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MEDIENwissenschaft 2/2011
Sammelrezension: Filmkritik
Emilie Bickerton: Eine kurze Geschichte der Cahiers du Cinéma
Berlin, Zürich 2010, 180 S., ISBN 978-3-03734-126-1, € 19,90
Andrew McGregor: Film Criticism as Cultural Fantasy. The Perpetual
French Discovery of Australian Cinema
New York, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt a. M., Oxford, Wien 2010
(Film Cultures Vol. 2, Ed. Andrew McGregor und Philippe Met), 315 S.,
ISBN 978-3-0343-0053-7, € 52,40
Die reiche französische Filmlandschaft ist Gegenstand der zwei im Folgenden
vorgestellten Publikationen. Die erste, Emilie Bickertons Band, beschäftigt sich
mit einer der Grundsäulen der Filmkritik seit 60 Jahren, der Zeitschrift Cahiers du
Cinéma. Ihre Geschichte wird immer wieder gern erzählt und zusammenfassend
geht sie so: Eine Gruppe filmbesessener jüngerer Franzosen tut sich im Paris der
1950er Jahre um André Bazin zusammen, gründet eine Filmzeitschrift und verändert mit der Durchsetzung ihres filmkritischen Programms die Art und Weise, wie
wir bis heute Filme sehen. Unter diesen Filmkritikern sind diejenigen Regisseure
zu finden, die ab Ende der 1950er Jahre auf dem Terrain der Filmproduktion die
Nouvelle Vague ins Rollen bringen. Aufgrund dieser und anderer bereits zum
Mythos gewordenen Begebenheiten ist Cahiers du Cinéma die einflussreichste
Zeitschrift der Filmgeschichte. Die Monatsschrift feiert allerdings dieses Jahr ihr
60. Jubiläum und trotzdem steht sie immer noch für das, was auf ihren Seiten in
ihren ersten Jahren, vor allem in der Periode zwischen 1951 und 1972, publiziert
wurde. Ihre restliche Entwicklung wird sowohl in der allgemeinen Gemeinschaft
von Filmkonsumenten als auch in den filmwissenschaftlichen Diskursen vernachlässigt.
Die Übersetzung vom 2009 erschienenen Band A Short History of Cahiers du
Cinéma soll diese Situation teilweise ändern. Die Autorin ist Mitherausgeberin der
Zeitschrift New Left Review (besonders deutliche Beispiele ihrer intellektuellen
Herkunft sind vor allem in ihrer Kritik an den lobenden Ansichten des Magazins
bezüglich der Hollywoodindustrie ab den frühen 1980er Jahren zu sehen [S.131
und 138]). Bickerton präsentiert dem Leser ‚eine’ Geschichte der Cahiers, und
diese ist ‚ihre’ Geschichte. Das kommt der Lesbarkeit des Bands zugute: Statt
sich auf eine rein faktographische Aneinanderreihung der wichtigsten Namen,
Artikel, Filme oder Perioden zu beschränken, bietet sie eine kritische, anekdotenreiche Erzählung, die nicht nur die intellektuelle Entwicklung des Journals
nachzeichnet, sondern auch seine wichtige Rolle innerhalb der französischen Kulturlandschaft während der letzten 60 Jahre. Die Autorin schlägt in ihrer Analyse
eine chronologische Einordnung in acht Kapiteln vor. Innerhalb dieser Kapitel
werden unterschiedliche Themen separat behandelt: die tieferen Auseinanderset-
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zungen mit relevanten Artikeln, die Beschreibung der Rezeption wichtiger Filme,
der unterschiedlichen individuellen Karrierewege oder der Position der Cahiers
innerhalb eines wandelbaren cinéphilen Umfelds machen die Lektüre kurzweilig.
Die Publikation widmet den ersten 30 Jahren in der Geschichte der Zeitschrift den
größten Teil ihres Umfangs; sechs Kapitel und 127 der 168 Seiten beschäftigen
sich mit den Debatten um den Auteur-Begriff (Kap. 2), sowie mit der Theoretisierung und Politisierung der Filmkritik in den 1960er und in der ersten Hälfte
der 1970er Jahre (Kap. 3, 4 und 5). Die Autorin wirft den Redakteuren ab diesem
Zeitpunkt vor, einen filmkritischen Diskurs zu verbreiten, dem es an Kontroverse
und Leidenschaft mangelt. (Vgl. S.124) Es ist vor allem in der Interpretation dieser
zweiten Hälfte der Geschichte der Cahiers, wo sich Bickerton in ihrer Analyse
sehr konfrontativ verhält; sie kritisiert dabei die Banalisierung der Inhalte und die
Entwicklung des Journals hin zum publizistischen Mainstream und richtet oft ihre
Attacken gegen den Mann, der diese Entwicklung personifiziert, Serge Toubiana,
Chefredakteur zwischen 1981 und 2000. (Vgl. S.129ff.) Die letzten 30 Jahre der
Geschichte dieser Zeitschrift werden, im Vergleich zu der ersten Periode und
im Einklang mit der bereits erwähnten Tendenz in der Auseinandersetzung mit
Cahiers, auf insgesamt nur 40 Seiten zusammengefasst. Dies ist einerseits dem
Relevanzverlust der cinéphilen Diskurse in diesem Zeitraum geschuldet (eine Entwicklung, welche im Buch im Einklang mit politischen und sozialen Umwälzungen
nachgezeichnet ist), die Autorin liefert allerdings hier auch kritische Erklärungen
in Bezug auf die Rolle der Cahiers in diesem Prozess und auf die Verwässerung
der filmkritischen Ansichten des Journals. (Vgl. S.133ff.) Einige Ungenauigkeiten
im Umgang mit den Daten sind leider zu verzeichnen; so ist es 1968 und nicht
1978, als die auf Seite 96 beschrieben publizistischen Spannungen mit dem Konkurrenzblatt Positif stattfanden, und 1978 und nicht 1966, als der Artikel „Contre
la nouvelle Cinéphilie“ (S.123) veröffentlicht wurde.
In Bezug auf die Cahiers standen dem cinéphilen Leser bis jetzt die vier
von Jim Hillier, Nick Browne und David Wilson auf Englisch herausgegebenen
Bände, welche Texte aus der Periode zwischen 1951 und 1978 sammeln, sowie die
zweibändige Geschichte der Publikation von Antoine der Baecque zur Verfügung
(Cahiers du Cinéma, histoire d’une revue. Paris 1991, welche auf Französisch
verfasst und noch nicht übersetzt wurde und die sich nur mit der Periode zwischen
1951 und 1981 befasst). Bickertons Arbeit schließt somit eine wichtige Lücke für
den deutschen Leser. Das Buch ist sehr gut lesbar und stellt für jede filmgeschichtliche Fachbibliothek eine sinnvolle Anschaffung dar.
Die zweite Publikation dieser Sammelrezension, Andrew McGregors Arbeit
zur Rezeption des australischen Kinos in Frankreich in den 30 Jahren von 1971
bis 2001, unterscheidet sich grundlegend von Bickertons Band; die akademische
Herkunft des Textes ist leicht in seiner Struktur und Sprache zu erkennen. Primäre
Quellen für McGregors Analyse bilden die filmkritischen Texte von Zeitschrif-
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ten wie eben Cahiers du Cinéma oder Positif, aber auch von großen allgemeinen
Zeitungen wie Le Monde oder Le Figaro. Dabei stellt der Autor die These auf,
dass die filmkritische Auseinandersetzung mit der Filmproduktion Australiens
„reflect[s] the enduring popular image in France of an Australia that is a cultural as well as a geographical opposite – an orientalist relationship that ensures
European centricity as much as it perpetuates the marginalisation of Australian
cultural identity.“ (S.11) Spätestens seit Edward Saids Orientalism (1978) wird in
den Geistes- und Sozialwissenschaften die Konstruktion des außereuropäischen
Anderen als ein diskursiver Prozess verstanden, der nicht nur die Machtformationen hinter diesem Prozess entblößt, sondern auch wichtige Informationen über
die Selbstbilder unterschiedlicher Akteure geben soll. In diesem Sinne bietet diese
Publikation nicht nur eine detailreiche Darstellung der filmkritischen Rezeption
australischer Filme in Frankreich, sondern auch wichtige Informationen über die
Art und Weise, wie diese Akteure, die französischen Filmkritiker, Australien und
sich selbst wahrnehmen.
In seiner Analyse zeichnet McGregor eine Reihe von thematischen Schwerpunkten in der französischen Wahrnehmung des australischen Films nach, welche
er als Basis für eine Periodisierung des untersuchten Zeitraums nutzt: Die Entdeckung des ‚neuen’ australischen Kinos zieht sich durch die 1970er bis Mitte der
1980er Jahre (Kap. 5 und 6) und wird Ende der 1980er Jahre seitens der Rezeption von bereits international anerkannten Filmen wie Crocodile Dundee (1986)
gefolgt (Kap. 7). Eine Stilisierung des Kitsches, welcher die australischen Filme
der frühen 1990er Jahre auszeichnet (z.B. The Adventures of Priscilla, Queen of
the Desert, 1994, oder Muriel’s Wedding, 1994), prägt den filmkritischen Diskurs
in dieser Periode (Kap. 8). Seit Mitte der 1990er Jahre sieht der Autor, parallel zu
der Durchsetzung einer von der Arthouse-Ästhetik dominierten Filmproduktion,
die Wiederaufnahme klassischer Themen in der Filmrezeption des australischen
Kinos (Kap. 9): Australien, das ‚fremde’ und ‚bizarre’ Land in der Ferne, soll
durch diese Filme neu entdeckt werden.
Über diese unterschiedlichen Epochen hinaus stellt McGregor allerdings fest,
wie wenig sich in den 30 Jahren geändert hat und entwirft dabei das Bild der
wiederkehrenden Entdeckung Australiens („perpetual discovery“) als Triebkraft
hinter der Rezeption seines Kinos. Die Entfremdung der australischen Kultur,
welche diese wiederkehrende Neuentdeckung voraussetzt, bildet sich diskursiv
anhand folgender zweier Mechanismen:
Australien wird als das ‚Fremde’ schlechthin (im Vergleich zu einem europäischen – und vornehmlich französischen – Zentrum) betrachtet. Das Land wird
in diesem Sinne als das ‚Andere’ entworfen, als Antithese zu Europa. Interessant
ist in dieser Hinsicht, welche Rolle dem Film beigemessen wird: Das Kino funktioniert als Fenster zur australischen Realität (S.239); dieser Idee liegt eine vom
Realismus und dokumentarischen Elan durchtränkte Vorstellung der Macht des
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Kinos zugrunde, welche oft zu komischen Überspitzungen führt, wie z.B. die
Interpretation des dystopischen Action-Films Mad Max (1979) als eine Dokumentation über die kulturelle Verderbtheit Australiens (S.110) seitens des Filmkritikers
Dominique Jamet.
Das ‚Fremde’ wird allerdings wieder diskursiv in die Filmkritik eingebunden,
um seine Interpretation zu ermöglichen: Die Reterritorialisierung Australiens und
seines Kinos ergeben sich durch ihre Lektüre innerhalb des analytischen Rahmens,
der vom amerikanischen Kino vorgegeben wird. Die australische Filmproduktion
wird in dieser Logik als ein weiterer Zweig der amerikanischen Kulturhegemonie
wahrgenommen. Filmspezifisch geschieht das z.B. durch die Interpretation der
Filme innerhalb der Parameter des amerikanischen Genrekinos (oft des Westerns
oder des epischen Films).
Ganz einleuchtend verbindet McGregor die Ergebnisse seiner Analyse mit der
traditionellen Gegenüberstellung zwischen Autoren- und Genrefilmen. Dabei stellt
er fest, dass die Mehrheit der besprochenen Filme eher als Genreprodukte betrachtet und als Bilddokumente einer fernen und fremden australischen Kultur aufgefasst werden. Inhaltliche Aspekte stehen bei diesen Analysen im Vordergrund,
während eine eher formalistische Betrachtung des australischen Kinos, nach der
die Filme als Ausdruck einer (Autoren-) Persönlichkeit agieren, nur in seltenen
Fällen zustande kommt. Diese Variante wird im Buch exemplarisch anhand der
Filme Jane Campions – die australische Auteur-Regisseurin schlechthin – dargelegt
(S.229ff.). Ihre Filme werden also nicht als Dokument der australischen Realität
wahrgenommen, sondern eher als Kunstwerke, als Ausdruck ihrer Persönlichkeit;
sie zeigen nicht Australien, sie teilen eher die Vision der Künstlerin mit. Eine
Konsequenz davon ist, dass die Filmemacherin zum Referenznamen avanciert
ist und weitere Beispiele eines persönlichen Kinos aus Australien unvermeidlich
immer wieder mit der Figur Campions verglichen werden. Diese Grundoppositionen bestimmen bis zum heutigen Tage, so McGregor, die eher abwertende
Rezeption australischer Filme in Form einer „clear tendency among the French
critics to attribute the success of auteur films almost entirely to the creative talent
of the director, whereas a negative response to a genre film will almost invariably
implicate the national industry, and as a consequence, national identity.“ (S.296) In
diesem und anderen Fällen ist deutlich zu beobachten, wie die Formation diskursiver Kategorien aufgrund von Dualitäten zustande kommt. Zur Überwindung dieser
Dualitäten, welche das Werk durchdringen (z.B. Autoren-/Genrekino, formalistische/inhaltsorientierte Filmkritik, expressionistisches/realistisches Kino), und
um damit auch die Komplexität des Begriffs der nationalen Identität zu erfassen,
schlägt der Autor das Rhizom-Konzept von Deleuze und Guattari vor, das lediglich zu Anfang en passant (S.16) und dann erst wieder im Schlussteil des Buches
(S.302) erwähnt wird. Man kann sich dabei des Eindruckes nicht erwehren, dass
das analytische Potential dieser Kategorie unterdeterminiert bleibt.
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Die Reichhaltigkeit an Material, mit der der Autor seine Analyse begründet,
und nicht zuletzt die langen Originalzitate können an bestimmten Stellen den
Leser überfordern. Erwünscht wäre in vielen dieser Passagen ein systematisierender Blick, der nicht nur die Fakten wiedergibt und beschreibt, sondern auch
interpretiert und in einen größeren Kontext setzt. Diesen Einwänden zum Trotz
handelt es sich hier um eine fundiert recherchierte, originelle und durchweg zu
empfehlende Arbeit.
Die Lektüre beider Werke regt zu einer weiterführenden Überlegung zur
Geschichte und Bedeutung der Filmkritik an: In Bickertons Arbeit war oft ein
nostalgischer Unterton zu erkennen, eine Sehnsucht nach einer verlorenen kulturellen Präsenz der filmkritischen Diskurse. McGregor streitet diese Grundannahme nicht ab, er zeigt allerdings, welche Rolle diese Diskurse innerhalb eines
größeren kulturellen Zusammenhangs spielen können. Die Macht der Filmkritik
wird in beiden Fällen gewürdigt.
Fernando Ramos Arenas (Leipzig)
Hinweise
Uwe Christian Dech: Der Weg in den Film. Stu- Anja Peltzer: Identität und Spektakel. Der
fen und Perspektiven der Illusionsbildung.
Hollywood-Blockbuster als global erfolgBielefeld 2011, 262 S., ISBN 978-3-8376reicher Identitätsanbieter. Konstanz 2011,
1716-0, € 27,80
240 S., ISBN 978-3-86764-300-9, € 29,Juliane Dummler: Das montierte Bild. Digitales Andreas Wagenknecht: Das Automobil als
Compositing für Film und Fernsehen. Praxis
konsturktive Metapher. Eine DiskursaFilm Bd. 58. Konstanz 2010, 632 S., ISBN
nalyse zur Rolle des Autos in der Film978-3-86764-206-4, € 69,theorie. Wiebaden 2011, 258 S., ISBN
978-3-531-17702-1, € 39,95
Susan G. Figge, Jenifer K. Ward (Eds.): Reworking the German Past. Adaptations in Film, Michael Wedel: Filmgeschichte als Krisengethe Arts, and Popular Culture. Rochester,
schichte. Schnitte und Spuren durch den
New York 2010, 296 S., ISBN 978-1-57113deutschen Film. Bielefeld 2010, 464 S.,
444-8, GBP 40.00
ISBN 978-3-8376-1546-3, € 33,80