeld der von ihm
mitorganisierten interreligiösen Demonstration gegen das Beschneidungsverbot
verletzt war. Dabei stellt er insbesondere eine Pressemitteilung mit dem Titel
„Die HAMAS marschiert mit“39 heraus, die gezeigt hat, dass die oben
angesprochenen Personen „Gegenarbeit leisten oder verletzend wirken“ wollen.
Aber wenn ich schaue welches Bild da gepostet wurde, unter dem Motto das
jüdische Forum marschiert zusammen mit der HAMAS und da kann man ein Foto
sehen, wo die HAMAS mit Faustpatronen und so, [...] das heißt ich marschiere
zusammen mit der HAMAS. Was soll denn das? Also seriöser Journalismus muss
seine Grenzen haben. Diese Sachen haben mich persönlich verletzt und eines
Besseres belehrt, oder andersrum, vor einem Jahr konnte ich mir nicht vorstellen,
dass wir mit solchen Sachen konfrontiert werden würden.
Die Kritik am Agieren der Antideutschen wird ebenfalls von Salih Alexander
Wolter geteilt, der jedoch das Spektrum seiner Kritik auf die gesamte deutsche
Linke erweitert. Dabei werden von ihm und Zülfukar Çetin insbesondere antirassistische Aktivisten kritisiert, die sich in der Debatte gegen migrantisches
Interesse engagiert haben.
Das ist jetzt glaube ich gründlich durcheinander gerüttelt, also so innerdeutsche,
so linke Debatten, das ist schon merkwürdig, also die Anti-Rassisten, die pausenlos
als Mehrheitsdeutsche für uns oder dann eben für MigrantInnen sprechen, ohne
selbst dazu zu gehören und bei einer so wesentlichen Frage gegen migrantisches
Interesse sind. Umgekehrt dann auch diese selbst ernannten Antideutschen oder
Israelsolidarischen, die sind ja mehrheitlich ganz heftig für ein
Beschneidungsverbot gewesen. Also ich wähle jetzt mal die Sprache der
Antideutschen, das wäre dann sozusagen der primäre Antisemitismus, da muss
man nicht gleich über den sekundären reden. Also ich glaube, die Debatte ist
schon nachhaltig, da sind also so Linien, die sich in den letzten zehn Jahren, die
muss man neu denken glaube ich.
Salih Alexander Wolter hebt insbesondere das Handeln von Mitgliedern der
Linken hervor, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens einen
Gesetzesentwurf eingebracht haben, der die Durchführung von rituellen
Beschneidungen erst ab einer Altersgrenze von 14 Jahren, also der gesetzlichen
„Religionsmündigkeit“ ermöglichen soll. Wolter ist der Überzeugung, dass „in
der Zeit der rassistische Diskurs mehr aus der politischen Linken, als aus der
Mitte der Gesellschaft bedient wurde“. Seiner Meinung nach hält die Linke an
einem „obskur gewordenen Universalimus“ fest, was ihn bis heute beschäftigt,
da er sich immer als „Teil der politischen Linken gesehen hat.“
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 39
Das Handeln der Akteure aus der Elite und insbesondere die Reaktionen der
gesellschaftlichen Linken zeigen für Levi Salomon, dass ihnen die Tragweite des
Kölner Urteils und der anschließenden Debatte nicht bewusst war. Er war
„traurig“ über die Uneinsichtigkeit von Politikern und Intellektuellen, da „das
jüdische Leben in Deutschland nicht mehr möglich wäre“. Die Reaktion
Salomons deutet auf eine Veränderung seines Selbstverständnisses als Jude in
Deutschland hin.
2.4.3 Veränderung des Selbstverständnisses
In den vorangegangenen Kapiteln ist deutlich geworden, dass die jüdischen
Gesprächspartner eine gewisse Sicherheit über ihre gesellschaftliche
Positionierung haben, die allerdings im Zuge der Debatte in Frage gestellt
wurde. Die Debatte markiert einen Wendepunkt im Umgang mit Juden, die ihre
historisch bedingte gesellschaftliche Positionierung in Gefahr sehen. Die
veränderte Selbstwahrnehmung aufgrund der Möglichkeit der öffentlichen Kritik
an Juden und an ihren Traditionen zeigt sich in folgender Aussage Mike Delbergs
über einen Schlüsselmoment in der Debatte:
Ich muss ehrlich sagen, es gab da ein Schlüsselerlebnis: Ich war in Dortmund
geschäftlich und habe da ein Foto zugeschickt bekommen, von einem Plakat der
Giordano-Bruno-Stiftung, wo ein Kind steht mit vorgehaltenen Händen vor dem
Intimbereich. Ja, dort steht "mein Körper gehört mir". Dass man Kinder benutzt
um Stimmung zu machen gegen ein rechtskräftiges Urteil, gegen eine Gesinnung,
gegen eine Religion, gegen eine gesamte Einstellung, gegen Jahrtausendealte
Bräuche, dass man ein Kind genommen hat, was man auf dieses Plakat getan hat.
Mir sind da fast die Tränen gekommen. Ist es denn wirklich so weit gekommen,
dass man das öffentlich so aushängen darf? Dass Leute Spenden dafür sammeln,
um eine Initiative zu starten, um jüdisches Leben oder muslimisches Leben in
Deutschland unmöglich zu machen? Weil das wäre es. Und ich muss gar nicht
sagen, ich bin nicht so religiös. Aber das ist ein so zentraler Teil, dass ich gedacht
habe, dass das ein Grund sein könnte, warum ich auswandere. So extrem war das.
Wenn jetzt meine Freunde hier neben mir sitzen würden, die waren geschockt, als
ich das das erste Mal überhaupt erwähnt habe, weil ich so ein Patriot teilweise
bin. Also meine Zukunft liegt hier in Deutschland, ich möchte hier mein Leben
verbringen, ich möchte hier in die Politik gehen. Deutschland liebt mich und ich
liebe dieses Land. Aber so etwas hat mich bis ins tiefste Mark erschüttert, dass es
so weit öffentlich wurde. Das war schockierend und da brauchte ich ein paar
Stunden, um das zu verdauen. Das sind so Situationen, wo man sich fragt, ob man
dann gewollt ist.
Delbergs Aussage macht deutlich, dass die Debatte als Wendepunkt
wahrgenommen wird, der zu einer veränderten Selbstwahrnehmung und zu
einem veränderten Gefühl von Sicherheit führt. Alle Gesprächspartner stimmen
darin überein, dass ein Beschneidungsverbot das freie Ausleben vom Judentum
in Deutschland unmöglich gemacht hätte oder „ganz real ein Ende des jüdischen
Lebens in Deutschland bedeuten würde“, wie Alexander Hasgall betont. Der
Paradigmenwechsel in Bezug auf die Möglichkeit der Dämonisierung von Juden
im Zuge der Debatte hat also eine weitere Ebene: Ein mögliches
Beschneidungsverbot wirkt realitätsnah und möglich, was das Sicherheitsgefühl
enorm in Frage stellt. Die Realisierung dieser „verheerenden Situation“ hat
Alexander Hasgall schnell gezeigt, dass die Debatte mehr ist als eine
„Sommerlochdebatte“ und es deswegen notwendig ist, sehr viel an Energie, Zeit
und Kontakten zu investieren, um ein Beschneidungsverbot zu verhindern.
40 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Mehrere Gesprächspartner betonen, dass ein Verbot von Beschneidungen den
Zwang zur Emigration bedeuten würde. Für David Cohen und Mike Delberg
würde ein Beschneidungsverbot einen Grund zur Auswanderung darstellen und
Delberg betont, dass auch nicht-religiöse Personen in einem möglichen
Beschneidungsverbot einen Grund zur Auswanderung sehen würden.
Rechtsunsicherheit besteht auch nach Verabschiedung des Beschneidungsgesetzes, da die Debatte das individuelle Sicherheitsgefühl und die Freiheit der
Religionsausübung nachhaltig in Frage stellt. Die Angst vor antisemitischen
Übergriffen wird zudem durch die Angst vor Diskriminierung durch staatliche
Behörden verstärkt, wie Mike Delberg feststellt:
Die Frage ist, ob man gesellschaftlich betrachtet Angst haben muss als jüdische
Person frei seine Religion auszuüben und das ist auch ein Beigeschmack, der von
dieser Debatte übrig geblieben ist. Darf man denn frei seine Religion ausüben, so
wie man mag, oder muss man dann mit Konsequenzen rechnen, nicht nur mit
Schlägen, sondern dass dann auch ein Staatsanwalt auf einen zukommt und sagt,
dass das, was man seit tausenden von Jahren gemacht hat plötzlich nicht richtig
ist?
Dennoch hat das neue Gesetz zur Beschneidung in der jüdischen Gemeinde zu
Klarheit und Beruhigung geführt. Lagodinsky, der sich persönlich nicht
besonders betroffen von der Debatte gefühlt hat, ist überrascht und gleichzeitig
erfreut, dass das Thema Beschneidung seit Verabschiedung des neuen Gesetzes
kaum noch eine Rolle im öffentlichen Diskurs spielt. Er hofft, dass es nun Raum
für „wichtigere Fragen“ gibt. So zuversichtlich wie Lagodinsky äußern sich nicht
alle Gesprächspartner, da die Debatte gezeigt hat, dass Sicherheit ein
temporäres Gefühl ist, das nicht garantiert werden kann. Aus diesem Grund
bestehen auch nach Verabschiedung des Beschneidungsgesetzes konkrete
Ängste, wie z.B. dass das neue Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht
keinen Bestand haben und dieses einen Entscheidungsprozess anstoßen könnte,
in dessen Rahmen die rituelle Beschneidung in Deutschland dann doch verboten
wird, was für David Cohen zur Folge hätte, dass „das Land, in dem ich
aufgewachsen bin, in dem ich lebe, in dem im Moment mein Lebensmittelpunkt
ist, für mich perdu wäre“.
Ja natürlich ist
das für mich ein
Grund zu
hinterfragen, ob
ich hier in diesem
Land überhaupt
weiter bleiben
kann.
Allerdings ist es nicht nur die Möglichkeit eines Verbots von Beschneidungen, die
zu einer Infragestellung von Deutschland als Lebensmittelpunkt führt, sondern
auch die in der Debatte vorgebrachte Polemik:
Ja natürlich ist das für mich ein Grund zu hinterfragen, ob ich hier in diesem Land
überhaupt weiter bleiben kann. Ich drück das jetzt mal so aus, ich weiß nicht wie
ich das sonst ausdrücken soll, im Lager der Beschneidungsgegner ist ja unheimlich
polemisiert worden und die Polemik hat bei vielen Menschen den Eindruck
hinterlassen, dass die rituelle Beschneidung, die im Judentum praktiziert wird,
eine Kinderquälerei sei, ein blutiges Ritual, ein Priester mit einem Messer gehört
nicht ins Kinderzimmer.
Laut David Cohen richtet die Ablehnung aus der Mehrheitsbevölkerung einen
„unglaublichen“ Schaden an und wirft die Bemühungen um das Verhältnis
zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Deutschland um Jahre
zurück. Er kritisiert vor allem die rücksichtslose Form der Auseinandersetzung,
da „besonders bei der Beschneidungsdebatte sehr viele Menschen verbrannte
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 41
Erde hinterlassen haben“. Zusätzlich zu der „verbrannten Erde“ in der deutschjüdischen Debatte erschüttert die Beschneidungsdebatte das Vertrauen in den
deutschen Staat als Garant der Sicherheit von Minderheiten. Die ohnehin schon
problematische Lebensrealität von Cohen, als Sohn von Überlebenden der Shoa,
wird durch die Debatte noch problematischer:
Auf jeden Fall schafft das die Tatsache, dass es unheimlich viele Leute in
Deutschland gibt, die von mir letzen Endes oder von uns, von unserer Religion, von
unserer Tradition und von unserer Kultur denken, dass das was völlig
Verwerfliches ist. Das stellt ja sowieso schon eine problematische Beziehung,
nämlich die, für mich als Sohn von Shoa-Überlebenden, in Deutschland zu leben.
Das ist natürlich problematisch, da ist ein unglaublicher Schaden angerichtet
worden, weil eben ganz viele Menschen aus der Mehrheitsbevölkerung mir oder
dem, was mir wichtig ist, völlig ablehnend gegenüberstehen auf eine Art und
Weise, die meiner Meinung nach nicht nötig wäre und nicht hätte provoziert
werden müssen. Das ist ziemlich dramatisch und das hat viele Bemühungen um das
Verhältnis zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Deutschland um
Jahrzehnte zurückgeworfen worden.
Cohens Zitat verdeutlicht einen weiteren Aspekt des veränderten
Selbstverständnisses in Folge der Beschneidungsdebatte. Die Bemühungen um
die deutsch-jüdische Beziehung und die Versuche der jüdischen Gemeinden, sich
zu öffnen, sind um Jahre zurückgeworfen. Diese Tatsache ist besonders
dramatisch, da gerade in den letzten Jahren versucht wurde, die Pluralität von
jüdischem Leben in Deutschland wiederherzustellen, wie Shlomit Tulgan betont:
Also es ist sowieso schon schwierig, das jüdische Leben hier in Deutschland und
man hat hier echt von Null nach dem Holocaust, von Null, alles wieder aufgebaut
und erst jetzt fängt das jüdische Leben wieder an zu florieren und erst jetzt, ich
weiß nicht, jetzt gibt es schon drei oder vier Grundschulen, drei, vier Kitas, ein
jüdisches Gymnasium, also es wächst wirklich und das merkt man, da kommt eine
Generation nach und vielleicht schaffen wir es wirklich irgendwann wieder diesen
Zustand zu erreichen, den wir mal vor der Shoah hier hatten. Und dann kommt so
etwas. Also das ist dann wirklich wenn man so überlegt, wozu bauen wir das hier
alles denn überhaupt auf? Dann können wir auch gleich gehen. Also wem etwas an
der jüdischen Kultur oder der jüdischen Religion liegt und wenn das Gesetz jetzt
ewig nicht entschieden worden wäre, kann ich mir vorstellen, dass viele gesagt
hätten, also nee, das ist jetzt zu viel.
2.5 Fazit des Teilprojekts Beschneidung
In diesem Teilbericht haben wir, nach einem einleitenden Überblick,
dargestellt, wie die Bescheidungsdebatte von Juden und Muslimen
wahrgenommen, kontextualisiert und durch spezifisch historische Erfahrungen
interpretiert wird. Dabei wurde der Frage nachgegangen, wie sich die Debatte
als gesamtgesellschaftliches Handeln auf das Sicherheits- und
Zugehörigkeitsgefühl von Juden und Muslimen in Deutschland auswirkt. Das Ziel
dieses Teilprojektes war es, aufzuzeigen, wie sich die betroffenen Juden und
Muslime zu den antisemitischen und anti-muslimischen Diskursen äußern und
positionieren. Zudem wurde die Wirkung der Debatte auf das jüdischmuslimische Verhältnis in Deutschland untersucht und nach möglichen Allianzen
und deren Verhinderung gefragt.
42 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
In der Untersuchung haben wir die folgenden zentralen Ergebnisse
herausarbeiten können: Für die jüdischen Gesprächspartner stellt die
Beschneidungsdebatte auf mehreren Ebenen einen Wendepunkt dar, entweder
in ihrem Selbstverständnis als Juden in Deutschland, als Teil einer Minderheit in
Deutschland, als Nachkommen Überlebender der Shoa. Der Turning Point
betrifft ebenso das Verhältnis zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und
der jüdischen Minderheit (Zäsur im deutsch-jüdischen Verhältnis, Tiefpunkt der
deutsch-jüdischen Beziehung) oder eine explizite Bezugnahme auf die, durch
die deutsche Geschichte bedingte besondere Verantwortung der jüdischen
Bevölkerung gegenüber, die anscheinend mit der Beschneidungsdebatte ihr Ende
gefunden hat („Die Schonzeit ist abgelaufen.“). Das Zugehörigkeitsgefühl und
die Selbstsicherheit über die eigene gesellschaftliche Position werden im Zuge
der Debatte in Frage gestellt. Dabei spielen insbesondere diskursive Bilder und
Vorstellungen eine Rolle, die von einem antisemitischen polemischen Narrativ
begleitet und von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und Angehörigen der
Eliten hervorgebracht werden. Die Präsenz von Antisemitismus in der Mitte der
Gesellschaft und dessen Salonfähigkeit zeigen mehrere, der
Beschneidungsdebatte vorangegangene, öffentliche Debatten. Im Rahmen der
Beschneidungsdebatte hat jedoch eine Verschiebung stattgefunden.
Antisemitische Äußerungen, die in Verbindung mit religionskritischen
Argumenten vorgebracht werden, können kritiklos im mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs artikuliert werden.
Zudem haben wir Unterschiede in der gesellschaftlichen Positionierung von
Juden und Muslimen in Deutschland aufgezeigt. Diese lassen sich an einer
Differenz in der Wahrnehmung und Beurteilung der Beschneidungsdebatte sowie
den unterschiedlichen Bewältigungsstrategien festmachen. Obgleich die
muslimischen Gesprächspartner die Debatte ähnlich vehement kritisieren wie
die jüdischen Gesprächspartner, stellt diese keinen Wendepunkt in ihrem
Selbstverständnis dar, sondern wird in Kontinuität zu rassistischen und antimuslimischen Diskursen der Post-9/11-Ära eingeordnet.
Abschließend möchten wir feststellen, dass die Frage nach einer veränderten
Sichtweise von Juden auf Muslime und vice versa in dieser Forschung nicht
hinreichend beantwortet werden kann. Einerseits kam es im Zuge der Debatte
zu gemeinsamen Protestaktionen und Zusammenschlüssen. Auf der anderen
Seite zeugen beiderseitige Abgrenzungen von einem gegenseitigen Misstrauen.
Die Beschneidungsdebatte zeigt jedoch auch, dass Juden und Muslime
gleichermaßen von diskriminierenden Diskursen betroffen sind. Die geteilte
Ausgrenzungserfahrung wirft jedoch ein neues Licht auf das jüdisch-muslimische
Verhältnis und birgt das Potenzial, einen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis
zu leisten.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 43
44 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Teil C. Überwachung des „Legalistischen Islam“:
„Wer ist ein guter Muslim“?
Einleitung
Muslimische Verbände und ihre Mitglieder werden in Deutschland besonders seit
dem 11. September vermehrt verdächtigt, die freiheitlich demokratische
Grundordnung in Deutschland zu gefährden. Die Auswertung der
Beschneidungsdebatte legt nahe, dass sich viele Juden in Deutschland erstmalig
seit dem 2. Weltkrieg mit ausgrenzenden Diskursen der Mehrheitsgesellschaft
konfrontiert sehen, die sie als traumatisierend empfinden. Die Ausgrenzung
besonders von religiös und politisch aktiven Muslimen in Deutschland ist
hingegen mit einer Politik der Überwachung verknüpft, in der sich beide
Phänomene, Ausgrenzung und Überwachung, gegenseitig zu verstärken
scheinen.
In diesem Teil des Forschungsberichtes wird der Frage nachgegangen, wie
Akteure und Gemeinden aus dem sogenannten „legalistisch islamistischen“
Milieu, hier besonders die türkisch geprägte Islamische Gemeinschaft Milli Görüş
e.V. (IGMG), die multi-ethnische Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD)
und die arabisch geprägte Islamische Gemeinde Deutschland e.V. (IGD), die
Überwachung durch staatliche Stellen erfahren, wie sie darauf reagieren, wie
sie mit dieser Erfahrung umgehen und welche Bewältigungsstrategien und
Zukunftsperspektiven sie daraus für ihr Leben in Deutschland ableiten.
Für das Teilprojekt wurden Gespräche mit 19 Personen aus dem „legalistisch
islamistischen“ Milieu geführt. Dies sind vor allem jüngere Personen,
muslimische, meist türkische Migrantenkinder der „dritten Generation“, die in
Deutschland geboren und aufgewachsen sind und mehrheitlich eine akademische
Laufbahn eingeschlagen haben. Ein Großteil ist Mitglied beim MJD oder der
IGMG, wobei es hier auch Überschneidungen gibt und sich einige
Gesprächspartner dem IGD verbunden fühlen. Fünf Gesprächsteilnehmer sind
weiblich. Die Transkripte wurden unter den folgenden Kategorien näher
betrachtet:
Gesellschaftliche Verortung der Gesprächsteilnehmer
Erfahrung und Auswirkung der Überwachung auf Individuen und Organisationen
Individuelle und kollektive Bewältigungsstrategien
Perspektiven auf Deutschland und Zukunftserwartungen
Die Gesprächspartner erklärten sich auf Grund bereits vor der Forschungsphase
geknüpfter persönlicher Kontakte zu den ForscherInnen bereit, über Ihre oft
prekäre Situation im Angesicht von Überwachung und Ausgrenzung zu sprechen.
Den Interviewpartnern wurde im Voraus die Anonymisierung ihrer Namen und
die Nichtangabe ihrer spezifischen Verantwortungsbereiche in den jeweiligen
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 45
Organisationen angeboten. Die Mehrheit der Interviewpartner nahm dieses
Angebot an. In diesen Fällen wurden Pseudonyme gewählt.
In diesem Teilbericht erörtern wir zuerst die in Deutschland vorherrschende
Islampolitik und wenden uns dann der Definition des „legalistischen Islams“
seitens des Verfassungsschutzes zu. Danach explorieren wir die Auswirkung
dieser Definition und der darauf fußenden Observierungspraxis auf Individuen
und Organisationen und ihre Möglichkeiten, sich in die deutsche
Mehrheitsgesellschaft einzubringen.
1. Deutsche Islampolitik und der „legalistische Islamismus“: Überblick und
Kontext
Die Islampolitik in Deutschland, verstanden als der staatliche Umgang mit
muslimischen Individuen und Organisationen, ist stark durch die Sicherheits- und
Integrationspolitik geprägt. Besonders das Bundesamt für Verfassungsschutz und
seine Einschätzung von muslimischen Akteuren in Deutschland spielt eine
entscheidende Rolle für die Fragstellung dieser Studie.
Etwa zeitgleich mit der Anerkennung zur Wende des 21. Jahrhunderts, dass
Deutschland de facto ein Einwanderungsland ist, haben staatliche Behörden auf
diversen Ebenen mit der Entwicklung einer Islampolitik begonnen, um Muslime
und ihre Strukturen in Deutschland zu integrieren. Jedoch kann die Suche nach
einer Islampolitik auch als Reaktion auf die Terrorangriffe vom 11. September
2001 betrachtet werden, da es primär sicherheitsrelevante Themen sind, die die
Debatte bezüglich der Integration von Muslimen in die deutsche Gesellschaft
dominieren. Ein Hauptanliegen dieser Integrationspolitik ist es, der
Radikalisierung von Muslimen in Deutschland mittels einer effektiven
Islampolitik entgegenzuwirken. Werner Schiffauer aber identifiziert in der
„Sicherheit durch Integration"-Logik eine spannungsgeladene Beziehung:
„Integration funktioniert nur über Partizipation, Einbindung und
Vertrauensvorschuss; Sicherheitspolitik funktioniert über Kontrolle, prinzipielles
Misstrauen und Sanktionierung. Die Logik der Islampolitik leitet sich aus dem oft
mühsamen Versuch ab, diese Spannung zu bewältigen“.40 Daher haben wir es
hier mit einem fast paradigmatischen Fall einer Überlagerung der eingangs
angesprochenen Sicherheits- und Integrationsparadoxe zu tun und mit einem
Fall, in dem beide Politikziele (Integration und Sicherheit) nicht die erhofften
Resultate zu erreichen scheinen.
40
Werner Schiffauer (2010), Einleitung, in: Marianne Krüger-Potratz und Werner
Schiffauer (Hrsg.) Migrationsreport 2010: Fakten - Analysen - Perspektiven, Frankfurt
am Main, Campus: 14.
46 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Die deutsche Islampolitik enthält Mechanismen und Strategien der Inklusion
sowie Exklusion. Während ein Teil der Muslime willkommen geheißen, als
Ansprechpartner aufgewertet und in semi-repräsentativen Foren wie der
Islamkonferenz und in Förderprogramme einbezogen wird, wird ein anderer Teil
mittels diverser Ausgrenzungsstrategien in das gesellschaftliche Abseits
gedrängt, wie wir in den nächsten Kapiteln aufzeigen werden. 41 Dieses vom
Verfassungsschutz generierte und verbreitete Wissen hat weitreichende soziopolitische Auswirkungen, denen wir im dritten Abschnitt weiter nachgehen.
Das Bundesamt
folgendermaßen:
für
Verfassungsschutz
definiert
Islamismus
allgemein
Der Islamismus in Deutschland ist kein einheitliches Phänomen. Allen
Ausprägungen gemeinsam ist der Missbrauch der Religion des Islam für
die politischen Ziele und Zwecke der Islamisten. [...] Islamistische
Ideologie geht von einer göttlichen Ordnung aus, der sich Gesellschaft
und Staat unterzuordnen haben. Dieses „Islam“-Verständnis steht im
Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Verletzt
werden dabei vor allem die demokratischen Grundsätze der Trennung
von Staat und Religion, der Volkssouveränität, der Gleichstellung der
Geschlechter sowie der religiösen und der sexuellen Selbstbestimmung. 42
Das Bundesamt unterteilt und hierarchisiert den Islamismus in drei Kategorien:
„Jihadistischer“ Islamismus/ Islamistischer Terrorismus43
Diese setzen ausschließlich Gewalt ein, um ihre Ziele zu erreichen; Anhänger
sind in weltweiten Netzwerk organisiert, wie z.B. Al-Qaida.
41
42
43
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012 -03/muslime-weltbildintegration/komplettansicht.
http://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer
-terrorismus/was-ist-islamismus.
„,Jihadistische‘ Islamisten berufen sich ausschließlich auf den „kleinen Jihad“. Für
sie bedeutet „Jihad“ gewalttätiger Kampf, und damit „Heiliger Krieg“. „Jihadisten“
setzen Gewalt gezielt ein, um ihre Ziele zu erreichen. Für sie ist Gewalt nicht nur ein
Mittel neben anderen, sondern das einzige zulässige Mittel. „Jihadisten“ glauben,
dass sich ihre Ziele nur mit Gewalt erreichen lassen. Sie verstehen sich als
„Gotteskrieger“ oder „Kämpfer für die Sache Allahs“. Islamistische Terroristen begründen ihre Gewalttaten damit, dass diese angeblich durch den Islam gerechtfertigt
oder als „Befehl Gottes“ sogar gefordert seien. Sie erklären die Teilnahme am bewaffneten Kampf zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims. Sie rufen zum weltweiten Kampf gegen die vermeintlichen Feinde des Islam auf und rühmen bei
Kampfeinsätzen getötete Gewalttäter als „Märtyrer“ für die Sache Gottes. Propagierung und Durchführung terroristischer Anschläge sind mit dem Islam jedoch nicht zu
legitimieren.“ Siehe http://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af islamismus-und-islamistischer-terrorismus/zahlen-und-fakten-islamismus/zuf-is-2012islamistische-organisationen.html.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 47
Gewaltorientierter Islamismus44
Anhänger dieser Gruppen setzten Gewalt selektiv und begrenzt in ihren
Herkunftsländern ein, z.B. Hisb Allah im Libanon oder HAMAS in Israel /
Palästina.
Legalistischer Islamismus
Diese Gruppen lehnen Anwendung von Gewalt ab und halten sich an Gesetze in
Deutschland.
Muslimische Organisationen wie die IGMG, IGD oder MJD werden vom Bundesamt
für Verfassungsschutz dem „legalistischen Islamismus“ zugeordnet:
Der ganz überwiegende Teil der Islamisten in Deutschland zählt zu den
sogenannten Legalisten. Damit sind Mitglieder islamistischer
Organisationen in Deutschland gemeint, die bestrebt sind, auf einer
islamistischen Ideologie basierende Vorstellungen des gesellschaftlichen
und individuellen Lebens auf legalem Weg durchzusetzen. Ihre Ziele sind
aber mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht
vereinbar. Um ihre Ziele zu erreichen, betreiben Funktionäre und
Unterstützer dieser Organisationen Lobbyarbeit. Sie nutzen dabei
intensiv die Möglichkeiten des deutschen Rechtsstaates („Gang durch die
Instanzen“). Nach innen sollen für die Mitglieder umfassende und
dauerhafte Freiräume für ein schariakonformes Leben geschaffen
werden. Dadurch können sich jedoch Parallelgesellschaften entwickeln,
welche die Integration behindern. Auch die weitere Radikalisierung von
(jungen) Muslimen kann durch legalistische Islamisten gefördert
werden.45
1.1 Islamistisches Personenpotential
Die dem „legalistischen Islamismus“ zugeordneten muslimischen Organisationen
IGMG, IGD und MJD werden im Verfassungsschutzbericht 2012 wie folgt
vorgestellt:46
44
45
46
„Gewaltorientierte Islamisten sind pragmatisch, was die Frage der Anwendung von
Gewalt angeht. Sie lehnen Gewalt nicht grundsätzlich ab, setzen diese jedoch nur
selektiv und begrenzt ein. Für sie ist Gewalt nur ein Mittel neben anderen. Gewaltorientierte Islamisten in Deutschland haben oft einen engen Bezug zu den Ländern,
aus denen sie selbst oder ihre Eltern stammen, und in denen die
„Mutterorganisationen“ ansässig und aktiv sind. Sie setzen Gewalt in der Regel nur
gegen die dortigen Herrschaftsstrukturen ein. Ihr Ziel ist es, dort eine Gesellschaftsordnung einzuführen, die auf ihrer islamistischen Ideologie basiert.“ Siehe http://
www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischerterrorismus/zahlen-und-fakten -islamismus/zuf -is-2012-islamistischeorganisationen.html.
Siehe: http://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-undislamistischer-terrorismus/zahlen-und-fakten-islamismus/zuf-is-2012-islamistischeorganisationen.html..
Laut dem Verfassungsschutzbericht 2012 (Berlin, Bundesinisterium des Inneren, 2013)
ist im Vergleich zum Vorjahr das islamistische Personenpotenzial in Deutschland von
38.080 auf 42.550 Mitglieder/ Anhänger angestiegen. Diese signifikante Zunahme
innerhalb eines Jahres wird dabei vor allem auf die Tatsache zurückgeführt, dass im
Gesamtpotential erstmalig Personen der Kategorie „salafistische Bestrebungen“ (4.500) gennant werden.
48 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
„Islamische Gemeinschaft Milli Görüş e.V.“ (IGMG)
Die größte islamistische Organisation in Deutschland verfügt über ca. 31.000
Mitglieder und unterhält mehr als 300 Einrichtungen. Die IGMG ist Teil der Milli
Görüş-Bewegung. Milli Görüş strebt dem Verfassungsschutz nach eine „gerechte
Ordnung“ an, die sich ausschließlich an islamischen Grundsätzen orientieren
soll. Langfristiges Ziel sei demnach die fundamentale Umgestaltung der Türkei,
die Wiederherstellung einer „Großtürkei“ und schließlich eine islamische
Weltordnung. Diese Sichtweise bedinge die Ablehnung westlicher Demokratien.
Zu den Aktivitätsschwerpunkten der IGMG gehört die Jugend- und
Bildungsarbeit. Hierbei betont die IGMG, dass die Bildung und Förderung der
„islamischen Identität“ von besonderer Bedeutung sei. Bei ihrer Bildungsarbeit
stützt sich die IGMG neben Koran und Sunna auf zahlreiche selbst entwickelte
Unterlagen. Dabei orientiert sie sich auch am Islamverständnis und den
Zielsetzungen der Milli Görüş-Bewegung, was dem Verfassungsschutz nach in
teilweise deutlichem Widerspruch zu ihrer nach außen bekundeten
Integrationsbereitschaft stehe. Die IGMG ist aber kein durchgehend homogener
Verband, was auch der Verfassungsschutz zur Kenntnis nimmt. Seit einigen
Jahren sind Ansätze festzustellen, dass sich insbesondere einige Führungskräfte
der jüngeren Generation bemühen, eine größere Eigenständigkeit der
Organisation bzw. eine Loslösung von der türkischen Milli Görüş zu erreichen. 47
„Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V.“ (IGD)
Bei der IGD mit mehreren Hundert Mitgliedern handelt es sich um die zentrale
und wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft in
Deutschland. Neben ihrem Hauptsitz in Köln unterhält die IGD nach eigenen
Angaben „Islamische Zentren“ in München, Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt am
Main, Marburg, Braunschweig und Münster. Verfassungsschutzberichte sehen die
IGD ideologisch an der Muslimbruderschaft ausgerichtet und konstatieren eine
Strategie der Einflussnahme im politischen und gesellschaftlichen Bereich, um
ihren Anhängern Freiräume für eine an Koran und Sunna orientierte Lebensweise
zu ermöglichen. Dies beinhaltet, Verfassungsschutzberichten zu Folge, eine
entsprechende Schulung und Unterweisung der Mitglieder, um weitere geeignete
Mitarbeiter für die Organisation zu rekrutieren und auszubilden. Die
47
Die Anhänger türkischer Gruppierungen bildeten mit 32.270 Personen (2011 waren es
31.370) erneut das größte Potenzial. Wiederum ist im Bericht die IGMG mit 31.000
(2011 auch 31.000) Mitgliedern die größte Gruppierung. Die arabischstämmige und
der Muslimbruderschaft zugerechnete IGD verfügt demnach über 1300 und die „Hizb
Allah“ über 950 Anhänger. Keine gesicherten Daten liegen bezüglich Personen vor,
die in internationale „jihadistische“ Netzwerke involviert sind. Verfassungsschutzbericht 2012, Berlin, Bundesinisterium des Inneren, 2013: 202. Siehe http://
www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2012.pdf.
Siehe http://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af -islamismus-undislamistischer-terrorismus/zahlen-und-fakten-islamismus/zuf-is-2012-islamistischeorganisationen.html.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 49
Organisation strebe zielgerichtet und beharrlich die Schaffung von
gesellschaftlichen Freiräumen an, in denen säkulare gesellschaftliche
Konventionen und westlich geprägte pluralistische Normen nicht gelten.
Stattdessen sollen die von der Organisation postulierten islamistischen
Wertvorstellungen Anwendung finden. Die von den IGD-Zentren durchgeführten
Aktivitäten seien dementsprechend letztlich geeignet, gesellschaftlich
desintegrativ auf hier lebende Muslime zu wirken. Da die IGD sich
programmatisch in überregionalen muslimischen Verbänden engagiert, erwartet
der Verfassungsschutz, dass sie auch auf diesem Wege versuchen wird, die
Diskussion gesellschaftlicher Themen wie die in Deutschland angestrebte
eigenständige Imam-Ausbildung in ihrem Sinne ideologisch zu beeinflussen und
ihre religiös-politischen Vorstellungen durchzusetzen.48
„Muslimische Jugend in Deutschland e.V.“ (MJD)
Zwischen der MJD und der IGD bestehen enge Verbindungen. Gleichwohl ist die
MJD bemüht, als unabhängige Jugendorganisation akzeptiert zu werden.
Zielgruppe der MJD sind Muslime im Alter von 13 bis 30 Jahren. Die MJD verfügt
nach eigenen Angaben über 900 Mitglieder und ist bundesweit in sogenannten
Lokalkreisen organisiert, die sich hauptsächlich auf die westlichen Bundesländer
verteilen. Ihren Hauptsitz hat sie in Berlin. Die MJD führt religiöse Erziehung
und Bildung über zielgruppenorientierte Schulungs- und Freizeitaktivitäten
durch und gibt an, sich aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen zu finanzieren. 49
1.2 Probleme des Expertenwissens des Verfassungsschutzes
Aus der Sicht der Wissenschaft sind die Unterscheidungen des
Verfassungsschutzes in mehrfacher Hinsicht problematisch. Ein erstes Problem
betrifft die Annahme, unterscheidbare und klar voneinander abgrenzbare
Kategorien bilden zu können. Sie geht erstens davon aus, dass es klar
abgrenzbare islamische/ islamistische Positionen gibt, die sich zweitens
bestimmten Organisationen zuordnen lassen, über die eine Gesamteinschätzung
möglich ist. Diese Unterscheidungen rechtfertigen bzw. erfordern eine
differentielle Politik.
Diese beiden Annahmen sind nun alles andere als selbstverständlich. Wichtig ist
zunächst anzumerken, dass diese kategorialen Unterscheidungen nicht
diejenigen sind, die im Feld selbst getroffen werden, wo es drei verschiedene
Dachverbände gibt, zwischen denen die Grenzen nicht klar gesetzt sind. Halten
wir die wichtigsten Punkte fest:
48
49
http://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer
-terrorismus/zahlen-und-fakten-islamismus/zuf-is-2011-islamistischeorganisationen.html.
Bundesministerum des Inneren (2012) Verfassungschutzbericht 2011, Berlin: 288.
http://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2011.pdf.
50 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Im Koordinationsrat sind die Dachverbände des DITIB, der Islamrat, der
Zentralrat und der Verband Islamischer Kulturzentren, zusammengefasst.
Im Zentralrat findet sich die Islamische Gemeinde Deutschlands, IGD, und
im Islamrat die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş: Der Koordinationsrat
ist also eine Organisationsform, die über die klassifikatorische Grenze, die
Islam von Islamismus trennt, hinausgeht. Dies gilt auch für die Schuras in
Hamburg, Niedersachsen und Bremen.
Die dem Verfassungsschutzbericht zugrunde liegende Definition von
„Islamist“ deckt sich nicht mit der Definition der Akteure. Der türkische
Begriff Islamcı bezeichnet nicht denjenigen, der den Islam für politische
Zwecke „missbraucht“, sondern die Denker, die seit Beginn des 20.
Jahrhunderts eine islamische Antwort auf die Krise des osmanischen Reichs
gesucht haben: Also Wegen zu finden, den Islam mit der Moderne
kompatibel zu machen. Dies bedeutet einerseits, den Islam zu reformieren,
und andererseits, eine islamische Moderne zu erdenken. Er umfasst also die
ganze Breite der islamischen Reformbewegungen (Ali Bulac). Islamistischer
Terrorismus wird natürlich gesehen, aber nicht in diese Traditionslinie
eingeordnet.
Eine strikte Trennung zwischen Islam und Islamismus wird nicht vollzogen.
Es gibt einen graduellen Übergang von Positionen, die die innerweltliche
Verantwortung von Religion stark betonen, zu solchen, die sie wenig oder
gar nicht sehen. Allerdings tendieren viele dazu, eine starke Grenze zu
Gruppen zu ziehen, die in einem elitär revolutionären Selbstbewusstsein für
sich beanspruchen, für den wahren Islam zu sprechen und anderen die
Rechtgläubigkeit absprechen.50
Die Tatsache, dass die vom Verfassungsschutz vorgenommenen Klassifizierungen
von den Mitgliedern dieser Organisationen nicht nachvollzogen werden, hat
weitgehende Folgen. Die von den Verfassungsschutzämtern vollzogene
Klassifikation erscheint als von außen aufgesetzt, künstlich und nicht der Sache
entsprechend.
Aus ihrer Sicht scheint eine Moschee der Islamischen Gemeinde Deutschlands
oder der Milli Görüş, zum islamischen Mainstream beziehungsweise zur
gesellschaftlichen Mitte zu gehören. Eine Ausgrenzung erscheint als willkürlich
und wird in der Regel mit einer gesellschaftskritischen und unbequemen Haltung
dieser Gemeinde begründet. Die Begründungen im Verfassungsschutzbericht
50
Dies war etwa bei den mittlerweile verbotenen Gemeinden der Hizb-ut Tahrir und
des Kalifatsstaats des Cemaleddin Kaplan der Fall. Siehe auch Werner Schiffauer
(2000) Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland. Eine Studie zur Herstellung religiöser Evidenz, Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 51
erscheinen als wenig nachvollziehbar. Mit anderen Worten: Wo das
Innenministerium klare Kategorien und Differenzen sieht, werden aus dem Feld
heraus Kontinua wahrgenommen; wo differente Gruppenzugehörigkeiten
konstruiert werden, werden im Feld überschneidende Netzwerke gesehen.
Ein weiteres Problem dieser aus einer Sicherheitsperspektive abgeleiteten
Definition islamistischer Gruppen ist ihre Rigidität und die Unfähigkeit, interne
Diskussions- und Lernprozesse innerhalb der beobachteten Organisationen zu
erkennen. Während die Feststellung, dass die Milli Görüş-Bewegung in der
Türkei in den 1990er Jahren einen islamischen Staat herbeiführen wollte und
hierfür auch ihre Mitglieder in Deutschland mobilisierte, durchaus zutreffend
ist, hat sich in den 2000er Jahren eine neue, reformorientierte Führung in der
IGMG durchgesetzt, die sich vor allem auf die Schaffung von
Gemeindestrukturen in Deutschland konzentriert. Eine Frage, auf die wir im
Fazit eingehen werden, ist daher, ob die andauernde Beobachtung eine
Reformorientierung und substanzielle Identifizierung mit dem freiheitlich
demokratischen Rechtstaat begünstigt oder eher erschwert.
Ein drittes Problem ist, dass die Unterscheidung Islamismus/ Islam auf das nichtislamistische Feld ausstrahlt. Eine binäre Unterscheidung dieser Art zieht
weitere Unterscheidungen nach sich. Jede Grenze produziert ein Vorfeld – einen
Raum der Nachbarschaft, einen Raum des „noch-nicht“ oder des „nicht-ganz“.
Auf der Seite des Islams „qua Religion“ wird zwischen einem – wünschenswerten – europäischen/ deutschen/ liberalen/ säkularen Islam und einem wertkonservativen Islam, wie er von den großen Dachverbänden vertreten wird,
unterschieden. Während ersterer mittlerweile akzeptiert wird, gibt es Zweifel
am zweiten. Die Dachverbände gelten zwar als „gemäßigt“, aber man hat
Vorbehalte, die im Wesentlichen auf drei Faktoren hinauslaufen. Eine starke
Bejahung von Gemeindereligiosität scheint die Freiheit des Individuums zu sehr
einzuschränken; die Betonung der Offenbarung lässt Bedenken daran
aufkommen, ob gegebenenfalls dem Wort Gottes nicht Vorrang vor dem
innergesellschaftlichen Recht gegeben wird; und eine starke Betonung von
Symbolen – vor allem dem Kopftuch – erhebt Zweifel, ob hier von Autonomie die
Rede sein kann. Die Unterscheidung zwischen den beiden Formen des Islam wird
in der Regel nicht offiziell, sehr häufig aber offiziös geäußert. So schreibt etwa
Heinz Buschkowsky, dass man dem Islam der Dachverbände Offenheit,
Liberalität, Lebensbejahung, Toleranz und Demokratiefähigkeit absprechen
muss – und setzt gleichsam als Zielmarke den „Euro-Islam“: „Der Glaube an die
Untrennbarkeit von Religion, Staat und Gesellschaft und die Reduzierung der
Bedeutung des Einzelnen, der nur als ein Teil der Umma, der Gemeinschaft aller
Muslime, eine Existenzberechtigung genießt, sind mit dem Grundprinzip eines
demokratisch verfassten Staates, seiner Gewaltenteilung und der
Unangreifbarkeit des Individuums nicht vereinbar. Mindestens an dieser Stelle
hat der Islam seine Aufklärung und seine Reformation noch vor sich“. Hinter
dem immer wieder gebrauchten Begriff des „Euro-Islam“ verbergen sich genau
52 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
diese Erwartungen. Diese Unterscheidung unterliegt auch der Zusammensetzung
der ersten Islamkonferenz: Hier wurden neben sechs Verbandsvertretern, zwölf
nicht-organisierte, sogenannte säkulare Muslime eingeladen. Dieser Schritt ist
bemerkenswert, weil vom Religionsverfassungsgesetz eigentlich die Anbieter
religiöser Dienstleistungen als Gesprächspartner vorgesehen waren. Die
Abweichung suggeriert, dass die Organisatoren die Vertretung des Islams nicht
den Organisationen überlassen wollte. Dieser Gesichtspunkt wog offenbar
schwerer als das Problem, dass die nicht-organisierten Muslime zwar ehrenwerte
Personen des öffentlichen Lebens waren, aber letztendlich nur für sich selbst
sprechen konnten. In Bezug auf die konservativen Verbände des sunnitischen
Islam dominiert also die Einschätzung, dass sie „noch nicht“
verfassungsfeindlich sind, aber auch „noch nicht“ so innerhalb der Verfassung
stehen wie der „Europäische Islam“.
Gerade weil die Ausgrenzung der Milli Görüş so wenig nachvollziehbar ist,
rechnen die Gemeinden des organisierten Islams damit, jederzeit selbst in die
Liste der observierten Verbände aufgenommen werden zu können. Diese Gefahr
ist nachvollziehbar, da den Gemeinden bewusst ist, dass Daten über sie
gesammelt werden, auch wenn sie offiziell nicht unter Beobachtung stehen –
und dass dies politikrelevant ist. So erlebt der Verband islamischer
Kulturzentren immer wieder, dass Anträge auf Durchführung von Sommerkursen
abgelehnt werden. Ebenso sind Verfassungsschützer bereit, sich gegenüber der
Presse über die ebenfalls nicht beobachtete Gülen-Gemeinde in einer Art und
Weise zu äußern, dass der Eindruck naheliegt, eine Aufnahme in den
Verfassungsschutzbericht würde zumindest erwogen.
Weder lassen sich die Trennungen von Islam und Islamismus so vollziehen, wie
es der Verfassungsschutz will, noch sind die Unterscheidungen innerhalb des
Islamismus so eindeutig. Dies bedeutet nicht, dass die vom Verfassungsschutz
benannten Positionen nicht existieren: Die Übergänge zwischen ihnen sind
fließend und ständig in Bewegung und lassen sich vor allem nicht klar
bestimmten Organisationen zuordnen. Statt Eindeutigkeit dominiert
Ambivalenz. Auch in Kreisen, die zum „gewaltorientieren Islamismus“ gerechnet
werden, wird der demokratische Rechtsstaat bejaht und bewundert. Umgekehrt
ist die Wut über die „westliche Heuchelei“ und über die ungleichen Maßstäbe,
nach denen Israel und die arabischen Staaten beurteilt werden, unter sehr
vielen Muslimen verbreitet.
2. Befunde und Themen
In diesem Kapitel begründen wir zunächst die Auswahl der Gesprächspartner.
Anschließend werden die Ergebnisse der empirischen Studie präsentiert. Diese
beinhalten die gesellschaftliche Verortung der Gesprächsteilnehmer, der
Darstellung ihrer Erfahrungen mit und die Auswirkungen der staatlichen
Überwachung, individuelle und kollektive Bewältigungsstrategien und ihre
Einschätzung des Verfassungsschutzes und des NSU-Skandals.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 53
2.1. Auswahl der Gesprächspartner
Die Interviews wurden mit Intellektuellen der „dritten“ Generation junger
Muslime aus den Kreisen des legalistischen Islamismus geführt, die sich aktiv in
die Gesellschaft der Bundesrepublik einbringen. Nach Schiffauer zeichnen sich
die kollektiven Biographien dieser, von ihm als „Postislamisten“
charakterisierten Aktivisten, dadurch aus, dass sie in konservativen islamischen
Elternhäusern aufgewachsen sind. Ihre Kindheit und Jugend spielte sich
weitgehend im Dreieck von Elternhaus, Gemeinde und Schule ab. Während die
Elterngeneration noch eine klare Rückkehrorientierung hatte, ist für diese
Generation Deutschland zur Heimat geworden. Sie muss somit das
Spannungsverhälntnis zweier sich widersprechender (und vor allem sich
gegenseitig mit Misstrauen betrachtender) Lebenswelten bewältigen und ihre
Rolle als Muslime in Europa finden und definieren. Dabei ist eine positive
Besetzung der Lebenswelten die Voraussetzung für gesellschaftliches
Engagement. Die Gemeinde wird als Ort der emotionalen Wärme empfunden,
der Halt und Sicherheit bietet. Die Gesprächspartner emfinden ihr gegenüber
ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der Gemeinde und betonen die
Bedeutung der mit dem Gemeindeleben verbundenen sozialen Bindung und
Verpflichtung. Die (weiterführende) Schule wird dagegen als Raum
wahrgenommen, in dem die Gesprächspartner mit intellektueller Weite und
einer Kultur der Diskussion und Argumentation vertraut gemacht wurden.
Gerade die schulische Erfahrung war für viele der Auslöser, die Kontrastierung
von Westen und Islam, die für ihre Eltern noch selbstverständlich ist, nicht mehr
zu akzeptieren. Mit der Zeit entwickelte diese Generation zunehmend ein
Selbstverständnis als Übersetzer zwischen den Lebenswelten. Allerdings handelt
es sich dabei um eine Minderheit. Ihr steht eine große Gruppe von nichtengagierten Mitgliedern der dritten Generation gegenüber. Wer weniger positive
Erfahrungen in der Gemeinde gemacht hat, engagiert sich – wenn überhaupt –
nicht als Muslim in der Gesellschaft. Wer weniger positive Erfahrungen im
Umgang mit der deutschen Gesellschaft gemacht hat, zieht sich eher in die
Gemeinde oder das Privatleben zurück. Dennoch ist diese Gruppe von
erheblicher Bedeutung. Sie sind Brückenbauer zwischen den Milieus und tragen
damit entscheidend zur Integration in Deutschland bei. Sie haben zudem
mittlerweile die Führungspositionen in den meisten Gemeinden übernommen.
2.2. Gesellschaftliche Selbstverortung der Gesprächsteilnehmer
Fast alle Interviewpartner haben ein explizit islamisches Selbstverständnis
gemein, mit dem sie versuchen, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen, wie
Mustafa Yoldaş, ein Facharzt für Allgemeinmedizin, betont:
Aber was man mir durchaus unterstellen kann, dass ich doch überzeugt bin von
meinem Glauben und dass das Streiten für meinen Glauben auch eine
gottesdienstliche Handlung ist. Ich glaube, ich tue das nicht nur um meiner Selbst
willen, sondern weil es viele Menschen in diesem Land gibt, die vielleicht nicht
das Talent haben, alles zur Sprache zu bringen, was sie stört, wo sie sich
übergangen fühlen.
Besonders in Konfliktsituation und bei Erfahrungen von Ausgrenzung ist für viele
Gesprächspartner der Bezug auf die islamische Identität und die islamische
54 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Geschichte von zentraler Bedeutung, wie Yasir Bhai, Trainer in der
Erwachsenenbildung, Mitte dreißig, vom indischen Subkontinent stammend, und
MJD Mitglied, herausstellt:
Der Prophet […] ist z. B. auch nicht zurückgegangen als in Mekka sich die ganze
Geschichte verändert hat. Nach der Eroberung ist er trotzdem in Medina
geblieben. Da muss man sich fragen: „Warum?“ […] Mit allen Konsequenzen.
Ein Großteil der Gesprächspartner betont, dass sie ein ausgewogenes und
moderates Islamverständnis haben und radikale bzw. extreme Auslegungen des
Islams ablehnen. Daher argumentieren sie auch, dass gerade die vom
Verfassungsschutz als „legalistisch islamistisch“ bezeichneten Gemeinden dem
Extremismus und der Radikalisierung entgegenwirken. Sie beziehen sich auf ihre
Rolle in der Förderung aktiver gesellschaftlicher Partizipation und des
zwischenmenschlichen Austausches. Zudem verbessern sie das schlechte Image
der Muslime und fördern ein besseres Verständnis des Islams in der
Mehrheitsgesellschaft. Insbesondere die Verpflichtung anderen Muslimen
gegenüber wird durch die Begrifflichkeit der „Umma“, die in den Gesprächen
wiederholt auftaucht, deutlich. Ahmad Hamdan, islamischer Theologe, der in
IGD und MJD-nahen Einrichtungen aktiv ist, verdeutlicht dies: „Weil wir auch
ganz einfach glauben, dass wir als Muslime, als Umma, verantwortlich sind“.
Auch wenn Gemeinsamkeiten bezüglich des Islamverständnisses und die daraus
resultierende Verpflichtung gegenüber der „Umma“ identifizierbar sind, gibt es
in Bezug auf das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland und die eigene
Identitätskonstruktion ein differenziertes Bild, oft mit multiplen, hybriden
Identitätskonstruktionen: „Ich bin deutscher Muslim“ oder „anatolischer
Hanseat“. Einige Gesprächspartner fühlen sich nicht als Deutsche oder
identifizieren sich nicht über die Zugehörigkeit zu einer „Ethnie oder
Nationalität oder sonst was. Mensch. Muslim. Das reicht“. Interessant ist an
dieser Stelle, dass viele türkischstämmige Muslime mit ihrer Identifikation mit
Deutschland eine von anderen Muslimen abweichende Strategie entwickelt
haben. Viele türkischstämmige Muslime zeigen eine klare Affinität zur
türkischen Nation, eine Zuschreibung, die bei anderen Interviewpartnern wie
Ahmad Hamdan eher negativ konnotiert ist:
Wie kann man
sich da deutsch
fühlen? Das geht
einfach nicht.
Man ist Muslim in
dieser Gesellschaft, man ist
Türke.
Gerade bei Türken ist wirklich ein sehr extremer Nationalismus und auch zum Teil
eine sehr ablehnende Haltung gegenüber der deutschen Gesellschaft, was ich auch
teilweise nicht verstehen kann.
Interviewpartner mit arabischen bzw. nicht-türkischen Wurzeln bezeichnen sich
eher als deutsche Muslime, während türkischstämmige Interviewpartner sich
eher als Türken mit regionalen oder lokalen Zuschreibungen definieren. Viele
türkischstämmige Interviewpartner gehen mit ihrer Ausgrenzungserfahrung
offensiv um und betonen dabei, dass die Identitätsvorgaben der
Mehrheitsgesellschaft nicht wirklich inklusiv sind, wie hier Abdurrahim Kutlucan,
ein promovierter Mediziner, der seit seiner Jugend in der IGMG-Arbeit aktiv ist:
Aber ich fühle mich nicht deutsch. Aber das liegt auch daran, wie die deutsche
Gesellschaft mit uns umgeht. […] Man will uns nicht hier haben. Wie kann man
sich da deutsch fühlen? Das geht einfach nicht. Man ist Muslim in dieser
Gesellschaft, man ist Türke.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 55
Interessant ist hier Kutlucans Darstellung der Ausgrenzung in einer ethnoreligiösen Hierarchie. Angehörige anderer Migrantengruppen werden demnach
auch diskriminiert, haben aber weniger Probleme als Türken, die zusätzlich
noch als Muslime wahrgenommen und ausgegrenzt werden.
Unter den Interviewpartnern ist aber auch eine kritische Haltung gegenüber der
eigenen Community zu beobachten. Yasir Bhai z.B. kritisiert die
Selbstdarstellung vieler Muslime und ihrer Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft:
Auch die Muslime tun meiner Meinung nach nicht genug, um der
Mehrheitsgesellschaft klar zu machen, dass sie hier heimisch sind. Dass
auch hier ihre Heimat ist. Dass sie hier sozusagen ihren Platz haben und
dass sie auch mit guten Absichten kommen.
Ensar, ein türkischstämmiger Student Anfang 20, in der IGMG sozialisiert, sieht
hier auch einen Generationsunterschied im Umgang von Muslimen mit der
Mehrheitsgesellschaft und betont: „Aber die junge Generation, die wagt diesen
Diskurs.“
Abschließend können wir festhalten, dass unser Sample schon in der
gesellschaftlichen Verortung der befragten Muslime, die alle dem sogenannten
„legalistischem Islam“ zugerechnet werden, eine große Bandbreite aufweist. Die
gelebte Alltagswelt, die Kontakte mit der Mehrheitsgesellschaft, die
Überwachung durch den Verfassungsschutz, all dies wird durch divergierende
Erfahrungen und Interpretationsmuster gefiltert und verstanden. Es gibt
Unterschiede zwischen türkischstämmigen Muslimen in der IGMG, für die sich
die religiöse und die nationale Zugehörigkeit oft überlagern, und Muslimen
anderer Herkunft (und Konvertiten), die sich eher als „deutsche Muslime“
definieren. Schließlich sind auch Generationsunterschiede von Bedeutung. Auf
der einen Seite haben wir hier also ein sehr diverses Sample von religiös aktiven
Muslimen und eine große Bandbreite von differierenden Subjektpositionen, die
aber auch durch religiöse Konzepte wie das der „Umma“ und die gemeinsame
Teilnahme in islamischen Organisationen zusammengeführt werden.
2.3 Auswirkung der Überwachung auf Individuen und Organisationen
Die staatliche Observierungspraxis hat unmittelbare Konsequenzen für das
Alltags- und Verbandsleben muslimischer Akteure, die dem „legalistischen
Islamismus“ zugeordnet werden. Da die muslimischen Akteure nicht in einem
luftleeren Raum agieren, sondern sich in ihren jeweiligen muslimischen
Gemeinden engagieren, kann hier eine Interaktion zwischen Individuum und
Gemeinde vorausgesetzt werden. Daher wird in diesem Abschnitt analysiert, wie
sich die Observierung auf die muslimischen Gemeinden, die dem „legalistischen
Islamismus“ zugerechnet werden, auswirkt.
Die alltägliche Gemeindearbeit auf lokaler Ebene wird selten direkt von der
Erfahrung der Überwachung bestimmt. Mitglieder ohne leitende Funktion und
Einbindung in die Öffentlichkeitsarbeit werden in der Regel nur wenig von der
Problematik belastet. Erst bei Übernahme von Führungspositionen erfahren
56 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Mitglieder von den (in)direkten Auswirkungen der Überwachung auf ihre Arbeit
bzw. ihren lebensweltlichen Zusammenhang. Nicht nur, weil sie sich auf
institutioneller Ebene mit den Sicherheitsbehörden und -berichten befassen
müssen, sondern auch, weil diverse Anliegen von einzelnen Mitgliedern oder
Sympathisanten in Bezug auf den Verfassungsschutz direkt an sie herangetragen
werden.
Die Auswirkungen der Überwachungserfahrung, wie wir sie auf Grundlage der
Gespräche rekonstruieren können, beziehen sich vor allem auf das Individuum
sowie auf die Folgen für die Gemeindearbeit, die Aberkennung der
Gemeinnützigkeit und die Belastung der Beziehungen zu anderen islamischen
Organisationen.
2.3.1 Auswirkungen auf das Individuum
Viele Interviewpartner sprechen von Gefühlen der Wut, Ohnmacht,
Enttäuschung, Verzweiflung, Schock und Lähmung, die sie im Zuge der
Überwachung und deren Folgen erfahren. Mohamed Nejm z.B., ein Student in
einer Führungsposition bei der MJD, spricht von den langfristigen Folgen zu
Unrecht durchgeführter Beobachtung:
Es war eine ohnmächtige Wut, [...] das ist halt jetzt in der Welt, [...]
viel davon ist schwammig und man muss halt mit Schmutz werfen und
bisschen was bleibt hängen, auch wenn viel runtertropft, es bleibt was
und dagegen kann man sich nicht wirklich wehren. Es ist halt im Raum
und richtet mit sehr wenig Aufwand sehr großen Schaden an.
Nejm nimmt hier Bezug auf eine Redewendung, die es in verschiedenen
Sprachen des Mittelmeerraums gibt, wonach man rechtschaffene Menschen
öffentlich entehren kann, wenn man ausreichend Verleumdungen gegen sie
verbreitet („Schmutz gegen sie wirft“).
Selina Gül, eine junge Akademikerin, die bei der MJD und der IGMG aktiv ist, ist
vor allem über die Erfahrung fehlender Professionalität erstaunt:
Man bekommt den Eindruck, dass die Arbeit von Laien gemacht wird, von
Leuten, die keine Ahnung haben, schreiben irgendeinen Blödsinn auf und
was nicht anständig recherchiert ist, hat aber erhebliche Folgen, [...] das
ist unverständlich und frustrierend. Es war auch lähmend und wie kann
man das jetzt angehen?
2.3.2 Auswirkungen auf die Gemeindearbeit
Ein zentrales Signal, das in den untersuchten Gemeinden rezipiert wird, kann
wie folgt auf den Punkt gebracht werden: „Seid ihr bei der IGMG, IGD oder MJD,
bekommt ihr Probleme!“ Dies hat zur Konsequenz, dass manche Mitglieder oder
Unterstützer dieser Gruppen nicht auffallen möchten, um nicht ins Visier der
Sicherheitsbehörden zu geraten. Konkret kann dies zur Kündigung von
Mitgliedschaften führen aber auch Sympathisanten davon abhalten Mitglied zu
werden. Darüberhinaus vermeiden einige Mitglieder und Sympathisanten auch
Moscheebesuche oder Veranstaltungen.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 57
Auch wenn diese Strategien kein Massenphänomen darstellen und die Brisanz
von den Interviewpartnern unterschiedlich eingeschätzt wird, ist dennoch zu
konstatieren, dass dies die muslimischen Akteure beschäftigt.
Neben der Tatsache, dass sich die Observierungspraxis einschüchternd und
abschreckend auswirkt, wird sie zudem als „staatlich verordnete
Beschäftigungstherapie“ (Engin Karahan) empfunden, welche die muslimischen
Akteure von ihren eigentlichen Aufgaben gegenüber ihren Mitgliedern aber auch
der Mehrheitsgesellschaft abhält. Dies wird als eine bewusste Strategie
verschiedener Landesämter für Verfassungsschutz zur Sanktionierung
unerwünschter muslimischer Akteure gewertet. Die den muslimischen
Gemeinden nur knapp zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen
Ressourcen werden in die Auseinandersetzung mit den Sicherheitsbehörden
investiert, z.B. für das Verfassen von Stellungnahmen und Pressemitteilungen,
die Aufnahme und Begleitung von kostspieligen Rechtsverfahren, die
Entwicklung von Strategien im Umgang mit Sicherheitsbehörden sowie für die
Betreuung von Individuen, die auf Grund der Überwachung Nachteile und
Ausgrenzung erleiden. Yunus Yassin, Student und aktiv in der MJD:
[In der Vorstandsarbeit] nimmt der Verfassungsschutz dann vielleicht 30,
40, 50 Prozent der Zeit und Kraft in Anspruch, weil man dort Schreiben
aufsetzen muss, weil man diskutieren muss. Wie könnte was falsch
verstanden werden? Könnte es sein, dass dieses Zitat oder dieses Bild mit
dieser Person uns Probleme bereiten kann? Mit solchen kleinen Sachen
müssen wir uns befassen. Die Zeit könnten wir viel effektiver in die
Jugendarbeit investieren, in die Dialogarbeit. Es gibt so viele nichtmuslimische Kooperationspartner, die wöchentlich fünf bis zehn Anfragen
schicken. Aber wir sagen: ‚Tut uns Leid, wir haben einfach nicht die
Kapazitäten.‘ Und warum? Weil so viel Zeit in die Sache mit dem
Verfassungsschutz einfließt. Das kostet viel Zeit und Geld.
Die Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschutz hat die IGMG dazu
veranlasst, eine eigene Rechtsabteilung aufzubauen, die zum einen die
Gerichtsverfahren gegen den Verfassungsschutz einleitet und begleitet, und zum
anderen Mitgliedern, ob Individuen oder Gemeinden, beratend zur Seite steht.
Ihre über viele Jahre hinweg erarbeitete Expertise stellt die IGMGRechtsabteilung auch muslimischen Individuen und Gemeinden, die nicht
Mitglied bei der IGMG sind, zur Verfügung.
2.3.3 Interne Distanzierung von Dachverbänden
Eine weitere Dimension ist die kollektive innere Distanzierung: Lokale Gruppen
bzw. Gemeinden, die über lange Jahre hinweg Mitglied bei „legalistisch
islamistischen“ Organisationen waren, distanzieren sich vom Dachverband, weil
sie erhebliche Nachteile erfahren oder solche antizipieren. Die Distanzierung
erfolgt demnach nicht zwangsläufig aus Gründen einer divergierenden
inhaltlichen Ausrichtung, sondern primär aus pragmatisch-opportunistischen
Erwägungen. Die konkreten Anlässe für die Distanzierung reichen von Problemen
beim Grundstückserwerb oder Moscheebau und dem Zugang zu kommunalen
Gremien oder Fördermitteln (z.B. Stadtjugendring) zu Nachteilen bei der
58 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Einbürgerung und aufenthaltsrechtlichen Fragen (besonders auch die Einladung
zu Sicherheitsgesprächen oder Razzien der Sicherheitsdienste).
Die Distanzierung findet statt, indem die Mitgliedschaft beim Dachverband
gekündigt und gegebenenfalls auch eine Namensänderung vollzogen wird. Aus
einer religiösen Gemeinde mit Hinweis auf einen Dachverband wird eine
vermeintlich unabhängige und neutrale lokale Kulturgemeinde, z.B. mit dem
Namen „deutsch-türkischer Kulturverein“. Funktionäre aus den Dachverbänden
beobachten diese Strategie lokaler Gemeinden jedoch mit Skepsis, nicht nur
wegen des Verlustes einer Gemeinde, sondern weil die Sicherheitsbehörden
oder lokale Ansprechpartner den muslimischen Gemeinden diese SelbstDistanzierung nicht wirklich anerkennen. Die Erfahrung zeige, dass den
Gemeinden die Distanzierung vom Dachverband nicht wirklich „abgekauft“ wird,
sie eine „Hidden Agenda“ hätten und dass somit das Misstrauen ihnen gegenüber
zunehme, wie der Jurist Engin Karahan, seit 2005 in der IGMG-Rechtsabteilung
in Köln tätig und seit 2011 stellvertretender IGMG-Generalsekretär, betont.
2.3.4 Aberkennung der Gemeinnützigkeit
Insbesondere Vertreter der MJD verweisen wiederholt auf die weit reichenden
nachteiligen Folgen des Entzuges der Gemeinnützigkeit ihres Vereins, wie hier
die Studentin Aischa El Sayyed, die seit mehreren Jahren in der Öffentlichkeitsund Dialogarbeit der MJD aktiv ist:
Es gibt eine Sache, mit der ich immer Probleme habe: Die
Gemeinnützigkeit. Sie wurde uns entzogen, weil wir im
Verfassungsschutz erwähnt werden. Das stellt für uns wirklich ein
Hindernis dar. Wir kriegen nicht die ‚normalsten‘ Fördergelder, sondern
müssen ständig nach irgendwelchen Fördergeldern suchen, wo die
Gemeinnützigkeit keine Rolle spielt. Wir können nicht in Landes- oder
Stadtjugendringe rein. In NRW wollen sie uns haben, sie suchen mit uns
auch Wege, wie sie uns reinbekommen.
Dies deutet auf eine paradoxe Situation hin: Die MJD, der in den
Verfassungsschutzberichten integrationsfeindliche Arbeit vorgeworfen wird,
möchte bei einschlägigen Jugendforen partizipieren, jedoch wird ihr die
strukturelle Integration in die Jugendarbeit in Deutschland durch die
Observierung durch den Verfassungsschutz verwehrt. Aischa El Sayyed von der
MJD weist darauf hin, dass neben dieser strukturellen Ausgrenzung, die vor
allem als Signale der Nichtanerkennung und -würdigung des geleisteten
ehrenamtlichen Engagements verstanden werden, die Aberkennung der
Gemeinnützigkeit sich auch auf andere Bereiche nachteilig auswirkt, wie zum
Beispiel das Entfallen steuerlicher Begünstigungen oder die Anmietung von
öffentlichen Räumlichkeiten.
2.3.5 Belastung der Beziehungen zu anderen muslimischen Akteuren
Die Interviews legen nahe, dass die staatliche Observierungspraxis sich nicht nur
belastend auf das Verhältnis zwischen „legalistischen Islamisten“ und der
Mehrheitsgesellschaft auswirkt, sondern auch innerislamische Trennlinien
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 59
erzeugt. Der öffentliche Diskurs über „gute“, also willkommene, und „böse“,
also nicht-willkommene Muslime drängt muslimische Akteure dazu, sich
öffentlich zu bekennen und zu demonstrieren, auf wessen Seite sie stehen.
Diese Vorstellung,
dass jemand, der
den Islam ernst
nimmt
automatisch auch
die Welt
islamisieren will
und die
Demokratie
abschaffen, ist
weltfremd.
Auch muslimische Akteure, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden,
sind sich über die negativen Auswirkungen der Erwähnung in den
Verfassungsschutzberichten bewusst und kritisieren die Verwendung des
Konzepts des „legalistischen Islamismus.“ Hierzu der ehemalige Pressesprecher
des Zentralrats der Muslime in Deutschland Mounir Azzaoui:
Die Interpretation und die Schlüsse, die da gezogen werden, halte ich für
unangemessen. Das Konzept legalistischer Islam und diese Vorstellung,
dass jemand, der den Islam ernst nimmt oder einen politischen Anspruch
hat, dass es automatisch dazu führen muss, die Welt islamisieren zu
wollen und Demokratie und Menschenrechte abzuschaffen, ist für mich
utopisch und weltfremd. Ich kann nicht verstehen, wie eine Behörde mit
so einem Konzept arbeiten kann.
Die Interviewten kritisieren die Observierung und Erwähnung der IGMG, IGD und
MJD in den Berichten des Verfassungsschutzes, weil dies zur Stigmatisierung der
jeweiligen Gruppe führe. Zugleich jedoch kritisiert Azzaoui, dass die
observierten muslimischen Akteure aufgrund des von den Sicherheitsbehörden
aufgebauten Drucks „einen ganz bestimmten Blick auf Politik und Gesellschaft
bekommen. Sie verlieren das Vertrauen in die Politik, sie agieren sehr formaljuristisch und verlieren ein bisschen das Gespür für politische Sensibilitäten und
Kompromissbildung“. Es werde eine Opferhaltung eingenommen, die zur
Blockadepolitik bei Verhandlungen mit staatlichen Behörden führe, wodurch
man sich wichtige Chancen des Dialogs entgehen lasse.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die gegenüber der Anstalt für Religion
DITIB, dem dem türkischen Staat nahe stehenden und mit ca. 800 Moscheen
größten muslimischen Dachverband in Deutschland, artikulierte Kritik von
Azzaoui:
Was mich immer gewundert oder auch gestört hat, ist gerade bei den
türkischen Organisation wie z.B. bei der DITIB, die vom türkischen
Staatsislam geprägt sind, dass die an dieses Thema anders herangehen,
nach dem Motto: ‚Wenn der Staat sagt, eine Organisation ist
problematisch, dann ist das auch so, weil der Staat immer richtig liegt.‘
Das fand ich sehr merkwürdig und das hat auch dazu beigetragen, dass
die Situation so ist wie sie ist, weil, wenn die türkisch-muslimischen
Organisationen auch da noch stärker zusammenarbeiten und auch sich
klarer positionieren würden, dann könnte man viel mehr auch in der
Politik bewirken. Ich denke, da hat vor allem die DITIB eine große
Verantwortung, der sie bisher nicht gerecht wird.
Engin Karahan von der IGMG beschreibt das passiv-ignorante Verhalten mancher
muslimischer Gemeinschaften als
[D]as schmerzhafteste an der ganzen Sache! Wenn du mit anderen
muslimischen Gemeinschaften zusammen sitzt und die sich eigentlich
voll bewusst sind, dass das nicht stimmt, dann mit
„Verfassungsschutzrecht “ auftreten und versuchen zu argumentieren.
60 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Teilweise auch gar nicht verstanden haben was da drin steht, aber
einfach aus einer gewissen Obrigkeitshörigkeit heraus, die sie teilweise
aus der alten Heimat mitgebracht haben, dann Angst haben mit dir auf
einem Bild aufzutauchen […]. Wir wissen auch aus erster Hand, dass
Funktionsträgern anderer Gemeinschaften immer wieder auch von
staatlicher Seite nahegelegt wird, nicht mit IGMG auf einem Bild zu
erscheinen, nicht mit IGMG zu kooperieren. Bei widerspenstigen
Menschen dann auch immer, auch gern darüber verwiesen wird: ‚Ja hier,
ihr wollt doch mit uns zusammenarbeiten. Ihr wollt doch gemeinsam
Projekte machen, kooperieren. Förderungen von uns – das geht aber nur,
wenn ihr da Distanz zu denen bewahrt.‘
Ferner weist Karahan darauf hin, dass andere muslimische Gemeinschaften im
Grunde auch hinter den von der IGMG artikulierten Positionen stünden, sich
aber nicht trauten, öffentlich Kritik an der behördlichen Politik zu üben, da sie
Zwängen ausgesetzt seien und mit negativen Konsequenzen rechneten. Die
IGMG müsse immer wieder für die ganze muslimische Community „den Kopf
herhalten“:
Wenn auf gemeinsamen Veranstaltungen ein Paper auf den Tisch kommt,
wandern die Blicke erstmal zum IGMG-Vertreter: ‚Was sagt denn der
jetzt dazu? Ist das jetzt gut oder ist das schlecht?‘ Also nicht
ausgesprochen wird, aber schon die Erwartung besteht, dass der IGMGVertreter dann gefälligst das Richtige sagt, hinter dem man sich dann
auch verstecken kann. Du spürst dann auch quasi die erlöste Atmosphäre
auf muslimischer Seite, wenn du deinen Senf dann abgegeben hast. Die
Erfahrung wird wirklich auf jeder Ebene gemacht. Dass dann so ‘ne
gewisse Erlösung auf muslimischer Seite aufkommt: ‚Oh ok. Wurde jetzt
gesagt, wir müssen das jetzt selbst nicht mehr sagen.‘ Also haben diesen
Luxus. Wir werden teilweise als Blitzableiter missbraucht quasi. Wir sind
uns dafür aber auch nicht zu schade.
Die obigen Aussagen weisen auf eine paradoxe Entwicklung der Annäherung und
Distanzierung hin: Als Reaktion auf die von staatlicher Seite geäußerten
Forderung nach einem Ansprechpartner haben die großen muslimischen
Dachverbände in der letzten Dekade einen historischen Einigungsprozess
durchlaufen, welcher 2007 in der Gründung des Koordinationsrats der Muslime
mündete. Punktuell ist jedoch eine Distanzierung voneinander notwendig, um
weiterhin als Ansprechpartner des Staates zu gelten, wie es das Beispiel der
DITIB darlegt.
Die Folgen der Überwachung durch die Landesämter für Verfassungsschutz, wie
wir sie durch die Gespräche rekonstruieren konnten, sind vielfältig. Auf der
einen Seite besteht ein beeinträchtigtes Sicherheitsgefühl bei Individuen, die
sich in die Verbands- oder Gemeindearbeit einbringen möchten, denen aber
signalisiert wird, dass dabei ernstzunehmende Folgen für die eigene Person in
Kauf genommen werden müssen. Auf der anderen Seite werden die Verbände
durch die Überwachung dazu gezwungen einen Großteil ihrer Ressourcen von
der Gemeindearbeit auf Rechtsstreitigkeiten zu verlagern, während einzelne
Moscheegemeinden oder Jugendgruppen versuchen, sich und ihre Mitglieder
abzusichern, indem sie sich von überwachten Dachverbänden lossagen, oft
jedoch ohne den erhofften Erfolg. Die Überwachung strukturiert auch die
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 61
Beziehungen zu anderen islamischen Gruppen und Institutionen, die eine
Überwachung vermeiden wollen. Es wäre daher nicht übertrieben festzustellen,
dass die Überwachung das gesamte Feld der islamischen Organisationen in
Deutschland direkt oder indirekt tangiert und damit den einzelnen Organisation
und Akteuren das eigenverantwortliche Handeln in vielen Kontexten erschwert.
Es geht also hier nicht nur um die Beobachtung von „legalistisch islamistischen“
Organisationen, sondern auch darum, was die Beobachtung organisierter
Muslime auf systemischer Ebene bewirkt.
2.4 Individuelle und kollektive Bewältigungsstrategien
Ein Großteil der Interviewpartner hat ihre Sozialisation in einem Kontext der
Stigmatisierung erfahren, der durch die Überwachung und die möglichen
negativen Auswirkungen auf die Karriere und die Akzeptanz in der
Mehrheitsgesellschaft reproduziert und verstärkt wird. Viele Gesprächsteilnehmer reagieren daher mit einem veränderten Verhalten in ihrer
Alltagswelt, um Nachteile für ihren Lebensweg zu vermeiden. Auf
Verbandsebene gibt es ebenfalls eine weite Bandbreite von solchen Strategien
der Risikominderung, aber auch von Solidaritätserfahrungen mit nichtmuslimischen Akteuren.
2.4.1 Individuelle Strategien: Risikominderung und religiöse Versicherung
Ahmad Hamdan spricht von einem risikomindernden Verhalten:
Es ist einfach so, dass man bestimmte Themen nicht am Telefon
bespricht. Dass sie Angst haben, dass sie mit diesen Moscheen, mit einer
bestimmten Organisation in Verbindung gebracht werden, deswegen
versuchen sie da, das nicht zu sehr bekannt zu machen.
Andere Interviewpartner wiederum finden dieses Verhalten unangebracht und
unnötig, da man nichts Falsches mache und somit auch nichts verbergen müsse.
Risikominderung ist besonders ausgeprägt bei der Einbürgerung, bei der
Karriereplanung im öffentlichen Dienst oder auch in anderen Berufen, wo eine
Assoziation mit den observierten Gemeinden Konsequenzen mit sich bringen
kann. Ein Interviewpartner beispielweise, der auf Lehramt studiert und noch
keine negativen Auswirkungen der Observierung erlebt hat, artikuliert expliziert
seine Befürchtung, dass er aufgrund seines Engagements bei der MJD
irgendwann ausgegrenzt werden könnte. Baha Zaytouni, Student, und in
verantwortlicher Position in einem multiethnischen muslimischen Dachverband,
der vom Bundesamt für Verfassungsschutz als IGD-nah eingestuft wird,
verdeutlicht, dass ihm der Moscheevorstand davon abgeraten habe, sich in der
Moschee einzubringen, bevor seine Einbürgerung abgeschlossen sei:
Als ich vor einigen Jahren die verantwortlichen Personen aus der
Moschee kennen lernte, wollten die nicht, dass ich aktiv werde. Ich hatte
damals noch einen Aufenthaltstitel, der auf zwei Jahre begrenzt war.
Und die haben zu mir gesagt: ‚Beantrage bitte den deutschen Pass, so
schnell wie möglich und rede bis dahin nicht mit uns! Also absolut nicht,
komm nicht in unsere Moscheen‘. […] Die hatten Angst, sie wussten auch
62 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
schon, dass ich [...] studiere und dadurch meine berufliche Zukunft
gefährdet ist. […] Dem Ratschlag bin ich gefolgt, wurde dann innerhalb
von dreieinhalb Monaten ganz schnell eingebürgert […] und die Akte geht
ja überall hin, auch zum Verfassungsschutz etc. Danach habe ich mich
stark engagiert in den Gemeinden.
Die religiöse Dimension stellt einen zentralen Aspekt im individuellen Umgang
mit dem Stigma durch den Verfassungsschutz und mit dem Umgang mit der
strukturellen Ausgrenzung dar. Wie die folgende Interviewpassage mit Mustafa
Yoldaş demonstriert, halfen ihm sowohl sein religiöses Selbstverständnis als
auch religiös-historische Narrative im Umgang mit Stigmatisierung und
Ausgrenzung:
Wenn ich keinen starken Glauben hätte, dann wäre ich wahrscheinlich
jetzt schon in der Klapsmühle oder schon ausgewandert. Aber ich ertrage
das mit Geduld […]. Dann habe ich gesagt: ‚Mustafa, reiß dich
zusammen, die Gefährten des Propheten haben wesentlich schlimmere
Dinge durchleiden müssen. Das ist doch noch gar nichts.‘ […] Ich tue
etwas Gutes in der Hoffnung, Gottes Wohlwollen zu erlangen. Ob die
Menschen das anerkennen oder nicht […]. Manchmal muss man gegen den
Strom schwimmen […]. Aber was man mir durchaus unterstellen kann,
dass ich doch überzeugt bin von meinem Glauben und dass das Streiten
für meinen Glauben auch eine gottesdienstliche Handlung ist […]. Ich bin
verantwortlich dafür, dass ich gute Arbeit tue.
Der Hinweis auf die „Klapsmühle“ verdeutlicht den enormen psychischen Druck,
welchem die Betroffenen über Jahre hinweg ausgesetzt sein können. Yoldaş, der
sich in Deutschland erfolgreich eine Existenz als Hausarzt aufgebaut hat, geht
sogar so weit, dass er ernsthaft den Gedanken der Auswanderung erwähnt. Er
bezieht sich aber auf seine Religion, die ihm Kraft und Energie, Geduld und
Trost schenkt und die Situation ertragbar macht. Außerdem sind es seine
Glaubensbrüder, die ihm Mut zusprechen und ihn auf seine Verantwortung als
standhafter und frommer Muslim in der Gesellschaft hinweisen. Mit dem Verweis
auf das Leben des Propheten und seinen Gefährten werden auch Bezüge zur
islamischen Geschichte hergestellt und somit die gegenwärtige Ausgrenzung und
Herabsetzung relativiert. In eine ähnliche Stoßrichtung gehen zwei Zitate von
Yunus Yassin und Baha Zaytouni:
Womit ich mich
motiviere ist der
Gedanke, dass
Allah unter den
400.000 Muslimen
in Berlin mich
ausgesucht hat.
Die MJD-Arbeit ist mir einfach zu viel Wert, als dass ich sage, wegen der
Observierung lass ich’s sein. Das hat auch eine spirituelle Ebene, denn
die Arbeit verfolgt ein Ziel, nicht im Diesseits, sondern auch im Jenseits,
was mir hilft mit der Situation umzugehen (Yunus Yassin).
Womit ich mich motiviere ist der Gedanke, dass Allah unter den 400.000
Muslimen in Berlin mich ausgesucht hat, dass ich für seine Religion etwas
tue. Ich empfinde es als eine Ehre, den Muslimen, den Menschen in
dieser Stadt dienen zu können (Baha Zaytouni).
Die Zitate verdeutlichen, dass die Stigmatisierung und Ausgrenzung mit einer
Referenz zum religiösen Kontext verarbeitet wird, und aus dieser Referenz Kraft
geschöpft wird, mit der Situation umzugehen, nicht zu resignieren oder sich
einschüchtern zu lassen, sondern sich Mut zuzusprechen und zu motivieren. Vor
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 63
allem das jenseitsbezogene Denken und Handeln der muslimischen Akteure
scheint eine besonders wichtige Rolle bei der Selbstbestätigung zu spielen.
2.4.2 Emotionen: Entfremdung, Polemik und Humor
Emotionen spielen eine bedeutende Rolle in stigmatisierten Kontexten und im
Umgang mit Stresssituationen. Der Einsatz von Humor und Polemik scheint dabei
eine wirksame Strategie der Bewältigung zu sein.
Das große Handicap bei der Sache
ist, dass du den
Leuten sagst, dass
sie beobachtet
werden, aber
trotzdem musst
du sie dazu
animieren,
Öffentlichkeitsarbeit zu machen.
Ich bin als humorvoller Mensch bekannt und es ist irgendwo eine Waffe in
meiner Hand, um gegen die Demütigungsversuche, die man mir und
meiner Glaubensgemeinschaft zumutet, fertig zu werden. Die Alternative
wäre, ich wäre abgedriftet in die radikale Gruppe. […] Ich kann nur
polemisieren und damit den Frust loswerden und den Abstand halten,
von Leuten, die an meinen Kragen wollen. Ich glaube, dass macht mich
auf der einen Seite sympathisch hier in bestimmten Augen, auf der
anderen Seite bei bestimmten Leuten natürlich unbeliebt. Es gibt Leute,
mit denen ich da auf dem Podium sitze und die ich da zur Sau mache, die
stehen da wie angepisst nach der Diskussion. Dann kommen andere zu
mir und sagen: ‚Herr Yoldaş, es ist immer wieder ein Genuss mit ihnen
auf dem Podium zu sitzen‘ (Mustafa Yoldaş).
Auch auf kollektiver Ebene gibt es Beispiele für den Einsatz von Humor, z.B. als
Deeskalationsstragie. Ensar Yek berichtet, dass zur Winterzeit über mehrere
Wochen hinweg zum Freitagsgebet vor ihrer IGMG-Moscheegemeinde in
Süddeutschland ein Kastenwagen stand, aus dem mit großen Objekten gefilmt
oder fotografiert wurde. Einige Gemeindemitglieder haben das „mit Humor
genommen. Die sind dann z.B. mit einem Teller Baklawa und Tee zu denen
gegangen: „Die Herren, es ist kalt. Wollt ihr nicht eine Kleinigkeit?“ Die haben
dann murrend die Tür zu gemacht und sind weggefahren“. Der Umgang der
muslimischen Gemeindemitglieder mit der Situation ist unkonventionell: auf die
als repressiv und ausgrenzend wahrgenommene Observierungspraxis wird mit
einer Geste der Gastfreundlichkeit und des Willkommenheißens reagiert. Die
passiven muslimischen Objekte werden durch einen von Humor angetriebenen
emanzipativ-rebellischen Akt zu aktiven Subjekten. Die Mitarbeiter des
Verfassungsschutzes, die solch eine Reaktion nicht antizipiert zu haben
scheinen, stellen ihre Arbeit temporär ein und ergreifen auch symbolisch die
Flucht.
2.4.3 Kollektiver Umgang mit der Überwachung
Die Observierungspraxis veranlasst die Funktionäre aus den muslimischen
Communities, Kommunikationsstrategien mit ihren Mitgliedern und
Sympathisanten zu entwickeln, um sie nicht nur bezüglich dieser Thematik zu
sensibilisieren, sondern ihnen auch konkrete Handlungsanweisungen mit auf den
Weg zu geben. Sowohl auf der Vorstandsebene als auch bei Treffen mit
Multiplikatoren aus der eigenen Community, z.B. auf Mitgliederversammlungen,
Treffen von Regionalverbänden, Lokalkreisleitern oder Weiterbildungskursen,
wird die Problematik und die Strategie im Umgang mit dem Verfassungsschutz
kommuniziert. Die Funktionäre betonen dabei, dass sie bei der Thematisierung
dieser Problematik nicht destruktiv oder demotivierend sein wollen, um einen
Motivationsverlust der Mitglieder zu verhindern. Die besondere Herausforderung
64 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
hierbei sei, zum einen für Transparenz in dieser komplexen Angelegenheit zu
sorgen und zum anderen die Mitglieder zum Weitermachen zu motivieren, da es
keine Alternative zur aktiven Partizipation an der Gesellschaft gäbe, wie Engin
Karahan bemerkt.
Das große Handicap bei der Sache ist, dass du den Leuten sagst, dass sie
vom Verfassungsschutz beobachtet werden, aber trotzdem musst du sie
dazu animieren, Öffentlichkeitsarbeit zu machen. […] Sich nicht zu
verschließen. […] Das ist kein leichtes Unterfangen, weil auf der einen
Seite sagst du ihnen: „Ihr seid eigentlich Aussätzige!“ per Definition, also
per Fremddefinition. Aber das muss euch eigentlich egal sein. […] Trotz
aller Ablehnung und Ausgrenzung müsst ihr weitermachen, weil es
einfach gesellschaftlich wichtig ist, dass ihr diese Arbeit macht. […] Es
geht nicht nur darum, dass man den Leuten sagt, dass sie im
Verfassungsschutzbericht stehen, sondern viel wichtiger ist es, ihnen zu
erklären, wie damit umzugehen ist.
Auch wenn die Funktionäre sich um Offenheit und Transparenz in Sachen
Verfassungsschutz bemühen, werden nicht immer alle Fragezeichen in den
Köpfen der Mitglieder oder Sympathisanten aufgelöst. Besonders irritierend
scheint die Situation zu sein, wenn es um die Anwerbung von Informanten
seitens des Verfassungsschutzes aus den eigenen Reihen geht, wie dieses Zitat
von Aischa El Sayyed verdeutlicht.
Ich habe zu keinem Moment gedacht, dass die MJD eventuell der falsche
Platz für mich sein könnte, aber ich habe ständig das Gefühl, ok es
könnten überall V-Männer sein (lacht). Als ich zum ersten Mal auf einem
Treffen erfuhr, dass einige Personen als V-Männer angefragt wurden,
weiß ich noch ganz genau, wie ich zu Hause mit meinem Bruder darüber
gesprochen hab’, dass ja jeder irgendwie ein V-Mann sein könnte. Also
die Bedrohung ist überall und egal wer und auch bei der MJ. Du weißt es
nicht so ganz genau. […] So eine Vertrauensfrage. Irgendwann mal legt
man das Ganze wieder auch ab. […] Wir haben halt sehr lange drüber
gesprochen, der Austausch hat mir sehr geholfen, mit der Situation
umzugehen.
Es ist interessant zu beobachten, wie sich die Interviewpartnerin hier über die
Bedrohung der Überwachung äußert. Trotz des Gesprächs mit dem Bruder
erübrigt sich ja die Möglichkeit der Präsenz von V-Männern nicht. Dennoch
scheint das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit und Bedeutung der eigenen Arbeit
hier schwerer zu wiegen, als die Angst vor der Überwachung.
Aktive Mitglieder oder Sympathisanten der observierten muslimischen
Gemeinden – sei es im persönlichen oder gemeinschaftlichen Rahmen –
reflektieren auch die Risiken und Gefahren des öffentlichen Auftritts. Eine
Konsequenz daraus ist die Nichtpreisgabe der vollständigen Identität in der
Öffentlichkeit.
Wenn es um Öffentlichkeitsarbeit geht muss ich meinen Namen nicht so
angeben, wie er auch im Telefonbuch oder Einwohnermeldeamt
auftaucht, weil das unter bestimmten Umständen leichtfertig sein kann.
Diese Zurückführbarkeit muss man ja nicht zu leicht machen. Mir ist klar,
dass bei den Behörden bekannt ist, dass ich da eine verantwortliche
Position habe. Aber ich versuche zu vermeiden, dass jetzt Hans-Wurst
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 65
auf der Straße einfach meinen Namen googelt und mir etwas Böses
wollte, mich dann bei meinem künftigen Arbeitgeber anschwärzen
könnte (Mohamed Nejm).
Mittlerweile ist
es so, dass in
Hamburg niemand
die Verfassungsschutzberichte
ernst nimmt, der
uns kennt.
Durch die kontrollierte Preisgabe der eigenen Identität wird versucht, die
Übertragung des kollektiven Stigmas der jeweiligen Gruppe auf die eigene
Person zu vermeiden und sich somit vor negativen langfristigen Auswirkungen zu
schützen. Bei der Darstellung dieses Umgangs mit der Stigmatisierung wird
jedoch auch darauf hingewiesen, dass dies kein optimaler Zustand sei und
dadurch die Natürlichkeit und Transparenz bei der Arbeit verloren gehe, die
Observierungspraxis muslimische Individuen jedoch zu solchen Handlungen
dränge.
2.4.4 Solidaritätserfahrung von (nicht-muslimischen) Partnern
Wie bereits erwähnt, sind die Interviewpartner sehr stark in die Dialog- und
Öffentlichkeitsarbeit ihrer Verbände eingebunden. Seit Jahren stehen sie in
regem Austausch zu behördlichen sowie zivilgesellschaftlichen Einrichtungen.
Anfänglich teilweise existierendes Misstrauen kann dabei oft durch intensive und
offene Kommunikation und die Durchführung gemeinsamer Projekte und
Veranstaltungen in Vertrauen umgewandelt werden. Das aufgebaute
Vertrauensverhältnis führt dazu, dass gesellschaftliche Akteure und politische
Entscheidungsträger sich nicht blind von der kritischen Einschätzung des
Verfassungsschutzes leiten lassen und sich mitunter auch öffentlich an die Seite
von „legalistischen Islamisten“ stellen. Engin Karahan von der IGMG:
Der Oberbürgermeister in Salzgitter übernimmt die Schirmherrschaft von
der Veranstaltung unserer IGMG-Gemeinde. Auf die Frage der Presse: ‚Ja
aber die stehen doch im Verfassungsschutzbericht.‘ antwortet er: ‚Ich
kenne die Leute. Ist mir völlig egal, was der Verfassungsschutz sagt. Ich
werde das auch weiterhin machen.‘ Das liegt auch daran, dass die
Menschen vor Ort begriffen haben, wie wichtig ihre Arbeit
gesamtgesellschaftlich ist, dass die Muslime auch einen Platz in der
Gesellschaft finden, trotz aller Ablehnung und Rückschläge, die sie in
den ganzen letzten Jahren erfahren haben.
Von einem weiteren Beispiel der Solidarisierung berichtet Mustafa Yoldaş aus
Hamburg, wo gesellschaftliche Akteure das Landesamt für Verfassungsschutz
differenziert einschätzen:
Wir haben dicke Bretter gebohrt. Wir haben z.B. eine Dialoginitiative in
dem Stadtteil mit den meisten Moscheen, Sankt Georg, gestartet und die
ersten fünf Sitzungen in diesem Arbeitskreis drehten sich nur noch um
Verfassungsschutz und IGMG. Einige Jahre später kam einer aus dieser
Runde auf uns zu und sagte: ‚Wisst ihr was? Wir bewundern eure Geduld!
Eigentlich hätten wir nach der ersten Sitzung die Tür hinter uns
zugeknallt und wären weggelaufen. Das, was man euch damals
unterstellt hat, im Nachhinein müssen wir sagen, schämen wir uns
dafür.‘ Aber wir wussten, dass wir auf der sicheren Seite, auf der Seite
des Rechts sind und deswegen haben wir gesagt, wir brauchen Zeit, die
Leute haben Angst, die kennen uns nicht. […] Mittlerweile ist es so, dass
in Hamburg niemand die Verfassungsschutzberichte ernst nimmt, der uns
kennt. Alle beschmunzeln und ignorieren sie.
66 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
In anderen Zusammenhängen ist eine kritische Sichtweise auf den
Verfassungsschutz bereits vorhanden, so dass ein Solidarisierungsprozess
einfacher vonstatten geht.
Der Landesjugendring in NRW weiß ganz genau, dass wir im
Verfassungsschutzbericht erwähnt werden. Trotzdem stehen sie zu uns
und fördern uns auch. Und das finde ich einfach Klasse in dem Moment.
[…] Beim Jugendring Dortmund, als wir uns vorgestellt haben, hat der
Geschäftsführer gesagt: ‚Kein Problem, dass ihr beim Verfassungsschutz
seid. Ich war damals mit den Pfadfindern auch drin. Das ist ok‘ (Aischa El
Sayyed).
Die Interviewpartner berichten, dass es gerade diese Erfahrungen der Inklusion
sind, welche den Umgang mit der stigmatisierenden Exklusion durch den
Verfassungsschutz erleichtern. Die Solidaritätsbekundungen demonstrieren für
sie, dass es Partner mit Zivilcourage und kritischem Geist gibt, auch innerhalb
der Behörden, die sich ihr Denken nicht vom Verfassungsschutz vorschreiben
lassen. Diese Erfahrungen werden mit Mitgliedern geteilt, um sie zu motivieren,
aktiv weiter zu partizipieren und sich weder einschüchtern noch abschrecken zu
lassen.
Es ist kein
Zeichen für
Vertrauen und
es ist kein
Die Strategien, mit den Folgen der Überwachung umzugehen, sind vielfältig und
weisen auf eine Bandbreite von Reaktionen zwischen Pragmatismus und
Prinzipientreue. Auf der Führungsebene der Dachverbände geht es um die
Anerkennung als Religionsgemeinschaft in Deutschland und eine Akzeptanz der
‚Andersartigkeit‘. Auf der Ebene der individuellen Reaktionen und jenseits der
Funktionäre scheint letzten Endes ein „Rational-Choice“-Szenario zu
überwiegen, in dem Mitglieder und Sympathisanten zwischen ihrem religiös
inspirierten zivilgesellschaftlichem Engagement und ihren beruflichen
Zukunftsaussichten abwägen müssen.
Zeichen von
‚Ihr seid ein Teil
Deutschlands.‘
2.5 Perspektiven auf den Verfassungsschutz und den NSU-Skandal
Im abschließenden Kapitel der Auswertung des Interviewmaterials beschäftigen
wir uns mit der Frage, wie sich die Überwachung auf das Bild des
Verfassungsschutzes und den deutschen Staat auswirkt.
Für den Akademiker Mahmoud Al Masri, der sich im Rahmen seines MJDEngagements intensiv mit dem Verfassungsschutz auseinandergesetzt hat, sind
die Signale, die der deutsche Staat mit seiner Observierungspraxis an Muslime
sendet, eindeutig:
Wir sehen euch, wir haben euch im Blick und ihr könnt nichts machen;
ohne dass wir das sehen und passt ja auf was ihr tut. [...] Es ist kein
Zeichen für Vertrauen und es ist kein Zeichen von Akzeptanz,
Anerkennung, Integrationsleistungen, Wertschätzung oder kein Zeichen
von ‚Ihr seid ein Teil Deutschlands.‘ Das ist es alles nicht.
Von muslimischer Seite werden paradoxe Signale empfangen: Zum einen
zelebriert sich Deutschland als ein weltoffenes, tolerantes und vielfältiges Land,
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 67
Was für Muslime
wollen sie denn
haben? Nur nicht
praktizierende
Muslime! Oder
wollen sie auch
Muslime, die in
den Gemeinden
aktiv sind?
zum anderen grenzt es Muslime aus, die ihre Religion selbstbewusst
praktizieren, sich aus ihrem islamischen Selbstverständnis heraus in der
Gesellschaft selbstbewusst und kritisch einbringen und ihre Rechte einfordern.
Assimilierte und entpolitisierte Muslime seien am ehesten willkommen, während
muslimische Individuen, die ihre Forderungen an Staat und Gesellschaft religiös
begründen, eher mit Misstrauen betrachtet werden. Wiederholt wird die
Abwesenheit einer Willkommenskultur in Deutschland angemerkt und im
gleichen Atemzug auf den angelsächsischen Raum als erfolgreiches Beispiel
hingewiesen. In Deutschland trete man „Fremden“ gegenüber besonders
skeptisch auf. Im Kontext eines islamfeindlichen Klimas würden Muslime sogar
als die „fremdesten der Fremden“ wahrgenommen und somit eine
Hierarchisierung unter „Fremden“ vorgenommen:
Man ist Muslim in dieser Gesellschaft, man ist Türke. Also ein Grieche,
ein Italiener hat absolut weniger Probleme. Also, die Leute haben
wirklich nur Probleme, wenn es wirklich richtige Nazis sind, die generell
gegen Ausländer etwas haben. Aber mit Behörden, Schulen, mit
Ausbildungsstellen, das ist ein Riesenunterschied, ob du Türke bist, oder
Italiener bist oder Grieche bist. Dann kommt die Religion in den
Vordergrund. Da haben die muslimischen Frauen noch größere Probleme
wegen dem Kopftuch (Abdurrahim Kutlucan).
Ensar Yek sieht das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz,
abweichend von mehrheitsgesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen
Diskursen, vor allem als Geheimdienst:
Dass sie zunächst einmal überhaupt nicht die Verfassung schützt. Sie hat
mit ihrem Namen überhaupt nichts zu tun. Ein ganz gewöhnlicher
Inlandsgeheimdienst, der versucht potenzielle Gefährder, wie ich auch
genannt wurde – ähm sehr hübsch –, ausfindig zu machen und zu
entschärfen.
Ahmad Hamdan hingegen weist auf den politischen Bias des Verfassungsschutzes
hin:
Der Verfassungsschutz sollte sich lieber um die diejenigen kümmern, die
wirklich die Verfassung gefährden, d.h. Prioritäten setzen, einmal nicht
blind zu sein auf dem rechten Auge. Das andere ist zu schauen, dass bei
den Muslimen zu differenzieren ist. Wer nutzt der Gesellschaft etwa?
Wer setzt sich für die Partizipation, für die Teilnahme in der Gesellschaft
ein?
Ein zentraler Kritikpunkt, den Ahmet Hamdan ausführt, ist die enge Auslegung in
der mehrheitsgesellschaftlichen Debatte und somit auch durch das Bundesamt
für Verfassungsschutz dessen, was ein „guter Muslim“ ist:
Was für Muslime wollen sie denn haben? Nur nicht praktizierende
Muslime! Oder wollen sie auch Muslime, die in den Gemeinden aktiv sind?
Wenn dann jemand aktiv ist, offen ist, der auch ein gutes
Islamverständnis hat, ausgeschlossen wird, nur weil er aktiv ist in der
Gemeinde, dann muss sich der Verfassungsschutz die Frage stellen, ob er
nicht einen Fehler macht und kontraproduktiv handelt.
68 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Anjum Sulayman ist eine junge Studentin, die vom indischen Subkontinent
stammt und erst im Grundschulalter nach Deutschland immigrierte. Sie ist
aktives Mitglied bei der MJD und berichtet, dass sie ursprünglich ein positives
Bild vom Verfassungsschutz hatte und davon ausging, dass er auch sie vor
Gefahren schütze.
[A]ls ich dann […] innerhalb der MJD erfahren habe, dass wir auch auf
ihrer Liste stehen […] und man hat nicht mal die Chance hat, sich zu
verteidigen. Seitdem muss ich ehrlich sagen, sehe ich schon den
Verfassungsschutz so bisschen im negativen Lichte.
2.5.1 Die Erwartung von Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft
Seit dem 11. September 2001 fungiert das Bundesamt für Verfassungsschutz als
eine der beachtetsten Informationsquellen in puncto Islam und Muslime. Mustafa
Yoldaş verweist daher darauf, wie wichtig eine ausgewogene Darstellung von
Organisationen in den Verfassungsschutzberichten ist:
Das andere ist natürlich, wenn du dich hinstellst und sagst: ‚Islamismus
ist die größte Gefahr für Deutschland.‘ Was ja mehrere
Verfassungsschutzpräsidenten schon gesagt haben. Dann ist das natürlich
die Frage, ob die Leute zwischen Islamismus und Islam überhaupt in
irgendeiner Form unterscheiden.
Interessant ist die Spannung zwischen der Eigenwahrnehmung und Lebenswelt
der Befragten als gläubige und rechtschaffene Muslime einerseits und der global
verorteten Bedrohungswahrnehmung des Verfassungsschutzes andererseits.
Wir helfen den Jugendlichen, die Identitätsprobleme haben, die
Probleme zu Hause und mit ihrer Religion haben. Denen helfen wir, dass
sie hier in Deutschland ankommen, Perspektiven erhalten und mit ihrer
Religion in Einklang kommen und sie kennenlernen. Wir helfen ihnen
auch, sich damit kritisch auseinanderzusetzten und nicht alles
anzunehmen, was sie in irgendwelchen Internetseiten lesen. Also, es ist
eine richtig gute Sache und ich finde es sehr schlimm, dass es einen
Verfassungsschutz gibt, der die ganze Arbeit kaputt macht, dadurch, dass
er unreflektierte Berichte rausgibt (Selina Gül).
Auch die regional unterschiedliche Vorgehensweise der verschiedenen
Landesämter für Verfassungsschutz, auf die die Gesprächspartner hinweisen, ist
von Bedeutung. Demnach gibt es „hardcore-Länder“ wie Bayern, BadenWürttemberg und Hessen, in denen die Überwachung oft aggressiv und mit
wenig Rücksicht auf die Belange der Gemeinden und ihrer Mitglieder
durchgeführt wird. In den Landesämtern in Berlin, Hamburg und NRW hingegen
gibt es Bestrebungen, gemeinsam mit den Gemeinden zu arbeiten und einem
Generalverdacht gegen alle islamischen Akteure entgegenzuwirken. Mahmoud Al
-Masri von der MJD weist auf die regionalen Unterschiede hin:
Man muss jetzt auch natürlich differenzieren, denn es gibt
Verfassungsschutzämter, die erwähnen uns zum Beispiel gar nicht und
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 69
die total locker sind, wenn man sich mit ihnen trifft, und es gibt da die
Ideologen, wie in Baden-Württemberg zum Beispiel, wo man dann merkt,
okay, ihr Ziel ist es, uns eine reinzuhauen.
Aber ich ertrage
das, weil ich
weiß, dass Leute,
die in diesem
Land sich an USKasernen gekettet
haben, es geschafft haben, Innenminister zu
werden.
Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass die Interviewpartner sich nicht auf
ein manichäisches Weltbild berufen und somit auch keine historisch immanente
Konfliktlinie zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland postulieren.
Bei der Einschätzung ihrer eigenen Situation unterstreichen sie, dass sie nicht
aus einer fatalistischen Opferhaltung heraus argumentieren. Mit Rekurs auf die
deutsche Geschichte wird wiederholt illustriert, dass die Ausgrenzung und
Stigmatisierung von ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen keine
muslimspezifische Sache sei, sondern in der Vergangenheit z.B. Hugenotten in
Preußen, Juden in Deutschland oder die linke Szene im Nachkriegsdeutschland
zu gesellschaftlichen Feindbildern gemacht wurden. Dieser Perspektive
entsprechend seien es heute eben die Muslime. Daher wird das Phänomen der
Islamfeindlichkeit in Deutschland vielmehr als eine Projektion aktueller
gesellschaftlicher Feindbilder verstanden, die sich aber in Zukunft auch auflösen
könnten. Besonders augenfällig in diesem Zusammenhang ist der
wiederkehrende Hinweis auf Akteure aus der linken Szene der 70er, die über
längere Jahre hinweg unter staatlicher Observation standen.
Aber ich ertrage das mit Geduld, weil ich weiß, dass Leute, die in diesem
Land sich an US-Kasernen gekettet haben, es geschafft haben,
Innenminister zu werden, so wie Otto Schilly. Leute, die Polizisten
verprügelt haben, wie Joschka Fischer, sind Außenminister geworden. Ich
bin mir ziemlich sicher, dass dieses Land noch eine große Karriere für
mich bereithält (Mustafa Yoldaş).
Mohamed Nejm von der MJD bezieht sich auf Wilfried Kretschmann von den
Grünen, der aufgrund seiner Nähe zu einer maoistischen Studentenvereinigung
in den 1970er Jahren Berufsverbot erhielt, aber dennoch zum
Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gewählt wurde. Auch wenn sie
hauptsächlich negative Signale aus der Mehrheitsgesellschaft rezipieren,
nehmen die Gesprächspartner diese Beispiele zum Anlass, die eigene Zukunft
selbstsicherer und hoffnungsvoller einzuschätzen. Die Erwartung dabei ist, dass
sich der Zeitgeist in Deutschland auch zu ihren Gunsten wandelt.
2.5.2 Der NSU Skandal als Wendepunkt
Der NSU-Skandal spielt in allen Interviews eine zentrale Rolle. Für die
Gesprächspartner steht das Versagen deutscher Sicherheitsbehörden sinnbildlich
für einen falschen Arbeitsschwerpunkt, fixiert auf Islam und Muslime, sowie für
eine intransparente und ineffektive Vorgehensweise. Die fehlgeschlagene
Überwachung des NSU hat den Verfassungsschutz für die Gesprächspartner
bloßgestellt und seine Legitimität in Frage gestellt.
Die ganzen NSU-Geschichten haben dazu geführt, dass der
Verfassungsschutz an sich ein bisschen bloßgestellt worden ist, was ihre
70 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Arbeit und was auch ihre Absichten und Vorgehensweisen, Mutmaßungen,
Verdächtigungen und dergleichen angeht. Ich hoffe, dass dies auf
gesellschaftlicher und politischer Ebene zu einem Umdenken führt,
inwieweit gewisse Dinge jenseits der Kontrolle – und wenn sie
parlamentarisch ist – stattfinden und inwieweit der Verfassungsschutz als
eine fehlbare Behörde angesehen wird und dass der
Verfassungsschutzbericht keine Offenbarung ist, sondern die
Einschätzung von wem auch immer und dass diese halt auch stichhaltig
sein muss (Mahmoud Al-Masri).
In der aktuellen Krise wird daher auch eine Chance erkannt, nämlich die
Arbeitsweise und das produzierte Wissen der Sicherheitsbehörden prinzipiell
kritisch zu hinterfragen, was wiederum zu einem gesellschaftlichen und
politischen Umdenken führen könnte. Jedoch wird in diesem Zusammenhang
kritisiert, dass die Arbeit des Verfassungsschutzes in Bezug auf Muslime in der
Mehrheitsgesellschaft immer noch als „neutrales Wissen“ herangezogen werde,
sowohl von Politikern, von Journalisten wie auch von Wissenschaftlern.
Auch wenn die oben skizzierten Aspekte – das Fehlen einer Willkommenskultur,
ein zunehmend islamfeindliches Klima sowie erfahrene institutionelle
Diskriminierung in Deutschland – als Signale des Nicht-Willkommenseins von
Muslimen rezipiert werden, wird mehrfach lobend auf das deutsche
Rechtssystem verwiesen, wie das folgende Zitat exemplarisch zeigt:
Obwohl es so viele negative Dinge gibt, in Sachen Recht kann man in
Deutschland viel erreichen. Das kann man in anderen Ländern nicht. Da
wird das, was in der Verfassung steht nicht unbedingt umgesetzt. Da wird
viel politisch entschieden. Hier in Deutschland ist das nicht der Fall. […]
Es gibt auch Richter, die sehen die Sache nicht mit Vorurteilen. […] Das
war für mich eine Bestätigung (Abdurrahim Kutlucan).
Es sollte festgehalten werden, dass aus deutschen Gerichten am ehesten
positive Signale ausgehen, diese daher unter den Institutionen in Deutschland
das größte Ansehen bei unseren Interviewpartnern erfahren. Jedoch hat ein
Interviewpartner, dessen Vertrauen in den Rechtssaat fast unerschütterlich
schien, seine idealisierte Vorstellung nach einer Hausdurchsuchung relativieren
müssen:
Ich habe Deutschland immer als das islamischste Land betrachtet, weil
alle Grundrechte, die der Islam garantiert, auch in Deutschland
garantiert waren und Deutschland ist ein Rechtsstaat, habe ich gesagt.
[…] Aber ich habe mich getäuscht. Ich habe gesehen, wie sich auch
Politik über rechtsstaatliche Maßstäbe hinwegsetzen kann und das, was
der Staat selber tut (Mustafa Yoldaş).
Trotz der anhaltenden stigmatisierenden und ausgrenzenden Erfahrungen durch
die Observierungspraxis des deutschen Staates sind mehrere Interviewpartner
zuversichtlich bezüglich der Beendigung der Observierung ihrer Gemeinden und
der Zukunft der Muslime in Deutschland.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 71
Ich bin mir ziemlich sicher und ich glaube, es wird eine Zeit kommen, wo
die Leute, die gegen die IGMG und deren Vertreter gewettert haben, sich
schämen und demütig auf den Boden blicken werden für das Unrecht,
was sie uns angetan haben. […] Trotzdem, wir machen weiter, lassen uns
weder abschrecken noch irritieren, wir treten für den Dialog in der
Gesellschaft ein (Mustafa Yoldaş).
Von mehreren Interviewpartnern wurde erwähnt, dass sie aus vertraulichen
Quellen erfahren haben, dass sogar Mitarbeiter von verschiedenen
Landesämtern die Verwendung der Kategorie „legalistischer Islamismus“
kritisierten und eingestehen, dass z.B. die IGMG lediglich aus politischen bzw.
ideologischen Gründen unter Beobachtung stünde und sie eigentlich nicht im
Bericht des Verfassungsschutzes erwähnt werden sollten. Dies kann auch als
Hinweis für die unterschiedlichen Ansätze im Umgang mit „legalistischen
Islamisten“ innerhalb der Landesämter interpretiert werden.
2.6 Fazit des Teilprojekts Überwachung
In
diesem
Teilbericht
haben
wir
die
A uswirkungen
de r
verfassungsschutzrechtlichen Überwachung auf sogenannte „legalistischislamistische“ Organisationen und Gemeinden sowie auf ihre Mitglieder
rekonstruiert. Dabei haben wir festgestellt, dass die Folgen der Überwachung
zum Teil gravierend sind und die Wirkung ohnehin schon bestehender
Ausgrenzungsmuster in der deutschen Gesellschaft weiter verstärkt wird. Auf
individueller Ebene wird die Erfahrung, aber auch das bloße Potential der
Observierung durch den Verfassungsschutz als erheblicher Eingriff in die
unmittelbare Lebenswelt und in die Zukunftsaussichten der Befragten
empfunden. Um einer Benachteiligung bei der Einbürgerung oder einer
Einschränkung ihrer Karrieremöglichkeiten im öffentlichen Dienst, aber auch in
der Privatwirtschaft entgegenzuwirken, entscheiden sich daher manche
Befragte für risikomindernde Strategien und oder gar für einen Rückzug aus der
organisierten Verbandsarbeit. Anstatt sich aktiv und selbstbewusst in die
Gesellschaft einzubringen, halten sie sich zurück oder versuchen ihre
Verbandszugehörigkeit zu verbergen, auch wenn ihnen die Problematik dieses
Vorgehens durchaus klar ist. In jedem Fall sind sie sich aber der Unsicherheit
ihrer eigenen Lebenssituation und dem Zusammenhang zwischen der ihnen
zugeschriebenen problematischen „Andersartigkeit“ und der erfahrenen
Ausgrenzung bewusst.
Auf der Ebene der Dachverbände – wie der IGMG – hat die Überwachung zu einer
Verrechtlichung in der Verbandsarbeit geführt und die Verteidigung des eigenen
Status als legale und anerkannte Organisation und die Rechtsberatung ihrer
Mitglieder zu einem zentralen Wirkungsfeld erhoben. Diese Verrechtlichung der
Verbandsarbeit wird gerade auch von Milli Görüş-Funktionären als
bedauernswert eingestuft. Unter Moscheegemeinden und lokalen Organisationen
gibt es punktuell Austritte bzw. Distanzierungsversuche aus Dachverbänden wie
der IGMG oder MJD. Auch hier geht es nicht um eine inhaltliche Umorientierung,
sondern um den oft erfolglosen Versuch, die Folgen der Beobachtung für die
Mitglieder zu beschränken.
72 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Besonders wichtig erscheint die Einsicht, dass sich die Folgen der Überwachung
nicht auf einzelne Gruppen und Individuen beschränken. Die Überwachung wirkt
systemisch und betrifft alle islamischen Organisationen und Verbände und
strukturiert ihre Interaktions- und Kooperationsmöglichkeiten. Die Entscheidung
des Bundesamtes für Verfassungsschutz, bestimmte Organisationen zu
überwachen und andere nicht, schafft Anreize für alle Akteure im System der
muslimischen Organisationen, sich in einer bestimmten Art und Weise zu
verhalten. Dies ist vermutlich auch politisch gewollt und in der
Mehrheitsgesellschaft weitgehend akzeptiert. Allerdings wird damit dem
Bundesamt die Definitionsmacht zugesprochen, zwischen akzeptablen und nichtakzeptablen Formen des Islams zu unterscheiden. Durch diese systemische
Strukturierung wird es den organisierten Muslimen erschwert, eine
eigenverantwortliche inner-islamische Diskussion über die Zukunft des
islamischen Lebens in Deutschland zu führen, die vermutlich auch ohne
systemische Zwänge eine große Herausforderung für die durch Fragmentierung
gekennzeichneten islamischen Akteure in Deutschland darstellen würde.
Auf der individuellen Ebene ist die Erfahrung der Observierung stigmatisierend
und entfremdend. Viele Gesprächsteilnehmer, insbesondere beruflich
erfolgreiche und gesellschaftlich anerkannte Muslime, können oft nicht
nachvollziehen, warum gerade ihr aufrichtiges gesellschaftspolitisches und
religiöses Engagement nicht anerkannt und sogar kriminalisiert wird. Wir können
hier einen eklatanten Widerspruch zwischen der Eigenwahrnehmung der
vorgestellten Akteure und der Fremdwahrnehmung durch den Verfassungsschutz
und durch weite Teile der Mehrheitsbevölkerung konstatieren. Auch bei den
Verbänden herrscht das Unbehagen vor, zu Unrecht beobachtet zu werden, da
man sich selbst als verfassungskonform und als gläubig und gerade deshalb als
nicht radikal einschätzt. Gerade die dem „legalistischen“ Lager zugerechneten
Organisation stehen Anhängern der von Saudi Arabien inspirierten Salafitischen
Bewegung (Salafisten), mit denen sie sich in Moscheen konfrontiert sehen,
äußerst kritisch gegenüber.
Der Umgang mit diesem Widerspruch variiert von Individuum zu Individuum.
Anders als bei radikalen islamistischen Gruppen, die in verschiedenen
europäischen Ländern agieren und die diese Länder und ihre politischen Systeme
durchweg als unislamisch betrachten, scheint es aber allen
Gesprächsteilnehmern dieser Studie letztendlich um die Anerkennung und
Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft und durch den deutschen Staat zu
gehen. Das Gefühl der Entfremdung und der Ausgrenzung geht bei keinem
Gesprächspartner soweit, dass sie ihr Leben in Deutschland als unerträglich
beschreiben und ernsthaft erwägen, Deutschland zu verlassen. Hier ist
allerdings zu hinterfragen, ob dies eine verallgemeinerbare Tendenz unter
Muslimen in Deutschland ist, oder ob es sich hier vor allem um eine Elitensicht
bzw. um die Sicht eines bestimmten Segments der islamischen Eliten handelt.
Tatsächlich könnte die Selektion unseres Samples drei Gruppen von vorneherein
ausgeschlossen haben: Zum einen die Gruppe, die sich auf Grund des Drucks des
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 73
deutschen Staats völlig von jedwedem Engagement zurückzieht und deshalb gar
nicht mehr sichtbar ist; zum zweiten diejenigen, bei denen der Druck des
deutschen Staats zu einer Radikalisierung führte; zum dritten diejenigen, die
sich für die Exit-Strategie der Auswanderung in die Türkei entschieden haben.
Von den religiösen Muslimen unseres Samples haben sich viele explizit zu einer
deutschen Identität bekannt. Diese Differenzierung der Reaktionen steht auch in
Einklang mit unserer Beobachtung, dass der Bezug zum Herkunftsland unter
türkischen Muslimen weiterhin stark ausgeprägt ist.
Die Enthaltung der Anerkennung und die mehrfach kritisierte Abwesenheit einer
„Willkommenskultur“ wird zur Kenntnis genommen, jedoch wird sie
mehrheitlich als eine Übergangserscheinung gedeutet, als ein Missstand, mit
dem auch andere politische Gruppen in der jüngeren deutschen Geschichte
konfrontiert waren und die letztendlich überwunden werden wird. Die aktuelle
Situation der Ausgrenzung und Überwachung wird von den Gesprächspartnern
durch religiös-inspirierte Narrative gedeutet und dadurch ertragbar gemacht.
Die Erwartung der Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft und eines Endes
der Überwachung aber ist eine politische. In diese Erwartungshaltung passt auch
die Wahrnehmung des NSU-Skandals als Chance für eine einschlägige
Kurskorrektur, die besonders bei den „Funktionären“ der Verbände weit
verbreitet ist.
Abschließend möchten wir unterstreichen, dass die in dieser Studie festgestellte
Definitionsrolle des Bundesamtes, aber auch der Landesämter für
Verfassungsschutz als Institutionen, die zwischen akzeptablen und nichtakzeptablen Formen religiöser Praxis unterscheiden, für liberale Demokratien
eine Anomalie darstellt. Hier stellt sich die Frage, ob diese Praxis mit dem
Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) vereinbar ist, das die Aufgabenbereiche des Bundesamtes definiert.
Mit seinem rigiden Expertenwissen formt und beschränkt das Bundesamt für
Verfassungsschutz den Handlungsbereich (zivil)gesellschaftlicher und staatlicher
Akteure, welche wiederum diese Expertise via Medien, durch soziale Netzwerke
oder andere Mittel weiter in die Gesellschaft hineintragen. Der
Verfassungsschutz hat somit die Macht, zu bestimmen, wer zu ‚uns‘ gehört und
wer nicht, wer eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung
darstellt und wer nicht, wer ein Ansprechpartner sein kann und wer nicht. Die
Jahresberichte des Verfassungsschutzes haben sich de facto zu einem offiziellen
Dokument entwickelt, welches die deutsche Öffentlichkeit über die „guten“ und
die „bösen“ Muslime informiert. Der „legalistische Islamismus“, Gegenstand
dieses Teilberichts, gehört in dieser Nomenklatur zu den letzteren.
Diese Rollenzuweisung trägt nicht zu einer sichereren Gesellschaft bei, da sie
gerade nicht radikale muslimische Organisationen und ihre Mitglieder ausgrenzt
und deren signifikantes Potenzial zu einer Eindämmung radikaler islamistischer
Organisationen, die es ja durchaus auch gibt und die eine Bedrohung für die
74 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
öffentliche Sicherheit und das friedliche Zusammenleben darstellen, verkennt.
Auch ist die Entscheidung zwischen religiös-politischem Engagement und dem
Ausleben der eigenen religiösen Identität auf der einen Seite und einer
Berufskarriere und gesellschaftlicher Anerkennung auf der anderen, vor die
viele gläubige Muslime gestellt werden, aus Sicht einer inklusiven, vielfältigen
Gesellschaft höchstproblematisch.
Kann es sein, dass die andauernde Beobachtung von Organisationen, die dem
„legalistischen Islam“ zugerechnet werden, eine Reformorientierung dieser
Organisationen und eine substanzielle Identifikation mit dem freiheitlich
demokratischen Rechtstaat eher erschwert? Die hier wiedergegebenen
Interviewzitate scheinen diese Annahme zu bestätigen. Anstatt interne
Demokratisierungstendenzen durch einen positiven Umgang des Staates zu
unterstützen und auf gruppeninterne Lernprozesse zu setzen, kommt die
langanhaltende Überwachung in ihrer Wirkung eher einer Zermürbungsstrategie
gleich, die nicht radikale, aber politisch bewusste Muslime zu einem Rückzug
aus der Verbandsarbeit veranlassen soll. Mit einer solchen Strategie werden
aber die Potenziale einer Integration „über Partizipation, Einbindung und
Vertrauensvorschuss“ verkannt und die Möglichkeit für reformorientierte
islamische Eliten, die sich durchaus von den ideologischen Vorgaben ihrer
Herkunftsländer und -Organisationen loslösen, verspielt. Es besteht hier daher
ein erheblicher Handlungsbedarf für die Politik, diese Potenziale zu erkennen
und für ein integrationsorientiertes Zugehen auf den „legalistischen Islamismus“
zu nutzen.
Die Beschneidungsdebatte ist
ein Wendepunkt
in der deutschjüdischen
Beziehung, wenn
nicht ein „Ende
der Schonzeit“
für Juden in
Deutschland.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 75
76 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Schlussbetrachtung
Die vorliegende Studie zur Beschneidungsdebatte und zur Überwachung
islamischer Organisationen erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Dennoch sind die hier analysierten Gespräche von Experten und die
zusammengetragenen Zitate aussagekräftig genug, um einige prägnante
Schlussfolgerungen zu ziehen. Beginnend können wir feststellen, dass beide
Fälle von den Befragten als Signale der Mehrheitsgesellschaft aufgenommen
werden, die ausschließend, diskriminierend und im negativen Sinne
identitätsbildend sind. Anstatt Integration zu erleichtern, oder einen
gleichberechtigen Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft anzuregen, sind die
Befragten in beiden Fällen in ihre In-group zurückgedrängt worden, während
ihre Gruppenidentität durch diese Erfahrung eher gestärkt wurde. Die relative
ontologische Sicherheit, die wir in den theoretischen Ausgangsüberlegungen
angesprochen haben, die Voraussetzung für Angehörige von Minderheiten und
Migrantengruppen, sich in die Gesellschaft einbringen zu können, war sowohl für
die jüdischen, als auch für die muslimischen Gesprächspartner ohnehin nur sehr
bedingt vorhanden. Mit der Beschneidungsdebatte, obwohl sie letzten Endes zu
einer Legalisierung der Beschneidung geführt hat, haben sich die jüdischen
Befragten zum ersten Mal seit dem Holocaust mit einer der muslimischen
vergleichbaren, teilweise kulturrassistisch begründeten Ausgrenzungserfahrung
konfrontiert gesehen. Trotz der Legalisierung wurde hier besonders die
vehemente und polarisierende Debattenkultur angesprochen, die ein Befragter
mit dem Sinnbild der „verbrannten Erde“ auf den Punkt bringt. Zurückblickend
sehen alle jüdischen Gesprächspartner die Beschneidungsdebatte als einen
Wendepunkt in der deutsch-jüdischen Beziehung, während einige sie als „Ende
der Schonzeit“ für Juden in Deutschland verstehen.
Die Beschneidungsdebatte ist
ein Wendepunkt
in der deutschjüdischen
Beziehung, wenn
nicht ein „Ende
der Schonzeit“
für Juden in
Deutschland.
Bei den muslimischen Gesprächspartnern, die mehrere solcher Wendepunkte in
den vergangenen Jahren erfahren haben, allen voran die rassistischen und
verletzenden Ausgrenzungsdiskurse, die in der Sarrazin-Debatte mitschwangen,
war die Reaktion auf die Beschneidungsdebatte verhaltener. Sie wird als Teil
eines diskriminierenden Aufklärungsdiskurses wahrgenommen, in dem
vermeintlich universale Werte – wie z.B. die Definition der körperlichen
Unversehrtheit und des Kindeswohls, aber auch die Emanzipation der Frau –
ausschließlich jene der christlich oder post-christlich verankerten
Mehrheitsgesellschaft sind. Diese parochiale Form des Universalismus in
Deutschland wurde mehrfach auch von Juden kritisch bemerkt.
Für die befragten muslimischen Funktionsträger ist die Beobachtung durch den
Verfassungsschutz und die damit einhergehende gesellschaftliche und politische
Stigmatisierung ein langanhaltendes Signal aus der Politik dafür, dass die
Grenzen legitimer islamischer Glaubensvorstellungen durch den Staat und sein
Expertenwissen festgelegt werden. Alle hier Befragten werden dem
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 77
„legalistischen Islam“ zugerechnet, eine Zuschreibung des Verfassungsschutzes,
die weder der Vielfalt der Organisationen und der fließenden Grenzen zwischen
ihnen, noch der lebensweltlichen Selbstbestimmung der Gesprächspartner
entspricht. Es ist gerade die in diesem Bericht zitierte, in Deutschland geborene
und aufgewachsene dritte Generation (post-)islamistischer Aktivisten, die in
ihrem Bestreben nach Akzeptanz in der deutschen Mehrheitsgesellschaft
marginalisiert wird. Durch die Überwachung und Stigmatisierung werden interne
Reformkräfte geschwächt und die in Ansätzen vorhandene Loslösung von
Herkunftsorganisationen, wie im Falle der IGMG, eher verlangsamt. Auf
individueller Ebene ist das Vertrauen in den deutschen Staat prekär und der
Druck, eine abwehrende (und Sicherheit stiftende) Gruppenidentität zu
verteidigen, enorm.
Durch die Überwachung und
Stigmatisierung
In beiden Fällen dieser Studie sind die kausalen Zusammenhänge zwischen
erfahrener Ausgrenzung – ob symbolisch oder materiell – und identitärer
Verunsicherung evident. Diese Verunsicherung ist bei den jüdischen Befragten
stärker ausgeprägt, die sich bis zu der Beschneidungsdebatte und trotz Martin
Walsers Bezug auf die Holocaustkeule in Deutschland als relativ akzeptiert
fühlten. Es ist die Erfahrung, dass man auf einmal mit den Muslimen „im
gleichen Boot“ sitze, die nahelegt, dass diese Sonderstellung nicht mehr
selbstverständlich ist.
werden interne
Reformkräfte
geschwächt.
Hier möchten wir auch auf einer der zentralen Einsichten dieser Studie
hinweisen und festhalten, dass die kategorische Abgrenzung von jüdischen und
muslimischen Angelegenheiten im deutschen Mehrheitsdiskurs nach der
Beschneidungsdebatte nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Eine
Überwindung dieser diskursiven Abgrenzung könnte aus Sicht einer egalitären
liberalen Gesellschaft eine durchaus positive Entwicklung sein, da sie
Kontinuitäten in deutschen Ausgrenzungsdiskursen bloßlegt und der aktuellen
Ungleichbehandlung unterschiedlicher Gruppen entgegenwirkt. Nur wäre es
bedauerlich und dem Zusammenleben in Deutschland nicht dienlich, wenn die
Erosion der jüdischen Sonderstellung nicht zu einer stärkeren Akzeptanz
muslimischen Lebens führt, sondern zu einer weiteren Ausgrenzung von beiden
Minderheiten und damit von religiöser und kultureller Andersartigkeit führt.
Auf Grundlage des empirischen Materials dieser Studie stellen wir einen
erheblichen Bedarf zur Introspektion auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft fest.
Anhand der empirischen Einblicke dieser Studie kann festgehalten werden, dass
die aktuellen Debatten um Migration und kulturelle Andersartigkeit nicht zu
einer Aufklärung der deutschen Mehrheitsgesellschaft beigetragen haben,
sondern kulturelle Ängste und Abwertungsdiskurse in der Mehrheitsgesellschaft
tendenziell verschärft worden sind. Auch hat sich ein Graben in der
Wahrnehmung dieser Debatten zwischen der Mehrheitsgesellschaft einerseits
und den jüdischen und muslimischen Gemeinden andererseits aufgetan. In den
untersuchten Fällen sehen sich die Befragten in ihren lebensweltlichen
Perspektiven verunsichert und teilweise bedroht. Die polarisierende und
78 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
verletzende Form der Beschneidungsdebatte und die andauernde Observierung
von nicht-gewalttätigen, auf Akzeptanz in Deutschland zielenden Organisationen
hat das Potenzial der Befragten, sich selbstsicher in die deutsche
Mehrheitsgesellschaft einzubringen, verringert. Die Annahme der Präsenz eines
Integrationsparadoxes (Integrationsdruck vs. verhaltenes Integrationsangebot)
sowie eines Sicherheitsparadoxes (Angst der Mehrheitsgesellschaft vor ohnehin
ausgegrenzten Minderheiten) in der Eingangshypothese ist durch die
Forschungsergebnisse bestätigt.
Es ist daher besonders wichtig, dass auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft
zur Kenntnis genommen wird, wie destruktiv enthemmte, emotional
aufgeladene öffentliche Debatten wirken können und wie sehr sie das
Zusammenleben in Deutschland auch perspektivisch erschweren. Hierbei kommt
den Medien sicherlich eine zentrale Rolle zu, die schon bei der Auswahl von
Gesprächsteilnehmern für eine Talk-Show den Inhalt und Verlauf der Diskussion
positiv beeinflussen können. Ebenfalls von zentraler Bedeutung wäre es, die
zurzeit noch weitgehend unumstrittene Rolle des Verfassungsschutzes in der
Bestimmung der Grenzen akzeptierten muslimischen Lebens kritisch zu
hinterfragen. Falls, wie in dieser Studie aufgezeigt, die Überwachung und
Stigmatisierung von nicht-gewalttätigen und nicht-radikalen (post-)
islamistischen Organisationen deren Mitglieder in das gesellschaftliche Abseits
drängt, anstatt sie zu einer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben anzuregen,
so muss diese Überwachung eingestellt werden. Hier zeichnen sich auch einige
positive Trends, besonders in Hamburg und Berlin, ab, in denen die
Landesverfassungsschutzämter eine differenzierte Stellung gegenüber den
unterschiedlichen Gemeinden und Verbänden einnehmen. Hierauf gilt es zu
bauen, wenn das Ziel ein gesellschaftlicher Konsens ist, in dem Freiheit und
Diversität sich gegenseitig bereichern. Bei dieser Introspektion ist es besonders
wichtig, zu erkennen, dass es bei der hier angesprochenen Problematik nicht
nur um Juden und Muslime geht, sondern um die gesamtgesellschaftliche
Zukunft Deutschlands als ein weltoffenes Land.
Destruktiv
enthemmte,
emotional aufgeladene öffentliche
Debatten
erschweren das
Zusammenleben
in Deutschland
auch perspektivisch.
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 79
80 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Anhang
Interviewleitfaden Teilprojekt Beschneidung
Gesprächseinstieg/Einleitung: Rolle in jüdischer/muslimischer Gemeinde/
Organisation erfragen (Können Sie sich bitte kurz vorstellen?), Frage zu
beruflichem Hintergrund, evtl. Einschätzung der eigenen Religiosität (Würden
Sie sich als religiöser Mensch bezeichnen? Welche Rolle spielt Religion in ihrem
Leben?)
Rolle der Beschneidung im eigenen Leben:
Bevor wir auf die Debatte zu sprechen kommen, würde ich gerne wissen, welche
Rolle Beschneidung für Sie persönlich einnimmt. Wie wichtig ist Beschneidung
für Sie? Was bedeutet Beschneidung für Ihre Gemeinde? [Lässt sich die eigene
Position zur Beschneidung bzw. deren Bedeutung für das eigene Leben
überhaupt noch von der öffentlichen Debatte trennen?]
Persönliche Wahrnehmung und Erlebnisse im Zusammenhang mit der
Debatte:
Wie und wann haben sie erstmals von dem Kölner Urteil erfahren? Was war Ihre
erste Reaktion? Waren Sie überrascht oder haben Sie schon länger mit solch
einer Entscheidung gerechnet?
Was hat das Urteil und die darauf folgende öffentliche Debatte bei Ihnen
ausgelöst? [Wut/Existenzängste, da Religion nicht uneingeschränkt praktiziert
werden darf, Wunsch das Land zu verlassen, Rückzug aus der Öffentlichkeit]
Haben Sie mit nicht-jüdischen/nicht-muslimischen Freunden über die Debatte/
das Thema geredet? Mit welchen Argumenten wurden Sie konfrontiert? Wie
haben Sie reagiert?
Was waren Ihre persönlichen Erlebnisse im Zusammenhang mit der Debatte?
[genaue Fragen sind hier abhängig vom jeweiligen Gesprächspartner, mögliche
Themen sind antisemitische/islamfeindliche Anfeindungen, Hass-Mails, erhöhter
Polizeischutz vor jüdischen Einrichtungen, Tragen der Kippa, Strafanzeigen,
„virtuelle Progromstimmung“]
Gab es auch positive Erlebnisse und wenn ja welche? Wie sind Sie mit ihren
Erlebnissen umgegangen? Gibt es andere Debatten, die Vergleichbares ausgelöst
haben? [Schächtungsdebatte]
Positionen in der Debatte:
(Haben Sie sich öffentlich zu dem Thema positioniert?) Wie haben Sie sich in der
Debatte positioniert? Wer hat Ihre Position unterstützt oder ihre Meinung
geteilt? Von welcher Seite haben Sie Kritik erfahren?
Welche Argumente haben Sie in der Debatte am meisten beschäftigt? [z.B.
Kindeswohl (Folgewirkungen, Komplikationen, Trauma), Grenzen des
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 81
Elternrechts, Gefährdung
Selbstbestimmung]
der
freiheitlichen
Grundordnung,
religiöse
Was denken Sie über die Argumente der Beschneidungsgegner (Kindeswohl etc.)?
Geht es Ihnen tatsächlich um das Kindeswohl oder gibt es tiefer liegende Gründe
für die Debatte? [Haben Ärzte/Juristen den diskursiven Rahmen völlig
vernachlässigt?]
Gibt es Punkte, mit denen Sie übereinstimmen? Welche und warum? Warum
denken Sie, dass dieses Thema so eine hohe Bedeutung hat?
Welche Argumente haben sie persönlich am meisten verletzt/geschockt/
wütend/traurig gemacht? [z.B. Gleichsetzung mit Kindesmissbrauch]
Gesellschaftlicher Kontext der Debatte:
Warum ist die Debatte gerade jetzt entstanden? [Frage nach dem
gesellschaftlichen Kontext, der förderlich für die Debatte ist, z.B. AntiReligiosität/Glaube an Wissenschaft/Medizin, Dominanz einseitiger
Integrationsvorstellungen, Debatten um Scheitern von „Multikulti“,
Gleichsetzung von Islam und Fundamentalismus, Antisemitismus]
Warum wurde diese Debatte so intensiv in Deutschland geführt und was sagt das
über den Zustand der deutschen Gesellschaft aus? [z.B. Umfrage über das Urteil
vom 1.7.12: 56% halten Urteil für richtig, 35% für falsch, oder Umfrage über
neues Gesetz vom 22.12: 70% lehnen Gesetz ab, 24% dafür] Welches Signal hat
die Debatte an Juden und Muslime gesendet?
Was löst die Debatte bei Ihnen als „Jude/Moslem in Deutschland“ aus? Was hat
die Debatte an Ihrer Einstellung zum Leben in Deutschland geändert? [Wie wird
identifikative Integration durch Diskurs zur Beschneidung und behördliche
Vorgänge erschwert?]
Welchen Einfluss hat die Debatte auf Ihr Gefühl von Sicherheit/Unsicherheit in
Deutschland? Wie steht die Beschneidungsdebatte im Verhältnis zu anderen
Ängsten, wie z.B. Angst vor antisemitischen oder rassistischen Übergriffen? [Was
wird von Muslimen schlimmer empfunden – Erfahrung der Überwachung oder
Debatten zur Beschneidung?]
Wie würden Sie reagieren, wenn Beschneidung in Deutschland gesetzlich
verboten würde?
Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen in
Deutschland:
Welchen Einfluss hat die Beschneidungsdebatte auf das Verhältnis zwischen
Juden und Muslimen in Deutschland? Birgt das Urteil die Chance auf eine bessere
Verständigung?
82 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Haben sie persönlich Momente der Unterstützung oder der Annäherung zwischen
Juden und Muslimen erlebt/gesucht/initiiert?
Wie stehen Sie dazu, dass Juden und Muslime im Kontext der Debatte von
Anfeindungen und Übergriffen betroffen sind? Sind sie gleichermaßen davon
betroffen oder wo gibt es Unterschiede?
Denken Sie, dass beide Religionsgruppen in der Debatte gleichwertig behandelt
werden? [u.a. Debatte darüber, dass Beschneidung im Judentum Pflicht und im
Islam nur eine Empfehlung sei]. Es gibt ja auch Stimmen, die sagen, dass
Beschneidung in Deutschland nur erlaubt wird, weil sie auch von Juden
praktiziert wird. Was halten Sie davon?
Im Zuge der Debatte gab es ja einige Momente der Zusammenarbeit, z.B.
gemeinsamer Aufruf für eine Demonstration für das Recht auf religiöse
Beschneidung in Berlin am 09.09.12. Was halten Sie davon?
Ausblick:
Was denken Sie über das am 12.12.12 verabschiedete Gesetz zur Beschneidung?
Kann es die Problematik lösen? Ist sein schnelles Zustandekommen/
Durchpeitschen ein angemessener Umgang mit dem Thema?
Was denken Sie über die praktische Umsetzung des Gesetzes? Meinen Sie, dass
mit dem Beschneidungsgesetz ähnlich verfahren werden könnte, wie mit dem
Schächtungsgesetz, bei dem das Recht auf Durchführung durch restriktives
Verwaltungshandeln stark eingegrenzt wird (wie in NRW)?
Was denken Sie, welche Folgen werden die Debatte und das neue Gesetz in
Ihrer Gemeinde haben? [evtl. Abnahme von Beschneidungen, da vermehrte
Verunsicherungen etc., Stigmatisierung?]
Hat das neue Gesetz Einfluss auf Ihr persönliches Sicherheitsgefühl in
Deutschland? [Forderung nach rechtlicher Absicherung erfüllt? Vertrauen in den
Staat zurückgewonnen? Fortgang der Debatte]
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 83
Interviewleitfaden Teilprojekt Überwachung
Welche Rolle nimmt sie innerhalb der muslimischen Community ein?
Wann und wie haben Sie erfahren, dass Ihre Organisation im Verfassungsschutz
Vorstellung der Gesprächsteilnehmer
Wie würden Sie sich religiös / gesellschaftlich verorten?
Können Sie bitte Ihre Organisation vorstellen?
Worin liegt ihre Bedeutung / Rolle für die Gesellschaft insgesamt?
Erste Begegnung mit dem Verfassungsschutz
erwähnt wird?
Was war Ihre spontane Reaktion?
Worum geht es beim Problem Ihrer Organisation mit dem Verfassungsschutz?
Wie gehen Sie mit der Problematik mit dem Verfassungsschutz um?
Intern
Wie geht die Organisation damit um? Wie wird die Arbeit beeinflusst?
Wie gehen die Mitglieder / Sympathisanten damit um?
Extern
Wie kommunizieren Sie dieses Problem mit anderen muslimischen Gemeinden?
Wie kommunizieren Sie dieses Problem mit der nicht-muslimischen Öffentlichkeit?
Persönliche Auswirkungen der Observierungspraxis
Wie geht Ihre Familie bzw. Ihr Freundeskreis damit um?
Strategien im Umgang mit dem Verfassungsschutz
Wie Signale empfangen werden
84 | Signale aus der Mehrheitsgesellschaft
Übersicht der Gesprächsteilnehmer
Teilprojekt Beschneidung
1
Baruch Goldstein*
Rabbiner in Deutschland
2
David Cohen*
Rabbiner aus Berlin
3
Mike Delberg
Jurastudent, Aktivist im interreligiösen Dialog
4
Alexander Hasgall
Historiker, Publizist, AK jüdische Sozialdemokraten
5
Mustafa Yoldaş
Arzt, IGMG Hamburg, Vorsitz Schura Hamburg, ehemaliger Präsident der
Internationalen Humanitären Hilfsorganisation (IHH)
6
Sergey Lagodinsky
Jurist und Publizist, Mitglied bei den
Repräsentantenausschuss der Jüdischen Gemeinde
7
Zülfukar Çetin
Soziologe und Co-Autor von „Interventionen
Beschneidungsdebatte“, Antidiskriminierungsberater
8
Salih Alexander Wolter
Publizist und Lektor, Co-Autor von „Interventionen gegen die deutsche
Beschneidungsdebatte“
9
Levi Salomon
Sprecher des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA),
ehemaliger Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde Berlin
10
Shlomit Tulgan
Bildungsreferentin in einer Jüdischen kulturellen Einrichtung
Grünen,
gegen
Mitglied
die
im
deutsche
Teilprojekt Überwachung
11
Ahmad Ramadan*
Muslimische Jugend in Deutschland
12
Abdurrahim Kutlucan
Islamische Gemeinschaft Milli Görüş
13
Mounir Azzaoui
Zentralrat der Muslime in Deutschland
14
Ahmad Hamdan*
Muslimische Jugend in Deutschland
15
Baha Zaytouni*
Islamische Gemeinschaft in Deutschland
16
Nour Makanek*
Muslimische Jugend in Deutschland
17
Mahmoud Al-Masri*
Muslimische Jugend in Deutschland
18
Aischa El Sayyed*
Muslimische Jugend in Deutschland
19
Angam Suleyman*
Muslimische Jugend in Deutschland
20
Nora Tariq*
Islamische Gemeinschaft in Deutschland
21
Mahmut Askar
Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine e.V.
22
Selina Gül*
Muslimische Jugend in Deutschland /Islamische Gemeinschaft Milli Görüş
23
Engin Karahan
Islamische Gemeinschaft Milli Görüş
24
Ensar Yek*
Islamische Gemeinschaft Milli Görüş
25
Heike Bas*
Islamische Gemeinschaft in Deutschland
26
Yasir Bhai*
Islamische Gemeinschaft in Deutschland
27
Yunus Yassin*
Muslimische Jugend in Deutschland
28
Mohamed Nejm*
Muslimische Jugend in Deutschland
29
Cem Yildiz*
Islamische Gemeinschaft Milli Görüş
* Name geändert
Signale aus der Mehrheitsgesellschaft | 85
European Studies Centre (Zentrum für Europastudien)
Das Zentrum für Europastudien der Universität Oxford (ESC) widmet sich dem interdisziplinären Studium Gesamteuropas. Der Schwerpunkt der
Forschung liegt in der Politikwissenschaft, Geschichte und in Internationalen Beziehungen. Aber auch Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen,
Anthropologen sowie Kulturwissenschaftler tragen maßgeblich zum wissenschaftlichen Profil des Zentrums bei. Das ESC sieht sich als
intellektueller Angelpunkt für all jene an der Universität Oxford , die sich mit Europäischen Studien befassen. Fellows, Visiting Fellows aus
verschiedenen europäischen Ländern und Promotionsstudenten halten regelmäßig Seminare und Workshops zu europäischen und Europarelevanten Themen ab und bringen damit europäische Themen in den Universitätskalender ein.
Das Zentrum wurde 1976 dank einer großzügigen Zuwendung der Volkswagen Stiftung gegründet. Zum Zeitpunkt der Gründung während des
Kalten Krieges wurde es als Zentrum für Westeuropäische Studien geführt. Um den Änderungen Rechnung zu tragen, die mit dem Ende des Kalten
Krieges eintraten, wurde das ESC ein Zentrum für das Studium Gesamteuropas, einschließlich Osteuropas und Dank unseres Programms für
Südosteuropa-Studien (South East European Studies at Oxford), auch der Türkei. Weitere Information erhalten Sie auf
http://www.sant.ox.ac.uk/esc/about.html sowie auf http://www.sant.ox.ac.uk/seesox/.
Network Turkey
Network Turkey verfolgt als unabhängige Plattform für die moderne Türkeiforschung zwei zentrale Ziele: Die Stärkung der wissenschaftlichen
Untersuchung und Diskussion türkeispezifischer Themen sowie die Objektivierung des Türkeibildes in der europäischen und insbesondere der
deutschen Öffentlichkeit. Es baut hierbei auf dem Leitgedanken auf, dass gegenseitiges Interesse und Wissen der Grundstein für
Völkerverständigung und eine pluralistische Gesellschaft sind. Trotz der herausragenden Bedeutung der Türkei für das 21. Jahrhundert ist das
öffentliche Bild des Landes in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union noch immer von Vorurteilen und fehlendem Fachwissen geprägt.
Vor diesem Hintergrund leistet Network Turkey durch die Organisation von Veranstaltungen, die Veröffentlichung wissenschaftlicher
Publikationen und die Durchführung eigener Forschungsprojekte einen wichtigen Beitrag zum wissenschaftlichen und interkulturellen Dialog,
interessiert sowohl das akademische Fachpublikum als auch eine breitere Öffentlichkeit für türkeispezifische Themen, schafft den Rahmen für
politisch unabhängige Diskussionen und hilft somit Vorurteile abzubauen. Mehr Informationen zu Network Turkey und unseren Aktivitäten finden
Sie auf http://www.network-turkey.org.