THIERRY GREUB UND MARTIN ROUSSEL ( HRSG. )
FIGURATIONEN
DES PORTRÄTS
MORPHOMATA
Mit dem Fokus auf Figurationen des Porträts wird ein
Spannungsfeld kulturellen Wissens eröffnet, anhand
dessen sich der historische Bezugsraum von Artefakten
diskutieren lässt. Porträt meint also nicht (nur) die
kunsthistorische Gattung, sondern ein Wahrnehmungs
modell, das sich zwischen einmaliger Ausprägung und
der Wiedererkennbarkeit der Form entfaltet. Die Studien
zielen in einem Bogen vom frühesten (Herrscher)
Porträt aus dem Alten Mesopotamien bis in die Gegen
wartskunst hinein auf historisch variable Formen,
individuelles Leben als besonders darzustellen.
Neben genuin bild und skulpturorientierten Beiträgen
von antiken CentaurenPorträts und Statuenbasen im
kaiserzeitlichen Sagalassos über die ›Antike der Foto
grafie‹ bis hin zu Schwitters’ Merzbild 9b und Twomblys
Selbstbildnissen behandeln textorientierte Beiträge
Fragen der Lesbarkeit von Porträts, etwa in apokryphen
PaulusTexten, an der Schnittstelle von biographischem
Porträt und byzantinischer Philosophie oder anhand
von Poes Oval Portrait. Ein eigener Fokus gilt den kul
turellen Praktiken der Bedeutungsstiftung, von Stalins
Herrscherbildnissen bis hin zur anthropologischen
Funktion beispielsweise von Masken.
GREUB, ROUSSEL (HRSG.) –
FIGURATIONEN DES PORTRÄTS
MORPHOMATA
HERAUSGEGEBEN VON GÜNTER BLAMBERGER
UND DIETRICH BOSCHUNG
BAND 35
HERAUSGEGEBEN VON THIERRY GREUB
UND MARTIN ROUSSEL
FIGURATIONEN
DES PORTRÄTS
WILHELM FINK
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Gestaltung und Satz: Kathrin Roussel, Sichtvermerk
Printed in Germany
Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn
ISBN 978 - 3 - 7705 - 6223 - 7
INHALT
Vorwort
9
I. SKULPTUREN
PETR CHAR VÁT
Das früheste Herrscherporträt aus dem Alten Mesopotamien
17
AGNES THOMAS
Sklavenporträts auf Grabreliefs am Ende
der hellenistischen Zeit
37
CHRISTIANE VORSTER
Woran erkennt man eine Ptolemäerin?
Zu den Porträts Kleopatras I. in Dresden und Kopenhagen
67
FRANÇOIS QUEYREL
Mithridate VI à Délos : charisme de l’image ?
99
ASUMAN LÄTZER-LASAR
Köpfe und Porträts auf hellenistischrömischer Keramik
aus Ephesos
135
JÖRN LANG
Bekannte Unbekannte. Bildniswiederholungen in
der spätrepublikanischen Glyptik
163
BORIS BURANDT
Neue Überlegungen zur Identifikation der zentralen
Portraitbüste des Kavalleriehelmes aus Hallaton (UK)
189
SEMRA MÄGELE
Unsichtbares sichtbar machen –
Statuenbasen im urbanistischen Gefüge von Sagalassos
203
JEANETTE KOHL
MARTIALI VERNA DULCISSIMO
Children’s Busts, Family, and Memoria in Roman Antiquity
and the Renaissance
241
II. BILDER
H. ALAN SHAPIRO
Portrait of a Centaur
279
PAOLO LIVERANI
Il ritratto dipinto in età tardoantica
295
ADRIANA BONTEA
Diderot et l’art du portrait
329
STEFFEN SIEGEL
Die Antike der Fotografie. Ein Selbstporträt in
drei Bildern (Daguerre, Talbot, Bayard)
347
GÜNTER BLAMBERGER
Ichbild ohne Ich. Über Kurt Schwitters’ Merzbild 9b (1919)
im Museum Ludwig
369
THIERRY GREUB
Selbstentzug als Selbstvollzug: Cy Twomblys Selbstbildnisse
385
III. TEXTE
JAN N. BREMMER
The Portrait of the Apostle Paul in the Apocryphal
Acts of Paul
415
MICHAEL SQUIRE
A Portrait of the Ancient Artist?
SelfPortraiture in GraecoRoman Visual Culture
435
GEORGI KAPRIEV
Ein literarisches Selbstporträt aus dem byzantinischen
13. Jahrhundert. Georgios von Zypern / Gregorios II.
und seine »Autobiographie«
471
MARTIN ROUSSEL
Figuration des Lebens und Zerstreuung des Bildes
in Edgar Allan Poes The Oval Portrait
491
LUDWIG JÄGER
Mythologische ›Portraits‹. Barthes’ ›Mythologien‹
und ihre semiologische Reflexion
517
IV. ANTHROPOLOGIE UND KULTUR
ALAIN SCHNAPP
Die Darstellung der Ruinen in der vorislamischen Welt bei
῾Adī Ibn Zayd: eine Landschaft mit bekannten Gesichtern
541
MARIAN H. FELDMAN
By the Waters of Cologne: Cities and Identity,
Past and Present
553
WOLFGANG BEILENHOFF
Stalins Herrscherbildnis
569
JAN SÖFFNER
Maske und Möglichkeit – Zwei Fallstudien zum Potential
einer kulturellen Praxis
581
MARTIN SCHULZ
Bild und Maske. Zur Anthropologie der Bildgesichter
611
LARISSA FÖRSTER
The Long Way Home. Zur Biografie rückgeführter
Objekte/Subjekte
637
Verzeichnis der Autoren
657
Tafeln
663
VORWORT
Was macht ein Porträt charakteristisch? Und worin besteht die Charak
teristik eines Porträts? Der Grundzug, der diese beiden Fragen verbin
det, liest im Charakteristischen des Porträts die Momente einer figura
etymologica heraus, nach der das Porträt ja nichts anderes meint als das
Charakteristische, die Akzentuierung eines Charakterzuges Zug um Zug
im Bild.1 Zweifellos erscheinen diese Grundzüge zunächst am Beispiel
der Gattung Porträt und ihrer kunsthistorischen Erörterung eindringlich,
doch kann man ausgehend von denjenigen Prozessen, in denen etwas als
›porträtiert‹ erscheint, die figurative Verdichtung, die mit dem Begriff
Porträt verbunden ist, allenthalben am Werk finden. Entscheidend für
das Porträt ist dann nicht die vorgegebene Entscheidung, dass ein Porträt
die charakterisierende Darstellung einer Person im Bild sei, sondern die
Frage nach der Eigenständigkeit des Porträthaften im Bild. Hierin liegen
Momente einer Kritik an den mimetischabbildhaften Eigenschaften
des Porträts – der Wiedererkennbarkeit eines Individuums im Bild –,
die darauf beruht, dass jede Darstellung »aus sich selbst« darstellt, wie
JeanLuc Nancy in einer kleinen Schrift über das Porträt erhellt hat:
»Aus sich als Anderem.«2 Die Darstellung des Porträts als Bild stellt also
in der medialen Eigenständigkeit des Bildes – auch und gerade da, wo es
ähnlich ist – diese mimetische Kritik fest.
Das andere des Porträts gegenüber dem, für (pour) das seine Form
da ist (tracé), wird im Brennpunkt der Figürlichkeit, die im Wortlaut der
figura etymologica eigentlich nach dem Porträthaften des Porträts fragt,
als figure und Figuration kenntlich. Eine Figuration in diesem Sinn
nährt sich also von dem Verdacht einer Umkehr der Unterscheidung
von Wesen und Veränderlichem, insofern erst die Zeit der Formwerdung,
1 »Die Vorsilbe por (ursprünglich pour) bezeichnet eine Verstärkung: der Cha
rakterzug [trait] oder der Zug [tracé] wird betont, hervorgeholt, seine Intensität
lässt die Zeichnung für das Gezeichnete stehen.« (Nancy 2015, 10).
2 Ebd., 33.
10
der mimetischen Klarzeichnung, überhaupt erst Form entdecken lässt.
Zuletzt ist es die Bild gewordene Figuration, die im Porträt die oder den
Porträtierte(n) gewissermaßen überlebt. Und dieses Wort, überleben,
bezeichnet zunächst nur die Nachhaltigkeit, die Wiedererkennbarkeit
derjenigen Form, die kraft ihrer mimetischen Schöpfung an die Stelle des
Veränderlichen getreten ist. Jede Figuration (eingedenk der Tatsache, dass
sie eben »[a]us sich als Anderem« schöpft) enthält also die Skizze eines
Wissens, dem in den Spuren ihrer Form (als tracé, Trasse oder gebahnter
Weg) die Kritik an der mimetischen Gültigkeit eingeschrieben bleibt.
Im Italienischen ritratto, das »nicht nur dem französischen portrait« ent
spricht, sondern »gleichzeitig den Rückzug, die Zurückgezogenheit, den
Entzug [retrait]« bezeichnet,3 tritt dieser Charakterzug einer Figuration
des Porträts übrigens noch deutlicher in die Semantik des Wortes hinein.
Ausgehend von diesen systematischen Überlegungen zur Verortung
des Porträts in einer Diskussion der Form der Bilder lässt sich der Titel
dieses Bandes, Figurationen des Porträts, gleichfalls als eine, jedenfalls
implizite, figura etymologica verstehen. Denn als Figuration bezeichnet,
tritt an einem Porträt das hervor, was es – als Bedingung mimetischer
Wirkmacht – (mit Nancy) in seiner ›Andersheit‹ erst als Porträt von
etwas anderem erscheinen lässt. Umgekehrt verschiebt diese figura den
Denkrahmen dessen, was wir als Porträt anerkennen. Denn in den Blick
kommen nun Figurationen, denen wir generell porträthafte Qualitäten
zusprechen können – und in dieser Zusprache die Frage nach Differen
zen aufwerfen: zwischen verschiedenen Medien und Gattungen, Typen
und Einzelfällen, den Leistungen eines Begriffs des Porträts für unser
Verständnis kultureller Figurationen in der Genese ihrer mimetischen
Wirksamkeit wie der Nachhaltigkeit, die vom Formbewusstsein einer
Figuration ausgeht. Ganz generell kommen Strategien des Anähnelns
in den Blick, mit denen Eigentümlichkeit festgestellt und Dauer eines
einmal festgehaltenen Grundzugs behauptet werden kann. Was eine kul
turwissenschaftliche Diskussion des Porträts eine Geschichte kultureller
Figurationen lehren kann, ist diese strategische Relevanz einschließlich
der Fragen ihrer mimetischen Problematisierung.
3 Ebd., 10. Vgl. ebd., 10 f. zur »im Porträt verdichtete[n] Logik der Mimesis«, die
»zwischen den Extremen der reinen Präsenz (von der die Mimesis aufgehoben
würde) und der Ähnlichkeit (in der sie die Abwesenheit des Modells oder sogar
sein Verschwinden betont)« ein Set an Begriffen und Übersetzungsvarianten
von pourtrait, über das ritratto bis hin zu figure und figura sowie (re)présentation
situiert.
VORWORT
11
Dabei steckt im Gedanken einer mimetischen Kritik, die der Figura
tionsbegriff (wie auch der des Porträts) in sich austrägt, schon die Kritik
eines systematischen Grundrisses. Der Band ist denn auch nicht an syste
matischer Vollständigkeit (die auf dem Gebiet des Kulturellen ohnehin im
Ganzen nicht zu haben wäre) interessiert, sondern an aufschlussreichen
Querbezügen und Öffnungen des Bildfeldes auf die Funktion, die ein
zelnen Figurationen im kulturellen Überlieferungsgeschehen zukommt.
Eine vergleichbar aufschließende Bedeutung kommt im Übrigen auch
der historischen Achse zu, die in grober Linie die Beiträge des Bandes
ordnet: Was ist das früheste Porträt der Menschheitsgeschichte?, lässt
sich zwar fragen, doch gibt der hierzu vorliegende Beitrag eine Antwort
nur, indem er zugleich sein Quellenmaterial vor dem Hintergrund der
systematischen Frage nach Signifkanz und verbunden mit der Frage nach
dem Charakteristischen, Idiomatischen oder Singulären verbundenen
Erkenntnisinteresse auswertet.
Gleichwohl ergibt sich aus diesen beiden Komplexen, der systema
tischen Relevanz des Figurationsbegriffs und einer historischen Zuord
nung, die historisch-systematische Matrix dieses Bandes. Es zeigt sich
so gewissermaßen die Nutzbarmachung der Prinzips pour trait als eine
Funktion kulturellen Wissens bzw. der Tradierung und Fortschreibung
all dessen, was porträtierbar sein kann. Figurationen des Porträts nimmt
also kulturelle Figurationen als Porträts in den Blick, das heißt auch, um
zu untersuchen, inwiefern es eine spezifische Qualität kulturellen Wissens
ist, porträthaft zu sein. Dass bereits früheste zeichenhafte Überlieferungs
träger porträthaftes Wissen zeigen, ist deshalb ebenso ein Indiz wie die
Rede vom literarischen Porträt, die mehr als eine bloß metaphorische
Entlehnung meint und auf die intrikate Beziehung von Text und Bild
aufmerksam machen kann.
Hierbei sind einige wenige figurative Prämissen mitzulesen: Porträt
meint immer Figurationen des Porträts, das heißt Porträts in Hinsicht auf
ihre Ausformung als eine Erscheinungsform kulturellen Wissens. Kultu
relles Wissen, so wird vorausgesetzt, ist immer über einen zeitlichen Index
und über die Eigenheiten medialer Prägung vermittelt. Zeitlicher Index:
damit wird ›Form‹ in Abgrenzung vom aristotelischen Formbegriff (mit
seinem Gegenpol Materie) als in sich zeitlicher Schwellenbegriff gefasst,
der aus Vollzügen, Gestaltungsprozessen und kontingenten Faktoren
heraus entsteht und in der Geschichte als Geschichte von Fortwirkungen
selbst nicht einfach ›konstant‹ bleibt, sondern perspektivisch neu aus
gehandelt werden kann. Mediale Prägung: damit unterliegt der Begriff
der Figuration einer Kritik der Präsenz und berücksichtigt, dass Wissen
12
niemals ohne Medialisierung vorliegt, also den durchaus wechselnden
Bedingungen medialer Aneignung, Vermittlung, Fortschreibung usw.
unterliegt.4
Die Beiträge des Bandes gruppieren sich in vier Sektionen, die den
visuellen Fokus der kunsthistorischen Gattung (II. Bilder) erweitern:
hinsichtlich Fragen der Plastizität und Materialität (I. Skulpturen),
metaphorischer Verwendungen des Porträtbegriffs und semiologischer
Diskussion (III. Texte) sowie mit Bezug auf anthropologische und
kulturelle Varianzen und Invarianzen (IV. Anthropologie und Kultur).
Während Sektion I primär vorklassischen sowie antiken ›Skulpturen‹
gewidmet ist (vom frühesten mesopotamischen Herrscherporträt über
die hellenistischrömische Zeit bis hin zur Entstehung eines modernen
Antikenverständnisses in der Renaissance), orientiert sich die ›Bilder‹
Sektion überwiegend an der neuzeitlichen Gattung (von einer Diskussion
des Ähnlichkeitsparadigmas bei Diderot bis hin zu den Techniken der
Moderne – die frühe Fotografie von Daguerre, Talbot, Bayard oder die
Collagen von Schwitters – und den Herausforderungen eines Spiels mit
tradierten Formverständnissen bei Cy Twombly), nutzt aber auch Ver
gleichsperspektiven zum antiken Porträt. In Sektion III ›Texte‹ stehen
– mit der Leitfrage nach den Implikationen des Bildhaften für Schreib
verfahren – frühe textuelle (Selbst-)Porträts (Apostel Paulus sowie die
Frage nach KünstlerPorträts in der Antike) neben Fallbeispielen aus dem
byzantinischen 13. Jahrhundert (mit der Frage nach dem Autobiographi
schen), zu Edgar Allan Poes Oval Portrait (mit Fokus auf den Semantiken
des Bildhaften im Text) und Roland Barthes’ mythologischen Porträts.
Unter IV. ›Anthropologie und Kultur‹ stehen Vergleichshorizonte und
Querbezüge im Vordergrund, von der präislamischen Welt zum Städte
porträt in der Antike Vorderasiens bis hin zu Strategien des Porträts im
Kontext von Herrscherkult (Stalin), mit Blick auf Gebrauchskontexte
zwischen den Polen Partizipation (z. B. die GuyFawkesMaske als
Gebrauchsartikel) und Televisualität (Masken als Ausgangspunkt von
Überlegungen zu einer transkulturellen/anthropologischen Bildgeschich
te) sowie der politischen Bedeutung von human remains im Kontext von
Rückführungsforderungen zwischen Namibia und Deutschland.
4 Mit dieser Orientierung an einer figurativen Kulturanalyse steht der Band
im Kontext des Kölner Morphomata-Kollegs und seiner Arbeiten über »Ge
nese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen«, insbesondere dem
Forschungsschwerpunkt »Biographie und Porträt als Figurationen des Beson
deren«. Vgl. Blamberger/Boschung 2011; Boschung 2017.
V O R W O R T 13
Nicht auf die Begriffe ›Individuum‹, ›Leben‹, ›Besonderes‹ oder ›Dar
stellung‹ kommt es dabei primär an, sondern auf die Verschiebungen,
denen das Bildparadigma Porträt ausgesetzt ist, den metaphorischen
Anverwandlungen etwa im ›literarischen Porträt‹, den je verschiedenen
Ausleuchtungen dessen, was ein Porträt exemplarisch erscheinen lässt
(oder diese Exemplarität mit der Singularität korrespondieren lässt, die
das Lächeln beispielsweise der Mona Lisa zu bedeuten scheint), oder
den Fragen, die sich an ein Porträt als Porträt stellen lassen: nach dem,
was einmalig macht, und was Einmaligkeit bedeutet, wenn sie zitierbar,
kopierbar und wiederholbar – Modell – werden kann.
Die Figurationen des Porträts sind Dietrich Boschung gewidmet.
Köln im Sommer 2017
Thierry Greub und Martin Roussel
LITERATUR VER ZEICH N IS
Blamberger/Boschung 2011 Blamberger, Günter und Boschung, Dietrich:
Morphomata. Kulturelle Figurationen: Genese, Dynamik und Medialität.
Paderborn 2011.
Boschung 2017 Boschung, Dietrich: Werke und Wirkmacht. Morphomatische
Reflexionen zu archäologischen Fallstudien. Paderborn 2017.
Nancy 2015 Nancy, JeanLuc: Das andere Porträt (Originaltitel: L’autre portrait).
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Zürich 2015.
I. SKULPTUREN
PETR C HAR VÁT
DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT
AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN
In diesem Beitrag, einem Glückswunsch zum Geburtstag meines lieben
Kollegen und Freundes Professor Dietrich Boschung, möchte ich mich
einem historischen Herrscher aus dem frühen Mesopotamien namens
Mesannepada und der Abbildung auf seinem amtlichen Siegel, die ihm
durch eine Inschrift Identität verleiht, widmen. Es handelt sich demzu
folge um die älteste sicher belegte Herrscherdarstellung Mesopotamiens.
König Mesannepada (im Amt 2563–2524 v. u. Z.)1 übte die Oberherr
schaft über die zwei Hauptstädte der frühdynastischen Länder von Sumer
und Akkad, Kisch und Ur, aus. Schon sein Vater, König Meskalamdu,
herrschte über diese beiden Machtzentren – und so auch über das ganze
Gebiet der frühen keilschriftlichen Zivilisation Mesopotamiens. Der In
schrift von Tummal zufolge, einem der Tempel der heiligen sumerischen
Stadt von Nippur, baute dort Mesannepada die früher zerstörte Kultstätte
wieder auf.2 Ein tiefgreifender Wandel erfolgte aber erst mit unserem
König in seiner (Residenz?)Stadt, dem sumerischen Ur. Genau mit ihm
endete nämlich die vorher übliche Praxis von Beisetzungen der wichtigen
Persönlichkeiten von Ur in Prunkgräbern mit großartiger Ausstattung
von kostbaren Materialien – und sogar mit Menschenopfern3.
Eine sehr wichtige Quelle zu Mesannepadas Herrscherideologie stellt
sein Siegel dar (Abb. 1a–d)4. Er präsentiert sich dort als Sieger über tieri
sche, und wahrscheinlich auch menschliche, Feinde; in heroischer Nacktheit
verteidigt er einen Stier oder eine Kuh gegen einen furchterregenden Löwen,
den er in der zweiten Szene mit einem Dolch angreift. Die identifizierende
1
2
3
4
Siehe Frayne 2008, 391–394.
Ebd., E1.7.22, S. 55.
Dazu zuletzt Baadsgaard und Zettler 2014.
Siehe Legrain 1936, Nr. 518; Frayne 2008, 392, Nr. 2.
18
1a Siegelabdruck, König Mesannepada von Ur (2563–2524 v. u. Z.)
(Legrain 1936 Nr. 518)
1b –d Siegelabdruck, König Mesannepada von Ur (2563–2524 v. u. Z.).
University Museum of Archaeology and Anthropology, University of
Pennsylvania, Philadelphia, sign. UM 3116677
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN 19
Siegelinschrift gibt ihm den Amtstitel »König von Kisch«5 und »Gemahl der
Unantastbaren« (d. h. Inanna, die sumerische Liebesgöttin, oder ihrer irdi
schen Stellvertreterin, einer »nugigPriesterin«6 ). So wird die duale Natur des
Königstitels Mesannepadas klar erkennbar. Als König von Kisch bekleidete
er ein grundsätzlich säkulares Amt; als Herrscher von Ur stieg er aber zu der
Würde des Ehegatten der Liebesgöttin auf, und aus dieser Sicht können wir
seine Herrschaft als sakral verstehen. Eine solche Konstellation ereignete sich
mit Mesannepada zum ersten Mal in der Geschichte von Sumer. Ansonsten
zeichnet sich seine Abbildung durch gänzlich formale, stilisierte Merkmale
aus; wenn die Inschrift nicht wäre, konnten wir Mesannepada lediglich als
traditionelle Abbildung eines ›nackten Helden‹ deuten.
Es könnte aber von Interesse sein, sich etwas eingehender dem Abbil
dungsmodus des Antlitzes Mesannepadas zu widmen. Die En-faceDar
stellung des menschlichen Gesichts hat nämlich im alten Mesopotamien
seine eigene Geschichte und Deutung.
Der bisher erste Beleg einer En-face-Wiedergabe findet sich unter den
Siegelabdrücken aus den prähistorischen Schichten von Susa im süd
westlichen Iran. Dort entdeckte man unter Materialien der Stufe Susa I
(= neuestens Susa, Acropole I, Schichten 27–21)7 aus der ersten Hälfte des
4. Jahrtausends einen Abdruck mit einer kreuzförmigen Figur, dessen
vier Schultern in menschlichen Gesichtern in En-faceDarstellung enden
(Abb. 2)8. Die ganze Konfiguration trägt wahrscheinlich eine symbolische
Bedeutung – eine Abbildung der ›vier Weltteile‹? 9
Eine besondere Darstellung bietet uns ein Siegelabdruck aus Susa aus
der Zeit der späten Stufe der UrukKultur (ungefähr 3500–3200 v. u. Z.). Die
Mitte der Abbildung zeigt eine menschlichen Gestalt, die auf einer Leiter zu
den höchsten Partien eines Speicherkomplexes hinaufsteigt. An der Seite
dieser Abbildung sehen wir eine andere, sitzende Menschengestalt in über
menschlicher Größe, deren Antlitz sich dem Beobachter in einer En-face
Darstellung zuwendet (Abb. 3)10. In diesem Falle kann man diese Figur als
Abbildung eines übermenschlichen Wesens – eines mythischen Hüters
oder Wächters der Üppigkeit und Fülle des Speicherkomplexes – deuten.
5 Zum frühen Königtum von Kisch siehe Selz 1998, 313; Sommerfeld 2004;
Czichon 2006; Steinkeller 2013.
6 Frayne 2008, S. 392 Nr. 2; siehe dazu Zgoll 2006, 113.
7 Dazu DahlPetriePotts 2013, im allgemeinen Butterlin 2003.
8 Amiet 1972, Nr. 218.
9 Charvát 2005, 115–116.
10 Amiet 1972, Nr. 930.
20
2 Siegelabdruck, Susa I (Iran), vor 3500 v. u. Z.
(Amiet 1972, Nr. 218)
3 Siegelabdruck, Susa (Iran), Spätphase der UrukKultur
(3500–3200 v. u. Z.) (Amiet 1972, Nr. 930)
4 Siegelabdruck, Susa (Iran), Spätphase der
UrukKultur (3500–3200 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 585)
Weitere Möglichkeiten solcher Darstellungen liefern andere gleichzeitige
Siegelabdrücke von Susa (Abb. 4)11. Hier ist wiederum ein mythisches We
sen dargestellt. Auf seinem menschlichen Körper trägt es einen Stierkopf,
der sich dem Beobachter erneut in einer En-facePerspektive zeigt. Auch
11 Amiet 1972, Nrn. 1013, 1017; Amiet 1980, Nrn. 581, 585 und 586.
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN
21
hier haben wir nicht einen gewöhnlichen Menschen vor uns, sondern ein
Fabelwesen, eine Mischung aus menschlichen und animalischen Elementen.
Ähnliche Elemente zeigt frühes sumerisches Material aus Südme
sopotamien. Aus der Spätphase der UrukKultur (ungefähr 3500–3200
v. u. Z.) stammt ein Siegelabdruck aus der Stadt Uruk mit der Abbildung
eines frontal gezeigten, hockenden Dämons mit Tieren. Der Charakter
des Dämons ist nicht ganz klar: sein (oder ihr) Kopf nimmt eine zweilap
penartige Form mit großen Augen an. Man sieht keine Brüste, und sein
oder ihr Geschlecht ist auch nicht klar erkennbar.12 Das Wesen konnte
man in Verbindung bringen mit ähnlichen zeitgenössischen ›Ikonen‹
dieser Art, wo es, wie es scheint, dem weiblichen Geschlecht angehört
(Abb. 5)13. Auf einer archaischen Tontafel desselben Alters und Fundorts
sehen wir dann zwei en face ausgeführte Dämonen, die ihre Hände zu
einem Capriden und einem Löwen, bzw. einem Capriden und einem
Equiden, erheben. Die Tiere stehen über zwei entgegengesetzt ausge
richteten, verflochtenen Schlangen (Abb. 6)14 . Eine andere Abbildung
5 Siegelabdruck, Uruk (Irak), Spätphase
der UrukKultur (3500–3200 v. u. Z.)
(Rova 1994, Taf. 17, Nr. 305)
6 Siegelabdruck, Uruk (Irak), Spätphase
der UrukKultur (3500–3200 v. u. Z.)
(Rova 1994, Taf. 47, Nr. 728)
12 Boehmer 1999, 75–76, Abb. 65 und 66; Pittman 2001, 436, Fig. 11.25: d.
13 Rova 1994, Taf. 17, Nrn. 305, 306 und 307.
14 Ebd., Taf. 47, Nr. 728; Boehmer 1999, 54, Abb. 65.
22
zeigt dieses Wesen, zusammen mit den Tieren, im oberen Teil eines
Petschaftes, dessen unteres Teil eine Szene mit besiegten Kriegsgefan
genen vorführt (Abb. 7)15. Führte man unter dem Zeichen dieses Wesens
siegreiche Kriege?
Ein Siegel aus der Späturuk bis Djemdet NasrPhase (ca. 3200–3000
v. u. Z.) zeigt eine Reihe überkreuz stehender mythischer Wesen in Gestalt
von geflügelten Vierfüßlern mit menschlichen Köpfen und langen Ohren,
deren Gesichter en face abgebildet sind (Abb. 8)16.
Das Motiv taucht auch am Fundorte der SpätUrukKultur außer
halb Mesopotamien auf. Im nordsyrischen Tell Brak (Schicht TW 12,
Späturuk-Grube) erscheint es in der Form einer Reihe von eulenköpfigen
und geschwänzten menschähnlichen Mischwesen, die sich abwechselnd
mit Löwenstieren abgebildet finden (Abb. 9)17. Dazu kommt eine Parallele
aus dem syrischen Fundort von Habuba Kabira, die aber nicht aus Men
schenbildern, sondern aus Vögeln mit langen, ineinander geflochtenen
Hälsen und Eulenköpfen besteht.18
Aus dem Milieu der archaischen Siegelungen und Texte von Ur (erste
frühdynastische Zeitperiode, ca. 3000–2700 v. u. Z.) stammt ein weiterer,
einzigartiger Beleg. Eine der Versiegelungen aus den Aushubschichten
der administrativen Materialien des archaischen Ur (SIS 4–5) trägt über
dem Rollsiegelabdruck Markierung durch ein anderes Petschaft in der
Form eines menschlichen Gesichts, das en face abgebildet ist (Abb. 10)19.
In diesem Falle ist es besonders schwierig, eine genauere Deutung zu
treffen. In Ur erscheint auch das frontalgezeigte Wesen mit weit abgewin
kelten Beinen der SpäturukKultur, hier dreht er (sie?) seinen (ihren?)
vogelartigen Kopf um zu einer Profil-Abbildung (Abb. 11)20.
In diesem zeitlichen und räumlichen Kontext werden die Belege für
unsere Abbildungsweise zahlreicher. Das archaische Ur bietet uns die
in Fara/Šuruppak (siehe unten) offensichtlich sehr populäre En-face
Komposition eines Zweikampfs (Abb. 12)21. In einem anderen Fall sehen
wir einen frontal gesehenen, nackten Mann bei der Darbringung der
15 Rova 1994, Taf. 45, Nr. 761.
16 Amiet 1980, Nr. 425, S. 301 Taf. 26.
17 Boehmer 1999, 145 Abb. 129e; Pittman 2001, 439 Taf. 11.28: a; Oates 2002, 115,
Taf. 4.
18 Boehmer 1999, 145 Abb. 129 f.
19 Legrain 1936, Nr. 426 = Amiet 1980, Nr. 716.
20 Legrain 1936, Nrn. 42, 268, 269, 270.
21 Ebd., Nr. 294 = Amiet 1980, Nr. 806.
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN 23
7 Siegelabdruck, Uruk (Irak), Spätphase
der UrukKultur (3500–3200 v. u. Z.)
(Rova 1994, Taf. 45, Nr. 761)
8 Siegelabdruck, Privatsammlung,
Spätphase der Uruk oder JemdetNasrKultur
(3300–3000 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 425)
9 Siegelabdruck, Tell Brak (Syrien),
Spätphase der UrukKultur (3500–3200 v. u. Z.)
(Oates 2002, 115, Fig. 4)
10 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch I
(3000–2700 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 716)
24
11 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch I
(3000–2700 v. u. Z.) (Legrain 1936, Nr. 270)
12 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch I
(3000–2700 v. u. Z.) (Legrain 1936, Nr. 294)
13 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch I
(3000–2700 v. u. Z.) (Legrain 1936, Nr. 296)
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN 25
Opfer; hierin könnte man eine durch Respekt vor den Göttern inspirierte
Darstellung des ›nackten Helden‹ vermuten (Abb. 13)22. Nicht ganz klar
ist das Bild einer en face gezeigten Frau, die, auf dem Dach einer an
spruchsvollen Architektur (Tempel?) stehend, sich das Haar mit beiden
Händen löst (Abb. 14)23. Offensichtlich geht es hier um den Ausdruck
einer starken Emotion – Liebe oder Leid. Da sich am Dach des Tempels
auch erotische Szenen abspielten,24 könnte das gelöste Haar als erotische
Einladung wirken, aber es lohnt sich hier, vorsichtig zu bleiben.
14 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch I
(3000–2700 v. u. Z.) (Legrain 1936, Nr. 388)
15 Siegelabdruck, Fara/Šuruppak (Irak),
Frühdynastisch II (2700–2600 v. u. Z.)
(Amiet 1980, Nr. 819)
22 Legrain 1936, Nr. 296 = Amiet 1980, Nr. 807.
23 Legrain 1936, Nr. 388.
24 Ebd., Nr. 385.
26
Verwandte Stücke stammen aus anderen zeitgenössischen Fundorten
des frühen Mesopotamiens, vor allem aus der nördlich von Ur gelegenen
Fundstelle Fara/Šuruppak (vgl. Abb. 29)25. Die dortigen frühdynastischI
datierten Schichten lieferten u. a. einen Siegelabdruck mit der Abbildung
eines zentralen Tors oder einer Pforte, aus welcher Kühe oder Kälber her
ausgehen. Das Tor überwacht ein en face abgebildetes Wesen mit mensch
lichem Leib und Stierkopf (Abb. 15)26. Es stellt vielleicht die Figur eines
Fruchtbarkeitsdämons dar. Eine ähnliche Gestalt sehen wir auf einem lokalen
frühdynastischIIdatierten Siegel (ca. 2700–2500 v. u. Z.), wo aber der stier
köpfige Dämon zwei Löwen bezwingt (Abb. 16)27, wie auch auf einem anderen
zeitgenössischen Siegel aus Fara/Šuruppak (Abb. 17)28. Diese letzte ›Ikone‹
liefert eine nahezu perfekte Analogie zu der Abbildung Mesannepadas (vgl.
Abb. 1a–d): dem zentralgestellten Stiermenschen helfen zwei ›Mitbrüder‹,
da jeder von seiner Seite her mit Dolchen besiegte Löwen angreifen.
16 Siegelabdruck, Fara/Šuruppak (Irak),
Frühdynastisch II (2700–2600 v. u. Z.)
(Amiet 1980, Nr. 855)
17 Siegelabdruck, Fara/Šuruppak (Irak),
Frühdynastisch II (2700–2600 v. u. Z.)
(Amiet 1980, Nr. 865)
25
26
27
28
Karte in Benati 2015, 2, Fig. 1.
Martin 1988, Nr. 111, 234, Nr. 111 = Amiet 1980, Nr. 819.
Martin 1988, 73, 248 Nr. 239 = Amiet 1980, 855.
Martin 1988, 73, 249 Nr. 250 = Amiet 1980, Nr. 865.
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN
27
18 Siegelabdruck, Fara/Šuruppak (Irak), Frühdynastisch II
(2700–2600 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 894)
19 Siegelabdruck, Fara/Šuruppak (Irak), Frühdynastisch II
(2700–2600 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 896)
Aus Fara/Šuruppak stammen noch andere derartige Abbildungen
aus der frühen FrühdynastischIIZeit im sogenannten ›Elegant Style‹
(Abb. 18)29.30 In Gesellschaft mit dem Stiermenschen erscheint hier ein
frontal gestellter, nackter Held als Jäger, ein Tier mit langen Ohren
oder Hörnern haltend (Abb. 19)31. Dieselbe FrühdynastischIIZeit hin
terließ uns eine Komposition mit zwei überkreuzten, en face gezeigten
Mischwesen (Stiermenschen?).32 Ein anderes Bild, eine Kombination von
frontalgestelltem Mischwesen (Stiermensch?) und zwei miteinander ver
flochtenen Schlangen33, zitiert sogar die alte späturukzeitliche ›Ikone‹ mit
frontalstehenden Dämonen und verflochtenen Schlangen (vgl. Abb. 6)34.
29 Martin 1988, 73; siehe ebd., 249 Nr. 255 = Amiet 1980, 894.
30 Martin 1988, 252, Nrn. 261 = Amiet 1980, Nr. 884; 262 = Amiet 1980, Nr. 880;
264 = Amiet 1980, 879; 268; Martin 1988, 253 Nrn. 272, 274 = Amiet 1980,
Nr. 897; 276 = Amiet 1980, Pl. 72 bis: F.
31 Martin 1988, 252 Nr. 260 = Amiet 1980, Nr. 896.
32 Martin 1988, 256 Nr. 308.
33 Ebd., 259 Nr. 353.
34 Rova 1994, Taf. 47, Nr. 728; Boehmer 1999, 54, Abb. 65.
28
20 Siegelabdruck, Fara/Šuruppak (Irak),
Frühdynastisch II (2700–2600 v. u. Z.)
(Amiet 1980, Nr. 950)
21 Siegelabdruck, Fara/Šuruppak (Irak), Frühdynastisch II
(2700–2600 v. u. Z.) (Amiet 1980, Taf. 72 bis: G)
Aus der Domäne des späteren, noch frühdynastischIIzeitlichen
›Crossed Style‹ von Fara/Šuruppak35 kennen wir weitere Beispiele der
frontalgesehenen Stiermenschen36. Dazu tritt die Abbildung eines frontal
gesehenen Menschen mit einer besonderen, gezähnten Krone(?) mit einer
Löwengruppe auf einer Seite und einem gehörnten Tier auf der anderen
(Abb. 20)37. Dieser gekrönte Held findet Verwandte in anderen zeitgenös
sischen Beispielen38. Beide Figuren – der Stiermensch und der gekrönte
Held – können auf ein und demselben Siegel auftauchen (Abb. 21)39.
35 Martin 1988, 74–75.
36 Ebd., 263 Nr. 393.
37 Ebd., 260 Nr. 365 = Amiet 1980, Nr. 950.
38 Martin 1988, 262, Nrn. 381; 382 = Amiet 1980, Nr. 939; 386 = Amiet 1980,
Nr. 913; 389; Martin 1988, 263 Nr. 390 = Amiet 1980, Pl. 72 bis E; Martin 1988,
264 Nr. 408.
39 Martin 1988, 263 Nr. 391 = Amiet 1980, Pl. 72 bis G.
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN 29
Eine ganz besondere Abbildung dieser Art hat der ScharaTempel aus
Tell Ağrab in Mesopotamien vorzuweisen. Sie stammt aus der zweiten
frühdynastischen Zeitperiode (ca. 2700–2600 v. u. Z.). Dort sehen wir auf
einem Siegel einen Tempelbau, über welchem sich breitgespannte ›Bogen‹
ausbreiten. In den oberen Zwickeln dieser Bogen wiederholt sich ein mo
numentales menschliches Gesicht in der En-faceDarstellung zwischen
Rosettenpaaren (Abb. 22)40. In der altmesopotamischer Symbolik galt die
Rosette als ein »very powerful symbol of life«41. Hier handelt es mit aller
Wahrscheinlichkeit um ein übermenschliches Wesen – vielleicht schon
eine Gottheit.
Sonst tauchen hier (im ScharaTempel) auch Abbildungen von
StiermenschMischwesen, en face gezeigt, und oft im Zweikampf mit
wilden Tieren, auf (Abb. 23)42. Solche ›Ikonen‹ findet man danach ziem
lich oft im sogenannten FaraStil aus der Übergangsperiode zwischen
der zweiten und dritten frühdynastischen Zeitperiode, ungefähr um
2600–2500 v. u. Z.43
22 Siegelabdruck, Schara-Tempel, Tell Ağrab (Irak),
Frühdynastisch II (2700–2600 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 681)
23 Siegelabdruck, Schara-Tempel, Tell Ağrab (Irak),
Frühdynastisch II (2700–2600 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 820)
40 Amiet 1980, Nr. 681; Rova 1994, Tav. 58, Nr. 955.
41 Selz 2004, 201.
42 Amiet 1980, Nr. 820.
43 Siehe oben; sowie Amiet 1980, Nr. 861 u. w. bis zu Nr. 964, siehe dazu auch
Costello 2010.
30
Als zeitgenössisches Beispiel der Kunst aus der Zeit von Mesannepada
kann ein weiterer Siegelabdruck (Abb. 24)44 gelten. Eine Kampfszene
zwischen einem in Profil gezeigten Mann und Stier begleitet hier eine
frontal gesehene Maske mit einem von Haaren gerahmten menschlichen
Gesicht. Auch das Siegel der Ninbanda3 (NIN TUR NIN) aus derselben
stratigraphischen Lage wie das MesannepadaSiegel zeigt einen frontal
24 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch
IIIa–IIIb (2600–2400 v. u. Z.) (Legrain 1936,
Nr. 499)
25 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch IIIa–IIIb
(2600–2400 v. u. Z.) (Legrain 1936, Nr. 516)
44 Legrain 1936, Nr. 499.
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN 31
26 Siegelabdruck, Ur (Irak), Frühdynastisch IIIa–IIIb
(2600–2400 v. u. Z.) (Legrain 1936, Nr. 546)
stehenden, nackten männlichen Held (Abb. 25)45, wie auch ein anderes
Beispiel aus dem ›Room SW. 2‹, dem ›Archaic I‹Bau (Abb. 26)46. Diese
Bauphase der Zikkurate von Ur wird jetzt »between the end of the ED
IIIa and the first half of the ED IIIb«47 datiert, d. h. genau in die Re
gierungsperiode Mesannepadas. Auch aus dieser Fundstelle kennen wir
verwandte Abbildungen48.
Eine jüngere Analogie aus Mari (dritte frühdynastische Zeitperiode)
zeigt auf einem Siegelabdruck eine übergroße menschliche Maske in der
Mitte eines Frieses mit ZweikampfDarstellungen und zwischen zwei
Randborten mit menschlichen und tierischen Masken (Abb. 27)49. Leider
wissen wir hier nicht, wem dieses eindrucksvolle Antlitz gehört – einem
Menschen oder einer Gottheit?
Ein gutes Beispiel für die Wertschätzung der En-faceAbbildung in
den Augen von Trägern der altmesopotamischen Kultur stellt ein späterer
Gegenstand – wahrscheinlich eine Gussform aus Kalkstein – mit einer
triumphalen Szene mit der Darstellung von Naramsin, König von Akkad
(2254–2218) vor der Göttin Ištar 50 dar. Hier sitzt die frontal gezeigte Göttin
neben Naramsin, der, genauso wie die vier besiegten Häuptlinge oder
Könige, im Profil abgebildet ist (Abb. 28)51.
45
46
47
48
49
50
51
Legrain 1936, Nr. 516.
Ebd., Nr. 546.
Benati 2013, 210.
Ebd., 204, Kat.Nr. 12.
Amiet 1980, Nr. 964.
Hansen 2002.
Ebd., 93, Fig. 3.
32
27 Siegelabdruck, Mari (Syrien), Frühdynastisch IIIb
(ca. 2500–2400 v. u. Z.) (Amiet 1980, Nr. 964)
28 KalksteinRelief, König Naramsin von Akkad
(2254–2218 v. u. Z.) (Hansen 2002, 93, Abb. 3)
CHARVÁT: DAS FRÜHESTE HERRSCHERPORTRÄT AUS DEM ALTEN MESOPOTAMIEN 33
Eine mögliche Parallele zu unseren Bildern zeigen die meist späteren
›Ikonen‹ von ›Dreikämpfen‹ zwischen zwei menschlichen Protagonisten,
die in ihrer Mitte einen dritten, vermutlich übermenschlichen Gegner
(›Riesen‹) besiegen.52 Dort ist die zentrale Gestalt immer in En-face
Stellung. Dabei spricht man sofort gern von dem Kampf zwischen
Gilgameš und dem Bergriesen Humbaba, was aber bisher nicht durch
Schriftquellen bestätigt ist.
Es ist interessant zu beobachten, wie das frontale Antlitz von König
Mesannepada von Ur, dem ersten identifizierbaren Herrscherporträt im
alten Mesopotamien, seinen eigenen Informationswert besitzt. Es weist
auf frühere Darstellungen (abstrakte Begriffe, Gottheiten, Schutzdämo
nen?) von übermenschlichen Wesen (Mischwesen) der altmesopota
mischen mythologischen Welt hin, dessen frontal gesehene Gesichter
offensichtlich eine übernatürliche Wirkung ausstrahlten. Auch auf diese
Weise wollte der sumerische Künstler die außerordentliche soziale Posi
tion seines Herrschers betonen.
DANK
Für die Unterstützung meiner Forschungstätigkeit, dessen Ergebnis
dieser Text ist, bin ich mehreren Förderungsinstitutionen aus tiefem
Herzen dankbar. Während des akademischen Jahres 2003–2004 weilte
ich im University Museum of Archaeology and Anthropology (Uni
versity of Pennsylvania), Philadelphia, U. S. A., wo mir ein Fellowship
von der Prager Dienststelle der John William Fulbright Foundation
half (grant No. 20032802, Fulbright No. ME659). Im Jahre 2005
bekam ich freundlicherweise ein Franklin Grant von der American
Philosophical Society zuerkannt (grant No. Franklin 2005) und auch
die Mithilfe durch ein Forschungsprojekt der GrantAgentur der
Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (grant No.
A8021401). Ein internationales Forschungsprojekt, durch die Grant
Agentur der Tschechischen Republik und die Deutsche Forschungs
gemeinschaft gefördert (Nr. GA TschCR 404/08/J013), erlaubte mir,
meine Forschungen weiter zu entwickeln. Ich bin meinen Kolle
ginnen und Kollegen Holly Pittman (Curator of the Near Eastern
52 Collon 2002.
34
Section des University Museum of Archaeology and Anthropology),
Richard Zettler und Shannon White aus der Near Eastern Section
desselben University Museum of Archaeology and Anthropolog für
liebenswürdige Beihilfe und freundliche Unterstützung sehr dankbar.
Dieser Beitrag hätte jedoch nicht geschrieben werden können ohne
die großzügige Unterstützung und Hilfe des Internationalen Kolleg
MORPHOMATA der Universität Köln, wo ich im akademischen
Jahre 2011–2012 als Fellow des MORPHOMATAKollegs weilte.
BILDREC HTE
1–4 Archiv des Autors.
5–7 Aus: Rova 1994, Taf. 17, Nr. 305, Taf. 47, Nr. 728, Taf. 45, Nr. 761.
8, 10, 15–23 Amiet 1980, Nr. 425, Nr. 716, Nr. 819, Nr. 855, Nr. 865, Nr. 894,
Nr. 896, Nr. 950, Taf. 72 bis: G, Nr. 681, Nr. 820.
9 Oates 2002, 115, Fig. 4.
11–14, 27 Legrain 1936, Nr. 270, Nr. 294, Nr. 296, Nr. 388, Nr. 499, Nr. 516,
Nr. 546, Nr. 964.
28 Hansen 2002, 93, Abb. 3; Benati 2015, S. 2, Abb. 1.
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AGNES THOMAS
SKLAVENPORTRÄTS AUF GRABRELIEFS
AM ENDE DER HELLENISTISCHEN ZEIT
Am Ende des 2. Jhs. und im 1. Jh. v. Chr. verdrängt auf manchen delischen
Grabstelen eine veristische, in manchen Zügen porträthafte Darstellung
die in Griechenland sonst übliche idealisierte Wiedergabe der Verstorbe
nen.1 Dieses Phänomen kann vermutlich als Zeugnis italischrömischer
Einflüsse auf Delos in dieser Zeit gewertet werden.2
Damit unterscheiden sich die Reliefs nicht nur von der übrigen deli
schen Sepulkralkunst späthellenistischer Zeit, sondern auch ganz generell
von Bilddenkmälern anderer Regionen im östlichen Mittelmeerraum, in
denen trotz der politischen Veränderungen durch das römische Reich,
in Teilen bereits seit dem 3. und 2. Jh. v. Chr., noch bis etwa 30 v. Chr.
hellenistische Bildtraditionen dominieren.3 Vor dem Hintergrund eines
durch Reisende und Händler geprägten und kulturell stark gemischten
Publikums auf Delos4 wäre eine weitergehende Frage also möglicherweise
auch diejenige nach der Rolle der delischen Sepulkralkunst in der Ver
breitung italischer Bildtraditionen im zunächst hellenistisch geprägten
Kulturraum. Im vorliegenden Beitrag soll dieser Frage jedoch nicht
nachgegangen werden, sondern die eingangs genannte Gruppe von Grab
steinen in einem anderen Zusammenhang näher betrachtet werden. Denn
sie stammen aus einer Zeit, in der eine ganze Reihe von delischen Reliefs
anhand ihrer Inschriften auf ungewöhnlich präzise Art als Sklavenstelen
1 Ich danke T. Schoberth für Anregungen zum Text.
2 Nach MarieThérèse Couilloud zählen dazu folgende Grabstelen, die weiter
unten genauer betrachtet werden sollen: Couilloud 1974, 250 Kat. 70. 106. 118. 144
Taf. 15. 25. 27. 34. 80. Vgl. Marcadé 1969, 308–317. 493 f. zum italischen Einfluss.
3 Vgl. etwa die Reliefs Couilloud 1974, Kat. 147. 148 Taf. 35 (Anfang 1. Jh.
v. Chr.) und allgemein die Skizzierung bei Hölscher 2002, 37–39.
4 Couilloud 1974, 250.
38
benannt werden können, d. h. als Grabsteine, die für verstorbene Sklaven
oder Sklavinnen aufgestellt wurden und die sich dadurch grundlegend
von der restlichen Überlieferung von Grabreliefs unterscheiden, die in
der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle freien Bürgern oder anderen,
nichteinheimischen Angehörigen der freien Bevölkerung gewidmet wa
ren. Die Bezeichnung als Stelen für Unfreie erfolgt auf Delos dabei auf
der Grundlage prosopographischer Zusammenhänge, durch die sich die
in den Inschriften genannten Namen genauer einordnen lassen.5 Unter
den oben genannten Reliefs, die eine Darstellung mit porträthaften Ge
sichtszügen aufweisen, befindet sich auch ein solcher Sklavengrabstein
(Abb. 1).6 Im folgenden soll für diesen eine erste Einordnung innerhalb
der Bildtradition der Grabreliefs für Sklaven im antiken griechischen
Kulturraum vorgenommen werden, um so dem Verständnis dieses an
sich ungewöhnlichen Phänomens ein Stück näherzukommen.
Auf dem Relief, das um 100 v. Chr. datiert, werden die Verstorbenen,
Dia Stlaccia (Δία Σλακία) und Diodoros Stlaccius (Διόδωρος Σλάκις)
als Ehepaar wiedergegeben. Aufgrund ihres Sklavenstatus, der sich an
hand der Inschrift nachweisen lässt,7 ist jedoch davon auszugehen, dass
die Beziehung von Frau und Mann hier nicht den offiziellen Charakter
einer Ehe hatte, sondern vielmehr eine seitens des Besitzers geduldete
Verbindung war.8 Die Frau ist im linken Teil des Bildes auf einem Stuhl
sitzend wiedergegeben, der Mann frontal stehend, wobei er sich mit dem
Oberkörper leicht zur Frau hinwendet. Beide Figuren sind im Handschlag
(dexiosis) verbunden und tragen bürgerliche Kleidung. Die Frau ist mit
Chiton und Himation bekleidet und folgt damit der klassischhellenis
tischen Bildtradition der freien Bürgersfrau.9 Nach der seit klassischer
5 S. Couilloud 1974, 332–335 mit einer umfassenden Bestimmung delischer
Sklaven und Freigelassenenstelen nach epigraphischen Anhaltspunkten,
ausgehend von einer ebenfalls ursprünglich aus dem italischen Bereich stam
menden charakteristischen Namensgebung für Freigelassene und Sklaven.
6 Couilloud 1974, 88 f. 334 Kat. 70 Taf. 15. Datierung nach Couilloud 1974,
250: 1. Drittel des 1. Jhs. v. Chr. Vgl. Schmidt 1991, 36. 70 f. 83 Abb. 54 Tabelle I:
110–90 v. Chr.
7 Zu Inschrift und Sklavenstatus s. Couilloud 1974, 89. 334.
8 Zu solchen eheähnlichen Verbindungen unter Unfreien in griechischer und
römischer Zeit vgl. Klees 1998, 155 f.
9 Es lassen sich hier zahllose Belege anführen. Vgl. etwa die attischen Grabmale
CAT, Kat. 2.150 (Grabnaiskos, 420–400 v. Chr.). Kat. 3.459a (Grabnaiskos, 2.
Hälfte 4. Jh. v. Chr.) und aus hellenistischer Zeit z. B. ein smyrnäisches Relief
Pfuhl/Möbius 1977, Kat. 990 Taf. 149; Schmidt 1991, Tabelle II (110–90 v. Chr.).
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 39
1 Stele der Dia Stlaccia und des Diodoros Stlaccius,
1. Jh. v. Chr. Korfu, Archäologisches Museum Inv. 195
40
Zeit bekannten Ikonographie der verheirateten Frau hat sie den Mantel
über den Hinterkopf gezogen.10 Der Mann trägt ebenfalls einen Mantel
und darunter ein Untergewand.11 Durch die Angabe eines Untergewands
unterscheidet sich diese Figur von der ikonographischen Tradition der
früheren griechischen Grabkunst bis in hochhellenistische Zeit, die den
männlichen freien Bürger, sofern er nicht als Krieger oder Jäger darge
stellt wird, vor allem mit dem Himation, das den Oberkörper freilässt,
und ohne Untergewand zeigt. Gemeinsam ist der Figur des Mannes auf
dem delischen Relief mit ihren früheren Vorläufern jedoch der Mantel an
sich, der gewöhnlich als Anzeiger des Bürgerstatus gilt.12
Nach MarieThérèse Couilloud ist die Gestaltung des Gesichts der
sitzenden weiblichen Figur als ›tatsächliches‹ Porträt aufzufassen.13 Dies
trifft besonders auf die charakteristische Nasen und möglicherweise auch
Stirnpartie zu. Das Gesicht des Mannes ist nicht erhalten.
Außer den beiden Hauptfiguren ist am rechten Bildrand als Begleiter
des Stehenden ein Diener angegeben, wie dies auf Bürgerstelen seit klas
sischer Zeit häufig vorkommt und womit in erster Linie der Status der
Verstorbenen als freigeborene, wohlhabende Bürger angezeigt wird. Auf
dem delischen Relief ist der Diener als kindliche und zudem drastisch
verkleinerte Figur wiedergegeben und folgt in letzterem der üblichen
10 Vgl. z. B. die Beschreibung von Katja Sporn zu einem attisierenden griechi
schen Relief unbekannter Herkunft aus der Zeit kurz vor oder um 350 v. Chr.:
arachne.dainst.org/entity/1121015 (15. März 2017); entspricht CAT, Kat. 3.930.
11 Nach Couilloud 1975, 88 handelt es sich hier um eine Tunika. Tatsächlich
unterscheidet sich die Kleidung der männlichen Figur von der auf römischen
Freigelassenenstelen üblichen Toga in republikanischer Zeit, vgl. Zanker 1975,
300 mit Anm. 120.
12 Der Bürgermantel ist zunächst auf attischen Grabreliefs die übliche Darstel
lungsweise und bis in späthellenistische Zeit verbreitet: Vgl. etwa eine attische
Grablekythos aus dem späten 5. Jh. v. Chr. (CAT, Kat. 4.671; Figur links) oder
den zuvor genannten Grabnaiskos aus der 2. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. (CAT,
Kat. 3.459a). Zum Darstellungsschema des Mannes im Bürgermantel auf
attischen Grabreliefs vgl. Bergemann 1994, 287–290. Auf einem großformatigen
smyrnäischen Relief späthellenistischer Zeit ist eine der beiden männlichen
Hauptfiguren wieder mit dem Bürgermantel, der die Brust freilässt, bekleidet,
die andere dagegen mit Chiton und Mantel (Pfuhl/Möbius 1977, Kat. 646
Taf. 98; Schmidt 1991, Tabelle II: 150–130 v. Chr.). Das Himation verdeckt das
Untergewand hier stärker als auf der delischen Stele.
13 Zitat Couilloud 1974, 250: »Les têtes des personnages figurés sur les stèles
70, 106 et 144 sont, de même, de véritables portraits.«
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 41
Darstellungsweise der Sklavenfiguren auf hellenistischen Grabreliefs seit
dem 2. Jh. v. Chr.14 Auch die idealisierten, nichtporträthaften oder nicht
›realistischen‹ Gesichtszüge sind für diese bis zur Miniaturhaftigkeit
verkleinerten Sklavenfiguren die Regel. Die Figur ist mit einem kurzen,
gegürteten Chiton bekleidet, die rechte Hand ruht auf der linken Schulter
und drückt die abwartende, passive Haltung des Unfreien aus.15
Eine weitere delische Stele, die zu den Reliefs mit Porträts gezählt
wird, ist die des Freigelassenen Aulus Egnatius Alexandros (Αὖλος
Έγνάτιος Άλέξανδρος)16 und des Aulus Egnatius (Αὖλος Έγνάτιος),
dessen Status nicht ganz klar ist (Abb. 2).17 Möglicherweise zeigt hier die
mittlere Figur eines stehenden Mannes durch die hohe Stirn und die
hervorspringende Nase individualisierte Züge.18 Dieser ist mit der Figur
einer sitzenden Frau in dexiosis verbunden, links von ihm befindet sich
die Figur eines weiteren Stehenden in Vorderansicht. Alle drei Figuren
sind in bürgerlicher Kleidung wiedergegeben.
Auch das nächste Beispiel aus der Reihe delischer Grabstelen mit
porträthafter Wiedergabe der Verstorbenen, das Grabrelief des Publius
Paconius, [Sohn (?)] des Publius (Πόπλιος Πακώνιος Ποπλίου), und des
Lucius Paconius, Sohn des Publius (Λεύκιος Πακώνιος Ποπλίου υἱός),
ist möglicherweise ebenfalls der Gruppe der freigelassenen Sklaven zu
zurechnen (Abb. 3).19 Auf dieser Stele ist das Gesicht des Sitzenden im
linken Teil des Reliefs durch eine Adlernase und eine breite Wangenpartie
charakterisiert und weist dadurch veristischporträthafte Züge auf. Die
Mundwinkel sind zudem etwas herabgezogen und die Augen wirken leicht
zusammengekniffen, verstärkt noch durch die deutlich herausgearbeiteten
Augenlider. Der Sitzende ist vollständig in seinen Mantel eingehüllt und
14 S. das zuvor genannte Relief Pfuhl/Möbius 1977, Kat. 646; Schmidt 1991,
Tabelle II (smyrnäisch, 150–130 v. Chr.).
15 Vgl. zu den Figurenschemata von persönlichen Sklaven auf Bürgerstelen seit
dem 5. Jh. v. Chr. das entsprechende Kapitel in: Thomas 2016 (in Druckvorbe
reitung).
16 Couilloud 1974, 335.
17 Couilloud 1974, 101 f. 250 Kat. 106 Taf. 25 (Anfang 1. Jh. v. Chr.). Zum Status
des Aulus Egnatius, möglicherweise eines Abkömmlings eines Freigelassenen,
s. Couilloud 1974, 334.
18 Anhand der Abbildungen lässt sich dies nicht einwandfrei feststellen.
19 Als Freigelassener kann möglicherweise der hier und in der Inschrift zuerst
genannte Verstorbene Publius gelten, vgl. Couilloud 1974, 106 f. 335 Kat. 118
Taf. 27. Datierung nach Couilloud 1974, 250: spätes 2. oder frühes 1. Jh. v. Chr.
Vgl. Schmidt 1991, 75. 83 Abb. 59 Tabelle I: Datierung: 130–110 v. Chr.
42
2 Stele des Aulus Egnatius Alexandros und des Aulus Egnatius,
Beginn 1. Jh. v. Chr. Athen, Archäologisches Nationalmuseum Inv. 1201
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 43
3 Stele des Publius und Lucius Paconius, Ende 2. oder Beginn 1. Jh. v. Chr.
Athen, Archäologisches Nationalmuseum Inv. 1317
44
hat den linken Arm aufgestützt. Stärker idealisiert ist dagegen die mittlere
Figur einer stehenden Frau gestaltet. Sie teilt lediglich durch die schwer
wirkenden Augenlider dieselben Charakteristika in der Augenpartie wie
die Figur des Sitzenden. Die stehende Frau befindet sich zudem in dexiosis
mit einem stehenden, wohl jüngeren Mann. Dieser ist in Frontalansicht
dargestellt und weist stark idealisierte Züge auf, wobei er sich leicht zu
seiner linken Seite hin neigt und mit der linken Hand den Kopf einer
Herme greift. Auch auf diesem Relief sind die Figuren durchweg im
bürgerlichen Habitus mit Untergewand und Mantel wiedergegeben.
In einer Zeit, in der der griechische Kulturraum noch nicht restlos
zum römischen Reich gehörte und in den meisten Regionen weiterhin
die hellenistische Kultur die Bilder prägte,20 gibt dieser Befund einige
Fragen auf: Inwieweit lassen sich – vor dem Hintergrund des expandie
renden römischen Reiches – die hier genannten Stelen für verstorbene
Sklaven und Freigelassene in den Gesamtbefund der Sklavenstelen seit
dem 4. Jh. v. Chr. einordnen? Welche Unterschiede zeichnen sich im Ver
gleich zu zeitgleichen Stelen innerhalb der delischen Sepulkralkunst ab,
vor allem zu denjenigen für freie Bürger und deren Familien? Und lassen
sich anhand der jeweiligen Darstellungsweise Aussagen über den Status
der Dargestellten treffen?
Um diesen Fragen nachzugehen, soll im folgenden etwas ausführli
cher auf die Belege für Grabreliefs von Sklaven oder Sklavinnen im grie
chischen Kulturraum eingegangen werden. Nimmt man die griechische
Sepulkralkunst insgesamt in den Blick, so können seit spätklassischer und
in hellenistischer Zeit immer wieder Sklavenstelen nachgewiesen werden.
Kennzeichnend für diese Gruppe von Grabdenkmälern ist ihre bescheide
ne Ausführung, zumeist in Form einer Bildfeldstele. Insgesamt stellen die
Sklavenstelen im Gesamtbefund der griechischen Grabreliefs jedoch eher
eine Ausnahme dar. Besonders für Attika in spätklassischer Zeit, mögli
cherweise aber auch für die hellenistischen Beipiele (s. u.) ist anzunehmen,
dass sie von den Herren für ihre verstorbenen Sklaven, die üblicherweise
im Grabbezirk der Familie bestattet wurden, aufgestellt wurden, wenn auch
nur in besonderen Fällen. Meistens wurde an den Sklavengräbern kein
Grabmal errichtet.21
20 Vgl. Hölscher 2002, 37–39.
21 Die Sklavenstelen des 4. Jhs. v. Chr. sind vor allem bei Scholl 1996, 176–182
zusammengestellt, die wenigen ostgriechischen Beispiele hellenistischer Zeit
bei Pfuhl/Möbius 1977, 68. Auf den Grabstelen des Bosporanischen Reichs,
die ebenfalls systematisch aufgearbeitet wurden, treten Sklaven oder ehemalige
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 45
Die frühesten Reliefs für Unfreie sind im 4. Jh. v. Chr. aus Attika überlie
fert.22 Die Identifikation als Sklavenstelen erfolgt auch hier anhand der
Inschriften, und zwar vor allem über den Zusatz χρηστός oder χρηστή
(chrestos bzw. chreste, im Sinn von nützlich, brav) in der Namensangabe, der
die Perspektive der ehemaligen Besitzer auf ihre Sklaven zeigt.23 Mehrere
Beispiele aus dieser Zeit bilden Grabsteine für Ammen, die durch die In
schrift als solche bezeichnet werden (τίτθη, titthe). Die Ammen gehörten
in griechischer Zeit zur Gruppe des unfreien Hauspersonals und waren
als Stillammen oder Kinderfrauen für einen Teil der Erziehung der freien
Kinder des Hauses zuständig. Dadurch entstanden in manchen Fällen
wohl auch engere emotionale Bindungen zu ihren Besitzern, was als Ur
sache für die vergleichsweise häufigen Ammenstelen angenommen wird.24
Grabsteine für Ammen zeigen die Verstorbene in der Regel entweder allein
oder mit ihren Angehörigen im Figurenschema der sitzenden Bürgers
frau.25 Die Dargestellte kann dabei wie eine bürgerliche Frau mit Chiton
und Mantel wiedergegeben sein, wie etwa auf einer Stele des 1. Viertels
des 4. Jhs. v. Chr.26 Dabei gilt die Geste des Mantelgreifens (anakalypsis)
auf den attischen Grabreliefs ebenso wie der schleierartig über den Kopf
gezogene Mantel grundsätzlich als Kennzeichen der verheirateten Frau
und wurde hier auf die prinzipiell nicht heiratsfähige Sklavin übertra
gen.27 Unklar ist, ob die Sitzende im angeführten Beispiel zusätzlich mit
einer Haube dargestellt ist, die den Kopf bedeckt 28, ein Motiv, das auf
Reliefs für Bürgersfrauen nicht belegt ist. Andere Reliefs für verstorbene
Sklaven nach Ausweis der Inschriften und der Bilder nicht als eigene Gruppe
in Erscheinung. Erst seit dem 1. Jh. v. Chr. gibt es vereinzelte Grabstelen, die
möglicherweise Freigelassenen zugeordnet werden können (Kreuz 2012, 419 f.).
Vgl. zu den Stelen für Unfreie in griechischer Zeit insgesamt auch das entspre
chende Kapitel in: Thomas 2016 (in Druckvorbereitung).
22 Außerhalb Attikas sind mir aus klassischer Zeit keine eindeutigen Belege
für Grabreliefs von Sklav*innen bekannt.
23 Anders als in hellenistischer Zeit wird diese Bezeichnung zumindest in den
athenischen Grabinschriften des im 4. Jhs. v. Chr. ausschließlich für Sklaven
verwendet. Vgl. dazu ausführlich Scholl 1996, 177–179; Bergemann 1997, 148 f.
24 Scholl 1996, 181; Schulze 1998, 13–19 bes. 14.
25 S. o. die Beispiele zu Grabreliefs für attische Bürgersfrauen mit demselben
Figurenschema (CAT, Kat. 2.150. Kat. 3.459a).
26 CAT, Kat. 1.249; Scholl 1996, Kat. 125 Taf. 28, 3; Schulze 1998, 37 Kat. A G 1
Taf. 10, 1; IG II2 12387; Inschrift: ΠΑΙΔΕΥΣΙΣ | ΤΙΤΘΗ ΧΡΗΣΤΗΣ.
27 Nach Scholl 1996, 169 f. ist sie zusätzlich als Grußgeste zu deuten.
28 Vgl. Schulze 1998, 37.
46
Ammen zeigen die Sitzende wiederum mit dem für Sklavinnen typischen
langärmligen Gewand und einem zusätzlichen Mantel (Abb. 4).29 In die
ser Darstellung sind der Figur zudem Trinkgefäße, eine Chous und ein
Skyphos, beigegeben. Dazu trägt sie kurzes Haar, ein Merkmal, das auch
diejenigen Figuren von Sklavinnen, die als Dienerinnen ihrer Herrin auf
Grabreliefs freier Bürgerfamilien erscheinen, öfter zeigen.30
Auf mehrfigurigen Reliefs kommen zu der im Schema der sitzenden
Frau dargestellten Amme, wiederum in Anlehnung an die bürgerliche
Ikonographie, noch eine oder zwei stehende Figuren hinzu, die meist
im Handschlag verbunden sind (Abb. 5).31 Anders als auf den Reliefs für
freie Frauen32 ist die Darstellung jedoch nur sehr selten um die Figur
einer Dienerin mit Kästchen oder im Trauergestus erweitert, die hinter
der Sitzenden steht und ihrerseits in der typischen Sklavenikonographie
der Bürgerreliefs mit ungegürtetem Chiton und Sakkos wiedergegeben
sein kann.33 Die Figur der stehenden Dienerin suggeriert auch hier, in
Anlehnung an die Dienerinnen auf Reliefs für freie Frauen, den erhöhten
sozialen Status der Verstorbenen.
29 Z. B. das Relief CAT, Kat. 1.376 (2. Viertel 4. Jh. v. Chr.); Scholl 1996, Kat. 230
Taf. 43, 2; Schulze 1998, 37 f. Kat. A G 2 Taf. 10, 2; Inschrift: ΠΥΡAIΧMΗ TITTΗ
ΧΡΗΣTΗ.
30 Auch auf dem Relief CAT, Kat. 1.354 (2. Viertel 4. Jh. v. Chr.) hat die Amme
kurzes Haar. Vgl. auch die Dienerin auf der oben genannten Grablekythos einer
freien Bürgersfamilie aus dem späten 5. Jh. v. Chr. (CAT, Kat. 4.671; Schulze
1998, 30 Kat. A G 51 Taf. 8, 2).
31 CAT, Kat. 3.360 (2. Viertel 4. Jh. v. Chr.); Scholl 1996, 245 Kat. 74 Taf. 21, 2;
IG II2 10842; Inschrift: AΡTEMIΣIA ΧΡΗΣTΗ. Vgl. auch das Relief der Amme
Pynete: CAT 2.359d (2. Viertel 4. Jh. v. Chr.; hier Abb. 6); IG II3 12559; Inschrift
ΠΥNETΗ | TIΘΗ ΧΡΗΣTΗ.
32 S. die Beispiele in Anm. 9.
33 Auf der Stele CAT, Kat. 3.390c (2. Viertel 4. Jh. v. Chr.) ist hinter der Sitzen
den in Chiton und Himation, die im Handschlag mit einem stehenden Mann
in Bürgertracht wiedergegeben ist, eine nicht verkleinerte stehende Dienerin
mit Kästchen dargestellt. Die Identifizierung der im Epigramm genannten Ver
storbenen ΠΛΑΓΓΩΝ ΧΡΗΣΤΗ in der Darstellung ist jedoch umstritten (vgl.
Scholl 1996, Kat. 522; Bergemann 1997, 149). Zu einem Grabnaiskos gleicher
Zeitstellung, der eine sitzende und eine stehende Frau in dexiosis und hinter
der Sitzenden noch zusätzlich eine frontal stehende Dienerin zeigt, ist m. W.
keine Abbildung publiziert (CAT, Kat. 3.362a; IG II2 12749; Inschrift: ΣΩΤΗΡΙΣ ΧΡΗΣΤΗ ΔΙΚΑΙΑ). Ungewöhnlich für das Grabmal einer Sklavin ist das
große Format.
T H O MA S: SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 47
4 Stele der Pyraichme, 2. Viertel 4. Jh. v. Chr. Athen, Archäologisches
Nationalmuseum Inv. 3935
48
5 Stele der Artemisia, 2. Viertel 4. Jh. v. Chr. Athen,
Archäologisches Nationalmuseum Inv. 759
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 49
Interessant ist bereits in dieser Zeit der Hinweis auf Paare, z. B. auf
einem Relief mit Bankettszene.34 Dargestellt sind ein gelagerter Mann
und eine am Fußende der Kline sitzende Frau. Das Bildschema, das auf
attischen Stelen klassischer Zeit vor allem von Metökenstelen bekannt
ist,35 unterscheidet sich nicht von der Darstellung eines freien Ehepaars,
obwohl – wie oben bereits angesprochen wurde – Sklaven in der griechi
schen und römischen Antike der Status der Ehe offiziell versagt war.36
Indem dies in den Bildern jedoch nicht genauer differenziert wird, wird
die Darstellung unfreier Verstorbener also auch in diesem Punkt an die
Ideale der freien Bevölkerung angeglichen.
Seltener als für Ammen sind attische Grabsteine des 4. Jhs. v. Chr. für
verstorbene männliche Sklaven belegt. Auch hier ist das Figurenschema
des sitzenden Mannes in Bürgertracht, der seine Füße auf einen Sche
mel stellt, mehrfach belegt. Der Verstorbene wird m. W. aber, anders als
die Ammen, nicht alleine abgebildet, sondern stets mit einer oder zwei
weiteren Figuren, die als Angehörige vor ihm stehen.37
Die aus Laureion stammende Stele des Thous, sitzend in Bürgertracht
wiedergegeben, ist möglicherweise ebenfalls den Sklavengrabsteinen
34 Schulze 1998, 39 Kat. A G 11; Scholl 1996, Kat. 148 Taf. 40, 2; Dentzer 1982,
344. 348. 351 f. Kat. R 212 Taf. 78 Abb. 468; IG II2 12815; Inschrift: ΤΙΤΘΗ ΧΡΗΣΤΗ. Nicht in CAT aufgenommen.
35 Für Bankettszenen im selben Bildschema mit gelagertem Mann und am
Fußende der Kline sitzender Frau auf attischen Grabstelen klassischer Zeit
s. Scholl 1996, 153 Anm. 1046 Kat. 136. 221. 421 Taf. 18, 1. 40, 3–4. 41, 6; Kat. 136
entspricht CAT, Kat. 2.385, die anderen Beispiele sind in CAT nicht enthalten.
Beim Inhaber der Grabstele Scholl 1996, Kat. 221 handelte es sich nach Ausweis
der Inschrift (IG II2 7877) um einen Metöken im Status der Isotelie; auch bei
der Stele Scholl 1996, Kat. 136 (IG II2 12562) fehlt die Angabe eines Demotikons,
weswegen der Grabinhaber also Metöke war (vgl. dazu Scholl 1996, 174). Bei der
Stele Scholl 1996, Kat. 421 ist keine Inschrift erhalten. Vgl. auch Schulze 1998,
37. 39.
36 Scholl 1996, 176; Raffeiner 1977, 31; Klees 1975, 37. Auch die Geste der verhei
rateten Frau, die den Schleier oder Mantel ergreift, ist schon früh für Sklavinnen
belegt (z. B. CAT, Kat 1.249). Vgl. außerdem das eingangs genannte delische
Relief.
37 Z. B. die Stele des Sklaven Mikias, der als Sitzender mit zwei stehenden An
gehörigen dargestellt ist: CAT, Kat. 3.482 (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.); IG II2 12133;
Inschrift: ΜΙΚΙΑΣ ΧΡΗΣΤ[ΟΣ]. In einem anderen Fall ist die Stele gleich zwei
verstorbenen Sklaven gewidmet: CAT, Kat. 2.492 (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.); IG II2
11060; Inschrift: ΔΕΞΙΠΠΟΣ ΔΙΑΥΛΟΣ | ΧΡΗΣΤΟΙ.
50
6 Stele der Pynete, 2. Viertel 4. Jh. v. Chr. Athen, Archäologisches
Nationalmuseum Inv. 4983
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 51
7 Stele des Thous, 2. Hälfte 4. Jh. v. Chr. Athen,
Archäologisches Nationalmuseum Inv. 890
52
zuzurechnen (Abb. 7).38 Das Bildmotiv des sitzenden Mannes, der mit
einer weiteren Person im Handschlag verbunden ist, ist hier um einen
Begleitsklaven erweitert, der hinter seinem Herrn steht und einen Stock
mit Bündel geschultert hat. Auf demselben Relief wird auch die dem
Sitzenden gegenüberstehende und mit diesem in dexiosis verbundene
Frau in Begleitung einer verkleinerten, frontal dargestellten Sklavin,
die zudem den Kopf als Ausdruck der Trauer auf die linke Hand stützt,
wiedergegeben.
Neben all diesen Darstellungen, die weniger den Sklavenstatus der
Steleninhaber thematisieren, sondern sich ikonographisch vielmehr den
Grabdenkmälern freier Verstorbener annähern, finden sich in spätklassi
scher Zeit in Attika vereinzelt auch Sklavenstelen, die die Verstorbenen in
ihrer ehemaligen Tätigkeit zeigen, etwa als Pferdeführer in der Chlamys,
der typischen Dienerkleidung (Abb. 8)39, oder als Lastenträger 40. Letzterer
ist, wie die stark fragmentierte Darstellung noch erkennen lässt, außer
durch seine Funktion als Träger auch durch die gebückte Körperhal
tung deutlich als Sklave charakterisiert. Eine solche, nicht idealisierte
Wiedergabe einer Figur begegnet auch in anderen Bildgattungen der
griechischen Kunst klassischer Zeit häufiger und dient, ähnlich wie
die verkleinerte Darstellung, als Kennzeichnung des unfreien Status.
Sie wurde in der archäologischen Forschung schon früh als sogenannte
physiognomische Charakterisierung bezeichnet.41
Insgesamt sind also auf attischen Grabreliefs des 4. Jhs. v. Chr., die
Sklaven oder Sklavinnen gewidmet waren, zwei verschiedene Darstel
lungsweisen belegt, diejenige in Anlehnung an bürgerliche Bildschemata
und die ›realistische‹, die die Sicht der Freien auf die Sklaven als dienende,
untergeordnete Menschen klar erkennen lässt.42 Jedoch wird in klassischer
38 CAT, Kat. 3.922 (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.); Scholl 1996, Kat. 98 Taf. 43, 1. Nach
Scholl 1996, 179 handelt es sich bei den Stelen für verstorbene Bergwerksklaven
aus Laureion um von Sklaven selbst aufgestellte Denkmäler. Möglicherweise
ehrte die Stele aber auch einen Freigelassenen (vgl. Lauffer 1979, 131–136).
39 CAT, Kat. 1.472 (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.); Scholl 1996, Kat. 419 Taf. 27, 2; IG
II2 10692: ΑΝΤΙΠΑΤΡΟΣ ΧΑΙΡΕ.
40 CAT, Kat. 1.462 (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.); Scholl 1996, Kat. 23 Taf. 43, 3; IG II2
11822: ΚΑΡΙΩ[Ν] ΧΡΗΣΤ[ΟΣ].
41 Vgl. Himmelmann 1971, 27–29. 41 f.
42 Zur physiognomischen Darstellung des Verstorbenen als ›Sklaven von Na
tur‹, der mit gebeugtem Rücken einen Sack schleppt und noch dazu als ›Karion‹
(Karer) mit einem »entindividualisierten Sklavennamen« und als χρηστός
bezeichnet ist, vgl. eindringlich Scholl 2002, 183 f. Kat. 83 (Zitat: S. 183).
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 53
8 Stele des Antipatros, 2. Häfte 4. Jh. v. Chr. Kopenhagen,
Ny Carlsberg Glyptothek Inv. 436
54
Zeit die positive Charakterisierung der Sklaven auch im Fall der stark
idealisierenden Stelen für gewöhnlich schon durch den Gebrauch des
Wortes χρηστός in der Inschrift eingeschränkt. Schließlich setzen die
oben angeführten Darstellungen von Ammen im Schema der sitzenden
Bürgersfrau auch durch die Einbindung ›sklavenikonographischer‹ Moti
ve wie dem kurzen Haar, der langärmligen Kleidung oder den Trinkgefä
ßen die Dargestellten noch zusätzlich von den Figuren freier Frauen ab.43
In hellenistischer Zeit sind Grabreliefs, die sicher als Sklavenstelen
gelten können, zunächst kaum belegt. Teilweise wird der Status der Un
freiheit durch die Inschrift angezeigt, vereinzelt sind Grabsteine für Skla
ven aber auch anhand der bildlichen Darstellung als solche auszumachen.
Möglicherweise zählt eine wohl ins 3. Jh. v. Chr. datierende Trapeza
aus Attika dazu, die der Amme Phanion aus Korinth gewidmet war.44 In
einem kleinen reliefverzierten Bildfeld wird die Verstorbene auf einem ein
fachen Schemel sitzend und damit in ihrem sozial untergeordneten Status
dargestellt; vor ihr sind außerdem die Figuren eines kleinen stehenden
Mädchens und einer verkleinert wiedergegebenen, stehenden Dienerin
mit Kästchen zu sehen. Wegen des fehlenden Patronymikons handelt es
sich bei der verstorbenen Amme wohl um eine Freigelassene oder Sklavin.
Aus früh und hochhellenistischer Zeit können sonst kaum Grabste
len für Unfreie benannt werden. Erst in späthellenistischer Zeit werden
die Belege für Sklavenstelen mit Reliefdarstellungen wieder etwas häufi
ger, wenn sie auch insgesamt immer noch sehr selten bleiben.
So zeigt eine Stockwerkstele mit Gelageszene aus der Nähe von Bursa
in einem kleinen Bildfeld darunter zusätzlich eine auf einem Felsen in
gebeugter Haltung sitzende und ihre Knie umfassende Frau in Chiton
und Himation, die mit dem Namen Lais bezeichnet ist.45 Da dieser als
typischer Sklavenname gelten kann46 und auch kein Vatersname ange
geben ist, stellte sie wohl eine Sklavin des Hauses dar. Durch das Sitzen
in gebeugter Haltung ist die Darstellung deutlich von der bürgerlichen
Ikonographie abgehoben.
Ein pfeilerförmiges Grabmal aus Mytilene (Abb. 9) aus der ausgehen
den hellenistischen Zeit zeigt in einem schmalen Bildfeld innerhalb einer
43 S. die oben bereits angeführten Beispiele CAT, Kat. 1.249. 1.354. 1.376.
44 CAT, Kat. 1.980; Schulze 1998, 39 Kat. A G 66; IG II 2 9079. Inschrift:
ΦΑΝΙΟΝ ΚΟΡΙΝΘΙΑ ΤΙΤΘ[Η].
45 Pfuhl/Möbius 1977, 68. 244 Kat. 948 Taf. 143 (aus Iseli bei Bursa, späthelle
nistisch). Vgl. Schulze 1998, 36 Kat. A G 76 Taf. 9, 4.
46 Schulze 1998, 36: »Kriegsbeute«.
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 55
9 Stele einer Sklavin, wohl 1. Jh. v. Chr. Mytilene, Archäologisches Museum
bogenförmigen Nische eine weibliche stehende Figur mit einem Kasten
auf dem linken Unterarm, ihre rechte Hand ruht darauf.47 Der untere Teil
des Grabmals ist auf Höhe der Oberschenkel der Figur abgebrochen, eine
Inschrift ist nicht erhalten. Da sie einen einfachen Chiton trägt und durch
das Tragen eines Kästchens in einer dienenden Funktion erscheint, kann
die Figur wohl als Sklavin gedeutet werden.48
47 Pfuhl/Möbius 1977, 68. 136 Kat. 404 Taf. 67 (fragmentiert, wohl 1. Jh. v. Chr.).
Nach Pfuhl/Möbius ist dies das einzige sichere Grabmal für eine Dienerin in
der Gruppe der ostgriechischen Grabreliefs.
48 Pfuhl/Möbius nennen diesen einen »Dienerinnenchiton« (Zitat: Pfuhl/
Möbius 1977, 136).
56
Beide hier angeführten hellenistischen Reliefs haben gemeinsam,
dass sie die Sklavinnen, denen sie gewidmet sind, in einer Weise zeigen,
die ihren unfreien Status durch Haltung, Tätigkeit oder Kleidung de
monstrieren und sie damit von den Bildern freier Frauen unterscheiden.
Dagegen werden auf delischen Stelen späthellenistischer Zeit, die
bereits unter italischem Einfluss stehen,49 ungewöhnlich häufig solche
Bildschemata, die von Reliefs für Bürgersfrauen oder Bürger bekannt sind,
unterschiedslos auch für Grabsteine von Sklavinnen oder Sklaven verwen
det, wie die folgenden Beispiele deutlich machen sollen. Da, wie eingangs
beschrieben, die Situation für die Identifikation von Sklavenstelen innerhalb
der späthellenistischen delischen Grabreliefs besonders günstig ist, kann es
sein, dass entsprechende Beispiele in anderen Gegenden ebenfalls vorhan
den sind, jedoch wegen mangelnder prosopographischer Indizien nicht als
solche identifiziert werden können. Dies würde bedeuten, dass die delischen
Stelen nur insofern eine Ausnahme bilden, als sie eindeutig interpretierbare
Inschriften tragen. Auf der anderen Seite verwundert es nicht, dass gerade
auf Delos, das als Freihafen seit 166 v. Chr. auch in politischer Hinsicht eine
Sonderstellung einnimmt und dessen Bilddenkmäler im Sepulkralbereich
sich ganz allgemein als Gruppe mit einer eigenständigen Tradition fassen
lassen,50 auch im Hinblick auf die Sklavenstelen eine Ausnahme bildet. Diese
Frage kann jedoch nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden.
Eine delische Grabstele des ausgehenden 2. oder frühen 1. Jhs. v. Chr.
zeigt die Verstorbene Rodo Solfia im Schema der sitzenden Frau mit
Dienerin; sie wird in der Inschrift als Sklavin des Appius und als Röme
rin bezeichnet (Abb. 10).51 Dargestellt ist eine nach links sitzende Frau
in Chiton und Himation, das auch den Kopf verhüllt. Mit der Rechten
greift sie in ein großes Kästchen, das ihr eine miniaturhafte Dienerin
im Peplos und mit kurzem Haar entgegenhält. Durch die Verwendung
dieses Motivs wird hier also noch eindeutiger als auf den früheren atti
schen Sklavenstelen eine Darstellungsweise gewählt, die auch von ent
sprechenden Reliefs für Bürgersfrauen in klassischer und hellenistischer
Zeit bekannt ist und sich in nichts von diesen unterscheidet.52 Dagegen
49 Couilloud 1974, 332–335 (s. auch oben die Einleitung).
50 Schmaltz 1983, 229 f.
51 Couilloud 1974, 116 Kat. 145 Taf. 34. 78 (Inschrift: Ῥοδὼ Σολφία Ἀππίου |
Ῥωμαία χρηστὴ | χαῖρε – »Excellente Rodo Solfia, esclave d’Appius, Romaine,
salut«). Zur Stele s. auch Schmidt 1991, 22 Anm. 138 (nicht in Tabelle I).
52 Z. B. zwei delische Stelen: Couilloud 1974, Kat. 152. 154 Taf. 35–36. Vgl.
auch ein älteres Relief aus der Gegend westlich von Sardes: Pfuhl/Möbius
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 57
10 Stele der Rodo Solfia, Ende 2. oder frühes 1. Jh. v. Chr.
Athen, Archäologisches Nationalmuseum Inv. 1253
1977, Kat. 969 Taf. 145; Schmidt 1991, 55 (nach der Mitte des 3. Jhs. v. Chr.) und
ein Relief aus Samos: Pfuhl/Möbius 1977, Kat. 968 Taf. 146; Schmidt 1991, 22
Anm. 138 (späthellenistisch).
58
begegnen auf den zuvor angeführten attischen Stelen für Sklavinnen vor
allem sitzende Frauen ohne Dienerin.
Auch auf anderen delischen Grabreliefs für Sklaven und Sklavinnen
des späten 2. bzw. frühesten 1. Jhs. v. Chr. finden sich dieselben ikonogra
phischen Schemata wie auf Stelen für Freie. Zudem ist das in dieser Zeit
übliche Format der Bildfeldstele für beide Gruppen, Freie und Unfreie,
dasselbe.53 So zeigt das Grabrelief für Myrsine (Sklavin des Decimus und
Schwester des – eventuell Freigelassenen – Quintus Aufidius Kassiodoros)
und für Sabeis (Tochter des Pyrrhos) zwei einander gegenüber sitzende
Frauen in Chiton und Himation.54 An der Seite der rechten Frau befin
det sich eine miniaturhafte Dienerin im Profil mit Kästchen. Die links
Sitzende (Myrsine) hält auf dem Schoß ein Wickelkind, vor ihr steht
ein weiteres, etwas größeres Kind. Im Hintergrund des Reliefs ist ein
stehender Mann im Himation zu sehen.
Auch die Stele für den Sklaven Timokrates mit der Darstellung eines
gerüsteten Kriegers auf einem Schiff zählt zu den üblichen Bildschemata
der Freien.55 Für Sklaven bzw. Sklavinnen sind innerhalb der delischen
Reliefs außerdem das Schema des stehenden Mannes im Mantel 56 und das
Schema des sitzenden Mannes im Mantel mit Diener 57 sowie das Bildsche
ma der sitzenden Frau und des stehenden Mannes in dexiosis überliefert.
Letzteres ist gleich auf zwei Stelen von Sklavinnen belegt; in einem Fall ist
53 So auch Couilloud 1974, 333.
54 Couilloud 1974, 130 f. 333–335 Kat. 187 Taf. 44. 78 (Ende 2./Anfang 1. Jh. v. Chr.,
Inschrift: Μυρσίνη Ἑτο[ρ]- | ηία Δέκμου | Ῥωμαία ἀδελ- | φὴ δὲ Κοΐντου Αὐ- | φιδίου
Κασιοδώρου | χρηστὴ χαῖρε und Σαβεῖ Πύρ- | ρου Ἀπάμι- | σσα χρηστὴ | χαῖρε).
55 Couilloud 1974, 177. 179. 333 f. Kat. 357 Abb. 7 Taf. 70 (Ende 2./Anfang 1. Jh.
v. Chr., Inschrift: Τιμοκράτη Ῥαίκιε Νεμερίου | χρηστὲ καὶ ἄλυπε χαῖρε).
56 1.) Couilloud 1974, 141. 333 f. Kat. 235 ohne Abb. (verschollen, ohne Datie
rung, Inschrift: Ἀντίοχε Λαβίηνε | χρηστὲ χαῖρε). 2.) Couilloud 1974, 141. 333 f.
Kat. 233 ohne Abb. (Fragment, letztes Drittel 2./Anfang 1. Jh. v. Chr., Inschrift:
Ἀθ[ηνόδωρε] | Πακώνιε χρηστὲ καὶ | ἄλυπε χαῖρε). Es ist nur der untere Teil der
Stele mit den Füßen eines stehenden Mannes in der Mitte des Bildes erhalten.
– Vgl. außerdem Couilloud 1974, 143 f. 333 f. Kat. 243 Taf. 49. 79 (Fragment,
Anfang 1. Jh. v. Chr., lateinischgriechische Inschrift: Calli[c]le Saufeie salve und
Καλλικλ[ῆ] Σωφήιε Αὔλου χρηστὲ | ἄλυπε χαῖρε); nicht bei Schmidt 1991. Es sind
nur die Füße einer frontal stehenden möglicherweise weiblichen Figur erhalten.
57 Couilloud 1974, 122. 334 Kat. 165 Taf. 38 (Ende 2./Anfang 1. Jh. v. Chr., In
schrift: Ἀπολλώνι[ε] | Πακώνιε Γνα[ί]ου | χρηστὲ χαῖρε); nicht bei Schmidt 1991.
Der stark verkleinerte frontal stehende Diener ist mit einem kurzen Chiton
bekleidet, die rechte Hand (mit Gegenstand?) ist zum Sitzenden erhoben.
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 59
neben der sitzenden Frau noch die Figur einer kleinen bzw. miniaturhaften
Sklavin in langem Chiton dargestellt.58 In der angewinkelten Linken hält
diese ein Kästchen, die Rechte hängt neben dem Körper herab.
Die späthellenistischen delischen Grabmonumente für Sklaven ent
wickelten demnach, anders als die Sklavenstelen aus Athen in klassischer
Zeit, keine eigene Ikonographie, vielmehr folgten sie unterschiedslos den
Bildern der zeitgleichen Bürgerstelen aus Delos. Auffällig, für die Frage
der Sklavenstelen aber nachrangig, sind darüber hinaus die Übereinstim
mungen der späthellenistischen delischen Stelen insgesamt – d. h. sowohl
der freien als auch der nichtfreien Bevölkerung – mit der Ikonographie
der viel früher datierenden attischen klassischen Grabreliefs für freie
Bürger, was auch in der Forschung schon mehrfach festgestellt wurde.59
Wie lassen sich nun die soeben angeführten delischen Sklavenstelen
zu den am Beginn dieses Beitrags besprochenen Stelen derselben Her
kunft und Zeitstellung mit porträthaften Zügen in Beziehung setzen?
Auch diese folgen wieder der von den bürgerlichen Stelen her bekannten
Ikonographie. So begegnet auch auf dem Grabrelief der Dia Stlaccia und
des Diodoros Stlaccius (vgl. Abb. 1) wiederum sowohl das auf Bürgerstelen
übliche Bildschema der sitzenden Frau und des stehenden Mannes in
dexiosis als auch die bürgerliche Tracht der Figuren,60 außerdem entspricht
auch hier die Begleitung durch einen stark verkleinert bis miniaturhaft
wiedergegebenen Diener vollständig dem Motiv, das auf Grabreliefs für
Freie seit klassischer Zeit den sozialen Status des freien, wohlhabenden
Bürgers anzeigt.61 Ähnliches gilt auch für die beiden anderen Grabreliefs
des Aulus Egnatius Alexandros und des Aulus Egnatius bzw. des Publius
und Lucius Paconius, die eher der Gruppe der Freigelassenen zuzuordnen
58 1.) Couilloud 1974, 78 f. 333 f. Kat. 48 ohne Abb. (Ende 2. Jh. v. Chr., In
schrift: Μερόπη | Στερτινία | Λευκίου | Ῥωμαία χρη- | στὴ χαῖρε). Dexiosis zwischen
rechts sitzender Frau und links stehendem Mann, mit verkleinerter Sklavin
(Beschreibung ev. seitenverkehrt; zum Bildschema vgl. Couilloud 1974, 54). 2.)
Couilloud 1974, 63. 333 f. Kat. 8 Taf. 1 (Ende 2. Jh. v. Chr., Inschrift: Μοσχίνη
Πεδία | χρηστὴ χαῖρε); Schmidt 1991, Tabelle I (130–110 v. Chr.). Dexiosis zwischen
links sitzender Frau und rechts stehendem Mann, ohne Sklavenfiguren.
59 Vgl. etwa Schmaltz 1983, 227 f. zu einer teils klassizistischen Bildsprache
vor dem Hintergrund der politischen Situation auf Delos; Schmidt 1991, 36. 42.
60 S. o. und generell zum hier verwendeten Bildschema Schmidt 1991, 36 mit
Anm. 207.
61 Z. B. Scholl 1996, Kat. 46 Taf. 36; entspricht CAT 2.892 (2. Viertel 4. Jh.
v. Chr.). Vgl. für die hellenistische Zeit auch das oben bereits angeführte Relief
Pfuhl/Möbius 1977, Kat. 646.
60
11 Stele der Krino, Ende 2. Jh. v. Chr. Verona, Museo Maffeiano Inv. 890
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 61
sind (vgl. Abb. 2–3). So ist die Wiedergabe der Figuren durch Kleidung
und Gesten wie der dexiosis von der bürgerlichen Ikonographie her ver
traut. Auf der Stele für Publius Paconius und Lucius Paconius kommen
außerdem noch Motive wie die Herme am rechten Bildrand 62 sowie die im
Fries oberhalb des Reliefs symbolhaft angeordneten Attribute hinzu. Es
handelt sich hierbei um einen Kriegerhelm und eine Rüstung, die rechts
und links von jeweils einem Stierkopf gerahmt werden.63
Lediglich die Wiedergabe der Gesichter mit teilweise nichtideali
sierten, porträthaften Zügen unterscheidet diese Reliefs von den übrigen
Belegen für Sklavenstelen auf Delos und überhaupt von der griechischen
Sepulkralkunst (für Sklaven und Freie) in griechischer Zeit. Es ist die
Frage, ob es sich hier um eine Eigenheit innerhalb der Grabdenkmäler
für (ehemalige) Sklaven handelt.
Dazu soll zunächst noch das einzige von Couilloud zur Gruppe mit
Porträtdarstellungen gezählte Relief einer freien Frau betrachtet werden.
Es ist dies die Stele der Athenerin Krino, Tochter des Artemon und Frau
des Atheners Lenaios, Sohn des Artemon, vom Ende des 2. Jhs. v. Chr.
(Abb. 11).64 Dargestellt ist eine sitzende Frau in Chiton und Himation nach
links. Ihr gegenüber steht eine stark verkleinerte Dienerin, die mit einem
Peplos bekleidet ist und der Sitzenden mit beiden Händen ein Kästchen
entgegenhält, aus dem diese einen Gegenstand entnimmt; die Dienerin
schaut dabei leicht zu ihrer Herrin auf. M. E. bezieht sich die Bezeichnung
einer ›porträthaften‹ Wiedergabe der Gesichter 65 hier besonders auf die
Darstellung der Dienerin. Diese ist durch ein breites Untergesicht, große
Ohren und eine Stupsnase charakterisiert. Das Gesicht der Sitzenden
ist dagegen eher durch idealisierte Gesichtszüge geprägt.66 Da in diesem
62 Nach Schmaltz 1983, 227 verweist die Herme, die häufig in Kombination mit
Jünglingsfiguren dargestellt wird, auf den Bereich der Palästra. Vgl. zur Herme
auf hellenistischen Grabreliefs das entsprechende Kapitel in: Weber 2016 (in
Druckvorbereitung).
63 Vgl. Schmaltz 1983, 248. 244 und Fabricius 1999, 51–56 bes. 52. 60–63 zur
Bedeutung solcher Attribute auf hellenistischen Grabreliefs, die als Ausdruck
bürgerlicher Wertvorstellungen oder zur Heroisierung des Verstorbenen dienten.
64 Couilloud 1974, 115. 250 Kat. 144 Taf. 34 (Κρινὼ Ἀρτέμωνος Ἀθηναία, γυνὴ δὲ
Ληναίου τοῦ Ἀρτέμωνος Ἀθηναίου).
65 Couilloud 1974, 250.
66 Ganz sicher lässt sich dies anhand der Abbildung nicht beurteilen, jedoch
fällt bereits der Umstand auf, dass dieses Relief in der Reihe der Porträtstelen
nach Couilloud 1974, 250 das einzige ist, auf dem auch die Figur einer Dienerin
nicht idealisiert wiedergegeben wird und das sich schon allein dadurch deutlich
62
Fall also die Nebenfigur, nicht aber die Hauptfigur des Reliefs von der
sonst üblichen idealisierten Darstellungsweise auf den hellenistischen
Grabreliefs abweicht, ist es m. E. nicht zutreffend, hier von einem Por
trät zu sprechen, das ja im Zusammenhang mit einem Grabmal eher zur
Individualisierung der Verstorbenen selbst, nicht aber ihrer Dienerin zu
erwarten wäre.67 Vielmehr erinnert die nichtideale Darstellungsweise
der Dienerin an andere Figuren von Sklaven, die bereits in klassischer
Zeit, teilweise aber auch noch in hellenistischer Zeit mit hässlichen Ge
sichtszügen charakterisiert sein können. Dadurch wird der Sklavenstatus
noch stärker betont, als dies durch die verkleinerte Wiedergabe und die
dienende Funktion ohnehin schon der Fall ist.68
Die Beispiele mit porträthaften Darstellungen der Verstorbenen auf
delischen Grabreliefs nach Couilloud halten also nur im Fall der drei
Grabstelen, die Sklaven oder aber vermutlich Freigelassenen gewidmet
waren, einer näheren Überprüfung stand.69 Durch diese Eigenheit unter
scheiden sie sich in der Tat von der gesamten sonst bekannten sepulkral
bildlichen griechischen Überlieferung und sind auch von der pejorativen
sogenannten physiognomischen Charakterisierung der Begleitsklaven auf
Bürgerstelen zu trennen.
Eine Parallele finden die delischen ›Porträts‹ sonst nur in der etwa zeit
gleichen stadtrömischen Sepulkralkunst, die der Gruppe der Freigelassenen
von den anderen Beispielen absetzt (vgl. dagegen den miniaturhaften Diener
auf der Stele Couilloud 1974, Kat. 70, hier Abb. 2).
67 Das Relief Couilloud 1974, Kat. 144 ist übrigens auch das einzige aus der
Gruppe, das in der Inschrift ausschließlich griechische Namen aufweist, und
unterscheidet sich auch schon von daher von den übrigen Stelen.
68 Vgl. z. B. eine Stele aus Naxos bei Couilloud 1974b, 455 Kat. 50 Abb. 49; ent
spricht ArachneDatenbank: arachne.dainst.org/entity/1098894 (15. März 2017):
Diese zeigt einen stark verkleinerten nackten Sklaven, der sich mit vor dem
Körper verschränktem rechten Arm in starker Verdrehung mit seiner linken
Schulter an den Bildrand lehnt. Obwohl er in Vorderansicht wiedergegeben ist,
schaut der Kopf im Profil nach links zur Figur des Herrn, der im Bürgermantel
und mit einer Buchrolle in der Linken ruhig dasteht und in Richtung des Skla
ven herabschaut. Zusätzlich zum verdrehten Körper, der ihn wenig idealisiert
erscheinen lässt, ist auch der Kopf des Sklaven durch physiognomisch hässliche
Züge gekennzeichnet. Die Stirn springt flach nach hinten und lässt den Kopf
eiförmig erscheinen, das vermutlich lockige Haar setzt erst weit hinten an.
69 Es wäre in diesem Zusammenhang interessant, durch Autopsie das übrige
Material aus Delos auf das Kriterium einer nichtidealisierten Darstellungs
weise der Hauptfiguren zu überprüfen.
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 63
zuzurechnen ist. Aus Rom sind seit dem 2. Viertel und dann vor allem in
der zweiten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. häufiger Grabreliefs von Freigelassenen
(libertini) bekannt, die ikonographisch und in der Qualität der Reliefs eine
relativ geschlossene Gruppe bilden und sich von den zugleich weiter tra
dierten späthellenistischen Bildformen innerhalb der römischen Grabkunst
absetzen.70 Anders als im Fall der Sklaven (und auch Freigelassenen)stelen
aus klassischer und vermutlich auch noch hellenistischer Zeit, die von den
ehemaligen Besitzern der Unfreien gestiftet wurden,71 ist hier jedoch von
Selbstzeugnissen auszugehen, d. h. dass die Grabreliefs vermutlich von
Mitgliedern aus der Gruppe der Freigelassenen, die zu einigem Wohlstand
gekommenen waren, selbst in Auftrag gegeben wurden.72 Auch waren Grab
reliefs römischer Freigelassener, wie schon der büstenförmige Ausschnitt
der Darstellungen und häufiger auch das breite Format vielfiguriger Reliefs
nahelegt, ursprünglich in die Fassade von Grabbauten eingelassen und
unterscheiden sich darin ebenfalls von den freistehenden griechischen
Stelen.73 Kennzeichnend ist für diese Darstellungen die porträthafte Wieder
gabe der Gesichter, die auf späteren Reliefs, die tatsächliche Porträtbüsten
integrieren, ihren Höhepunkt findet.74 In diesem Zusammenhang wurde
in der Forschung bereits die Vermutung geäußert, dass die Möglichkeit zu
einem realistischen, nichtidealisierten Individualporträt, das keine nega
tive Konnotation beinhaltete, erst dadurch möglich wurde, dass die in der
archaischen griechischen Adelsgesellschaft, aber auch im Bürgertum des
klassischen Athen und teilweise noch in hellenistischer Zeit verbreitete
Ideologie der kalokagathia (›des Schön und Gutseins‹) in Rom fehlte.75
70 Zanker 1975, 270. 280 Abb. 13–14; Kockel 1993, Kat. I 8. O 27 Taf. 66b. d. 128c.
71 Zumindest für die Reliefs aus Bursa und Mytilene (s. o.), die sich ebenso wie
die attischen von den Stelen der Bürger durch das Anzeigen des Sklavenstatus
durch Haltung oder Tätigkeit der Figuren ikonographisch abheben, ist dies
denkbar. Zu Attika, wo davon ausgegangen werden muss, dass die Grabsteine
durch die ehemaligen Besitzer aufgestellt wurden, s. o.
72 Zanker 1975, 270. 277 geht von Selbstzeugnissen der Freigelassenen aus.
Vgl. auch die Eltern eines verstorbenen Jungen als Stifter des Grabmals (Zanker
1975, 290 Abb. 25).
73 Zanker 1975, 271. Die Darstellungen waren jedoch ursprünglich nicht als
Büsten gemeint. Durch das Einlassen in die Fassade erweckten die Figuren
den Eindruck von aus dem Fenster herabschauenden Lebenden (Zanker 1975,
276. 308).
74 Zanker 1975, 274. 310 Abb. 6. 16–17. 34. 36. Vgl. Kockel 1993, 72–76 Kat. I 1.
L 4. L 17. L 19 Taf. 56d. 62a. b. 90b. 93d. e. 101a. 102a. b. 103b. d. 104a. b. 105a.
75 Zanker 1995, 480 f.
64
Dies ist durchaus plausibel und auch vor dem Hintergrund der delischen
Stelen, die ebenfalls nichtidealisiert gestaltet sind, interessant. Zwar ist die
Materialbasis der Grabreliefs aus Delos mit ›Porträts‹ gering, doch ist auch
hier möglicherweise anzunehmen, dass für eine kleine Gruppe von Sklaven
und Freigelassenen, die durch ihr Umfeld bereits italischen Einflüssen aus
gesetzt war, das aus archaischer und klassischer Zeit überbrachte bürgerliche
Ideal der kaloikagathoi nicht mehr galt, weswegen für ihre Verewigung auf
einem Grabstein durchaus selbstbewusst bereits eine andere Formenspra
che gewählt wurde,76 als dies auf den umgebenden Grabmälern, die in der
hellenistischen Bildtradition standen, der Fall war. Zugleich führten sie aber
auch die seit klassischer Zeit überbrachten bürgerlichen ikonographischen
Figurenschemata fort und nahmen somit – trifft die oben formulierte An
nahme zu – eine Art Mittelstellung zwischen beidem ein.
BILDREC HTE
1 Nach Couilloud 1974, Kat. 70 Taf. 15.
2 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/227403>, Negativ
nummer DAI Athen: NM4816 (Foto: EvaMaria Czakó).
3 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/184709>, Negativ
nummer DAI Athen: Grabrelief0794 (Foto: Dimitriadis).
4 Nach Schulze 1998, Taf. 10, 2.
5 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/98718>, Negativnum
mer DAI Athen: Grabrelief0530.
6 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/117870> (Ausschnitt),
Negativnummer DAI Athen: Grabrelief0273.
7 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/241174> (Ausschnitt),
Negativnummer DAI Athen: NM4836 (Foto: EvaMaria Czakó).
8 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/119445>, Negativ
nummer DAI Athen: Grabrelief0227.
9 Nach Pfuhl/Möbius 1977, Kat. 404 Taf. 67.
10 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/241169>, Negativ
nummer DAI Athen: NM4814 (Foto: EvaMaria Czakó).
11 Bilddatenbank Arachne <arachne.dainst.org/entity/435663>, For
schungsarchiv für Antike Plastik, Universität zu Köln: Filmnummer: 4816,
Negativnummer: 02.
76 Offen bleiben muss hier die Frage, ob dies durch ihre Besitzer oder Ange
hörigen geschah.
T H O MA S : SK LA V E NPO RT R ÄT S A U F GR A B R E L I E F S 65
LITERATUR VER ZEICH N IS
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am Main 2016 (in Druckvorbereitung).
CHRIS TIANE VORS TER
WORAN ERKENNT MAN EINE PTOLEMÄERIN?
Zu den Porträts Kleopatras I. in
Dresden und Kopenhagen
Die Porträts ptolemäischer Königinnen nehmen aufgrund ihrer großen
Zahl und ihrer ikonographischen Vielfalt einen wichtigen Platz in den
Forschungen zum hellenistischen Porträt ein.1 Allerdings unterliegt diese
Denkmälergruppe in der Beurteilung durch die Forschung auffallend
starken Schwankungen. Das Spektrum reicht von zuversichtlicher Benen
nung einzelner Porträts – etwa bei den zahlreichen Bildnissen Arsinoes
II.2 – bis hin zu grundlegendem Skeptizismus, der sogar die Belastbar
keit der Münzzuweisungen in Frage stellt.3 Letztlich fehlen verbindliche
Kriterien für die Identifizierung der Porträts ptolemäischer Königinnen,
beziehungsweise es besteht keine Einigkeit über deren Anwendung.
Bereits die Bewertung der Attribute bereitet Probleme: Die ptolemäi
schen Königinnen sind auf den Münzen bisweilen nur mit Stephane und
Schleier ausgestattet, ohne dass ein Diadem als Abzeichen der Königswür
de zu erkennen ist.4 Dies führte dazu, dass dem Diadem, das bei einem
männlichen Porträtkopf die conditio sine qua non für die Identifizierung
eines Herrscherporträts darstellt, von der nur in seltenen, eigens begrün
deten Ausnahmefällen abgerückt werden kann, bei weiblichen Bildnissen
ungleich weniger Bedeutung beigemessen wird. So werden mitunter
auch unverschleierte Köpfe ohne jegliches den Rang dokumentierendes
1 Kyrieleis 1975; Queyrel 1990, 97 ff. 137 ff.; Smith 1993; Albersmeier 2002;
Kyrieleis 2005, 235–243.
2 Kyrieleis 1975, 78–94 Taf. 70–81; Prange 1990. s. zuletzt: Schernig 2004, 442–445.
3 Jaeggi 2008, 122–127.
4 So z. B. bei den Goldoktadrachmen Arsinoes II. und Arsinoes III.: Kyrieleis
1975, Taf. 70, 1–2. 80, 3; Stanwick 2000, Abb. 215; Walker/Higgs 2001, 83 Kat. 69.
68
Attribut als Ptolemäerin, vorzugsweise als Arsinoe II. oder Arsinoe III.
tituliert, wenn sie nur eine hinreichend individuelle Physiognomie auf
weisen.5 Diese spielt bei der Benennung der Ptolemäerinnen vielfach eine
maßgebliche Rolle,6 was insofern nachdenklich stimmt, als Ähnlichkeit
bei den Porträts der römischen Kaiserzeit, zumal bei denen der Frauen,
als kein besonders zuverlässiges Kriterium gilt. Außerdem ist damit zu
rechnen, dass besonders paradigmatische Königinnen wie Arsinoe II.
typenbildend gewirkt haben und Züge ihres Bildnisses in die Porträts
späterer Königinnen eingeflossen sind.7
Unter den physiognomischen Zügen werden gerne die weit aufge
rissenen ›Ptolemäeraugen‹ als maßgebliches Charakteristikum heraus
gestrichen, etwa im Fall der meist als Arsinoe II. angesprochenen sog.
HirschQueen8. Allerdings kann in anderen Fällen auf dieses Merkmal
ebenso gut verzichtet werden, wofür die sog. Arsinoe II. in Berlin9 mit
ihren schmalen, mandelförmigen Augen ein gutes Beispiel liefert (vgl.
Abb. 6–7). Auch die Augen des meist als Arsinoe III. angesprochenen,
bronzenen Porträtkopfes in Mantua10 treten in dem großflächigen Gesicht
keineswegs in besonderer Weise hervor. Sie sind sogar kleiner als die Au
gen der neu gefundenen Gewandstatue in Kalymnos, die im übrigen das
gleiche großflächige Gesicht mit der geläufigen Mittelscheitelfrisur und
kleinen Löckchen vor den Ohren zeigt.11 Auch die Frisur des Mantuaner
Bronzekopfes ist keineswegs so einzigartig, um als Grundlage für eine
Benennung zu dienen.12 Überdies verlangt der vollständige Verzicht auf
sämtliche königliche Insignien oder angemessenen Schmuck ebenso wie
das Fehlen des Schleiers als obligates Requisit eines offiziellen Gewandes
5 S. etwa Kyrieleis 2001, 311–316 Abb. 1–3. Das gleiche gilt für das meist als
Arsinoe III. Philopator anerkannte Bronzeporträt in Mantua, s. u. Anm. 10.
6 Exemplarisch in dieser Beziehung: Schernig 2004.
7 Bergmann s. u. Anm. 9.
8 Kyrieleis 1975, 83–85. 179 Kat. J 5; Smith 1988, 166 Kat. 53 Taf. 37 Abb. 2;
Prange 1990, 199 f. Taf. 40–41.
9 Berlin, SMB Antikensammlung Inv. 1976.11: M. Bergmann, OnlineKatalog
Berlin http://arachne.unikoeln.de/item/objekt/105691 (Stand: August 2015);
Stewart 1990, Abb. 645.
10 Mantua, Mus. Civico Inv. 961 902 79: Kyrieleis 1975, 105. 110. 182 Kat. L 3
Taf. 92–94,1; Smith 1988, 92. 165 Kat. 50 Taf. 35, 7–9; Stanwick 2002, 55
Abb. 252–253; Ghisellini 2008, 13–18, 27–31 Abb. 9–14 (mit Lit.).
11 Pothia (Kalymnos), Archäologisches Museum Inv. 3903: Daehner/Lapatin
2015, 72–75 Abb. 5.1.
12 S. Jaeggi 2008, 123 Anm. 639.
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 69
bei der Porträtstatue einer ptolemäischen Königin eine Erklärung. Hier
stellt sich die Frage, in was für einem Kontext und mit welcher Konno
tation eine derart private Darstellung einer Königin überhaupt zu denken
ist. Die unverschleierte Arsinoe III. auf den Münzen erscheint demge
genüber betont reich geschmückt und trägt stets die Stephane mitsamt
dem Diadem, letzteres sogar mit deutlich angegebenen Enden.13
Schließlich stellt sich die Frage, welcher Stellenwert der Frisur bei
der Identifizierung eines königlichen Porträtkopfes zukommt. Die Me
lonenfrisur der frühen Ptolemäerinnen von Arsinoe II. bis Arsinoe III.
ist in erster Linie eine weit verbreitete Luxusfrisur, die zwar fraglos der
vermögenden Oberschicht, aber keineswegs den Angehörigen des Herr
scherhauses vorbehalten war.14 Nichts desto weniger war diese Frisur bei
einigen Königinnen offenbar fester Bestandteil ihres offiziellen Erschei
nungsbildes, so etwa bei Berenike II., deren Münzbilder sich sogar durch
eine besonders streng gegliederte Variante dieser Haartracht auszeich
nen.15 Hier sind zumindest Zweifel erlaubt, ob es methodisch zulässig ist,
bei der Zuweisung rundplastischer Porträts diese Haartracht völlig außer
Betracht zu lassen. Dies gilt etwa für den durch seinen hervorragenden
Erhaltungszustand beeindruckenden Porträtkopf in Mariemont 16, der in
der Forschung mit größter Selbstverständlichkeit als Porträt Berenikes
II. angesprochen wird, obwohl der Kopf weder die für Berenike II. nach
Ausweis der Münzen verbindliche Melonenfrisur noch sonst irgendeine
königliche Insignie aufweist und überdies auch noch einen für ptolemä
ische Herrscherinnen ungewöhnlich breiten Mund besitzt.17
An der Wende vom 3. zum 2. Jahrhundert tritt zudem eine neuartige
Spirallockenfrisur auf, die in der Folgezeit sowohl bei Darstellungen der
Isis als auch bei Bildnissen der Ptolemäerinnen weite Verbreitung finden
13 Kyrieleis 1975, Taf. 88; Smith 1988, Taf. 75 Abb. 8; Ghisellini 2008, 14 Abb. 4.
14 Vorster 2008, 136.
15 BMC Ptolemies 1883, Taf. 13; Kyrieleis 1975, 94 f. Taf. 82; Smith 1988, Taf. 75
Abb. 6–7; Walker/Higgs 2001, 83 Kat. 70–71; 85 Kat. 80–81.
16 Mariemont, Mus. Royal de Mariemont Inv. B 264: Kyrieleis 1975, 99 f. 181
Kat. K 5 Taf. 86,4. 87; Bildhauerkunst III 2007, 390 Abb. 136.
17 Auf der goldenen Oktadrachme im Berliner Münzkabinett (Franke – Hirmer
1972, Nr. 804 Taf. 20; Kyrieleis 1975, 96 Taf. 82,4) wird die Königin zwar mit
etwas volleren Lippen wiedergegeben, was aber nicht ohne weiteres auf die
rundplastischen Porträts übertragen werden kann. Wie gravierend der Kopf
in Mariemont von dem üblichen Schönheitsideal der frühen Ptolemäerinnen
mit dem betont kleinen Mund abweicht, wird erst in der Frontalansicht ganz
deutlich.
70
sollte.18 Diese Frisur allein bietet demnach keine sicheren Anhaltspunkte
für die Benennung einer Ptolemäerin, denn nur selten ist die Haartracht
einer Ptolemäerin so einzigartig, dass sie als plausibles Argument für
die Identifizierung dienen kann, wie dies bei Kleopatra VII. der Fall
ist.19 Vielmehr müssen in der Regel weitere Kriterien erfüllt sein, um die
Bildnisse der Ptolemäerinnen von anderen Frauenköpfen göttlicher oder
auch menschlicher Natur zu unterscheiden. Ob die Frisuren aber deshalb
gleich als völlig beliebig gelten dürfen, und nicht doch eine bestimmte
Haartracht fest zum Erscheinungsbild einer Königin gehörte, wurde
bislang nicht hinreichend untersucht.
Ein allgemeines Merkmal, um ptolemäische Bildnisse auch unter
solchen Köpfen und Statuen zu erkennen, die sich heute ohne Fundortan
gabe in den Museen befinden, bieten die für alexandrinische Werkstätten
charakteristischen, technischen Besonderheiten. Alexandrinische Arbei
ten zeichnen sich nahezu ausnahmslos durch einen äußerst sparsamen
Umgang mit dem Marmor und die überaus häufige Zweitverwendung von
Werkstücken aus. Sogar bei kleinformatigen Köpfen sind meist nur die
Vorderseite oder sogar nur die Gesichtsmaske vollständig ausgearbeitet,
während Rückseite und Frisur in Stuck ergänzt waren.20 Zudem handelt es
sich nahezu ausnahmslos um Einsatzköpfe, die vormals mit einer Statue
aus einem anderen Material, am ehesten aus bemaltem und vergoldetem
Holz, verbunden waren. Diese Besonderheiten in der technischen Zu
richtung und in der Verwendung der Materialien sind, wie H. Kyrieleis
zutreffend betont, geradezu ein Markenzeichen marmorner Köpfe aus
dem ptolemäischen Ägypten, so dass zumindest die geographische
Zuordnung selbst bei Köpfen ohne Fundortangabe recht zuversichtlich
vorgenommen werden kann21. Nichts desto weniger fehlt es an einer hin
reichenden, allgemein anerkannten Systematik, um unter diesen Arbeiten
die Porträts ptolemäischer Herrscherinnen mit hinreichender Sicherheit
erkennen oder sogar benennen zu können. Eine solche kann hier nicht
geliefert werden, es sollen aber mögliche Kriterien für die Bestimmung
dieser Porträts zur Diskussion gestellt werden.
Ausgangspunkt jeglicher Zuweisung bleiben trotz der in diesem
Medium üblichen Verknappung und Stilisierung die Münzbilder 22 .
18
19
20
21
22
S. u. S. 83–84, Anm. 49–50.
Walker/Higgs 2001, 218 f. 220 f. Kat. 196 u. 198; Vorster 2013, 54. 56.
Laube 2012, 51–53 mit zahlreichen Beispielen.
Kyrieleis 2005, 237–238.
So zu Recht Kyrieleis 2005, 235. Anders Jaeggi 2008, 12 f. 127.
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ?
71
Außerdem bleibt festzuhalten, dass nicht zuletzt aufgrund der Variations
breite ptolemäischer Bildnisse, ein einzelnes Kriterium selten für eine
Benennung ausreicht. Plausibilität oder gar Sicherheit einer Benennung
sind nur dort zu erreichen, wo ein Kopf mehrere Kriterien zugleich erfüllt.
Ein Musterbeispiel hierfür bieten die Porträts Kleopatras VII., bei denen
das breite Diadem, die betont eigenwillige Frisur und die Physiognomie
der AskalonMünzen in den beiden Porträtköpfen im Vatikan und in
Berlin eine unmittelbare Entsprechung finden.23 Auch ein Charakterkopf
wie die Wiener Ptolemäerin24 kann aufgrund der Kombination von betont
unidealen Gesichtszügen mit IsisFrisur zuversichtlich als Bildnis einer
lagidischen Herrscherin eingeordnet werden, auch wenn keine Einigkeit
darüber besteht, welche der gleichnamigen Herrscherinnen des mittleren
oder späteren 2. Jhs. v. Chr. hier dargestellt ist.
Die Möglichkeiten und Grenzen, das Porträt einer Ptolemäerin zu
identifizieren, sollen im Folgenden am Beispiel eines Mädchenkopfes
aus Kyzikos in Dresden (Abb. 1–5, vgl. Taf. 1) exemplarisch vorgeführt
werden.25 Der 1892 in Konstantinopel erworbene, angeblich aus Kyzikos
stammende Mädchenkopf ist aus einem ungewöhnlich qualitätvollen,
möglicherweise parischen Marmor gefertigt. Nach Form und Zurichtung
der Büste war der Kopf zum Einlassen in eine Gewandstatue bestimmt,
die mit einer Gesamthöhe von ca. 1,50 m leicht unterlebensgroßes For
mat besaß.26 Die aufrechte Haltung des langen, schlanken Halses in
Verbindung mit der ausgeprägten Kopfwendung zur erhobenen rechten
Schulter vermitteln den Eindruck selbstbewusster Grazie. Die zugehörige
Figur könnte in Haltung und Bewegung der kleinen IsisStatuette in
Athen entsprochen haben, die mit in die Hüfte gestützter rechter Hand
23 Berlin, Antikensammlung SMB 1976.10: Stewart 1988, 169 Kat. 68 Taf. 44
4–6; Walker/Higgs 2000, 159 Kat. I I I.4; Walker/Higgs 2001, 220 f. Kat. 198
(P. Higgs, mit Lit.). Vatikan, Museo Gregoriano Profano Inv. 38 511: Walker/
Higgs 2000 157 f. Kat. III.2; Walker/Higgs 2001, 218 f. Kat. 196. Zu den beiden
Porträtköpfen zuletzt: Vorster 2013, 55–70 Abb. Taf. 1–4.
24 Wien, Kunsthistorisches Museum Inv. 406: Smith 1988, 170 Kat. 74 Taf. 48,
1–2; Walker/ Higgs 2001, 60 Kat. 26 (A. BernhardWalcher / S. Ashton);
Stanwick 2002, 117 f. Kat. D 4 Abb. 119–120; Albersmeier 2002, 377 f. Kat. 142
Taf. 34 d. 35 a–b; Jaeggi 2008, 124 f.
25 Dresden, SKD Skulpturensammlung Inv. Hm 136: Herrmann 1925, 40 Nr. 136;
Protzmann 1989, 52–55 Nr. 25; Knoll u. a. 1993, 32 f. Nr. 15 Abb. (H. Protzmann);
Stemmer 2001, 164 f. Nr. L 11 Abb. (A. WagnerSchwarz). s. demnächst: Knoll/
Vorster (im Druck), Kat. Nr. 48.
26 Gesamthöhe des Kopfes mit Büste: 31,5 cm; Gesichtslänge: 15 cm.
72
1 Mädchenkopf aus Kyzikos, Porträt der Kleopatra I., Dresden,
SKD Skulpturensammlung Inv. Hm 136 (siehe Taf. 1)
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 73
2 Mädchenkopf aus Kyzikos, Porträt der Kleopatra I., Dresden,
SKD Skulpturensammlung Inv. Hm 136
74
3 Mädchenkopf aus Kyzikos, Porträt der Kleopatra I., Dresden,
SKD Skulpturensammlung Inv. Hm 136
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4 Mädchenkopf aus Kyzikos, Porträt der Kleopatra I., Dresden,
SKD Skulpturensammlung Inv. Hm 136
76
5 Mädchenkopf aus Kyzikos, Porträt der Kleopatra I., Dresden,
SKD Skulpturensammlung Inv. Hm 136
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ?
77
im Schreiten innehält.27 Das schmale, ebenmäßige Gesicht erhält durch
die tiefliegenden Augen, die von dem hohen Nasenrücken verschattet
werden, und durch den kleinen, fein geschwungenen Mund mit der weich
vorquellenden Unterlippe seinen individuell anmutenden Ausdruck. Die
Politur der Oberfläche verleiht der zarten, die Konturen überspielenden
Modellierung des Gesichts einen besonderen Schmelz. Die über der
Stirn gescheitelten Haare rahmen in feingewellten Strähnen Stirn und
Schläfen, wobei einige kürzere Strähnen den Haaransatz umspielen.
Der Wechsel von Bohr und Meißelarbeit verleiht den Haaren ein le
bendiges Oberflächenrelief. Um den Kopf ist ein flaches Band gelegt;
ein kleines Bohrloch über dem Scheitel diente der Befestigung eines
metallenen Schmuckelementes. An den Seiten bricht die sorgfältige und
bis zur Politur vollendete Ausführung abrupt ab und geht in ungeformte
Bosse über, in die nur skizzenhaft mit dem Flachmeißel Strukturen von
Haar und Binde eingezeichnet sind (vgl. Abb. 3–5). Da auch die Ohren
in Bosse stehen geblieben sind, ist die Zurichtung nur so zu erklären,
dass die seitlichen und rückwärtigen Teile der Frisur ursprünglich in
Stuck ausgeführt waren.28 Der obere Teil des Kopfes zeigt eine nur
unzureichend geglättete Schnittfläche, die viel zu uneben ist, um der
Anstückung einer marmornen Kalotte gedient zu haben, und die im
Gegensatz zur wohlerhaltenen Oberfläche des Gesichts deutliche Spuren
von Korrosion aufweist (vgl. Abb. 2). In der Schnittfläche befindet sich
eine große quadratische Eintiefung, deren Ränder ausgebrochen sind
und die in keinem achsialen Bezug zum Kopf steht. Offenbar stammt
diese Zurichtung von einer älteren Verwendung des Werkstücks, aus
dem erst sekundär der Mädchenkopf gearbeitet wurde.29 Sowohl die
sekundäre Verwendung von meist sehr qualitätvollen Marmorblöcken,
als auch die Technik der Stuckergänzung finden bei alexandrinischen
Werken ihre nächste Parallele.
Dem ansprechenden Kopf wurde bereits unmittelbar nach seiner
Bekanntmachung Ende des 19. Jahrhunderts eine breite Aufmerksamkeit
zuteil. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang den Gang der Forschung
27 Athen, Nationalmus. Inv. 224: Ägypten – Griechenland – Rom 2005, 588
Kat. 160 (E. Kalauria).
28 So bereits treffend Strocka 1967, 133 f. Nr. 5.
29 Eine ähnlich übergroße quadratische Einlassung am Oberkopf zeigt ein
Mädchenkopf in New York, bei dem die Ohren ebenfalls nur grob angelegt
sind und die bossierte Rückseite ehemals in Stuck ausgeführt war. New York,
Acc. no. 15.146: Richter 1954, 170 Kat. 169 Taf. 120 d–f; Strocka 1967, 133 Nr. 4.
78
kurz nachzuzeichnen, denn in seltener Deutlichkeit ist hier zu verfolgen,
wie nachhaltig die bei der Erstpublikation eines Objekts verwendeten
Kategorien archäologischer Zuordnung die Wahrnehmung dieses Objekts
bestimmen. In dem Vierteljahrhundert von der ersten Bekanntmachung
des Kopfes durch Paul Herrmann im Jahr 1894 bis in die 20er Jahre
des folgenden Jahrhunderts bewegte sich die Beurteilung des Dresdner
Mädchenkopfes in den von Furtwänglers Meisterwerken geprägten,
kunsthistorischen Kategorien. Der Kopf wird als »feine, griechische
Originalarbeit der attischen Schule«30 beurteilt, je nach Geschmack als
der Richtung des Skopas folgend oder – ungleich häufiger – dem praxitelischen Einfluss unterworfen.31 Es fällt auf, dass Eigenheiten wie Augen
oder Lippenform, die in der neueren Forschung gerne als spezifisch für
ein Porträt angesehen und für eine mögliche Benennung ausgewertet
werden, in den damaligen Abhandlungen durchweg als Argumente für
die Meisterzuschreibung dienten.
Typologische und inhaltliche Fragen spielten in den Publikationen
des genannten Zeitraums eine eher untergeordnete Rolle. Man war sich
offenbar einig, dass es sich um eine jugendliche Göttin handeln müs
se, die je nach persönlicher Einschätzung als Artemis 32 oder Selene 33
tituliert wurde. Erst Margarete Bieber, die den Dresdner Mädchen
kopf, dem Trend der Forschung folgend, ebenfalls dem Umkreis der
Praxiteles-Werkstatt zuschreibt, hebt die »ausgesprochen individuellen
Züge, die an ein Porträt denken lassen«34, hervor. Diese wichtige Fest
stellung fand in der späteren Forschung jedoch keine Beachtung. Selbst
Helmut Kyrieleis folgt in seiner Arbeit zu den Ptolemäerporträts der
traditionellen Einschätzung des Dresdner Mädchenkopfes und führt
ihn lediglich als Beispiel einer Reihe ›praxitelischer‹ Köpfe an, um die
stilistische Entwicklung des frühen 3. Jhs. v. Chr. zu illustrieren.35 Die
flache Binde im Haar bleibt dabei ebenso unerwähnt, wie die technischen
30 Herrmann 1894, 28 Nr. 10 Abb. 10.
31 Klein 1898, 353–354; Reinach 1900, 391; Reinach 1903, 141; Herrmann 1925,
40 Nr. 136; Poulsen 1938, 26. Selbst Walter Amelung, der treffend die techni
schen Besonderheiten des Kopfes beschreibt und sie als typische Eigenheiten
alexandrinischer Werkstätten erkennt, ordnet das Werk dem Einflußgebiet der
praxitelischen Kunst zu. s. Amelung 1897, 141.
32 Reinach 1894, 282.
33 Amelung s. o. Anm. 31.
34 Bieber 1923/24, 262 f.
35 Kyrieleis 1975, 88 Anm. 333.
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 79
Besonderheiten, die auf eine Stuckergänzung weisen, wie sie gerade bei
Ptolemäerporträts die Regel ist.36
Heiner Protzmann und Kordelia Knoll, die den Kopf im Unter
schied zu den meisten Forschern zwischen 1945 und 1990 aus täglicher
Anschauung kannten, stellten Ende des 20. Jahrhunderts erneut den
Porträtcharakter des Kyzikener Mädchenkopfes heraus, wobei Kordelia
Knoll zutreffend bemerkt, dass »die breite Tänie dem Werk sogar Pro
minenz geben« 37 könnte. Allerdings fand auch dieser Hinweis keine
weitere Beachtung.38 Offenbar hatte sich der ›Mädchenkopf aus Kyzikos‹
während seiner mehr als hundertjährigen Bekanntheit derart fest und
unverrückbar in den Kategorien von Landschafts und Bildhauerstil als
ein alexandrinisches Werk der nachpraxitelischen Richtung etabliert,
dass auch Herausgeber und Bearbeiter des Dresdner Bestandskataloges
– unter ihnen die Autorin dieses Artikels! – ihn unbesehen dem ersten
Band des Katalogwerkes zuordneten, ohne eine Aufnahme des Kopfes
in den Porträtband der Katalogreihe 39 auch nur in Erwägung zu ziehen.
Erst bei der eingehenden Autopsie im Zusammenhang mit der an
stehenden Publikation stellte sich mit überraschender Klarheit heraus,
dass der Mädchenkopf aus Kyzikos gleich mehrere Kriterien erfüllt, die
als maßgeblich für die Identifikation des Porträts einer Ptolemäerin gelten
können. So finden, wie bereits W. Amelung vermerkte, die technischen
Besonderheiten des Kopfes bei alexandrinischen Werken und dort vor
allem bei Herrscherbildnissen ihre nächsten Parallelen.40 Als Beispiel sei
hier der bereits erwähnte, in der neueren Forschung als Arsinoe II. ange
sprochene Kopf in Berlin angeführt (Abb. 6–7)41. Wie bei dem Dresdner
Mädchenkopf sind auch hier die rückwärtigen Teile des Kopfes von den
Ohren ausgehend nur kursorisch ausgeführt und waren ursprünglich mit
36 Dabei hatte Volker Michael Strocka nur wenige Jahre vorher darauf hinge
wiesen, dass der Dresdner Kopf zu den seltenen Exemplaren von Marmorköpfen
mit aufmodellierter Stuckfrisur gehört, die nicht aus Ägypten stammen. Strocka
1967, 133 f. Nr. 5.
37 Protzmann 1989, 52–55 Nr. 25; Knoll 1993, 32 f. Nr. 15.
38 A. WagnerSchwarz, in: Stemmer 2001, 164 f. Nr. L 11 vermerkt nur die »An
sätze individueller Züge, die an ein Porträt denken lassen«, ohne die in diesem
Zusammenhang entscheidende Binde auch nur einer Erwähnung zu würdigen.
39 Knoll – Vorster 2013.
40 Amelung 1897, 141.
41 S. o. Anm. 9. Vgl. auch das aus einem kannelierten Beckenuntersatz gear
beitete Porträt Arsinoes II. (?) in Mariemont, Inv. 161: Kyrieleis 1975, 85 f. 180
Kat. J 10 Taf. 79 u. 80.
80
6 Einsatzkopf, Porträt der Arsinoe II. (?), Berlin,
SMB Antikensammlung Inv. 1976.11
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 81
7 Einsatzkopf, Porträt der Arsinoe II. (?), Berlin,
SMB Antikensammlung Inv. 1976.11
82
Stuck aufmodelliert. Im Gegensatz dazu weisen Gesicht und Dekolleté
eine feine Politur der Oberfläche auf, die der sensiblen Modellierung den
charakteristischen ›SfumatoEffekt‹ verleiht, indem sie die Transparenz
des Marmors unterstreicht.42 Darüber hinaus offenbaren die Gesichter
eine Reihe physiognomischer Übereinstimmungen: sie sind gleicherma
ßen schmal proportioniert mit einer hohen, dreieckig begrenzten Stirn
und einem lang gezogenen Untergesicht. Der hohe, ohne Einziehung
in die Stirn einbindende Nasenrücken verschattet die Innenwinkel der
Augen. Der kleine, dicht unter der Nase sitzende Mund mutet individuell
an und besticht durch den zierlichen Schwung der in der Mitte ein wenig
eingezogenen Oberlippe. Diese Form des Mundes in Verbindung mit dem
auffallend kurzen Philtrum wird in der Forschung mitunter als Merkmal
von Porträts Arsinoes II. gewertet. Auch wenn angesichts der gravieren
den Abweichungen zwischen den angeblichen Bildnissen dieser Köni
gin nicht alle entsprechenden Benennungen zu überzeugen vermögen,
scheint es sich hierbei um eine für die Porträts früher Ptolemäerinnen
charakteristische physiognomische Eigenheit zu handeln.43 Die flachen,
kaum konturierten Brauen und der auffallend lange Hals verstärken die
individuelle Wirkung des Dresdner Kopfes (vgl. Abb. 1) und verleihen
ihm überdies eine mädchenhaft anmutende Note.
Angesichts der Tatsache, dass der Dresdner Kopf (vgl. Abb. 1–5)
sowohl die technischen Eigenheiten alexandrinischer Werke, als auch
unverkennbare physiognomische Übereinstimmungen mit Porträts von
Ptolemäerinnen aufweist, erstaunt es, dass das rundum deutlich ange
gebene, flache Band im Haar bislang keine weitere Beachtung gefunden
hat. Dabei entspricht dieses Band in Form und Tragweise durchaus
dem königlichen Diadem und berechtigt zu der Frage, ob sich bei dem
›Mädchenkopf aus Kyzikos‹ nicht um das Porträt einer hellenistischen,
genauer einer ptolemäischen Herrscherin handeln könnte.44
42 Der Begriff wurde von W. Amelung 1897 in seinem wegweisenden Aufsatz
zur alexandrinischen Kunst geprägt und auch damals bereits mit dem Dresdner
Kopf in Verbindung gebracht: Amelung 1897, 141.
43 M. Bergmann, OnlineKatalog Berlin s. o. Anm. 9.
44 Zum Diadem der Ptolemäerinnen s. La Rocca 1984, 23–29. Bei der Gabelung
des Diadems auf der linken Seite des Dresdner Kopfes könnte es sich um eine
Korrektur handeln, die im Endzustand durch die Stuckfrisur verdeckt wurde.
Entscheidend für die Bewertung als Diadem ist die Breite des flach anliegen
den Bandes sowie die Tatsache, dass es rundum läuft, ohne irgendwo von den
Haaren verdeckt zu werden.
V O R S T E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 83
Maßgebliche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Frisur
zu. Die über der Mitte der Stirn gescheitelten Haare sind in fein gewellten
Strähnen zur Seite geführt und gehen vor den Ohren abrupt in Bosse
über, nur das Diadem wird rundum klar angegeben (vgl. Abb. 3–5). Auf
fallende Furchen in dem nur grob angelegten Haar auf dem Ober und
Hinterkopf, die sich auf der rechten Seite auch unterhalb des Haarbandes
fortsetzen (vgl. Abb. 3), zeigen, dass hier ehemals Spirallocken in Stuck
aufmodelliert waren. Eine derartige Frisur kennen wir von einer ganzen
Reihe von Köpfen, die teils als Isis, teils als ›Ptolemäerin‹ angesprochen
werden, wie etwa die kleinformatigen Köpfe in Baltimore 45 oder in Stutt
gart 46. Eines der bekanntesten Exemplare ist die sog. Isis-Berenike aus
Tell Timai in Kairo47, bei der allerdings statt des flachen Diadems ein
halbrunder Reif das Haar umschließt, das in einer doppelten Reihe von
Spirallocken angeordnet ist. Alle drei Köpfe zeigen schulterlange, die
Ohren vollständig verdeckende Korkenzieherlocken in Verbindung mit
glatt zur Seite gekämmten Stirn und Schläfenhaaren. Ebenso wie beim
Dresdner Kopf befindet sich jeweils ein Stiftloch am Kreuzungspunkt
zwischen Scheitel und Diadem, das der Befestigung eines metallenen At
tributs, wohl des für IsisHathor üblichen Kuhgehörns mit Sonnenschei
be, diente. Alle Köpfe sind ähnlich schmal proportioniert und besitzen
durch die Kombination der hohen Stirn mit der langen, ohne Einziehung
an der Nasenwurzel gerade durchlaufenden Nase und dem kleinen Mund
mit dem auffallend kurzen Philtrum sogar ähnliche Gesichtszüge. Ob
diese aber im Sinne einer individuellen Physiognomie zu interpretieren
sind oder nicht doch – möglicherweise unter dem typusbildenden Einfluss
der königlichen Porträts – zu einem allgemeinen, vielfältig verwendbaren
›Zeitgesicht‹ geworden waren, ist derzeit nicht abschließend geklärt. Der
Kopf aus Tell Timai wird in der neueren Literatur sowohl als Isis als auch
als Porträt Berenikes II. angesprochen.48
Die schulterlangen, mitunter mehrere Stufen bildenden Spirallocken
sind eine typische Frisur des hellenistischen Ägypten.49 Die Kombination
45 Baltimore, Walters Art Museum Inv. 23.6: Albersmeier 2005, 254 f. Abb. 1–2.
46 Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum, Inv. I.5: Laube 2012, 239–241
Kat. 121.
47 Kairo, Ägyptisches Mus. Inv. JE 3917: Lembke 2000, 122 f. Abb. 11–14. 133.
141; Walker/Higgs 2001, 49 Nr. 11 (S. Ashton); Queyrel 2003, 479. 488 Nr. 5
Abb. 9–10 (mit ält. Lit.).
48 Isis: Lembke 2000. Berenike II: Walker/Higgs 2000; Queyrel 2003.
49 S. die umfassende Darstellung bei Albersmeier 2002, 67–75.
84
8 Bronzemünze Ptolemaios VI., London, British Museum Inv. CM 1926116951
dieser Spirallockenfrisur mit in der Mitte gescheitelten, fein gewellten
Stirnhaaren lässt sich allerdings erst seit frühen 2. Jh. v. Chr. nachwei
sen.50 Die frühesten Belege bieten unter Ptolemaios V. Epiphanes oder
Ptolemaios VI. Philometor auf Zypern geprägte Bronzemünzen, die einen
weiblichen Kopf mit entsprechender Spirallockenfrisur und einer Ähre
im Haar zeigen (Abb. 8)51. Ob derartige Münzen bereits zu Lebzeiten
Ptolemaios V. geprägt wurden oder erst unter der Regentschaft seiner
Gattin, Kleopatras I., die nach dem frühen Ableben ihres Gatten für
einige Jahre allein die Regierung für ihren kleinen Sohn führte, ist nicht
abschließend geklärt.52 Außer Frage steht jedoch, dass in diesen Jahren, in
denen erstmalig in der Geschichte des hellenistischen Ägyptens eine Frau
die faktische Alleinherrschaft und damit auch das Münzrecht innehatte,
ein neues Bild der Isis oder der Königin in Gestalt der Isis geprägt wurde.53
50 Laube 2012, 239; Albersmeier 2002, 70–75; Albersmeier 2005, 254. Albersmeier
2002, 72 Anm. 432 weist überzeugend auf die grundlegenden Unterschiede ge
genüber der Frisur der Libya auf den Münzen von Kyrene hin, deren Locken
nach hinten zu regelmäßig länger und dichter werden und die auch über der
Stirn kurze Korkenzieherlocken zeigt. s. hierzu auch Pincock 2011, 56.
51 BMC Ptolemies 1883, 78 f. 89, 11 Taf. 18, 5–9. Taf. 21,3; Svoronos III 1904,
Taf. 40, 7–15; La Rocca 1984, 35–36; Walker/Higgs 2000, 93. 95 Kat. I. 114; Walker/
Higgs 2001, 86 Kat. 88; Albersmeier 2002, 72.
52 Huß 2001, 537–540. Zur Datierung der Münzen s. Pincock 2010, 57–59.
53 Albersmeier 2004, 428–429; Pincock 2011, 62.
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Damit ist allerdings noch nicht geklärt, ob es sich bei dem Kopf mit
der modifizierten Spirallockenfrisur und dem Ährenkranz im Haar um
eine neues Bild der segenspendenden Göttin Isis oder um ein Bildnis
Kleopatras I. als Isis handelt. Für letztere Annahme könnte die Umschrift
ΒΑΣΙΛΙΣΣΗΣ ΚΛΕΟΠΑΤΡΑΣ auf dem Avers einiger Münzen spre
chen.54 Allerdings trägt der Frauenkopf auf den Münzen kein erkennbares
Diadem und die gleiche Umschrift erscheint auch auf Münzen mit Dar
stellungen des Ammon oder der Alexandria, weshalb sie nicht zwingend
auf den Kopf mit Spirallockenfrisur zu beziehen ist.55
Ein Diadem in Verbindung mit dem Basileion der IsisHathor tragen
demgegenüber die entsprechenden Frauenköpfe auf den Siegeln von Edfu56
und Paphos57. Auch hier ist die Identifikation der dargestellten Frau in
der Forschung nicht unumstritten.58 Außer Frage steht jedoch, dass die
Kleopatra I. auf den Doppelporträts mit Ptolemaios V. Epiphanes und
Ptolemaios VI. Philometor. nicht nur mit der betreffenden Spirallocken
frisur, sondern auch mit den Attributen der IsisHathor dargestellt wird.59
Eine weitere Bestätigung für die Annahme, dass die neue Spirallo
ckenfrisur nicht nur bei Bildern der Isis, sondern auch bei Bildnissen
Kleopatras I. Verwendung fand, liefern die Ptolemäerkannen. Bereits
Dorothy Burr Thompson schlug für die dargestellte Königin mit der neu
artigen Spirallockenfrisur auf einem Kannenfragment in Oxford (Abb. 9)
54 BMC Ptolemies 78, 1 Taf. 18,7; Pincock 2010, 53–59 Abb. 1.
55 Albersmeier 2002, 73; Albersmeier 2004, 429; Pincock 2010, 58 Anm. 22.
56 Plantzos 1996, 310–312 Taf. 51 Abb. 17; Plantzos 2011, 396 f. 408 Abb. 1
57 Kyrieleis 2015, 126–128 Taf. 72–73.
58 Plantzos 2011 spricht den Münz und Siegelbildern jegliche Porträtintention
ab, und läßt diese nur für die Siegel mit Doppelporträts gelten. Allerdings er
scheint Kleopatra I. auf einigen Siegeln mit Doppelporträts mit den Attributen
der Isis. s. hierzu Boussac 1989, 327–332. Kyrieleis 2015, 46 hält die Unterschei
dung von Isisköpfen und Porträts ptolemäischer Königinnen zwar für schwierig,
geht aber davon aus, dass zumindest auf einem Teil der Siegel das Porträt der
Königin wiedergegeben ist.
59 Von maßgeblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Siegel mit
dem Doppelporträt Kleopatras I. und Ptolemaios VI. Athen, Benaki Mus. MN
2443: Boussac 1989, 326–332 Abb. 3; Plantzos 2011, 400. 411 Abb. 9 auf dem
Kleopatra I. im Vordergrund mit Spirallockenfrisur, Geierhaube, Hathorkrone
und Ammonshörnern ausgestattet ist, während Ptolemaios VI. im Hintergrund
die Doppelkrone Ober und Unterägyptens trägt. Auf einem Siegel aus dem
Fund von Edfu trägt die Königin dagegen die Spirallockenfrisur ohne weitere
göttliche Attribute: Plantzos 2011, 399. 411 Abb. 8.
86
9 Fragment einer Ptolemäerkanne, Oxford,
Ashmolean Museum Inv. 1909.347
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eine Benennung als Kleopatra I. vor 60 und identifiziert dementsprechend
auch drei weitere FayenceMedaillons aufgrund der engen Übereinstim
mung mit den Münzen und Siegeln als Bildnisse dieser Königin.61 Hierin
folgt ihr Sabine Albersmeier 62 und stellt ausgehend von den Münzen,
den Siegeln und den Darstellungen auf den Ptolemäerkannen zwei
rundplastische Köpfe in New York63 und in Alexandria64 als mögliche
Porträts Kleopatra I. zur Diskussion. Maßgeblich für die Benennung sind
in beiden Fällen abgesehen von der Frisur mit den seitwärts gekämmten
Stirnhaaren und den schulterlangen Spirallocken die physiognomischen
Eigenheiten, vor allem der langgezogene Gesichtsumriß mit dem kleinen
Mund und dem schweren Kinn, die bei sicheren Porträts Ptolemaios VI.
eine Entsprechung finden.
Nicht weniger markant ist die neu kreierte Frisur auf einem Sardonyx
im British Museum abgebildet (Abb. 10)65. Auch hier gibt das Diadem die
Dargestellte als Königin zu erkennen, wobei die Übereinstimmungen mit
den Münzbildern eine Datierung in das frühe 2. Jh. v. Chr. und damit eine
Benennung als Kleopatra I. nahelegen. Es könnte sich aber gleichwohl
auch um eine der späteren gleichnamigen Ptolemäerinnen handeln.
Auch wenn nicht alle Forscher der Annahme zustimmen, dass es
sich bei den Münzbildern um ein Porträt der Königin handelt, so ist
es gleichwohl signifikant, dass diese gräzisierte Form der Isis-Frisur,
60 Oxford, Ashmolean Museum Inv. 1909.347: Burr Thompson 1973, 166
Kat. 123 Taf. 43–44; Plantzos 2011, 400 f. Abb. 6.
61 Burr Thompson 1973, 200 f. Kat. 274–276 Taf. 65.
62 Albersmeier 2002, 73; Albersmeier 2004, 428.
63 New York, Brooklyn Mus. of Art Inv. 71.12: Walker/Higgs 2001, 164 Kat. 163
(S. A. Ashton); Stanwick 2002, 124 f. Kat. E 13 (Kleopatra VII.); Albersmeier
2002, 202 f. 301 f. Kat. 38 Taf. 30 c–d.
64 Alexandria, Griechisch-Römisches Mus. Inv. 28107: Kyrieleis 1975, 119. 184
Kat. M 9 Taf. 103,3 (Ptolemäerin, 1. Jh. v. Chr.); Stanwick 2002, 115 Kat. C 19
(Kleopatra II.?); Walker/Higgs 2001, 53 Kat. 17 (S. A. Ashton, Kleopatra I. oder
II.); Albersmeier 2002, 203 f. 289 f. Kat. 18 Taf. 31 b (Kleopatra I.). Die Statue
New York, Metropolitan Mus. Inv. 89.2.660 mit der KleopatraKartusche auf
dem rechten Oberarm sollte aus der Diskussion ausscheiden, da die Echtheit der
Kartusche angezweifelt wird: Walker/Higgs 2001, 150–152. 154. 165 Kat. Nr. 164
(dort als Kleopatra VII. angesprochen, S. Ashton); Albersmeier 2002, 205. 349 f.
Kat. 105 Taf. 2b. 31a. Stanwick 2002, 125 Kat. E 14 Abb. 173 (hält Kartusche für
möglicherweise modern); Pantzos 2011, 394 Abb. 17.
65 London, British Museum G R 1877.8–25.1 (Gem 1196): Walters 1926,
Nr. 1196; Walker/Higgs 2000, 83 Kat. I. 81; Walker/Higgs 2001, 66 Kat. 42.
88
10 Sardonyx mit Porträt der Kleopatra I. (?), London,
British Museum GR 1877.8–25.1 (Gem 1196)
bei der die Stirnhaare eben nicht in Spirallocken in die Stirn hängen,
sondern in traditioneller Weise zur Seite geführt sind, erst unter der
Regentschaft Kleopatras I. (194–174 v. Chr.) aufkommt – möglicherweise
sogar erst in der Zeit ihrer faktischen Alleinherrschaft – und dass sowohl
die Göttin Isis, als auch die Königin selbst in dieser Weise dargestellt
werden konnten. Ob auf den Bronzemünzen die Göttin mit den Zügen
der Königin oder die Königin sub specie deae dargestellt ist, lässt sich
nicht eindeutig entscheiden. Diese Doppeldeutigkeit war möglicherweise
sogar intendiert.66
Vor diesem Hintergrund gewinnt der Dresdner ›Mädchenkopf aus
Kyzikos‹ (vgl. Abb. 1–5), der sowohl die charakteristische Spirallockenfrisur
66 Zur IsisAngleichung der Ptolemäerinnen s. Stanwick 2002, 74–76;
Albersmeier 2004, 421–432; Albersmeier 2005, 253–255; Pincock 2011, 59–60.
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als auch das flache Diadem trägt, eine neue Relevanz. Dabei fällt auf, dass
sich auch die physiognomischen Eigenheiten mit den auffallend langge
zogenen Untergesicht und dem kleinen Mund unter dem kurzen Philtrum
gut mit Köpfen vereinbaren lassen, für die eine Benennung als Kleopatra
I. vorgeschlagen wurden.67 Bleibt zu prüfen, ob auch das stilistische Er
scheinungsbild des Kopfes mit einer solchen Benennung zu vereinbaren
ist. Der Kopf erweist sich durch die feine, sensible Bildhauerarbeit, die
in den zart anschwellenden Nasenflügeln ebenso hervortritt wie in den
plastisch gerundeten Haarsträhnen, unzweifelhaft als hellenistische
Arbeit. Das klare Achsengerüst und die ruhige, verhaltene Formgebung
des Gesichts führten in der älteren Literatur zu einer nahezu einhelligen
Zuordnung zur frühhellenistischen Kunst.68 Eine derart frühe Datierung
erscheint angesichts der Besonderheiten der Frisur jedoch ausgeschlos
sen. Auch im Vergleich mit der sog. Arsinoe II. in Berlin (vgl. Abb. 6–7)
wird man den Dresdner Kopf mit seinen glatten, spannungslosen Wan
genflächen eher später als diese datieren.69 Ungleich näher steht dem
Dresdner Kopf die sog. BerenikeIsis aus Tell Timai in Kairo70. Auch
der DionysosKopf aus demselben Fund zeigt sowohl in der Haltung wie
in der Formgebung der Haare übereinstimmende Stileigenheiten.71 Die
Köpfe aus Tell Timai sind zwar keineswegs sicher datiert, werden aber
von der Mehrzahl der Forscher mit überzeugenden Argumenten dem
Zeitraum vom ausgehenden 3. bis zum frühen 2. Jh. v. Chr. zugewiesen.72
In diesem Umfeld hat auch der Dresdner Porträtkopf seinen Platz, zumal
die ruhigen Formen und der Verzicht auf jegliches Pathos eine wesentlich
spätere Entstehung ausschließen.73 Das stilistische Erscheinungsbild ist
somit durchaus mit einer Benennung des Dresdner Mädchenkopfes als
Porträt Kleopatras I. zu vereinbaren.
67 Kopf in Alexandria und New York, s. o. Anm. 63 u. 64.
68 Reinach 1903, 141; Marshall 1909, 80–81; Bieber 1923/24, 262–263; Kyrieleis
1975, 88; Stemmer 2011, 164 f. Nr. L 11.
69 S. o. Anm. 9.
70 S. o. Anm. 47.
71 Kairo, Ägyptisches Mus. Inv. JE 39518: Lembke 2000, 128 f. Abb. 22–25;
Queyrel 2003, 482. 490 Kat. 10. 495 Abb. 19–20.
72 Lembke 2000, 134–136; Walker/Higgs 2001, 73 zu Kat. I 61 (S. Ashton);
Queyrel 2003, 482–485.
73 Man vergleiche etwa die fraglos jüngere, gleichwohl aber sicher noch im
2. Jh. v. Chr. entstandene sog. LouvreKleopatra, s. o. Anm. 24.
90
In Anlehnung an die oben genannten Münzbilder 74 wurde jüngst
auch für einen Frauenkopf in Kopenhagen (Abb. 11–12) eine Benennung
als Kleopatra I. vorgeschlagen.75 Dieser Kopf zeigt nun nicht nur diesel
ben technischen Eigenheiten des abozzierten, für eine Stuckergänzung
zugerichteten Hinterkopfes, sondern auch die gleiche Kombination von
in feinen Wellen zur Seite gekämmten Stirnhaaren und senkrecht von der
Kalotte herabfallenden Spirallocken wie sie für die Dresdner Kleopatra
rekonstruiert werden konnte. Allerdings waren bei dem Kopenhagener Kopf
die Haare im Nacken möglicherweise zu einem Knoten hochgebunden.
Beide Köpfe zeigen über Stirn und Schläfen die kurzen, den Haaransatz
umspielenden Haarsträhnchen, die bei dem Kopenhagener Kopf sogar
noch lebhafter bewegt sind. Zudem stimmen die Breite und der Verlauf
des Diadems überein, und das Bohrloch zur Befestigung eines metallenen
Attributs befindet sich bei beiden Köpfen an derselben Stelle. Zudem sind
die physiognomischen Übereinstimmungen mit der Dresdner Kleopatra
als signifikant zu bewerten, auch wenn der Kopf in Kopenhagen in der
lebhaften Kopfwendung und dem schwellenderen Inkarnat der Wangen
ein stärkeres Pathos zeigt. Die Proportionen mit dem langen Untergesicht,
den großflächigen Wangen und dem schweren Kinn stimmen grundsätzlich
überein. In beiden Fällen ist das Philtrum eher kurz, auch wenn die Mund
partie bei dem Kopenhagener Kopf durch Beschädigungen beeinträchtig
ist, und die schmalen Augen liegen tief unter den flachen Brauenbögen.
Prägend für das Erscheinungsbild der beiden Einsatzköpfe ist neben der
individuellen Frisur schließlich auch der auffallend lange Hals, der mögli
cherweise die Mädchenhaftigkeit der sehr jungen Königin betonen sollte.
Über den Fundort des Kopenhagener Porträtkopfes gibt das sonst so
informative Inventar der Ny Carlsberg Glyptotek keinerlei Aufschluss:
Das Stück wurde erst 1994 in den Depots entdeckt.76 Demgegenüber
erstaunt angesichts der hier vorgeschlagenen Benennung des Dresdner
Kopfes als Kleopatra I. dessen Herkunft aus Kyzikos. Auch wenn die
Angaben eines Antikenhändlers im Konstantinopel des ausgehenden
19. Jahrhunderts nicht überbewertet werden dürfen und die technischen
Eigenheiten des Kopfes für eine Fertigung im alexandrinischen Ägyp
ten sprechen, ist diese Provenienz zunächst einmal ernst zu nehmen.77
74 S. o. Anm. 51.
75 Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek Inv. 3698: Nielsen/Øestergaard 1997,
58 f. Kat. 26; Nielsen 1995; Schmid 2001, 96 Anm. 16 (PtolemäerinnenPorträt).
76 Nielsen – Øestergaard 1997, 58 f.
77 Bis heute wurden nur sehr wenige Köpfe mit vergleichbaren technischen
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 91
Abgesehen davon wissen wir, dass an verschiedenen Orten außerhalb
Ägyptens Bildnisse ptolemäischer Herrscher in Städten und Heiligtü
mern aufgestellt waren.78 In der zum seleukidischen Herrschaftsgebiet
gehörenden Schwarzmeerstadt Kyzikos wäre ein Standbild Kleopatras
I. sogar durchaus plausibel, war sie doch eine Tochter Antiochos III.,
die von den Alexandrinern als ›Syra‹ betitelt wurde.79 Dass es dieser
syrischen Königin überdies gelang, nach dem frühen Tod ihres Gatten
im Jahr 180 v. Chr. den ägyptischsyrischen Krieg zu beenden, könnte
einen hinreichenden Anlass für die Aufstellung einer Statue innerhalb
des syrischen Herrschaftsgebiets geboten haben.
Als Ergebnis dieser exemplarischen Betrachtung bleibt festzuhalten,
dass sich auf der Grundlage klar definierter Kriterien durchaus neue, be
gründete Benennungsvorschläge für Porträts ptolemäischer Königinnen
vornehmen lassen. Der Dresdner ›Mädchenkopf‹ erfüllt zusammen mit
dem typologisch eng verwandten Kopf in Kopenhagen in Hinblick auf
Machart, Physiognomie, Attribut und Frisur eine bemerkenswert große
Zahl dieser Kriterien, so dass beide Köpfe nicht nur plausibel als ptole
mäische Porträts eingeordnet, sondern auch zuversichtlich als Porträts
Kleopatras I. benannt werden können. Die Eingrenzung auf die erste
Herrscherin dieses Namens ergibt sich zum einen aus der eigenwilligen
SpirallockenFrisur, die in dieser Form vor der Regierungszeit Kleopatras
I. nicht nachgewiesen werden konnte, zum anderen aus dem stilistischen
Erscheinungsbild, das zumindest für den Dresdner Kopf eine wesentlich
spätere Entstehung und damit die Zuweisung an eine der Nachfolgerin
nen ausschließt.
Angesichts dieser potentiellen Bildnisse Kleopatras I. in Dresden und
Kopenhagen ist die Verlockung groß, weitere Köpfe auf den Prüfstand zu
stellen. So besitzt zum Beispiel ein hellenistischer ›IsisKopf‹ in Venedig
nicht nur dieselbe charakteristische Frisur mit den seitlichen Spirallo
cken und dem in der Mitte gescheitelten Stirnhaar, sondern darüber
hinaus auch ein deutlich erkennbares Diadem.80 Das Gesicht hat durch
Besonderheiten außerhalb Ägyptens gefunden. So bereits Amelung 1897, 141.
Das Bild hat sich seitdem nicht wesentlich geändert.
78 Kyrieleis 2005, 235. s. auch die Tabelle zu den Fundorten außerhalb Ägyp
tens: Albersmeier 2002, Tabelle 4.
79 DNP 6 (1999) 587 s. v. Kleopatra (W. Ameling).
80 Venedig, Mus. Arch. Inv. 116B: Traversari 1986, 30–32 Kat. 6; La Rocca 1984,
25 Abb. 17. Der Kopf wurde von Traversari bereits mit dem IsisKöpfchen von
Tel Timai verglichen und als ein Werk des früheren 2. Jhs. v. Chr. eingeordnet.
92
11 Einsatzkopf, Porträt der Kleopatra I., Kopenhagen,
Ny Carlsberg Glyptotek Inv. 3698
V O R ST E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 93
12 Einsatzkopf, Porträt der Kleopatra I., Kopenhagen,
Ny Carlsberg Glyptotek Inv. 3698
94
mechanische Reinigung der Oberfläche und vor allem durch die Ergän
zung einer merkwürdig stumpfen Nase viel von seinem ursprünglichen
Reiz eingebüßt. Die mandelförmigen Augen mit dem hochgezogenen
Unterlid und der kleine Mund stimmen aber mit den KleopatraPorträts
in Dresden und Kopenhagen hinlänglich überein, denen der veneziani
sche Kopf übrigens auch im Format entspricht.81 Die Frage, ob auch die
venezianische ›Isis‹ als ein Porträt der Kleopatra zu verbuchen ist und
falls ja, welcher der Königinnen dieses Namens, soll hier nicht weiter
verfolgt werden. Außer Frage steht aber, dass eine entsprechende Sichtung
des Materials unseren Kenntnisstand zum Porträt der Ptolemäerinnen
durchaus erweitern könnte.
BILDREC HTE
1–5, Taf. 1 Foto SKD Dresden, H. P. Klut.
6–7 Foto http://arachne.unikoeln.de/item/objekt/105691.
8, 10 Foto British Museum.
9 Thompson 1973, Taf. D Abb. 123.
11–12 Foto Ny Carlsberg Glyptotek.
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Berührung. Ausstellungskatalog Städelsches Kunstinstitut und Städtische
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81 Allerdings zeigen diese eher kurze Spirallocken über der Stirn wie die
durch das Diadem als Ptolemäerin ausgewiesene Kleopatra II. oder III. auf
der LykomedesGemme oder das Porträt Kleopatras II. oder I I I. in Berlin;
Gemme des Lykomedes, Boston, MfA Acc. No. 27.711: Kyrieleis 1975, 117 f.
Taf. 100,2; Plantzos 1996, 398. 410 Abb. 51; Marmornes Porträt Kleopatra II.
(?), Berlin, SMB Antikensammlung Inv. 331: Kyrieleis 1975, 120. 128. 133 f. 185
Kat. M 13 Taf. 105, 1–2; Onlinekatalog Berlin http://arachne.unikoeln.de/item/
objekt/2276 (Stand: Juli 2016, R. v. d. Hoff ).
V O R S T E R : W O R A N E R K E NNT M A N E I N E P TO L E M Ä E R I N ? 95
Rom. Austausch und Verständnis. Symposion des Liebieghauses, Frankfurt
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FRANÇ OIS QUEYR EL
MITHRIDATE VI À DÉLOS :
CHARISME DE L’IMAGE ?
1
I. C HARIS ME ET MO N NAIES
Les portraits monétaires de Mithridate constituent la base de l’étude
de ses représentations plastiques depuis l’étude classique de Gerhard
Kleiner 2 et le corpus monétaire est bien connu depuis la publication de
François de Callataÿ3. On doit donc partir des monnaies pour apprécier le
pouvoir charismatique du portrait, mais en renversant les perpectives des
spécialistes d’iconographie princière sans insister d’emblée sur l’existence
de types iconographiques distincts.
F. de Callataÿ a mis en lumière les rapports entre frappes monétaires
de Mithridate et effort de guerre 4 : contrairement à ce qui est parfois
présenté de manière simplificatrice, les frappes monétaires ne coïn
cident pas toujours exactement avec la durée de la guerre, mais peuvent
1 Je suis heureux d’offrir à Dietrich Boschung cette étude issue de ma collabora
tion au programme de recherche intitulé « Macht und Herrschaft » qu’il a dirigé
pendant mon séjour à Cologne au collège international Morphomata. J’ai tiré
le plus grand profit des remarques et suggestions de François de Callataÿ ainsi
que d’observations d’Anca Dan, de Lorenz Baumer et de Richard Veymiers.
Un séjour à Délos en juillet 2013 m’a permis de vérifier au musée et sur le site
certaines interprétations en bénéficiant des meilleures conditions de travail,
grâce à l’Éphorie des Cyclades et à l’École française d’Athènes, avec le concours
de Frédéric Herbin et l’assistance de Caroline Le Lay et de Timothy Pönitz,
dans le cadre du programme de recherche francoallemand EIKON sur la vie
des portraits grecs.
2 Kleiner 1953.
3 Callataÿ 1997.
4 Callataÿ 2000, 355–359.
100
précéder de plusieurs mois son déclenchement si elle est préparée de
longue date. C’est le cas pour les années 75 et 74, avant la troisième
guerre mithridatique, qui était préméditée ; en revanche, c’est très peu
de temps avant le début de la première guerre mithridatique (89–85) que
le roi du Pont, pris de court, a émis beaucoup de numéraire. Un second
point est mis en évidence par F. de Callataÿ : ces monnaies ont servi à
payer des mercenaires étrangers. Une conséquence paraît au premier
abord en découler pour la signification du portrait royal figuré au droit :
il délivre un message de mobilisation destiné à garantir la loyauté de
mercenaires étrangers et, pour ce faire, le portrait doit être reconnu ;
fautil supposer que cette adhésion se porte audelà de l’image, jusqu’à
la personne représentée ?
Sur ses monnaies, Mithridate, avec ses longs cheveux, se présentait-il
en nouvel Alexandre ? Cette image apparaît en fait au terme d’une évo
lution du portrait princier qui se dessine à la basse époque hellénistique
chez les Séleucides. L’usurpateur du trône séleucide Diodotos Tryphon
(142–138) avait laissé pousser ses cheveux à la manière de l’Alexandre 5 des
monnaies de Lysimaque 6 et on voit se multiplier les portraits monétaires
chevelus dans la seconde moitié et la première moitié du Ier siècle av. J.C.,
à partir d’Antiochos VIII (128, 125–96).7 Mithridate VI s’inscrit sans rup
ture dans ce mouvement en l’accentuant : ses cheveux sont plus longs et
ruissellent sur la nuque. Le portrait « de style réaliste », qui apparaît sur
des tétradrachmes de 106 à 988, caractérise ensuite un premier groupe de
tétradrachmes datés dont la frappe commence en 96/5, avec les boucles
qui tombent sur les épaules, alors que, dans un second groupe, elles s’en
volent vers l’arrière, dégageant un visage aux traits idéalisés9 : ce style
« idéalisé », les cheveux au vent, qui fait son apparition sur les statères
en octobre 89 au plus tôt, n’apparaît pas avant le mois de juillet 85 sur
les tétradrachmes10. Un tel portrait rompt avec les images aux cheveux
courts des prédécesseurs de Mithridate VI, comme son père Mithridate
V (vers 150–120).11 Cette image, qui n’est pas attestée à la haute époque
hellénistique pour Alexandre, développe des potentialités de son portrait.
5 Smith 1988, 121, pl. 76, 17.
6 Ibid., pl. 74, 5.
7 Ibid., pl. 76, 20 ; 77, 1–6.
8 Voir la démonstration de Callataÿ 1996, 35.
9 Smith 1988, 122, pl. 77, 13–14 ; Callataÿ 1996, 33, pl. XV A–B.
10 Callataÿ 1997, 43–44, pl. VII.
11 Smith 1988, 122, note 36, pl. 77, 12.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 101
Le portrait monétaire de Mithridate VI combine la liberté des mèches
folles d’Alexandre avec les longs cheveux qui caractérisent Dionysos, en
particulier dans le type de Dionysos« Ariane »12 : l’image invente un
Alexandre-Dionysos qui réincarne le modèle divin d’Alexandre en la
personne du roi du Pont.
Cette image, devenue familière à la fin de l’époque hellénistique à
force d’être représentée et répandue, véhiculait la légende du conquérant
de l’Asie. Pour les mercenaires, elle était synonyme de succès et de ri
chesses, à cause du souvenir de la geste du Macédonien. Le roi au large
diadème était donc par définition doté d’une qualité essentielle pour
susciter l’adhésion : il réincarnait Alexandre, qui avait mis ses pas dans
ceux de Dionysos13 ; l’imitatio Alexandri de Mithridate se constate aussi
bien dans l’iconographie que dans l’historiographie.14 Cette adhésion
était le fait d’étrangers au royaume qui reconnaissaient ainsi une image
portebonheur. Mais elle était aussi de nature rationnelle : le roi du Pont
prétendait descendre par sa mère d’Alexandre et des Séleucides et, par son
père, des Achéménides15 ; dans ce faisceau d’ancêtres Alexandre est choisi
parce qu’il parle aux Grecs de manière directe et immédiate et peut-être
parce qu’il avait voulu unir traditions royales macédoniennes et perses.
La revendication de l’image d’Alexandre s’inscrit aussi dans la lignée :
le portrait monétaire d’Ariarathe IX, placé par son père Mithridate VI
sur le trône de Cappadoce (101/0–87), a reproduit les caractéristiques de
l’image paternelle ; il en va de même pour son autre fils, Pharnace II, roi
du Bosphore (63–47).
Comment expliquer cette perpétuation d’une même image dans des
contextes différents ? Nous pouvons recourir aux catégories idéelles
forgées par Max Weber à partir du mot grec charisma et appliquées par
HansJoachim Gehrke à l’analyse de la royauté hellénistique 16 : l’adhé
sion charismatique et légale est immédiatement compréhensible pour
Ariarathe IX qui doit son royaume à son père, mais pour Pharnace II,
elle paraît contredite par des facteurs politiques : il a conspiré contre son
12 Gasparri 1986, 445, note 204 a, pl. 322. Sur les cheveux de Dionysos, voir en
général Cain 1997.
13 Goukowsky 1981.
14 Voir Muccioli 2013, 329–332, sur cette épithète de Dionysos.
15 Appien, Mithridate, CXII ; voir Gross 1954, 106–107 ; Goukowsky 2001, 247
note 1048.
16 Voir Gehrke 1982. Ce concept est aussi utilisé pour analyser l’image d’Alexandre :
Demandt 2013.
102
père, qui a été acculé au suicide. Il faut en réalité comprendre l’adhésion
non pas comme liée à la personne du roi, mais comme le résultat d’un
mouvement politique destiné à susciter une réaction de la part des des
tinataires : rien de plus rassurant que la stabilité, synonyme de sécurité
pour qui utilise une monnaie. L’utilisateur, le mercenaire au premier chef,
est en fait attaché à la monnaie, à sa valeur « faciale » pourraiton dire,
et c’est pour ce public que l’image est conçue : en se faisant représenter
comme Mithridate VI, son fils Pharnace II, qui l’avait trahi, ne cherchait
aucunement à masquer le souvenir de sa faute ou à faire repentance ; il
reproduisait cette image tout simplement parce qu’elle avait du prix : son
choix est lié à l’utilisation attendue du monnayage par des mercenaires
attachés aux valeurs sûres des monnaies sonnantes et trébuchantes. Cette
remarque amène à modifier la perspective initiale : le charisme du portrait
monétaire est avant tout fondé sur la valeur de la monnaie et explique la
continuité de l’image.
II. LES PS EU D O - MIT H R IDAT ES EN SCUL P TURE
Les archéologues ont été particulièrement généreux dans l’identification
de portraits plastiques de Mithridate : on a utilisé les sources antiques
pour débusquer des représentations du roi du Pont dans des endroits où
il a exercé sa domination.
Il serait ainsi figuré à Pergame en Héraclès délivrant Prométhée dans
un groupe qui traduirait de manière allégorique la délivrance des cités
d’Asie par le roi du Pont lors des guerres mithridatiques (fig. 1).17 Héraclès,
coiffé de la léontè, a aussi la tête ceinte d’un large diadème. Mithridate
n’est pourtant pas le seul roi qui a exercé son pouvoir à Pergame ; on
pensera avec plus de vraisemblance aux Attalides, qui revendiquaient le
héros des Travaux pour ancêtre mythique, ce qui suffit à expliquer le port
du diadème, mais on peut aussi bien penser qu’un Attalide (selon moi,
plutôt Eumène II) est ici assimilé à Héraclès. Quelle que soit l’identifi
cation de la figure héroïque, elle n’a aucun rapport avec Mithridate VI.
17 Berlin, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz, Antikensammlung und
Pergamonmuseum, AvP VII 168. Voir Queyrel 2003, 153–161, pl. 22, 3 ; 23 ; Kreuz
2009, 132–133, exclut aussi ce monument de l’iconographie de Mithridate, au
contraire d’Ercinyas 2006, 151, 153–154, fig. 77 et de Vorster 2011, qui le date, sur
critères stylistiques, de la fin du IIe ou du début du Ier siècle av. J.C.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 103
1 Héraclès ou Attalide dans le groupe de la délivrance de Prométhée.
Berlin, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz, Antikensammlung
und Pergamonmuseum, AvP VII 168
Il suffit à cet égard de comparer la tête du héros pergaménien avec le
portrait de Mithridate coiffé de la léontè pour faire ressortir les différences
qui les séparent.18
Passons à Délos, où trois têtes colossales ont reçu le nom de Mithri
date, alors que ce sont en fait des portraits d’Alexandre. La tête colossale
du Dôdékathéon (fig. 2)19, qui arborait probablement les cornes caprines
de Pan, le dieu de Pella, présente l’anastolè d’Alexandre et date de la haute
époque hellénistique : elle vient de la statue de culte du Macédonien as
socié au culte des Douze Dieux dans le Dôdékathéon de l’île où elle a été
retrouvée. Une autre tête plus grande que nature, aux longs cheveux, au
large diadème et au visage peu individualisé, figure probablement aussi
18 Paris, Musée du Louvre, Ma 2321. Smith 1988, 171, n° 83, pl. 51–52, 1–2.
19 Délos, Musée, inv. A 4184. Smith 1988, 42 note 95 ; 100, 173, n° 92 ; F. Queyrel,
in Marcadé 1996, 84, n° 32, fig. 85 ; Queyrel 2016, 148–150, 349–350, fig. 121.
104
2 Alexandre du Dôdékathéon de Délos. Délos, Musée, inv. A 4184
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 105
3 Alexandre de Délos. Athènes, Musée national archéologique, inv. 429
106
4 Alexandre dit « l’Inopos ». Paris, Musée du Louvre, inv. MR 235
(Ma 855)
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 107
Alexandre (fig. 3).20 Pour le buste rapporté désigné conventionnellement
comme l’Inopos, il a toute chance de venir de Délos et ne peut représenter
qu’Alexandre, non pas Mithridate comme l’a proposé Jean Charbonneaux,
qui l’attribuait de manière un peu rapide au sculpteur de la Vénus de Milo
(fig. 4)21 : son nom d’Inopos n’a rien à voir avec sa provenance exacte dans
l’île, qu’on ignore, et rien n’indique qu’il provienne du Samothrakeion,
où s’élevait le monument de Mithridate audessus du réservoir supérieur
de l’Inopos.22
Ces portraits, qui ont pour seul point commun de ne pas représenter
Mithridate, attestent, indépendamment des portraits du roi du Pont, le
succès qu’a connu l’image d’Alexandre tout au long de l’époque hellé
nistique.
III. LE MO NUMEN T D E MITH R IDATE À D ÉL O S
Nous gardons de Mithridate VI l’image de l’ennemi irréductible des
Romains, mais, à Délos, le monument qui porte son nom est antérieur
à la première guerre mithridatique.23 Ce petit bâtiment quadrangulaire,
dont on a dégagé les fondations jusqu’au rocher, se dressait en bordure
nord du Samothrakeion de Délos, dans l’axe de la porte qui donnait accès
à la partie du sanctuaire consacrée à Héraclès24 (fig. 5). Cette chambre
20 Athènes, Musée national archéologique, inv. 429. Homolle 1885, 253–255,
pl. XVII ; Michalowski 1932, 5–8, n° 2, pl. VII ; Marcadé 1969, 266–268, 277
note 6, pl. LXXIII ; Smith 1988, 30, 100, 123, 172, n° 90.
21 Paris, Musée du Louvre, inv. MR 235 (Ma 855). Charbonneaux 1951 ; Smith
1988, 100, 123, 172, n° 89 ; F. Queyrel, in Marcadé 1996, 86, n° 33, fig. 87 ; Hamiaux
1998, 67–69, n° 71, fig. ; Queyrel 2016, 63, 340, fig. 34.
22 Contrairement à Smith 1988, 100.
23 Je laisse ici de côté les autres témoignages sur les bases de statues de Mithridate
à Délos ; voir les inscriptions réunies et rapidement commentées par Bruneau
1970, 576–577 ; Erciyas 2006, 122–125.
24 Chapouthier 1935, à compléter par Risom 1948 ; voir Homolle 1913 ; Bruneau /
Ducat 2005, 94, fig. 30. Les études plus récentes reprennent toutes les éléments
de la publication de Chapouthier, à laquelle il faut toujours se référer : Webb
1996, 141–142 ; Sauron 1994, 69–71 ; Cadario 2004, 70–73 ; Ercinyas 2006,
134–146 ; Højte 2009, 157 ; Kreuz 2009, 134–140 ; Gross 1954, 108–109, ne paraît
pas avoir saisi que le Monument est profondément fondé jusqu’au rocher. Grâce
au travail sur le terrain fait par Frédéric Herbin avec l’aide de Caroline Le Lay
et Timothy Pönitz, je peux ici présenter quelques observations nouvelles.
108
5 Samothrakeion de Délos, plan du second état
6 a/b Monument de Mithridate, restitution graphique de la façade avec
restitution de (a) trois statues ; (b) cinq statues
7 Monument de Mithridate, fronton avec la dédicace
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 109
8 Monument de Mithridate, médaillons nos 4–5
9 Portrait de Diophantos, Délos, Musée, inv. A 4192
110
rectangulaire à deux colonnes in antis en façade, dont « les murs furent
élevés avec beaucoup de négligence et de fantaisie »25, abritait au moins
une base replacée sur la banquette contre le mur de fond long de 4,40 m et
ses parois intérieures étaient ornées en hauteur d’une frise de douze mé
daillons située à 2,52 m du dallage (6 médaillons au fond et 3 sur chaque
paroi latérale ; fig. 6a–b). Le fronton de cette chapelle présente aussi un
médaillon au centre (fig. 7). Le pourtour mouluré des médaillons entoure
dans la cavité centrale un buste sculpté dont la tête et le cou étaient fixés
contre le fond au moyen d’un goujon (fig. 8–9). Des inscriptions, gravées
rapidement sur les parois, indiquent à l’accusatif le nom des personnages
représentés et au nominatif le nom du dédicant, le prêtre Hélianax fils
d’Asclèpiodôros. Les bustes sont cuirassés, avec ou sans chlamyde, sauf
deux vêtus de la tunique avec l’himation. L’exécution de ces médaillons,
en marbre local à gros grains, n’est pas très soignée : l’épaisseur de la
moulure notamment est variable.26 La dédicace du monument est pré
cisément datée de 102/1, à la sortie de charge du prêtre Hélianax27 : « Le
prêtre Hélianax fils d’Asklépiodôros, Athénien, prêtre à vie de Poséidon
Aisios, ayant aussi été prêtre des Grands Dieux de Samothrace, Dioscures,
Cabires (a dédié) pour le peuple des Athéniens et le peuple des Romains
le temple, les statues de culte (?) qu’il contient et les boucliers aux dieux
dont il a été le prêtre et au roi Mithridate Eupatôr Dionysos, à ses frais
sous l’épimélète de l’île Théodotos fils de Diodôros, de Sounion. » Le
terme « boucliers » (ὅπλα) désigne les médaillons ornés de bustes, qu’on
appelle en latin imagines clipeatae 28 ; le terme traduit par « statues de
culte » a été restitué dans la lacune sous la forme [ἀγάλματα], qui désigne
des statues qui font l’objet d’un culte, mais on pourrait aussi bien restituer
andriantas, pour désigner des effigies portraits sans fonction culturelle
qui peuvent être offertes en ex-voto, même si le monument est appelé
naos. Rien dans cette dédicace n’impose l’idée d’un culte de Mithridate,
dont Hélianax serait le prêtre.29
25 Chapouthier 1935, 22.
26 Ibid., 40.
27 Ibid., 40–41 ; I D 1562. Le texte de la dédicace du monument a été établi
par Chapouthier 1935, 34–35, fig. 41 et fig. 42 ad 34, et complété par Sanders /
Catling 1990.
28 Voir Marcadé 1969, 319–323.
29 Au contraire de l’interprétation de SavalliLestrade 2009, 135, suivie par
Muccioli 2013, 331.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 111
III.1 LES « B O UCLIER S »
Le fronton présentait un buste dans un médaillon inscrit au nom d’un – fils
de – ros (Eudôros ?), d’Amisos, ami (philos) (?) du roi Mithridate Eupatôr »
(cuirasse et chlamyde ; Durrbach 1921–1924, 136 a ; ID 1569)30 (fig. 7). D’après
cette inscription, on ne peut pas restituer ici un buste de Mithridate.31
Dans le monument, les médaillons des parois intérieures figuraient, de
gauche à droite, des personnages en buste portant différents vêtements32
(fig. 8) :
– paroi de gauche :
1. Gaios fils d’Hermaios, d’Amisos, compagnon (syntrophos) du roi Mithridate
Eupatôr (cuirasse et chlamyde ; Durrbach 1921–1924, 136 d ; ID 1570) ;
2. – os fils d’Antipater, ami du premier rang du roi Mithridate Eupatôr et
« préposé au secret » (cuirasse et chlamyde ; Durrbach 1921–1924, 136 e ;
ID 1571) ;
3. Dorylaos fils de Philétairos, d’Amisos, compagnon (syntrophos), « pré
posé au poignard », commandant des forces armées du roi Mithridate
Eupatôr (cuirasse et manteau ; Durrbach 1921–1924, 136 f ; ID 1572) ;
– mur de fond :
4. Diophantos fils de Mitharès, de Gazioura (cuirasse et manteau ; Durrbach
1921–1924, 136 b ; ID 1574) ;
5. le roi Ariarathe VII de Cappadoce Philomètôr fils d’Ariarathe Épiphane
et Philopatôr (cuirasse et manteau ; Durrbach 1921–1924, 136 g ; ID 1576) ;
6. le roi Antiochos VIII Épiphane Philomètôr Kallinikos fils du roi Démé
trios et de la reine Kléopatra (cuirasse et manteau ; Durrbach 1921–1924,
136 h ; ID 1552) ;
30 Chapouthier 1935, fig. 42 ad 34 ; 36.
31 Webb 1996, 141, suivie par Cadario 2004, 72, affirme que le buste représentait
le roi Mithridate VI.
32 Voir les inscriptions dans Chapouthier 1935, 32–34, dont je suis la numé
rotation en ajoutant la caractérisation du vêtement d’après l’étude des blocs à
Délos. Gross 1954, 112–113, a voulu reconnaître des armures et des vêtements
romains comme la toge ou le paludamentum : voir les observations de Marcadé
1969, 331–332 ; Bernard 1985, 87, note 179, juge sa « théorie aberrante sur le
caractère romain des cuirasses des médaillons et des statues ».
112
7. Asclèpiodôros père d’Hélianax (tunique ; ID 1903) ;
8. – (cuirasse et manteau) ;
9. Mithridate fils d’Eu–, compagnon (syntrophos) (?) et préposé aux requêtes
(?) d’Arsace VII d’Arménie (tunique ; ID 1582) ;
– paroi de droite :
10. Dor–, ami (philos) d’Arsace VII d’Arménie (cuirasse ; Durrbach
1921–1924, 136 i ; ID 1581) ;
11. – (cuirasse) ;
12. Papias fils de Mènophilos d’Amisos, ami (philos) de Mithridate, mé
decinchef, juge chargé des instructions (cuirasse ; Durrbach 1921–1924,
136 c ; ID 1573).
Une tête légèrement plus grande que nature, en marbre blanc de Paros,
au visage endommagé, (fig. 9)33 se replace dans le médaillon de Diophantos
(n° 4), le premier à gauche sur le mur de fond, et une deuxième tête vient
d’un autre médaillon du monument. Ce Diophantos fils de Mitharès, de
Gazioura, dont le nom est restitué et dont le titre ne figure pas dans l’ins
cription (ID 1574), serait le général de Mithridate qui mena des campagnes
à la fin de son règne, en 73 et 71.34 Il porte le même nom que le meilleur gé
néral de Mithridate, Diophantos fils d’Asklèpiodôros, de Sinope, qui mena
notamment des campagnes victorieuses contre les Scythes en Chersonnèse
Taurique à la fin du IIe siècle.35 On a cru que ce portrait témoignait d’une
mutilation intentionnelle 36 qui a été attribuée aux habitants de Délos après
le départ des troupes de Mithridate en 88–87.37 Selon Casimir Michalowski,
« les cassures du menton, du nez, des yeux semblent avoir été faites avec
une masse » ; cette interprétation est peu vraisemblable : on ne discerne en
fait aucune trace d’outil de cette nature sur la tête ; s’il y avait eu damnatio
memoriae, le visage porterait la marque de traces de pointe, comme une
tête défigurée qui représentait un magistrat romain (fig. 10)38 ; d’autre part,
33 Délos, Musée, inv. A 4192. Michalowski 1932, 9–10, n° 3, fig. 4–5, pl. VIII ;
Chapouthier 1935, 30, fig. 37–38 ; Marcadé 1969, 141 et note 1, 272–273, 319, 373 ;
Neumann 1977, 87, note 4 ; 89 fig. 4–5.
34 Durrbach 1921–1924, 136 b, 219 ; ID 1574.
35 McGing 1986, 50–54 ; Ballesteros Pastor 1996, 46–52.
36 Michalowski 1932, 9 ; voir, entre autres, Marcadé 1969, 266 note 4 ; Callataÿ
1997, 304 ; SavalliLestrade 2009, 135–136. Kousser 2017, 212, fig. 84.
37 Bruneau 1968, 673–674 (= Bruneau 2006, 151–152) ; Marcadé 1969, 266
note 4 ; Bruneau 1970, 577 et note 4.
38 Délos, Musée, inv. A 1732. Michalowski 1932, p. 52, n° 3, fig. 4–5, pl. XXXVII 1 ;
Queyrel 2016, 155, 350, fig. 126.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 113
10 Portrait de Romain mutilé volontairement. Délos, Musée,
inv. A 1732
les noms inscrits sur le monument n’ont pas été effacés, au contraire de
ce que l’on constate à Délos pour les portraits de magistrats romains39 ;
enfin le fond des médaillons ne présente aucune marque qui suggérerait
39 F. Queyrel, in Marcadé / Queyrel 2003, 93–94.
114
une tentative d’arrachement, comme me l’a fait observer Frédéric Herbin.
La deuxième tête a perdu tout le visage, sans que la moindre trace d’outil
puisse non plus faire penser à une mutilation intentionnelle.40 Les cheveux
couvrent en nappe tout le haut de l’oreille, à la différence de l’autre tête
dont les mèches courtes et bouclées découvrent les oreilles.
III.2 LES S TAT UES
Une banquette moulurée haute de 60 cm environ courait sur 4,40 m envi
ron le long du mur de fond.41 On restitue sur elle en position centrale des
statues en marbre en ronde bosse, dont l’une représentait Mithridate VI ;
sa base inscrite dédiée par le prêtre Hélianax (ID 1563) a été découverte
dans la vanne du réservoir supérieur de l’Inopos (fig. 11).42 On restitue sur
la banquette du Monument de Mithridate, à côté de cette base qui nomme
Mithridate VI, d’autres bases non retrouvées ; dans une niche aménagée
dans le mur de fond du temple ou salle de banquets, on a aussi retrouvé
11 Base de la statue de Mithridate VI. Délos, Musée
40 Délos, Musée, inv. A 5968. H 26,5 cm ; l 18 ; ép. 11. Marcadé 1969, 141, pl. VIII.
41 Chapouthier 1935, 37–38, fig. 46–48.
42 Ibid., 38 fig. 49 ; ID 1563 ; voir Højte 2009, 157, fig. 15. H 15 cm ; l 75,5 cm ;
ép. 57 cm. Cuvette d’encastrement : H 8 cm ; l 60 cm ; prof. 46 cm. Dans un
second temps, la face latérale droite a été percée pour ménager un canal en U
et la cuvette d’encastrement a été piquetée dans cette zone pour la recreuser lé
gèrement : ce recreusement n’est pas destiné à mettre en place la statue, comme
le suggère Chapouthier 1935, 38.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 115
une base à orthostates, dédiée en 132/1, (ID 1899) avec deux encastrements
pour statues en marbre et, en bordure est du sanctuaire, deux autres bases
anépigraphes. Un cippe mouluré dédié par Hélianax (ID 1902) supportait
une petite statue en marbre. On rapporte enfin au Samothrakeion des
statues trouvées en contrebas dans la région de l’Inopos.
Les dimensions du Monument de Mithridate permettaient d’y abriter
plusieurs statues, dont on ne connaît pas le nombre exact.43 L’emplace
ment privilégié se trouve au milieu, sous les quatre médaillons centraux
du mur de fond, dont les inscriptions ont été reportées audessus, ce qui
a fait penser que des statues masquaient la paroi sous ces médaillons44 ;
en fait il y avait place audessus pour les inscriptions, alors que, près des
murs latéraux, la pente du toit a obligé à les inscrire sous les médaillons.
Pour que les effigies soient bien visibles, on les restituera de préférence
sous les deux médaillons centraux, car les deux médaillons voisins sont
masqués par les colonnes. Il y a place dans cette hypothèse pour deux,
voire trois figures hautes au maximum de 1,75 m, placées sur des bases
comme celle de Mithridate (H 15 cm) qui reposaient ellesmêmes sur la
banquette (H 60 cm) (fig. 6a).
Le monument a été conçu pour exposer en même temps médaillons
et statues en ronde bosse. D’après la dédicace du monument par Hélianax
(ID 1562) Philippe Bruneau a proposé de restituer dans ce naos les statues
synnaoi des Cabires, de Poséidon Aisios et du roi Mithridate VI45 à qui
l’offrande est dédiée : il y en aurait alors quatre placées sur la banquette,
soit Mithridate VI (dont la base a été retrouvée), les Grands Dieux de
Samothrace, DioscuresCabires, et Poséidon Aisios. Cette interprétation
n’est pas certaine : le prêtre Hélianax a fort bien pu dédier le monument
avec les statues qu’il contenait à des divinités (les Grands Dieux, Poséidon
Aisios) et à un roi (Mithridate VI) sans qu’ils soient forcément figurés
par les statues : la base retrouvée (ID 1563) assure que Mithridate était
représenté, mais rien n’oblige à restituer des statues des Grands Dieux et
de Poséidon Aisios à ses côtés ; les médaillons représentent des person
nages dont le nom n’est pas mentionné dans la dédicace.
Voyons maintenant quelles statues pouvaient prendre place dans le
Monument de Mithridate ; les fragments conservés ont été pour la plupart
découverts en contrebas, dans le bassin de l’Inopos. On peut les répartir
43 Contrairement à SavalliLestrade 2009, 136, note 27.
44 Chapouthier 1935, 39 ; voir Hallett 2005, 333.
45 Bruneau 1968, 578.
116
en deux groupes que rapprochent entre eux les dimensions et la technique
de sculpture : deux effigies, plus grandes que nature (H 2,15 m), avaient
la tête rapportée ; trois autres sont à peine plus petites que nature (H 1,55
pour les adultes, 1,45 m pour l’adolescent) et leur tête est sculptée avec le
corps complété par des pièces rapportées. Les deux effigies du premier
groupe, si on les place sur la banquette du Monument de Mithridate, qui
sont plus grandes, masqueraient en partie les portraits des médaillons.
III.2.1 DEUX STAT UES CUIR ASSÉES P LUS GRAN D ES Q UE N AT URE
Deux statues cuirassées trouvées près du bassin de l’Inopos ont toute
chance de provenir du Samothrakeion (fig. 12–13)46 ; plus grands que
nature, les personnages figurés mesuraient environ 2,15 m de haut. Ces
deux effigies cuirassées forment une paire : l’une est en appui sur la jambe
gauche (A 4173), l’autre sur la jambe droite (A 4242) ; la première avait
les deux bras abaissés, la seconde tenait la lance dans la main gauche
levée. Toutes deux portent la cuirasse hellénistique avec corselet en cuir
et double rangée de lambrequins ; une ceinture fait deux fois le tour de la
taille et une épée dans son fourreau était fixée sur le côté gauche, retenue
par un baudrier rapporté. La bottine montante qui reste au pied gauche
de la statue A 4173 a la forme d’embades dont les pattes retombent à mi
jambe ; les lanières croisées étaient nouées avec des rubans rapportés en
métal (deux trous de goujon) sous une lanière horizontale aux extrémités
également rapportées (deux autres trous de goujon pour le nœud) et un
ornement central parait également le bord supérieur de la bottine. Le
manteau retombe en cape sur l’arrière de la statue A 4173 en couvrant
aussi les épaules, tandis que sur la statue A 4142 le manteau fait le tour
du cou et s’enroule autour de l’épaule gauche. Un pied gauche qui ne
touchait le sol que par l’extrémité vient peut-être de la statue A 4242, car
il a les mêmes dimensions et les courroies portaient aux mêmes points
46 Délos, Musée, inv. A 4173. H 182 cm ; l 57 ; ép. 45,5. Chapouthier 1935, 39,
fig. 5 ; Marcadé 1969, 331 note 2 et 3, 332 et note 1, 333, pl. LXXV ; F. Queyrel, in
Marcadé 1996, 198 n° 89 ; 199 fig. gauche ; Zaphiropoulou 1998, 158 fig. à gauche,
274–275, n° 155, fig. ; Hallett 2005, 333 ; Ercinyas 2006, 158, 160 fig. 84 (ne
connaît que Chapouthier 1935). – inv. 4242. H 118 cm ; l 68 ; ép. 39. Chapouthier
1935, 39 note 1 ; Marcadé 1969, 331 note 2, 332, 333, pl. LXXV ; F. Queyrel, in
Marcadé 1996, 198 n° 89 ; 199 fig. droite ; Zaphiropoulou 1998, 158 fig. à droite,
275, n° 156, fig. ; Hallett 2005, 333.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 117
les mêmes ornements rapportés47 ; il ne formait pas paire avec un frag
ment de bas de jambe qui présente deux trous pour des ornements placés
verticalement sur le côté de la jambe entre deux rivets.48
Fernand Chapouthier pensait que la statue qui conserve un fragment
de plinthe sous le pied gauche, était érigée sur la base inscrite au nom
de Mithridate (ID 1563)49, mais cette restitution est impossible pour des
raisons matérielles : « l’identification doit être abandonnée »50, car la base
est trop petite, et Jean Marcadé a proposé de reconnaître des portraits
d’officiers de Mithridate dans les personnages représentés par ces deux
statues cuirassées qu’il restitue dans le Monument de Mithridate. Une
autre interprétation me paraît plus séduisante : comme la première effigie
ne peut être replacée sur la base de Mithridate, ces deux statues formant
pendant figureraient les Dioscures/Cabires, selon Matteo Cadario.51 Ces
Dioscures sont armés, comme sur de rares représentations en pied, no
tamment sur des monnaies émises par Ptolémée, dynaste de Chalcis au
Liban en 73/2.52 Le port de la cuirasse convient à ces divinités qui étaient
vénérées à la guerre, pas seulement en mer.53
Où restituer leurs effigies ? Dans le monument dédié par Hélianax,
elles pouvaient accompagner la statue de Mithridate, qui était de plus
petite échelle d’après la base inscrite conservée, placées sur la banquette
47 Délos, Musée, inv. A 360. Marcadé 1969, 217, 332 note 1, 461 note 2, pl. XXXIX.
Le fragment du pied qui se raccorde au bas de la jambe aurait été trouvé selon
le registre du musée le 12–07–1906 au milieu du Portique d’Antigone, mais le
« catalogue de fouille » tenu par F. Courby en 1906 donne pour le numéro 6424
la provenance générale « NordOuest de la Rue du théâtre ». Un problème
analogue de provenance se pose pour le numéro précédent dans ce catalogue
de fouille, un patron de mosaïste : voir Bruneau 1972, 49 note 2. Lors de ces
fouilles de 1906 dans le Quartier du théâtre, a été trouvé dans la partie basse un
fragment de statuette égyptienne qui en complète un autre trouvé au sanctuaire
des dieux étrangers : Holleaux 1907, 360 fig., 361.
48 Délos, Musée, inv. A 275. Trouvé le 22–06–1906 au Monument de granit
(registre du musée) ou le 5 juillet 1906 sur la Terrasse des lions (catalogue de
fouille). Marcadé 1969, 217 et note 3.
49 Chapouthier 1935, 38–39, fig. 50 ; Højte 2009, 157, fig. 15.
50 Marcadé 1969, 331.
51 Cadario 2004, 73.
52 Seyrig 1970, 97–98, fig. 21 ; 100 ; Hermary 1986, 574, n° 77 ; Augé / Linant de
Bellefonds 1986, 594, n° 11, pl. 479 ; Cadario 2004, 73, note 157, pl. XI 7.
53 Voir Ballesteros Pastor 2006, 212, avec la note 11 (témoignages relatifs à
Alexandre).
118
12 Statue cuirassée. Délos, Musée, inv. A 4173
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 119
13 Statue cuirassée. Délos, Musée, inv. A 4242
120
du fond (fig. 6b) ; elles seraient alors contemporaines de la dédicace du
monument en 102/1. Mais une objection va à l’encontre de cette restitu
tion souvent acceptée : ces statues masqueraient la vue des médaillons.
Doiton les restituer à un autre emplacement du sanctuaire, de préférence
dans le temple en fonction de statues de culte ou d’ex-voto ? On ne peut
pas les replacer aisément sur la base à orthostates située au fond de la
niche percée dans le mur de façade du temple dont la dédicace date de
132/1 (ID 1899)54, car elle est trop petite pour accueillir ces deux statues
plus grandes que nature.
Une tête avec bouchon d’encastrement, trouvée aussi dans le bassin de
l’Inopos, vient d’une statue plus grande que nature de dimensions analo
gues aux deux statues cuirassées (hauteur restituée de la figure : 2,15 m ;
fig. 14).55 Le bouchon d’encastrement implique que le torse n’était pas nu.
Comme le manteau (d’après ce qui en reste sur le côté gauche du cou)
tombait verticalement, on doit supposer que le dieu portait une tunique.
Plutôt que d’un diadème, la tête était ceinte d’une couronne rapportée
par deux rangs de broches métalliques et une mortaise ronde servait à
fixer un attribut métallique à l’avant du crâne. Plutôt que Zeus-Sarapis,
Jean Marcadé évoquait la possibilité d’y reconnaître un portrait princier,
ce qui me paraît douteux, car une petite tête trouvée aussi dans l’Inopos
représente le même sujet avec un trou percé au même emplacement sur
l’avant du crâne 56 : on pourrait penser à un Poséidon proche, pour la tête et
l’attitude, de la statuette lysippique trouvée dans la Maison du Dionysos57
et, pour le port du chiton avec l’himation, d’une statuette plus petite qui
figure le même dieu, vêtu, ou Sarapis.58 Le rapprochement pour les di
mensions, la technique et la provenance avec les deux effigies cuirassées
des Dioscures-Cabires n’est pas suffisant pour leur associer cette statue.
Si la tête vient du Samothrakeion, seraitce le Poséidon Aisios59 dont
Hélianax était le prêtre à vie ? ou encore une divinité cabirique ? Mais la
tête peut venir d’un autre sanctuaire voisin, comme le Sarapieion C. Il est
de toute façon difficile de la restituer dans le Monument de Mithridate.
54 Chapouthier 1935, 70–73, fig. 92–97.
55 Délos, Musée, inv. A 4180. H 42 cm ; l 27,5 ; 27. Roussel 1916, 65–66, fig. 11 ;
Marcadé 1969, 427 ; Zaphiropoulou 1998, 155 fig., 274, n° 151, fig.
56 Délos, Musée, inv. A 5998. H 14,6 cm ; l 10,8 ; ép. 12. Marcadé 1969, pl. LVIII.
57 Délos, Musée, inv. A 4120. Marcadé 1969, 47, 281, 380, pl. LVIII ; Ph. Jockey,
in Marcadé 1996, 96, n° 38 ; 97, fig.
58 Délos, Musée, inv. A 126. Marcadé 1969, 427 note 2, pl. LIX.
59 Voir Bruneau 1970, 265.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 121
14 Tête de divinité (Poséidon ?). Délos, Musée, inv. A 4180
122
15 Statue à renfort en forme de cuirasse
(Mithridate VI ?). Délos, Musée, inv. A 5998 (cf. pl. 2)
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 123
III.2.2 TR O IS STATUES À P EINE G R AND EUR N AT URE
On a trouvé dans la région de l’Inopos des fragments d’une statue à
support en forme de cuirasse (Panzertronk) qui figure un adulte presque
grandeur nature (hauteur restituée : 1,55 m), dont l’himation, selon le
schéma dit Hüftmantel, couvre le basventre, la cuisse droite et le haut
de la cuisse gauche et remontait sur l’épaule gauche avant de s’enrou
ler autour du bras (fig. 15 ; pl. x).60 Pour la taille et la technique (partie
antérieure de l’avantbras gauche rapportée et face de joint montant
obliquement de droite à gauche au niveau du basventre) cette statue
se distingue des précédentes. Ce schéma est connu dans le premier
tiers du Ier siècle av. J.C., à l’époque des guerres mithridatiques, pour
le « Général de Tivoli », avec le manteau qui couvre les hanches et
s’enroule autour du bras gauche 61 ; cette effigie offerte en ex-voto dans
le temple d’Hercule à Tivoli est donc très proche, par son schéma et sa
fonction, de la statue du Samothrakeion, offerte elle aussi en ex-voto
dans un sanctuaire. Il paraît possible, vu sa provenance en contrebas
du monument de Mithridate, sa facture et son iconographie, d’associer
l’effigie délienne au groupe du Samothrakeion : elle se place même très
probablement dans la cuvette d’encastrement (l 60 cm ; prof. 46 cm ;
H 6–7) de la base inscrite au nom de Mithridate qui est bien adaptée
à cette statue, dont la plinthe conservée sur la face interne du support
en forme de cuirasse est épaisse de 5 cm ; la plinthe pouvait avoir une
longueur maximale de 60 cm environ et une largeur de 45 cm environ.
Cette statue serait donc celle de Mithridate qui se présentait selon le
schéma statuaire adopté un peu plus tard par le Général de Tivoli,
60 Délos, Musée, inv. A 4254 (partie inférieure) + A 915 (épaule gauche et
majeure partie du bras). H 138 cm ; l 57,5 ; ép. 40. Marcadé 1969, 334, note 6 ;
336, pl. LXXVII ; Cadario 2001, 120, fig. 4 ; 121–122 ; 144 note 40 ; Post 2004,
497–498, n° XVII 7, pl. I a et CD-Rom Katalog, 177–178. Je publie ici, avant une
étude plus développée, la statue restaurée avec quatre fragments (bras gauche
avec la retombée du manteau sur le haut de l’épaule), ce qui permet de préciser
le schéma statuaire adopté : Queyrel 2016, 160–162, 239, 351, fig. 138.
61 Rome, Musée national romain, inv. 106 513. Trouvé en 1925 dans les subs
tructions du temple d’Hercule Victor. Post 2004, 396–397, n° I 11, pl. 2 a–d et
CD-Rom Katalog, 10–13 ; Vorster 2007, 284–286, 288–289, 408, fig. 260 a–g ;
Queyrel 2016, 161–162, 351–352, fig. 139.
124
16 Tête de la statue fig. 15 (Mithridate VI ?). Délos, Musée, inv. A 2368
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 125
dont on a souvent souligné la ressemblance avec les portraits dits de
Romains à Délos.62
Une tête en ronde bosse trouvée dans la fouille de l’Inopos en contrebas
du Samothrakeion, provient d’une statue en ronde bosse presque grandeur
nature (fig. 16).63 Jean Marcadé la décrit ainsi64 : « la face est presque bouf
fie, et le regard ne paraît guère ‹ pathétique › ; il est vrai que le marbre est
fort usé et qu’il ne s’agissait pas d’un chef-d’œuvre ». Pour le style, elle est
fort proche de la tête de la statue fig. 18 : le modelé du visage, peu détaillé,
insiste sur la plénitude des joues et du menton ; l’emploi du foret dans les
cheveux rapproche aussi ces deux têtes. Et pour l’aspect, cette tête juvénile
tournée à gauche se rapproche de têtes de Dioscures aux cheveux mi-longs,
comme, par exemple, une statue de Pergé.65 Jean Marcadé envisageait de
restituer un casque sur le haut du crâne piqueté, mais il peut aussi bien
s’agir du bonnet conique des Dioscures. Cette tête, qui est bien trop petite
pour convenir aux dimensions plus grandes que nature de l’une des sta
tues cuirassées du Samothrakeion, convient parfaitement pour la statue
présumée de Mithridate VI (fig. 17). Deux interprétations sont possibles :
soit un Dioscure, soit un portrait dont les traits ne sont pas très marqués,
comme celui des toutes premières frappes de tétradrachmes de Mithridate.66
Des fragments d’une petite statue (hauteur restituée de la figure :
1,45 m), trouvés dans le Samothrakeion, viennent d’une autre figure qui
porte un manteau enroulé autour de l’avantbras gauche ; un support en
forme de cuirasse lui tient lieu de renfort (Panzertronk) (fig. 18).67 La tête,
dont le raccord est probable, mais qui a été recollée trop bas à gauche,
ce qui raccourcit le cou, avait le haut de la calotte crânienne rapporté ;
62 Post 2004, CD-Rom Katalog, 13 note 1449 rappelle les portraits Michalowski
1932, pl. 23–24 (Délos, Musée, A 4187), pl. 21–22 (Délos, Musée, A 2136) et
pl. 12–13 (Délos, Musée, A 4189) ; à mon avis, la tête du Général de Tivoli se
rapproche davantage encore du portrait de la Maison du Diadumène pl. 10–11
(Délos, Musée, A 2912).
63 Délos, Musée, inv. A 2368. Trouvée en 1911 dans la fouille de l’Inopos.
H 23,5 cm ; l 16 ; ép. 10,6. Marcadé 1969, 267, note 1, pl. LXXVII.
64 Marcadé 1969, 267, note 1.
65 Antalya, Musée archéologique, inv. A 3028. Hermary 1986, 575, n° 90, pl. 464 ;
Pehlivaner 1996, n° 4.
66 Callataÿ 1996, 33–36.
67 Délos, Musée, inv. A 4269+A 1645+A 1757. H 147 cm ; l 59 ; ép. 26,5. Marcadé
1969, 335, 373, pl. LXXVI ; F. Queyrel, in Marcadé 1996, 194, n° 87 ; 195 fig. ;
Zaphiropoulou 1998, 157 fig., 274, n° 154, fig. ; Cadario 2001, 119, fig. 3 ; 121 ; 144
note 37 ; Cadario 2004, 72, note 153.
126
17 Statue fig. 15 avec la tête
fig. 16
18 Statue à renfort en forme de cuirasse.
Délos, Musée, inv. A 4269+A 1645+A 1757
elle représente un jeune homme joufflu avec une chevelure bouclée. La
figure n’est pas celle d’un enfant 68, mais on pourrait y reconnaître un
adolescent grassouillet.
68 Voir par exemple une statue de jeune garçon de Lilaia (Athènes, Musée natio
nal archéologique, inv. 2772), haute de 85 cm : Vorster 1983, 355, n° 67, pl. 6, 4–5.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 127
La taille et la technique (ici pièces rapportées sur tout le côté gauche
et tête non rapportée) amènent à dissocier cette petite effigie de celles
des Dioscures cuirassés, au contraire des propositions antérieures69 ; en
tout cas elle ne peut pas figurer un « soutien de Mithridate », comme l’a
cru Matteo Cadario.70 Cette identification est peu vraisemblable, car on
aurait représenté cet allié en buste dans l’un des médaillons, comme les
autres officiers et rois proches de Mithridate VI. On peut supposer que
le groupe s’est constitué en deux temps sur la banquette du Monument,
d’abord avec Mithridate, puis avec l’adjonction de cette effigie, qui pour
rait éventuellement représenter son fils Ariarathe IX, né en 109/8, devenu
roi de Cappadoce en 100/99 à l’âge de 8 ans, après l’assassinat d’Ariarathe
VII, qui a dû intervenir après l’érection du Monument de Mithridate 71 :
le modelé du torse n’est pas ferme et l’insistance sur la mollesse des
formes s’accorde avec les conventions de représentation de l’enfance. On
ne peut associer cette effigie à aucune base retrouvée : la base dédiée par
le prêtre Hélianax (ID 1902), dont l’inscription ne précise pas le sujet, a
une cuvette d’encastrement trop petite en largeur (40 cm) pour recevoir
cette statue dont la plinthe mesurait au moins 50 cm.72
Ces deux statues pourraient représenter le roi Mithridate VI associé
à son fils aîné sur la banquette devant la paroi du fond du Monument.
Mithridate et surtout son fils auraient pris l’apparence usuelle des
Dioscures, avec la chlamyde qui dénude plus ou moins largement leur
corps : le roi et son fils deviennent ainsi des dieux par allusion et conta
mination visuelles.
Une dernière statue, en himation, peut être associée à la dédicace du
Monument de Mithridate par Hélianax en 101 (fig. 19).73 Légèrement plus
petite que nature (H restituée : 1,55 m), ses fragments ont été trouvés dans
la région de l’Inopos en contrebas. Sa technique (avec le bras gauche rap
porté et une ligne de joint au bas du torse) la rapproche des deux précé
dentes. Le personnage se présente en majesté, avec l’himation qui couvre
en triangle les cuisses, adaptant un schéma connu pour figurer Zeus ou
69 Marcadé 1969, 373.
70 Cadario 2001, 121.
71 Voir McGing 1986, 66, 75 note 37 ; Strobel 1996, 164–165.
72 Chapouthier 1935, 39, fig. 51.
73 Délos, Musée, inv. A 4253. De la région de l’Inopos. H 1,15 cm ; l 50 ; ép. 29.
Marcadé 1969, 324, pl. LXX. Une photographie de 1903 présente cette statue
redressée contre un mur à côté de la statue cuirassée inv. A 4242, dans la région
de l’Inopos : Zaphiropoulou 1998, 17, fig.
128
19 Himatiophore. Délos, Musée, inv. A 4253
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 129
un roi comme Attale Ier à Pergame.74 Serait-ce Hélianax, le dédicant, dont
la présence est possible dans le monument, car son père côtoie dans un
médaillon central du mur de fond le roi séleucide Antiochos VII ? mais
ce pourrait aussi bien être le père de Mithridate VI, le roi Mithridate V
à cause de sa présentation en majesté, car elle est moins attendue pour
un simple particulier.75 Deux emplacements sont susceptibles d’accueillir
cette petite statue dont la plinthe peut être restituée à une quarantaine
de centimètres en largeur : soit la banquette du fond du monument de
Mithridate, soit, éventuellement, le cippe dédié par Hélianax (ID 1902).
Comment se présente le groupe de ces trois personnages si on les res
titue sur la banquette 76 (fig. 6a) ? Mithridate VI serait en position centrale,
sur sa base placée dans l’axe médian qui passe entre les médaillons du roi
séleucide Antiochos VII et d’Asklèpiodôros, le père du dédicant. Il regarde
rait son père Mithridate V (ou peut-être Hélianax) placé à sa gauche sous
le médaillon d’Asklèpiodôros, le père d’Hélianax ; le fils de Mithridate, le
futur Antiochos IX, serait placé sous le médaillon du Séleucide Antiochos
VII, auquel la dynastie du Pont était liée par les liens matrimoniaux avec
des reines séleucides77, et près du médaillon d’Ariarathe VII de Cappadoce,
qui était luimême le neveu de Mithridate VI (son père Ariarathe VI avait
épousé la sœur de Mithridate VI, sa mère Laodice).78
Comme me l’a suggéré François de Callataÿ, que je cite en le remer
ciant bien vivement, la présentation du monument met en valeur un
« panthéon personnel incluant les amis du roi » avec les dynasties asso
ciées dans les médaillons. Alors que la présence des dieux protecteurs,
qui ne surprend pas, est attendue dans leur sanctuaire, la figuration des
amis pourrait donner « l’image d’un roi proche, non pas réfugié dans une
Olympe terrestre mais agissant avec son peuple et soutenu par lui. Il y
a là peut-être un élément atypique, novateur et significatif. » Dans cette
hypothèse de travail, l’image de Mithridate VI est une image agissante,
74 Istanbul, Musées archéologiques, inv. 2767. Queyrel 2003, 50–52, pl. 68, 2 ;
69 ; 70, 1–3 ; Queyrel 2016, 150, 172, 350, fig. 123, 124.
75 Le peu qu’on sait de l’Athénien Hélianax est rappelé par Sanders / Catling
1990, 331–332 ; il a agi comme agent du roi Mithridate VI : Bernard 1985, 87
note 179.
76 Queyrel 2016, 239, fig. 235.
77 Ballesteros Pastor 1996, 310–312.
78 Durrbach 1921–1924, 222, ad n° 136 g ; Will 1967, II, 396 ; Will 1982, II, 473 ;
Ballesteros Pastor 1996, 33. Sur la succession d’Ariarathe VII, voir Ballesteros
Pastor 1996, 60–65.
130
un Bildakt. Elle est le sujet central qui agit par rayonnement, mais je ne
pense pas que la composition obéisse à un « mysticisme astral » comme l’a
supposé Gilles Sauron79 : elle interagit plutôt avec les deux autres statues.
La qualité de Mithridate est marquée dans la dédicace du monument
par son association aux Dioscures-Cabires et à Poséidon Aisios, par le
titre de Dionysos80 et par le schéma iconographique qui le rapproche des
Dioscures avec le port possible du pilos. Cela ne signifie pas pour autant
que sa statue fasse l’objet d’un culte divin.81 Son père Mithridate V (ou le
dédicant Hélianax ?) reproduit un schéma iconographique qui est lié à
la figure de Zeus. Un avenir se dessine avec la figure de l’adolescent bien
en chair qui peut rappeler le second Dioscure, s’il était coiffé du pilos :
il est alors le fils déguisé en frère, ne se distinguant de son père que par
une taille un peu plus petite. La filiation comme principe de légitimité
est donc ici interprétée en fusion gémellaire. L’embonpoint du fils et la
plénitude du visage paternel expriment la tryphè qui garantit la jouissance
du pouvoir. Le rayonnement des statues est enfin une action collective :
les médaillons placés en hauteur présentent les visages de la philia82 et
des alliances. Ces boucliers honorifiques démultiplient l’action du roi
en l’inscrivant dans un réseau institutionnel : leur présence résume le
fonctionnement du royaume dans l’action, l’administration et la politique
internationale fondées dans l’amitié avec le roi. L’aspect militaire du roi
est affiché par la présence d’une cuirasse en support de sa statue et la
figuration, majoritaire sur les médaillons, de personnages en cuirasse avec
la chlamyde, le plus souvent : c’est donc le principe de la victoire, consti
tutif de la monarchie hellénistique, qui est ici représenté.83 Mithridate
réinterprète aussi le modèle d’Alexandre en se présentant fastueusement
avec son fils (si on accepte l’identification) qui est une vivante image de
la tryphè, et en mettant en valeur dans les médaillons les liens de philia
et d’alliances à la fois diplomatiques et familiales.
79
80
81
82
83
Sauron 1994, 70–71.
Voir Goukowsky 2001, 133 note 73 ; voir Robert 1978, 160.
Voir Ballesteros Pastor 1996, 302 note 44.
Sur les fonctions, voir Ballesteros Pastor 1996, 324–331.
Voir Ballesteros Pastor 1996, 298–300.
Q UE Y R E L : MIT H R IDAT E V I À D É LO S : CH A R I SM E D E L’ I M A GE ? 131
DROITS IC ONO G R AP H IQ UES
1 Forschungsarchiv für Antike Plastik Köln.
2–4, 8, 10–19, pl. 2 cl. F. Queyrel.
5 Chapouthier 1935, 85, fig. 107.
6a, 9 Risom 1948, pl. I (restitution graphique de la façade); dessin = 207, fig. 2.
6b montage F. Queyrel.
7 Sanders/Catling 1990, 328, fig. supérieure.
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AS UMAN LÄTZER-LASAR
KÖPFE UND PORTRÄTS AUF
HELLENISTISCH-RÖMISCHER
KERAMIK AUS EPHESOS
Koroplastische Köpfe oder Gesichter auf Keramik darzustellen hatte in
der antiken Welt eine lange Tradition, die bis in die Bronzezeit zurückgeht
(beispielsweise die sog. Gesichtsvasen bzw. Gesichtsurnen).1 Im klein
asiatischen Raum bildeten sich als Besonderheit in den Werkstätten der
sog. Kleinmeister zwei eigene Keramikgruppen im Laufe des 7. Jhs. v. Chr.
heraus – die sog. plastischen Gesichtstassen und die sog. Kopfkantharoi
der Kleinmeisterklasse, welche freimodelliert oder mit Hilfe von Matrizen
gefertigt wurden.2 Letztere erfuhren einen überregionalen Handel in die
griechischen Kolonien und wurden noch bis ins 2. Jh. n. Chr. produziert.3
Die Herstellung von Keramik in der Matrizentechnik erreichte in Grie
chenland und Kleinasien während des Hellenismus einen Höhepunkt.
Köpfe, Büsten oder Porträts wurden in der Matrize geformt und dann
auf das Gefäß appliziert. Im Folgenden werden Exemplare von matrizengeformten Köpfen und Porträts auf ephesischer Keramik aus hellenis
tischer Zeit näher vorgestellt und in ihrem lokalen, soziokulturellen
Bedeutungskontext verortet.
In der ersten Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. entwickelte sich in Ephesos eine
Massenproduktion an aufwändig verzierter Keramik, die überregional
verhandelt wurde. Abstrakte, vegetabile und auch figürliche Dekormotive
auf den Gefäßen zählten dabei zum Standardrepertoire der Töpfer. Als
1 Hacilar, Mitte 6. Jahrtausend v. Chr.: Mellart 1965, 106, Abb. 90; Nordsyrien,
2. Jahrtausend v. Chr.: Reallexikon der Assyriologie, 3. Bd., s. Gesichtsvasen,
297–299; in Troja: Schmidt 1902, passim.
2 Schlotzhauer 2006, 230.
3 Ebd., 238; 243, Anm. 15.
136
Leitgruppe dieser verzierten Keramik stechen die Ionischen Reliefbecher
heraus, daneben finden sich die sog. Applikenware und die EphesosLampen. Alle Keramikgruppen zeichnen sich durch eine besondere
Produktionstechnik aus, die mithilfe von Matrizen durchgeführt wurde.4
Eine Matrize war ein Model mit negativen Eindrücken, in das feuchter
Ton gedrückt wurde. Die daraus entstandene positive Form des Abdrucks
konnte von den Töpfern nachträglich mit verschiedenen Werkzeugen
bearbeitet werden. So wurde das Bild mit Details, wie z. B. Bauchnabel
oder Muskelpartien bereichert, was der bildlichen Darstellung einen
leibhaftigen Eindruck verschaffen konnte.5
Bei der Applikenware wurde das im Model geformte Stück Ton auf
das Gefäß aufgeklebt und anschließend engobiert. Als besondere, lokale
Eigenart sind die Appliken in Ephesos mit einer anderen Rezeptur her
gestellt als der Gefäßkörper. Archäometrische Analysen ergaben, dass
die Tonmatrix der Appliken, wenn sie als reine Verzierung auf das Gefäß
aufgeklebt waren, stärker von organischen Einschlüssen versetzt war. Die
Zutaten waren notwendig um den Ton weicher und besser formbar zu
machen, so dass Details über die Matrize angegeben werden konnten. Al
lerdings brannten im Ofen die organischen Zusätze aus und hinterließen
infolgedessen eine poröse Matrix und Oberfläche. Eine solche Oberfläche
scheint das ästhetische Empfinden des Konsumenten im späthellenis
tischen Ephesos nicht gestört zu haben, da diese Fertigungstechnik
über knapp zwei Jahrhunderte Bestand hatte. Verschiedene Gründe für
die Streckung des Tons sind denkbar: zum einen trocknet die Applik
schneller und verkürzt womöglich die Prozessabläufe. Zum anderen wird
die Applik leichter, was für den Nutzer komfortabler im Umgang mit
dem Gefäß, für den Töpfer und Händler womöglich auch nützlich beim
Lastentransport gewesen sein könnte. Weiterhin denkbar wäre auch, dass
der Töpfer seinen Ton strecken wollte und ihn deshalb mit den organi
schen Zusätzen, wie z. B. Dung, vermischt hat. Der ephesische Töpfer
wusste, was die Veränderung der Tonrezeptur bewirken konnte, denn
bei den Muschelappliken verwendete er eine ganz andere Rezeptur. Mu
schelappliken wurden als Standfüße an den Gefäßboden angebracht. Die
archäometrischen Untersuchungen zeigten, dass die Muschelfüße eine
viel dichtere Tonmatrix besaßen als der dazugehörige Gefäßkörper, der
Ton also dementsprechend anders geschlämmt und mit weniger groben
4 Siehe dazu die Arbeiten von Giuliani 2005, passim; Rogl 2003, passim;
LätzerLasar 2013, passim; LätzerLasar / Peloschek 2014, passim.
5 Zur Leibhaftigkeit von Skulpturen siehe Boschung/Vorster 2015, 5.
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 137
Zutaten versetzt wurde als bei den Appliken auf der Wandung. Grund
für die dichte Tonmatrix muss die hohe Belastbarkeit der Standfüße sein,
die nicht leicht (weg)brechen sollten. Ein Vergleich der Proben ergab,
dass lediglich ephesische Keramikgefäße diese Eigenheit aufwiesen. Im
Vergleich dazu besaßen die aus Pergamon stammenden Gefäße, die in
Ephesos gefunden wurden, eine durchweg homogene Tonmatrix.6
In Ephesos waren vegetabile und abstrakte Verzierungsmuster beim
Relief und Applikendekor äußerst beliebt. Doch es gibt auch einen nicht
unbeachtlichen Anteil figürlicher Motive. Beim figürlichen Dekor treten
vermehrt mythologische Szenen oder Liebesakte auf. Porträts oder Köpfe
sind hingegen selten zu finden. So lassen sich aus den hellenistischen und
frühkaiserzeitlichen Fundkomplexen in Ephesos lediglich 15 Beispiele
verzeichnen, die einen Kopf bzw. eine Büste als Bildmotiv aufweisen. Sie
werden im Folgenden detailliert vorgestellt.
Darstellungen von Silensköpfen treten mit sieben Exemplaren am
häufigsten auf (Tab. 1), wobei das vorliegende Bildmaterial den Silen stets
als Erwachsenen bzw. als Greis (Papposilenos)7 und nicht als Jugendlichen
oder als Kind zeigt. Der Papposilenos ist allgemein durch sein älteres
Aussehen charakterisiert, das vor allem durch einen schwindenden Haar
ansatz im Bereich der Stirn, wie auch ein stark faltiges und zerfurchtes
Gesicht verdeutlicht wird. Jedoch wirkt er dabei nicht gebrechlich. Die
Art, den Silen in Form von Büsten als Verzierungselement zu benutzen,
existierte zwar schon in der Archaik, doch ihren Höhepunkt erreichte
die Entwicklung im Hellenismus und der frühen römischen Kaiserzeit.8
Besonders auf Symposiumsinventar, wie beispielsweise Klinen, finden
sich vermehrt Köpfe des äußerst beliebten Papposilenos.9 Im keramischen
Fundmaterial sind vor allem Medaillonschalen, die ebenfalls beim Sym
posium genutzt wurden, mit der Büste verziert. Das Charakteristikum
dieses Trinkschalentyps ist eine Applik, die im Innern des Gefäßes, meist
mittig, auf dem Boden angebracht worden ist. Für das zentrale Bild sind
ausschließlich figürliche Motive gewählt worden. Dies konnten Götter,
Menschen oder – wie v. a. in Knidos – Tiere sein.10
6 LätzerLasar 2013, 140.
7 Simon 1997, 1112, 4.
8 Schlotzhauer 2006, 249, Anm. 88
9 BarrSharrar 1987, C1–C49, Taf. 1–15.
10 In Knidos sind v. a. Frösche sehr beliebt, die leicht versetzt zur konzentri
schen Bodenmitte appliziert wurden, siehe LätzerLasar 2013, 52, 154; Kögler
1996, Taf. 20, 4.
138
1 Innenseite Medaillonschale mit Kopf des
Papposilenos (Aufsicht)
Als einziges Importstück unter den Medaillonschalen ist Kat. 1 zu
verzeichnen. Archäometrische Untersuchungen belegen, dass die Trink
schale in Pergamon produziert wurde (Abb. 1).11 Sie stammt aus einem
der frühsten Fundkontexte in Ephesos im Bereich der Stoa, der in die
11 MitsopoulosLeon 1991, 56, C1, Taf. 64; LätzerLasar 2013, 141, Probe PIE
12–13.
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 139
zweite Hälfte des 3. Jh. v. Chr. datiert wird.12 Auf der Applik findet sich
die Darstellung eines älteren Silens, im Typus des Papposilenos.13 Das
Gesicht ist gekennzeichnet durch tiefliegende Augenhöhlen mit nach
oben gezogenen, wulstigen Augenbrauen, einer hervorstehenden und
in Falten gelegten Stirn sowie einer kurzen spitzen Nase (Stupsnase).
Die prägnante Stirnglatze wird an den Seiten von einer zotteligen Haar
reihe flankiert. Womöglich liegt ein Blätterkranz über der verbleibenden
Haarpracht, der nicht über der Stirn geschlossen ist. Aufgrund der Be
stossungen und des Abplatzens der Engobe in diesem Bereich ist es nicht
eindeutig erkenntlich. Der Bart ist lang und wellig. Die Schale weist eine
in Ephesos rare Kombination von verschiedenen Verzierungselementen
auf, so wurde die Applik zusätzlich mit einer weißen Efeuranke umrun
det, wie es für Keramik des sog. WestabhangNachfolgestils üblich ist.14
Die gleiche Technik und die gleichen Motive (Papposilenos, Efeuranke)
wurden für Kat. 15 (Abb. 2) eingesetzt. Die lokal hergestellte Oinochoe
stammt aus einem Fundkontext, der in das letzte Viertel des 1. Jh. v. Chr.
datiert wird.15 Die Applik wurde unter der kleeblattförmigen Mündung
der Kanne angebracht. Zusätzlich wurde der Hals der Kanne mit einer
weißen Efeuranke bemalt. Die Darstellung unterscheidet sich von Kat. 1
in der Mund und Stirnkranzgestaltung. Der Mund ist stark ovalförmig
geöffnet. Der buschige Bart verstärkt die Öffnung des Mundes. Kat. 1
hingegen weist zwar wulstige Lippen auf, doch diese sind nur leicht ge
öffnet und die Mundwinkel sind nach unten gezogen, ähnlich wie es bei
den DionysosKöpfen (siehe unten) vorkommt.16 Die Kombination der
beiden Verzierungstechniken sowie der beiden Motive scheint gängig in
Ephesos gewesen zu sein, da sie in einer Zeitspanne von fast 200 Jahren
wiederholt auftreten.
12 Lawall 2007, 29.
13 Simon 1997, 754, Nr. 48.
14 Lätzer 2009, 133 mit Anm. 70 und 138–140. Eine weitere Medaillonschale
mit einem geflügelten Eros in der Mitte weist ebenfalls Rankenverzierungen
um die Applik auf, allerdings wurden diese nicht mit Farbschlicker aufgemalt,
sondern eingeritzt. Diese Verzierungstechnik ist in Ephesos nicht unüblich
bei der lokalen Keramik im WestabhangNachfolgestil. Für die Kombination
von Applik und Ritzdekor in Pergamon siehe Hübner 1993, Kat. 109c, Taf. 19,
Kat. 138.2, Taf. 27.
15 Lätzer 2009, 140. 189, Kat. 63, Typ W2, Abb. 8 a. b., Taf. 4, 63; vgl. LIMC
VIII, 2, 754, Silenoi 48.
16 Vgl. MitsopoulosLeon 1991, 55 ff, B 27, Taf. 27 und C 1, Taf. 64.
140
2 Hals einer Oinochoe mit Applik unter dem Ausguss
(Silenskopf )
Die stark geöffnete Mündung wirkt maskenhaft und findet sich auf
Kat. 5 wieder (Abb. 3).17 Die Applik zeigt einen Kopf mit einer hervor
stechenden zotteligen Barttracht. Der füllige Schnurrbart umrahmt die
Mundform. Über der Stirnglatze liegt ein Kranz, der in die Stirn gezogen
ist. Die genannten Charakteristika lassen den Kopf eindeutig als einen
älteren Silen identifizieren, wie er schon von Kat. 1 bekannt ist. Eine form
ähnliche Applik ist mit Kat. 9 (Abb. 4, vgl. Taf. 3d) erhalten.18 Womöglich
17 MitsopoulosLeon 1991, 56. 63, C3, Taf. 64.
18 Lätzer-Lasar 2013, Kat. 164, Taf. XLVII, LX.
LÄT Z E R -LA S A R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 141
3 Innenseite Medaillonschale mit Silenskopf (Aufsicht)
4 Innenseite Medaillonschale mit Silenskopf (Aufsicht; s. Taf. 3d)
142
5 Außenwandung mit Kopfapplik (Silen)
6 Außenwandung mit Kopfapplik (Silen)
LÄT Z E R -LA S A R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 143
stammen die Appliken aus der gleichen Matrize oder zumindest von der
gleichen Vorlage ab. Die Details des Gesichts sind bei der Schale Kat. 9
aufgrund ihrer scharfen Konturierung noch eindeutiger zu erkennen. Der
Kranz über der Stirn endet in Korymben, ist aber nicht geschlossen. Ge
sichtsfalten, wie z. B. über der Stirn oder im Bereich der Nasolabialfalten,
sind in tiefen Furchen wiedergegeben. Einzelne Haar und Bartsträhnen
wurden mit dem Werkzeug nachbearbeitet, so dass sich dort ein Wech
selspiel aus tiefen, aber auch feinen Rillen ergeben hat.
Neben den vier Medaillonschalen kommen Silensköpfe auf der
Außenwandung von drei weiteren Gefäßen vor. Aufgrund des Scherben
profils kann man bei Kat. 6 (Abb. 5) von einer eimerartigen Gefäßform,
womöglich einer Situla, ausgehen.19 Die Darstellung des Silens weicht
stilistisch ab von den vorherigen Beispielen. Das Gesicht ist flacher
modelliert, wodurch die mandelförmigen Augen besonders hervorste
chen. Die charakteristische zottelige Bart und Haarttracht ist in großen
Strähnen wiedergegeben, die sich strahlenartig und ohne Unterteilung
um den Kopf und das Gesicht legen. Die Stirnpartie ist typischerweise
stark ausgeformt und mit Wülsten und Falten betont. Beim Ansetzen der
Applik wurde die Nasenpartie flach gedrückt. Allerdings hat der Töpfer
die Applik nicht nachträglich korrigiert bzw. bearbeitet, was auf eine
nachlässige und schnelle (Ab)Fertigung des Produkts hinweist.
Der Kopf des Silens von Kat. 11 (Abb. 6) gehört zu einer Trinkschale
mit überlappender Lippe. Die Applik wurde unter der Lippe angebracht
und reicht bis zu einer Profilierung, auf die ein Wandknick folgt.20 Mit
der polosartigen Bedeckung auf dem Kopf wirkt der Silen wie ein archi
tektonisches Bindeglied, das den Formaufbau des Gefäßes betont. Unter
dem Polos scheiteln sich die Haare und legen sich gewellt nach hinten.
Die Augenbrauen sind buschig angegeben. Die einzelnen Partien des
Gesichtes sind voneinander getrennt und deutlich erkennbar. Sogar die
Wangenknochen wurden als eigenes Gesichtselement modelliert und
dadurch besonders hervorgehoben. Die Abbildung des Silens auf der
Trinkschale Kat. 12 (Abb. 7) ähnelt Kat. 11, allerdings unterscheidet sich
die Barttracht durch eine Scheitelung/Teilung in der Mitte.21 Die Schale
19 MitsopoulosLeon 1991, 62, C28, Taf. 73; Parallelen bei Hübner 1993, 77. 187,
Kat. 22, Taf. 3.
20 Zur Datierung des Fundkomplexes: Rogl 2003, 188, Anm. 3; ZabehlickyScheffenegger/Schneider 2000, 106, Abb. 1, 8 und 2, 6 oben.
21 Waldner 2009a, 177. 418, K1334, Taf. 70; Parallelen: Rotroff 2003, Taf. 125,
717; Hübner 1993, Taf. 4, 24.
144
Kat. 12 stammt aus einem Fundkontext, der um das Ende des 2. bis Mit
te des 1. Jh. v. Chr. datiert wird, während Kat. 11 aus einem augusteisch
datierten Stratum geborgen wurde. Silensköpfe bzw. büsten auf Kera
mikgefäßen abzubilden scheint zum Standardrepertoire eines Töpfers in
hellenistischer Zeit zu gehören. Womöglich übernimmt er das Bildthema
von metallenen Vorbildern, die auf Möbeln oder Gefäßen appliziert waren.
Bis in die frühe Kaiserzeit bleibt der ältere Silen als Büste auf Keramik
beliebt.22
Neben den Silensköpfen kommen bärtige, männliche Darstellungen
am zweithäufigsten vor. Der Kopf von Kat. 2 (Abb. 8) ist sehr stark be
schlagen.23 Das Gesicht war der höchste Punkt der ca. 4 cm hohen Applik.
Schemenhaft lassen sich die zwei Augenhöhlen und die Nasenwurzel
erkennen. Das Gesicht umrandet ein Kranz von dicken Locken, welche
in Strähnen um den Kopf gelegt sind, ähnlich einer weiblichen Melonen
frisur. An der rechten Seite ist der Rest eines Bartes zu sehen. Es handelt
sich demnach um eine männliche Figur. Der Kopf ist verhüllt (capite
velato), was auf eine Darstellung als Opfernder hinweist.24 Die Applik von
Kat. 13 (Abb. 9) zeigt ebenfalls einen männlichen Kopf, dessen Haare sich
in eingedrehten Strähnen um das Haupt legen.25 Das Gesicht ist schmal.
Der Bart ist lang und läuft spitz zu. Auch der Schnurrbart ist ebenfalls
sehr lang. Während der lange Bart bis zur Klassik das virile Merkmal
in der allgemeinen Körperbildästhetik war, galt er im Hellenismus als
Spezifikum für Götter, Philosophen, Strategen oder Älteste. Es ist unklar,
wen das Bild konkret zeigt, da neben der Haar und Barttracht das unspe
zifische Gesicht eine Identifizierung kaum zulässt. Auch lassen sich keine
Attribute erkennen, die die Identifizierung einer Gottheit ermöglichen
würde. Dass mit dieser Abbildung ein Philosoph gemeint sein könnte,
wäre möglich, zumal ein weiteres Beispiel für ein Philosophenporträt im
Fundmaterial vorhanden ist. Die Medaillonschale Kat. 10 (Abb. 10) zeigt
einen bärtigen Mann im Profil.26 Der Kopf wendet sich nach rechts. Die
22 In seiner ganzen Gestalt wird der Silen ebenfalls auf lokaler Keramik dar
gestellt, wie eine Schale mit der Darstellung eines rückwärts reitenden Silenen
auf einem Maulesel zeigt, LätzerLasar 2013, Kat. 330.
23 MitsopoulosLeon 1991, 56, C8, Taf. 65.
24 Sehlmeyer 199, 122.
25 Waldner 2009a, 61. 252, K237, Taf. 11. 84; Waldner 2009b, 291, Abb. 11, 22.
26 Lätzer-Lasar 2013, Kat. 351, Taf. LXIV. Zur Datierung des Fundkomplexes:
Rogl 2003b, 188, Anm. 3; ZabehlickyScheffenegger/Schneider 2000, 111, Abb. 5,
2 (links oben).
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 145
7 Fragment mit Kopfapplik (Silen)
8 Innenseite Medaillonschale mit Kopfapplik (Aufsicht)
146
9 Außenwandung mit Applik (bärtiger Kopf )
10 Innenseite Medaillonschale mit Philosophenporträt
(Aufsicht)
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 147
Applik ist gebrochen, weshalb der Hinterkopf und die obere Hälfte des
Kopfes nicht mehr erhalten sind. Die hohe gebogene Stirn lässt jedoch eine
Stirnglatze vermuten. Über dem rechten Ohr liegen dichte Haarsträhnen,
die horizontal gelockt sind. Der Bart ist ebenfalls lockig und in einzelne
Strähnen gelegt, die zu den Enden dünner und geschwungener werden.
Als Betonung wurde bei den untersten Windungen der Bartsträhnen
ein spitzes Werkzeug in den noch ungebrannten Ton eingedrückt, so
dass die Bartlocken dort eine weitere Tiefe erhielten. Das Gesicht zeigt
einige markante Züge, so ist beispielsweise die Nase lang und gekrümmt
(Adlernase). Zudem liegen die Augen tief in ihren Höhlen und die langen
Augenbrauen formen sich in einem leichten Knick nach unten. Der Blick
ist nach vorne gerichtet. Ein Hals ist nicht mehr erkennbar, da an dieser
Stelle der Rand der Applik mit der Gefäßwandung verstrichen wurde. Eine
konkrete Benennung des Philosophen gestaltet sich schwierig.27 Aufgrund
der Stirnglatze, der horizontalen Locken über den Ohren, sowie der langen
gekrümmten Nase könnte ein Diogenes vermutet werden.28 Doch es ist
ebenfalls möglich, dass die porträthafte Abbildung vielmehr einen Ste
reotyp darstellen sollte. Archäometrische Untersuchungen ergaben, dass
die Medaillonschale zur Gruppe der ›Eastern Sigillata B‹ gehört, die erst
ab dem letzten Drittel des 1. Jhs. v. Chr. in Ephesos hergestellt wurde.29 Der
Fundkontext, aus dem das Fragment stammt, wird in die augusteische Zeit
datiert. Da Medaillonschalen und die Applikenverzierung in der ersten
Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. langsam aus der Mode kamen, scheint die zeitliche
Einordnung beider kohärent zueinander zu sein.
Bei den folgenden beiden Abbildungen Kat. 3 und 4 (Abb. 11 und
12, vgl. Taf. 3a–b) handelt es sich um Büsten, deren Köpfe in Dreivier
telansicht gezeigt werden. Bei Kat. 3 sind der obere Teil der Brust und
die Schultern angegeben.30 Der Rand der ca. 2,5 cm hohen Applik wurde
nicht mit dem Boden des Gefäßes verstrichen und geebnet, sondern die
scharfe Kante wurde durch eine zusätzliche Profilierung betont. Der Kopf
wendet sich nach links. Die schwarze Engobe ist partiell abgeplatzt, den
noch lassen sich die Details des Gesichtes erkennen. Das Gesicht besitzt
ein schweres Kinn, ist aber bartlos. In dieser Gestaltung entspricht der
Kopf dem DionysosTypus Basileia, der sich in der Mitte des 4. Jh. v. Chr.
27 Als nicht näher benannter Philosoph bei Lang 2012, VU14.
28 von den Hoff 1994, 46, Nr. 32;Richter 1965, 185, Abb. 1072.
29 Rogl 2003, 188, Anm. 3; ZabehlickyScheffenegger/Schneider 2000, 111,
Abb. 5, 2 (links oben).
30 MitsopoulosLeon 1991, 56, C6, Taf. 65.
148
11 Innenseite Medaillonschale mit Büste des Dionysos
(Aufsicht; siehe Taf. 3a)
entwickelt.31 Die Lippen sind fleischig und die Mundwinkel leicht nach
unten gezogen. Die Haare sind in der Mitte gescheitelt und nach hinten
gestrichen. Auf dem Kopf sind zwei seitliche Erhebungen zu erkennen.
Es könnte sich dabei um zwei Hörner handeln, wie sie beim Typus des
Dionysos Tauromorphos vorkommen. Dann allerdings wären sie von
langen Haarsträhnen überdeckt, die sich um die Hörner winden und
anschließend bis zu den Schultern herabfallen. Der Hals wurde sehr breit
dargestellt und weist zwei feine Falten auf. Die Figur scheint ein Gewand
zu tragen, das sich vorne auf der Brust in weiche, überlappende Falten
legt. Die Schale gehört zur sog. Grauen Ware mit schwarzem Überzug. Sie
weist eine lokale Tonrezeptur und Produktionstechnik auf, die der Eastern
31 LIMC III, 2 (1986), 321, Nr. 202b, s. v. Dionysos, Tipo Basileia (C. Gasparri).
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 149
12 Innenseite Medaillonschale mit Dionysoskopf
(Aufsicht; siehe Taf. 3b)
Sigillata B zumindest chemisch sehr ähnlich ist, jedoch reduzierend ge
brannt wurde.32 Die Leitform der in der frühen Kaiserzeit entstandenen
Keramikware ist der Teller. Die Medaillonschale bleibt somit bisher ein
singuläres Beispiel in diesem Fabric.
Kat. 4 ist eine oxidierend gebrannte Medaillonschale, die zur Gruppe
der Eastern Sigillata B gehört (Abb. 12).33 Der Kopf und ein kleiner Teil des
Halsansatzes sind abgebildet. Die Applik hebt sich nicht ab, sondern ist
gleichmäßig mit dem Gefäßkörper verschmolzen. Hier wendet die Figur
ihren Kopf stark nach rechts und schaut leicht nach oben. Das Gesicht
ist bartlos, wie bei Kat. 3, doch das Kinn ist viel schwerer und runder.
32 Eine Dissertation zur Grauen Ware mit schwarzem Überzug wird von T.
Hintermann vorbereitet (Universität Zürich).
33 MitsopoulosLeon 1991, 56, C7, Taf. 65.
150
Die wulstigen Lippen liegen horizontal übereinander und sind dabei
leicht geöffnet. Das Haar ist kurz und gewellt. Auf dem Kopf trägt die
Figur einen Kranz aus Blattwerk. Da der obere Kopfteil der Applik bis
zum linken Auge bestoßen ist, sind Details zum Kranz nicht erkennbar.
Es ist jedoch anzunehmen, dass es sich um Wein und/oder Efeublätter
handelt. Die beschriebene Ikonographie der Figur und ihre Darstellung
deuten auf den Typus des DionysosHades hin.34
Appliken lassen sich nicht nur auf Trinkgefäßen – im Innern als
Medaillon oder auf der Außenwandung – sondern ebenfalls auf geschlos
senen Gefäßen, wie z. B. Krügen oder Kannen finden. Sowohl Kat. 7 und
8 wurden beide als Henkelattaschen genutzt (Abb. 13 und 14, vgl. Taf. 3c).
Dabei wurde die Applik über das untere Ende des Henkels angebracht,
um die Verbindungsstelle von Henkel und Gefäßkörper zu verdecken
bzw. zu zieren. Bei Kat. 7 handelt es sich um ein eimerartiges Gefäß mit
Henkeln (Situla), dessen Applik v. a. im rechten Bereich durch eine un
saubere Fertigungstechnik verwischt worden ist.35 Der Überzug außen ist
abgerieben. Die Konturen des fülligen Gesichtes sind weich angegeben.
Die hohen Wangenknochen stehen rund heraus. Die Augen sind groß
und rund. Die Lippen ähneln denen der DionysosKöpfe, in ihrer sehr
wulstigen und horizontal übereinandergelegten Form. Eine Haarfrisur ist
im Detail nicht erkennbar. Über der Stirn ist ein hoher, scharfkantig ab
gesetzter Bereich. Es könnte sich dabei um den Teil einer Frisur handeln.
Ursprünglich wurde eine Stephané36 angenommen. Diese würde dann
aber nicht wie üblich sichelförmig sein, sondern durchgehend gleich hoch
bleiben und auch sehr weit über die Stirn hinausragen37. Vermutlich han
delt es sich um den Teil einer Frisur, der allerdings schlecht ausgefertigt
wurde. Die Applik auf der Kanne Kat. 8 setzt am tiefen unteren Teil des
sehr bauchigen Gefäßkörpers an. Der Form nach kommt als Gefäßtyp
eine Kanne in Frage.38 Die Kanne ist mit einer glänzenden, schwarzen
Engobe überzogen, die im Bereich der Applik partiell abgeplatzt ist. Das
34 Vgl. Richter 1958, 373, Taf. 92, 22.
35 MitsopoulosLeon 1991, 62, C27, Taf. 73.
36 Stephané ein sichelförmiger Haarreif, der z. B. von Hera und Juno als Zeichen
ihrer Hoheit getragen wird. Ab der hellenistischen Zeit wurde er auch von
sterblichen Herrscherinnen getragen, siehe dazu: Fleischer 1991, 42.
37 Als Stephané müsste sie auch weiter hinten auf dem Kopf sitzen und nicht
am Stirnansatz, freundliche Mitteilung F. Queyrel; siehe auch: Queyrel 1984,
passim.
38 MitsopoulosLeon 1991, 62, C26, Taf. 73.
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 151
13 Henkelattasche mit weiblichem Kopf
14 Henkelattasche mit Büste einer weiblichen Figur (siehe Taf. 3c)
152
Bild zeigt einen Kopf mit Halsansatz, der frontal nach vorne schaut. Ihn
umgibt ein Schleier, der am hinteren Kopfende befestigt zu sein scheint,
wodurch ein großer Teil der Frisur sichtbar wird. Um die Stirn ist das
lockige Haar in einzelnen Strähnen nach innen eingeschlagen und wie
ein Kranz um das Haupt gelegt. Der Rest des Haares ist in der Mitte
gescheitelt und in Wellen nach hinten gekämmt. Wahrscheinlich war das
Haar dieser weiblichen Figur am Hinterkopf unter dem Schleier hoch
gesteckt. Das Gesicht ist rundlich, doch eher schmal. Die runden Augen,
die schmale Nase und die wulstigen, doch kurzen Lippen konzentrieren
sich auf der Achsenlinie des Gesichts. Dadurch erhält die Wangen und
Kinnpartie mehr Fläche. Der Hals ist hoch und breit dargestellt. Eine
nähere Bestimmung der Bildfigur ist nicht möglich39.
Aus einem frühen Stratum, das um 200 v. Chr datiert wird, stammt
der Henkel einer Kanne (Kat. 14, Abb. 15).40 Bei diesem Beispiel ist die
Applik noch auf dem Henkel und nicht an der Schnittstelle zum Gefäß
körper angebracht. Es handelt sich um einen Kopf, der von einem Schleier
verhüllt wird. Der Schleier ist unter dem Kinn sehr eng übereinander
geschlagen, so dass die Wangen verdeckt werden. Die Augen liegen tief
und stehen eng beieinander. Sie verlaufen zudem zur Außenseite hin
schräg nach unten. Unter der geraden Nase liegen wulstige Lippen. Die
Stirn ist hoch. Das Haupthaar ist schwierig zu erkennen, doch scheint der
vordere Teil wellig und in der Mitte geteilt zu sein. Der Schleier darüber
wirft sich in drei Falten hoch, wobei die mittlere Falte sich am höchsten
erhebt. Die Applik ist nachlässig bearbeitet. Dafür spricht, dass über
dem rechten Auge ein kleines rundes Stück Ton klebt, dass nicht mehr
nachträglich entfernt, sondern einfach mit Farbschlicker überzogen und
danach mitgebrannt wurde. Entweder machten solche kleinen Produk
tionsfehler bei der Massenware nichts aus oder dem Töpfer ist dieser klei
ne Makel nicht aufgefallen, was auf eine verminderte Qualitätskontrolle
hinweist.41 Die Gestaltung des aufgeworfenen Schleiers über dem Kopf
und der Frisur spricht gegen eine Interpretation als Perserdarstellung.
39 Eine Ähnlichkeit zu den Darstellungen zu ptolemäischen Herrscherinnen
könnte vermutet werden, jedoch fehlt die Stephané als königliches Erkennungs
zeichen, siehe dazu: Burr Thompson 1933, passim.
40 Ladstätter 2003a, 70, K292.
41 Wie sie beispielsweise auf dem böotischen, schwarzfigurigen Skyphos aus
Lokris, (400 v. Chr., Athen Nationalmuseum dargestellt ist: https://www.uibk.
ac.at/klassischearchaeologie/Institut/Diplomarbeiten/KrassnitzerDipl.html
(08.09.2016).
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 153
15 Henkelattasche mit ummanteltem Kopf
Er verweist eher auf eine weibliche Figur, wie beispielsweise eine Diene
rin. Vergleichsbeispiele aus der Mitte des 1. Jhs. v. Chr. lassen sich in der
thasischen Großplastik finden.42
Die Matrizentechnik ermöglichte figürliche, dreidimensionale Bilder
serienmäßig auf Keramik anzubringen. Im Hellenismus besaßen die
ephesischen Töpfer sowohl das Knowhow als auch das Werkzeug, um
die Bilder detailreich zu gestalten bzw. nachzubearbeiten. Allerdings
machen allgemein figürliche Bilder nur einen sehr geringen Prozentsatz
im lokalen Keramikinventar von durchschnittlich 1 % aus.43 Dabei wäre
es ein Leichtes für die Töpfer gewesen, porträthafte Bilder von z. B.
hellenistischen Herrschern, wie sie auf Münzprägungen bekannt waren,
anzufertigen. Doch der Fokus bei der Auswahl der Bildthemen lag bei
den lokalen Töpfern eher auf narrativen Bildszenen, wie beispielsweise
Liebesszenen oder Amazonomachien. Die sehr begrenzte Auswahl an
Köpfen oder Porträts auf hellenistischer und frührömischer Keramik
in Ephesos lässt vermuten, dass kein Interesse an individuellen oder
42 Gkikaki 2011, 502, Kat. McP 9, oder auch die große Herkulanerin (Kat. McP 2a).
43 LätzerLasar 2015, 254, Abb. 2.
TAB. 1 MOT IVE NACH FUN D O R T EN
INVENTARNUMMER
MOTIV
STRATIGRAPHISCHE ANGABE/DATIERUNG
1
Basilika/Stoa
BAS 63/61/K309
Silen
(Spät)Hellenistisch
2
Basilika
BAS 63/S1/17
Priester?
Hellenistisch und Bauzeit Basilika
3
Basilika
BAS 65/145/4342
Dionysos
Hellenistisch und Bauzeit Basilika
4
Basilika
BAS 65/146/4343
Dionysos
Hellenistisch und Bauzeit Basilika
5
Basilika
BAS 65/4066
Silen
Hellenistisch und Bauzeit Basilika
6
Basilika
BAS 68/18
Silen
Hellenistisch und Bauzeit Basilika
7
Basilika
BAS 68/82/7104
Weibliche Figur mit Stephané
Späthellenistisch / Beim Odeion
8
Basilika
BAS 70/46/912/7
Weibliche Figur mit Peplos
Späthellenistisch / Süd
9
Basilika
BAS 500/1
Satyr
Hellenistisch und Bauzeit Basilika
10
TetragonosAgora
AG 95/200/1
Philosoph
»Sentiusschutt« (augusteisch)
11
TetragonosAgora
AG 95/188/4
Silen
»Sentiusschutt« (augusteisch)
12
Kuretenhalle,
Straßenniveau n7
1996/95/21
Silen
Ende 2. bis erste Hälfte 1. Jh. v. Chr.
13
Heroon
HE 89/5/100
Bärtiger Mann
Baugrube (Späthellenistischer Haushalt, 75–50 v. Chr.)
14
SR 12, Hanghaus 1 H1 94/SR12/K292
Weibliche Figur mit Schleier
Um 200 v. Chr.
15
Hanghaus 2
Silen
Letztes Viertel 1. Jh. v. Chr.
H2 99/729/01
154
KAT. NR. FUNDORT
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 155
individualisierten Bildern bestand. Vielmehr wurden traditionelle Dar
stellungen aus dem dionysischsymposiastischen Bereich bevorzugt, wie
Silene, der Gott Dionysos, bärtige Männer oder unspezifische weibliche
Figuren. Sogar Philosophen wurden derart unspezifisch dargestellt, dass
eine konkrete Zuschreibung unmöglich erscheint. Aus diesem Grund ist
davon auszugehen, dass Trinkschalen mit der Abbildung eines Philo
sophen eher symbolisch zu verstehen waren. Damit sollte entweder das
Gespräch während des Symposiums zu einem intellektuellen Gesprächs
austausch animiert werden oder der Gastgeber beabsichtige, sich mit
altbekannten Symposiumsthemen zu präsentieren. In Ephesos erfreuten
sich die Ionischen Reliefbecher größerer Beliebtheit als applikenverzierte
Keramik, doch deren Dekormotive waren vornehmlich vegetabil. In Per
gamon hingegen lässt sich eine größere Vielfalt an figürlichen Bildthemen
auf applikenverzierter Keramik finden. Dort finden sich jedoch ebenfalls
spärliche Evidenzen für porträthafte Bilder. Aus diesem Grund ist davon
auszugehen, dass im Hellenismus und in der frühen römischen Kaiserzeit
porträthafte Bilder, Köpfe oder auch Büsten nicht den zeitgenössischen
Geschmack trafen und deshalb keinen Bestand im lokalen Keramikka
talog fanden. Vielmehr bestand in Ephesos eine höhere Nachfrage nach
Keramik mit pflanzlichem Dekor oder Bildnarrativen.
KATALOG
KAT. 1
Inv.Nr: BAS 63/61/K309
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Medaillonschale
Fabric: hart, fein, feinporös; 10 YR 8/4; Glimmer, sehr fein, 10 %, rote ES,
sehr fein, 25 %, mittel, 1 %,
schwarze ES, fein, rund und länglich, 15 %, Quarz, fein, 5 %
Überzug: glatt, leicht glänzend; 10 YR 2/1 mit 8/3
BDm in cm: 2,5
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 56, C1, Taf. 64. Für die Kombination von
Applik und Schlickerdekor: Hübner 1993, 210, Kat. 343, Taf. 76
KAT. 2
Inv.Nr: BAS 63/S1/17
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Medaillonschale
156
Fabric: hart, fein, feinporös; 7.5 YR 7/3; Glimmer, fein, 30 %, weißer Quarz,
fein, 15 %, mittel, 2 %, graue ES,sehr fein, 7 %, rote ES, fein, 7 %, schwarze
ES, fein, 7 %, brauner Quarz, fein, 3 %, braune ES, fein, länglich, 10 %
Überzug: glatt, matt; 10 R 5/4, eine Seite ist leicht fleckig mit 4/1
BDm in cm: 4
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 56, C8, Taf. 65
KAT. 3 (Taf. 3a)
Inv.Nr: BAS 65/145/4342
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Medaillonschale mit getreppten Boden
Fabric: hart, fein, feinporös, unregelmäßig; 5 YR 6/4; Glimmer, fein, 25 %,
weiße ES, fein, 15 %, rote ES, fein mittel, 2 %, schwarze ES, fein, rund und
länglich, 10 %, mittel, 1 %
Überzug: glatt, leicht glänzend; GLEY 1 2.5/N
BDm in cm: 4
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 56, C8, Taf. 65
KAT. 4 (Taf. 3b)
Inv.Nr: BAS 65/146/4343
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Medaillonschale mit getreppten Boden
Fabric: hart, fein, feinporös; 2.5 YR 6/8; Glimmer, fein, 25 %, weiße ES,
fein, 20 %, mittel, 1 %, graue ES, fein, 7 %, schwarze ES, fein, 5 %, rote ES,
fein, 1 %, Quarz, fein, 2 %
Überzug: glatt, matt; 10 R 5/6 (nur innen)
BDm in cm: 3,4
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 56, C7, Taf. 65
KAT. 5
Inv.Nr: BAS 65/4066
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Medaillonschale mit Ringstandfuß
Fabric: hart, fein, feinporös; 2.5 YR 6 /6; Glimmer, fein, 15 %, weiße ES,
fein, 20 %, feinmittel, 3 %, rote ES, sehr fein, rund
Überzug: glatt, matt; außen 10 R 4/6 und innen 2.5 YR 2.5/1
BDm in cm: 2,2
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 56. 63, C3, Taf. 64.
KAT. 6
Inv.Nr: BAS 68/18
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Situla mit Henkelattasche
Fabric: hart, fein, feinporös; 2.5 YR 6/6; Glimmer, fein, 15 %, weiße ES, fein,
LÄT Z E R -LA S A R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 157
40 %, Quarz, fein, 15 %, dunkelgrau, fein, rund und länglich, 7 %
Überzug: glatt, matt; 10 R 5/4 innen, außen fast vollständig abgerieben
Erhaltene Höhe in cm: 5,4
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 62, C28, Taf. 73, vgl. Hübner 1993, 77. 187,
Kat. 22, Taf. 3.
KAT. 7
Inv.Nr: BAS 68/82/7104
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Situla/Eimer mit Henkelattasche
Fabric: hart, sehr fein, feinporös; 2.5 Y 5/1; Glimmer, fein, 15 %, weiße ES,
fein, 40 %, Quarz, fein, 7 %, dunkelgrau, sehr fein, rund und länglich, 7 %
Überzug: glatt, matt; 2.5 Y 2.5/1 innen, außen fast vollständig
Erhaltene Höhe in cm: 4,7
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 62, C27, Taf. 73; vgl. Hübner 1993,
Kat. 31, Taf. 4 (aber DionysosKopf ).
KAT. 8 (Taf. 3c)
Inv.Nr: BAS 70/46/912/7
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Kanne mit Henkelattasche
Fabric: h hart, sehr fein, feinporös; 7.5 YR 6/4; Glimmer, sehr fein, 10 %,
weiße ES, fein, 30 %, Quarz, fein, 7 %, dunkelgraue ES, sehr fein, rund
und länglich, 7 %
Überzug: glatt, partiell leicht glänzend; 7.5 YR 2.5/1 (innen teilweise)
Erhaltene Höhe in cm: 3,6
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 62, C26, Taf. 73.
KAT. 9 (Taf. 3d)
Inv.Nr: BAS 500/1
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Medaillonschale mit Ringstandfuß
Fabric: hart, fein, feinporös; 7.5 YR 6/4, Glimmer, fein, 15 %, Quarz, fein
mittel, 2 %, rote ES, sehr fein, 3 %, dunkelgraue ES, sehr fein, 2 %
Überzug: glatt, matt; 7.5 YR 5/2 bis 2.5/1
BDm in cm: 2,8
Literatur: MitsopoulosLeon 1991, 56. 63, C3, Taf. 64.
K AT. 1 0
Inv.Nr: AG 95/200/1
Ware: Eastern Sigillata B
Gefäßtyp: Medaillonschale
Fabric: hart, sehr fein, feinporös; 2.5 YR 6/8; Glimmer, sehr fein, 20 %, dun
kelgraue ES, sehr fein, 10 %, weiße ES, fein, 3 %, organisches Material, 2 %
158
Überzug: glatt, glänzend; 10 R 4/8
BDm in cm: ?
Literatur: Für die Datierung des Fundkomplexes: Rogl 2003b, 188, Anm. 3;
ZabehlickyScheffenegger/Schneider 2000, 111, Abb. 5, 2 (links oben).
KAT. 1 1
Inv.Nr: AG 95/188/4
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Becher mit nach außen biegender Lippe
Fabric: hart, fein, feinporös; 5 YR 6/6; Glimmer, fein, 25 %, weiße ES, fein,
20 %, Quarz, fein, 20 %, mittel, 2 %, dunkelgraue ES, sehr fein, 10 %, braune
ES, fein, länglich, 25 %
Überzug: glatt, leicht glänzend; außen 10 R 4/6 und 2.5/1 (metallischglän
zend), innen 5 YR 6/6 gefleckt mit 2/1
RDm in cm: 10
Literatur: Für die Datierung des Fundkomplexes: Rogl 2003b, 188, Anm. 3;
ZabehlickyScheffenegger/Schneider 2000, 106, Abb. 1, 8 und 2, 6 oben
KAT. 1 2
Inv.Nr: BAS 65/4066
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Skyphos
Fabric: hart, fein, feinporös; 5YR6/4, weiße ES, fein, vereinzelt
Überzug: glatt, leicht glänzend, flächig; GLEY1 3/N
Erhaltene Höhe in cm: 5
Literatur: Waldner 2009a, 177. 418, K1334, Taf. 70; vgl. Rotroff 2003, Taf. 125,
717; Hübner 1993, Taf. 4, 24.
K AT. 1 3
Inv.Nr: HE 89/5/100
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Schale
Fabric: hart, fein, feinporös; 5 Y 5/1; Glimmer, sehr fein, 25 %, weiße ES,
fein, 7 %, feinmittel, 1 %, Quarz, fein, 3 %, gelbe ES, fein, 3 %
Überzug: uneben, matt; 5 Y 2.5/1
Erhaltene Höhe in cm: 3,6
Literatur: Waldner 2009a, 61. 252, K237, Taf. 11. 84; Waldner 2009b, 291,
Abb. 11, 22; vgl. MitsopoulosLeon 1991, C2. C5; für Sardis (als pergameni
scher Import deklariert): Rotroff/Oliver 2003, Taf. 124, 712–3.
KAT. 14
Inv.Nr: H1 94/SR12/K292
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Krug (Henkelfragment)
LÄT Z E R -LA SA R : K Ö PFE UND P O R T R ÄT S A U S E P H E SO S 159
Fabric: hart, fein, feinporös
Überzug: glatt, matt; außen 7.5YR 5/6 und innen 2.5 YR 5/8
Erhaltene Höhe in cm: 5,8
Literatur: Ladstätter 2003a, 70, K292.
K AT. 1 5
Inv.Nr: H2 99/729/01
Ware: Applikenware
Gefäßtyp: Oinochoe
Fabric: hart, fein, feinporös; 5 YR 7/4, Glimmer, fein, 10 %, weiß, sehr fein,
10 %, Quarz, fein, 5 %, länglich, fein, 5 %, gelb, fein, 1 %, schwarz, fein, 1 %
Überzug: glänzend, kompakt; 5 YR 3/3, 5 YR 8/1
RDm in cm: 7,4
Literatur: Lätzer 2009, 140. 189, Kat. 63, Typ W2, Abb. 8 a. b., Taf. 4, 63; vgl.
MitsopoulosLeon 1991, 55 ff, B 27, Taf. 27 und C 1, Taf. 64.
BILDREC HTE
1–15, Taf. 3a–d ÖAI, Foto N. Gail.
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J Ö RN LANG
BEKANNTE UNBEKANNTE
Bildniswiederholungen in
der spätrepublikanischen Glyptik
Der folgende Beitrag ist ein Versuch, den Blick auf ein Phänomen antiker
Bildniskunst zu richten, das zwar wahrgenommen, aber in der jüngeren
Forschung abseits von einzelnen Katalogbeiträgen bisher kaum über
greifend benannt wurde.1 Da die moderne Erforschung antiker Porträts
ihren Ausgang in bis ins kleinste Details ausgefeilten, vergleichenden
Betrachtungen von Formen nahm, lag es nahe, geschnittene Steine in
den Blick zu nehmen, da sie durch ihr miniaturhaftes Erscheinungsbild
besonders detaillierte Formbetrachtungen voraussetzen. Auch die Zeiten
und kulturelle Erscheinungsformen transzendierende Perspektive des
Internationalen Kollegs Morphomata ist gerade bei solch kleinteiligen Ob
jekten auf Detailstudien angewiesen, bevor diese in einem zweiten Schritt
in einen größeren (inter)kulturellen Kontext eingebettet werden können.
Geschnittene Steine wurden bis auf Ausnahmen bisher nicht syste
matisch in die Überlegungen zur Bildniskunst einbezogen.2 Wenn hier
nicht die typologisch gebundenen Bildnisse der Kaiserzeit im Vordergrund
1 Die Idee zum Beitrag entstand aus der Beschäftigung mit der Gemmen
sammlung des GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig (Cain/Lang
2015). Zugleich schließt sich damit ein Kreis, da Dietrich Boschung im Winter
semester 1998/ 99 über die Kunst der späten Republik und frühen Kaiserzeit
las und dies meine erste archäologische Vorlesung im Studium war.
2 Von den Hoff 2009 berücksichtigt in seinem Beitrag zur medialen Reprä
sentation Caligulas zwar Kameen, geht aber nicht umfassender auf die Aussa
gemöglichkeiten der Glyptik insgesamt ein. Eine Ausnahme bilden Megow 1987
zu den kaiserzeitlichen Bildniskameen (mittlerweile in einigen Benennungen
zu revidieren) und ZwierleinDiehl 2011 zu den Bildnissen der Soldatenkaiser.
164
stehen,3 sondern diejenigen der späten römischen Republik, so ist dies
darauf zurückzuführen, dass die materielle Überlieferung der Bildniskunst
in dieser Zeit insgesamt größere Lücken aufweist und durch die Betrach
tung der geschnittenen Steine in besonderem Maße differenziert werden
kann. Neben den Münzen mit Ahnenbildnissen4 sowie rundplastischen
Bildwerken5 ist die Glyptik eine der wichtigsten Gattungen, in der sich
eine größere Anzahl an Bildnissen erhalten hat. Sie wurden bereits in einer
umfänglichen Zahl zusammengestellt, doch konzentrierte sich die por
trätikonographische Einordnung meist auf Vergleiche mit Münzbildern,
die auf eine Benennung der Dargestellten zielte. Die in diesem Zusam
menhang erzielten Ergebnisse halten aktuellen porträtikonographischen
Anforderungen nicht immer stand 6. Die jüngere Forschung konzentrierte
sich vor allem auf die rundplastischen Bildnisse, Werke anderer zen
traler Gattungen des römischen Alltags wurden dagegen kaum in die
Betrachtungen einbezogen.7 Eine Ausnahme bildet die Untersuchung der
großen Serien von Intaglien und Glasgemmen, in denen die Bildnisse der
Protagonisten des zweiten Triumvirats verbreitet wurden.8 Nimmt man
3 Mit rundplastischen Bildnistypen zu verbindende Intagli z. B.: Tiberius, vom
Typus Kopenhagen 624 abhängig: ZwierleinDiehl 2002, 92 Nr. 105; Nero im vierten
Bildnistypus: Spier 2010, 54 Nr. 30; Hadrian im Typus ›Rollockenfrisur‹: Zwierlein
Diehl 1991, 68 Nr. 1722; Commodus im Princeps Iuventutis Typus: Fittschen 1999,
Taf. 111 m; Commodus im ›Samtherrschaftstypus‹/ Typus Liverpool–Tivoli:
Fittschen 1999, Taf. 111 n + o; Spier 2001, 66 Nr. 38; Weiß 2010, 86, Nr. 72; Caracalla
im ›1. Samtherrschaftstypus‹: ZwierleinDiehl 1991, 70 Nr. 1728; Neverov 1976,
79 Nr. 140; Septimius Severus im ›Serapistypus‹: Spier/Ogden 2015, 120 f. Nr. 50.
4 Lahusen 1989. Zum Phänomen der bärtigen Bildnisse republikanischer Zeit
jüngst auch Biedermann 2013.
5 Vgl. Vessberg 1941, 115–251 mit akribischer Zusammenstellung der Schrift
quellen 40–46; Schweitzer 1948; Megow 2005 mit einem dezidiert formal
stilistischen Untersuchungsansatz. Dazu Rez. K. Fittschen, G GA 258, 2006,
72–90; Papini 2004 mit Fokus auf der Genese der republikanischen Bildnis
kunst zwischen 4. und 2. Jh. v. Chr. Vgl. ebd. 429–348 zur Rolle von Münzen
und Gemmen in diesem Zeitraum.
6 Vollenweider 1972/ 74; Lahusen 1989, 36–38. Zanker 1974, 587 nannte die
Porträtgemmen zwar bei seinen Überlegungen zum »hellenistischen Individu
alporträt«, bezog sie aber inhaltlich nicht systematisch ein. Plantzos 1999, 92–94
ordnete einige Bildnisse in seine Ausführungen zur hellenistischen Glyptik
insgesamt ein, erfasste dabei aber nur einen Ausschnitt des Materials.
7 Eine Ausnahme bilden Fischer/Lehmann 2016.
8 Octavian: Maderna 1988; Gagetti 2001; Sena Chiesa 2002; Pompeius: Trunk
2008. Zur Problematik der Benennung von Bildnissen einer Glasgemmenserie,
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 165
jedoch die spätrepublikanische Glyptik insgesamt in den Blick, so lassen
sich bereits vor diesen großen Serien aus der Zeit des zweiten Triumvirats
Gruppen von Bildnissen mit Wiederholungen nachweisen. Da für deren
Analyse meist nicht die eindeutig zuweisbaren Haarsysteme der Kaiserzeit
zur Verfügung stehen,9 seien zunächst Möglichkeiten und Grenzen einer
Bestimmung als Bildniswiederholung in der republikanischen Glyptik
anhand von Fallbeispielen erläutert. Der systematische Vergleich der
Werke dient dazu, sich den methodischen Weg für eine Erfassung von
Bildnisgruppen zu vergegenwärtigen.
In der archäologischen Forschung zählen solche Formvergleiche zu
den seit langer Zeit etablierten Verfahren. In diesem Sinne versteht sich
der Beitrag auch lediglich als bescheidenes Plädoyer, solche Vergleiche
unter Rücksichtnahme auf die materiellen Bedingungen von Bildträgern
weiterhin konsequent anzuwenden, auch wenn die Voraussetzungen der
Dokumentation in Form hochwertiger Photographien von Originalen
und den seitenrichtigen Abdrücken, immer schwieriger zu erfüllen sein
werden. In einem zweiten Schritt ist zu überlegen, welchen Beitrag eine
erneute Betrachtung der geschnittenen Steine für das Verständnis und die
Bewertung von Erscheinungsbild und Funktion der spätrepublikanischen
Porträtkunst insgesamt leisten könnte.
DIE BILDNISG R UP P E LEIP ZIG
Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet ein Karneol, der heute im
GRASSI Museum für Angewandte Kunst in Leipzig aufbewahrt wird
(vgl. im Katalog am Ende des Beitrags A1; Abb. 1a–b; vgl. Taf. 4a). Er
stammt aus der Sammlung des Leipziger Juristen Jacob Benedict Winckler
(1699–1779) und gelangte mit dem Verkauf der Sammlung 1742 in den
Besitz der Stadt.10 Der dunkelorange, fleckige Intaglio zeigt den kantigen
Kopf eines Mannes in deutlich fortgeschrittenem Alter im Profil nach
rechts bzw. auf dem Abdruck nach links11. Über dem Büstenabschluss mit
die als Caesar (Vollenweider 1960; Vollenweider 1964) oder Cato Uticensis
(ZwierleinDiehl 1973) angesprochen wurden, vgl. Lang 2012, 53–55.
9 Vgl. etwa Boschung 1989, 51; Fittschen 1999, S. X.
10 Vgl. Cain/Lang 2015, 22–28.
11 Auch wenn der Abdruck in der Regel die seitenrichtige Ansicht darstellt,
erfolgen die Beschreibungen aus Gründen der besseren Nachvollziehbarkeit
zunächst vom Original aus.
166
1a/b Karneol. Leipzig, GRASSI Museum für Angewandte
Kunst Inv. 1952.55/438. 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr. (siehe Taf. 4a)
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 167
herabgezogener Brustspitze geht der kurze und von Querfalten durchzogene
Hals in den kräftigen Kopf mit fleischigem Gesicht über. Der Dargestellte
zeigt deutliche Spuren fortgeschrittenen Alters, die sich in der schlaffen
Haut unter dem Doppelkinn und am unteren Bereich der Wange, der scharf
akzentuierten Nasolabialfalte, den Tränensäcken und den Krähenfüßen
äußern. Trotz dieser unmissverständlichen Alterszüge ist kein ehrwürdiges
Greisengesicht wiedergegeben, die Kontraktion des Brauenbereichs mit
den tiefliegenden, kleinen Augen verleiht der Darstellung vielmehr einen
konzentrierten, entschlossenen Ausdruck, der durch den fest geschlossenen
Mund mit auffallend nach vorn gezogener Unterlippe zusätzlich unterstri
chen wird. Weitere Kennzeichen sind die fliehende Stirn sowie die große
Nase mit prägnant gebogenem Profil und leicht hängender Spitze. Das
Haar ist kurz gehalten und in feinen, sichelförmigen Strähnen gestaltet,
die in unregelmäßiger Folge vom Wirbel am Hinterkopf und dem Scheitel
nach unten gestrichen sind. Es fällt zungenförmig in die Stirn, wobei dieses
Motiv durch die haarlosen Schläfenecken zusätzlich verstärkt wird.
Die gleichen formalen Charakteristika weist ein Intaglio auf, der
verschollen und nur in Form einer Glaspaste und Abgüssen überliefert
ist (A2; Abb. 2). Trotz enger Übereinstimmungen kann die Glaspaste in
Würzburg nicht auf den Leipziger Intaglio zurückgehen, da der Kopf in
die entgegengesetzte Richtung gewandt ist.12 Hinzu treten der geöffnete
Mund, die leicht abweichende Form des Ohrknorpels, der bei der Glaspaste
gleichförmig gerundet ist, und eine kleine haarlose Stelle hinter der Ohr
muschel 13. Ansonsten weist der Intaglio, nach dem die Glaspaste gefertigt
wurde, eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Leipziger Exemplar auf. Auf
der Büste mit leicht herabgezogener Brustspitze sitzt ein kräftiger Hals,
der durch eine deutliche Querfalte vom massiven Schädel mit dem kurzen
Haar abgesetzt ist. Die leicht fliehende Stirn ist von zwei Horizontalfal
ten durchzogen und mündet in den stark kontrahierten Brauenbereich.
Darunter liegt das tief eingebettete Auge, das am Außenwinkel deutliche
Krähenfüße erkennen lässt. Die Nase weist ein gebogenes Profil auf und
seitlich des Nasenflügels entspringt eine scharfe Falte, die sich in der Form
eines umgekehrten ›L‹ bis auf die kräftige Wange zieht. Die Unterlippe des
deutlich geöffneten Mundes ist vorgeschoben, seitlich ist der Mund durch
eine tiefe Falte von der deutlich erschlafften Haut der Kinnpartie abgesetzt.
12 Bei Glaspasten handelt es sich um exakte Replikate, die eine abweichende
Wendung ausschließen. Vgl. zur Herstellung ZwierleinDiehl 1986, 8–9.
13 Auf das Detail der Haare machte mich freundlicherweise E. ZwierleinDiehl,
Bonn, aufmerksam.
168
2 Glaspaste nach antikem Intaglio.
Würzburg, Martin von WagnerMuseum
der Universität. 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
Trotz der genannten, kleinen Abweichungen muss das in der Glaspaste
erhaltene Bildnis aufgrund seiner formalen Übereinstimmungen auf das
selbe Vorbild wie der Leipziger Karneol (vgl. A1; Abb. 1a–b) zurückgehen.
Stellt man diesen beiden Intagli einen Jaspis im Museum of Fine
Arts in Boston zur Seite (A3; Abb. 3a–b), so sind die typologischen Ver
bindungen evident, wenngleich sie sich nicht so eindeutig präsentieren
wie bei den vorherigen Beispielen.14 Einige Charakteristika des Gesichts
entsprechen auffallend deutlich denjenigen des Leipziger Beispiels.
Insbesondere die fleischige Anlage des kurzen Halses und des kräftigen
Gesichts, die fliehende Stirn mit kahlen Schläfenecken und mittiger
Haarzunge, die gebogene Nase mit scharf eingetiefter Nasolabialfalte und
der zusammengekniffene Mund mit vorgeschobener Unterlippe stimmen
überein. Abweichungen lassen sich hinsichtlich der Kontur des Hinter
kopfes beobachten, die beim Jaspis in Boston etwa auf Höhe der Ohrmitte
deutlich eingezogen ist. Auch in der Schilderung der Alterszüge liegen
14 Auf die Parallelität von Würzburger Glasgemme und Bostoner Intaglio wies
bereits ZwierleinDiehl 1986, 198 hin.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 169
3a/b Jaspis. Boston, Museum of Fine Arts
Inv. 27.715. 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
170
Unterschiede vor. Im Falle des Karneol in Leipzig wurde der Wangenbe
reich faltig ausmodelliert, während das Bostoner Gesicht weitaus flächi
ger geformt ist. Zudem ist die Stirnpartie des Bostoner Bildnisses nicht
kontrahiert, der Brauenbogen ist vielmehr gleichmäßig geschwungen, so
dass der Dargestellte entspannter und ein wenig jünger wirkt. Angesichts
dieser geringfügigen Abweichungen und vor dem Hintergrund der großen
Heterogenität, die den republikanischen Bildnissen in der Glyptik zu ei
gen ist,15 ist es wahrscheinlich, dass beide Werke von einer gemeinsamen
Vorlage abhängen. Dafür spräche auch die chronologische Einordnung
der Werke, die mangels außerstilistischer Anhaltspunkte jedoch nur auf
Basis einer relativchronologischen Reihung erfolgen kann. Einen ersten
Hinweis bietet die Form der Büste mit tiefer Einwölbung am Hals und
herabgezogener Brustspitze, die in der republikanischen Münzprägung
ab der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. Verwendung fand.16 Alle Bildnisse
zeichnen sich darüber hinaus durch eine besondere Sorgfalt in der Mo
dellierung der faltigen Hebungen und Senkungen der Gesichtsoberfläche
aus, die deutliche Alterszüge aufweist. Diese stehen im Kontrast zu dem
feinen, in flockigen Schnitten angelegten Haar. Die nächsten Parallelen
dazu finden sich in Bildnissen aus der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr.17
Die betrachteten Bildnisse stellen in dieser Eindeutigkeit einen selte
nen Fall in der Überlieferung republikanischer Porträts auf Gemmen dar.
Bei einem weiteren Karneol in Boston (A4?; Abb. 4a–b; vgl. Taf. 4b) fällt
dieser Vergleich weniger deutlich aus. Der im Bereich der Büste ergänzte
Intaglio zeigt ebenfalls einen massiven, männlichen Kopf mit Adlernase,
leicht faltigem Untergesicht und in diesem Fall nur leicht vorgeschobe
ner Unterlippe, deren Form insbesondere auf dem Abdruck (Abb. 4b)
deutlich zu erkennen ist. Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen ist
am unteren Bildrand jedoch ein Panzer angedeutet, über den ein Mantel
drapiert ist. Hinter der Schulter verläuft ein länglicher Gegenstand. Von
15 Guter Überblick bei Vollenweider 1972/ 74.
16 Vgl. z. B. Crawford 1975, 332 Nr. 334/ 3b Taf. XLIII; 435 Nr. 408/ 1b Taf. L;
437 Nr. 410/ 1 Taf. L. Die von Crawford 1975 angegebenen absoluten Daten sind
jedoch in Teilen zu korrigieren. Vgl. z. B. Mattingly 1995; Wolters 1999, 10 Anm. 4.
17 Vgl. zum Stil der Haare z. B. Vollenweider 1972, Taf. 59, 1–3. Vollenweider
1974, 82 liegt aufgrund der Büstenform mit ihrem Ansatz noch im 2. Jh. v. Chr.
ein wenig früh. Typologisch zeigt sich eine enge Verwandtschaft mit dem
Peperinkopf aus Palestrina in Berlin: Vessberg 1941, 237 f. Taf. 82, 1. 2, für den
sich eine Datierung in das 2. Viertel des 1. Jhs. v. Chr. durchgesetzt hat. Vgl. La
Rocca u. a. 2011, 156 f. m. Abb. Nr. 2. 20.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 171
4a/b Karneol. Boston, Museum of Fine Arts
Inv. 27.741. Mitte 1. Jh. v. Chr. (siehe Taf. 4b)
172
der Gruppe der drei anderen Bildnisse unterscheidet sich der Karneol
zunächst hinsichtlich der Haarbehandlung. So zeigt das Haar auf dieser
Gemme keine kahlen Schläfenecken wie bei den anderen Beispielen,
sondern ist dicht und biegt an der Schläfe fast in einem rechten Winkel
um. Weitere Abweichungen sind die bis auf die Querfalten über der Stirn
glatten Gesichtszüge und die bis zum Untergesicht straff über das Gesicht
gespannte Haut. Angesichts der Tatsache, dass wenige Merkmale ausrei
chen können, um Gesichter zu identifizieren,18 ist nicht auszuschließen,
dass dieses Bildnis der Gruppe hinzugefügt werden muss,19 auch wenn dies
anhand der verwendeten Formen nicht exakt nachzuweisen ist. Stilistisch
spräche nichts gegen eine Zugehörigkeit zur genannten Gruppe. Aufgrund
der Gestaltung der Haare in kurzen, regelmäßig gestrichelten Strähnen
gehört der Karneol in den Zeitraum um die Mitte des 1. Jhs. v. Chr.20
DIE BILDNIS G R UP P E B ER L IN – F LO R ENZ
Die Vertreter der folgenden Gruppe 21 zeigen das in bisher drei Beispielen
(B1–3) überlieferte Bildnis eines Mannes mittleren Alters, dessen wesent
liche Charakteristika an einem Karneol in Berlin erläutert werden sollen
(B1; Abb. 5a–b)22. Sein augenfälligstes Merkmal ist der deutlich nach
18 Vgl. zur Wiedererkennung von Gesichtern Leopold/Bondar/Giese 2006,
572–575; Ansorge/Leder 2016, 124–30.
19 Weitere bei Beazley/Boardman 2002, 72–73 als Vergleiche genannte Bild
nisse wurden entweder in der Neuzeit gefertigt oder weichen typologisch sig
nifikant ab, so dass sie hier nicht berücksichtigt wurden. Vgl. ZwierleinDiehl
1986, 306 f. Nr. 927; Simon 1995, 558 (C. Weiß). Ein Granat in Paris ist zwar im
Erscheinungsbild verwandt, meint aber aufgrund der hageren Gesichtszüge und
der deutlichen Stirnglatze eine andere Person: Vollenweider / AvisseauBroustet
2003, 24 f Nr. 13 Taf. 38.
20 Vgl. zum Stil ZwierleinDiehl 1969, Taf. 73 Nr. 414. 416; zum Haar: hier
B1, Abb. 9; Crawford 1975, 502 Nr. 494/ 37 Taf. LX. Nach den zur Verfügung
stehenden Abbildungen ist die antike Entstehung des Werkes wahrscheinlich.
21 Vgl. Vollenweider 1972, Taf. 60 f.; Lahusen 1989, Taf. 45.
22 Aufgrund signifikant abweichender Kopfformen, Haarmotive und physiog
nomischer Details auszuscheiden sind dagegen die Beispiele bei Lahusen 1989,
Taf. 44. Der Karneol in Privatbesitz: Lahusen 1989, Taf. 44, 2–3 ist aufgrund
des höheren Haaransatzes, des schärferen Profils der Nase, des knochigen Un
tergesichts mit spitzem Kinn, des deutlich herabgezogenen Mundwinkels und
des hervorgewölbten Adamsapfels auf eine andere Person zu beziehen.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 173
5a/b Karneol. Berlin, Staatliche Museen,
Antikensammlung Inv. FG 6537.
1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
174
6a/b Karneol. Florenz, Museo Archeologico
Inv. 14998. 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 175
vorn gestreckte und im hinteren Bereich gleichförmig runde Schädel,
der auf einem sehnigen Hals sitzt und im Bereich des Untergesichts
schmal zuläuft. Die Gesichtszüge weisen kaum Altersmerkmale auf,
einzig die deutliche Nasolabialfalte und die leicht eingefallene Wange
der Intagli in Berlin und Florenz (Abb. 5–7) legen ein fortgeschrittenes
Alter des Dargestellten nahe. Die Mimik wird im Wesentlichen von zwei
quer verlaufenden Stirnfalten dominiert. Die Stirn selbst ist im unteren
Bereich leicht vorgewölbt und geht in den tief eingezogenen Nasensattel
über. Die Nase weist eine leicht hängende Spitze und ein adlerförmiges
Profil auf, das einzig bei einem Karneol in Florenz begradigt wurde (vgl.
Abb. 7). Unter der gleichförmig gewölbten Braue liegt das von feinen
Lidern eingefasste, große Auge mit leicht nach unten gezogenem Au
genwinkel 23. Das fliehende Untergesicht weist einen minimal geöffneten
Mund mit betonter Unterlippe und kugelig vorgewölbtem Kinn auf. Das
Haar ist schlicht frisiert und liegt kappenartig an. Bei zwei Beispielen
(vgl. Abb. 5–6) ist die Frisur in gleichmäßigen Strähnen gestaltet, beim
Karneol in Florenz (vgl. Abb. 7) strebt das Haar dagegen vor allem an den
7 Karneol (Abguss in Gips). Florenz, Museo
Archeologico Inv. 358. 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
23 Dieser bereits von Vollenweider 1974, 94 beschriebene Eindruck ist vor
allem am Original erkennbar und tritt am Abdruck weniger deutlich hervor.
176
Schläfen in unterschiedliche Richtungen. Insgesamt wirkt die Version bei
diesem Bildnis im Vergleich zu den beiden anderen Beispielen beruhigt,
ein Effekt, der vor allem durch das unauffälligere Profil der Nase und die
Zurücknahme der Alterszüge hervorgerufen wird. Eine chronologische
Einordnung kann einzig aufgrund stilistischer Merkmale erfolgen, da
keine zugehörigen Ringfassungen vorliegen oder andere, außerstilistische
Kriterien herangezogen werden können. Die Büste mit herabgezogener
Spitze und die Behandlung der Haare veranlassten bereits Vollenweider
zu einer Datierung in die erste Hälfte des 1. Jhs. v. Chr.,24 ein Vorschlag,
dem vor dem Hintergrund der stilistischen Entwicklung der spätrepub
likanischen Glyptik25 hier gefolgt werden soll.
DIE BILDNIS G R UP P E B ER L IN – B ER N
Die letzte der hier zusammengestellten Bildnisgruppen ist bisher nur in
zwei Vertretern überliefert.26 Ein mittelbrauner SardIntaglio in Berlin
(C1; Abb. 8) zeigt das Porträt eines jungen Mannes im Profil nach links.
Über dem kräftigen Hals, der unten in einer sförmigen Kurve abschließt,
erhebt sich der langovale Schädel mit im Wangenbereich fleischigen,
aber glatten Gesichtszügen. Die mimische Bewegung ist auf zwei Falten
reduziert, die quer über die leicht fliehende Stirn verlaufen. Diese ist nach
unten durch einen deutlich hervorgewölbten Wulst abgeschlossen, unter
dem das weit geöffnete Auge mit lunulaförmiger Iris erkennbar ist. Der
eingezogenen Nasenwurzel entspringt die Nase mit leicht konkav einge
zogenem Rücken und kugelig gerundeter Spitze. Unterhalb schließt sich
die kräftige Mundpartie an, die durch eine weich modellierte Furche von
der Wange getrennt ist. Die Lippen liegen locker aufeinander, wobei die
Oberlippe deutlich über die Unterlippe vorgeschoben ist. Das Gesicht
endet in einem festen Kinn mit ausgeprägter Kinnlade. Die Frisur ist in
kurzen ungleichmäßig nach vorn gestrichenen Einzelsträhnen gestaltet,
die in kräftigen, leicht gebogenen Gravuren eingetragen wurden. Die
Haare begrenzen die Stirn in einer geraden Linie, sind seitlich oberhalb
der Schläfe deutlich eingezogen und biegen darunter über einen rechten
Winkel schräg zum Ohr um. Diesem Beispiel kann ein dunkelbrauner
Sard in Bern zur Seite gestellt werden (C2; Abb. 9; vgl. Taf. 4d). Neben der
24 Vgl. Vollenweider 1972, 95.
25 Vgl. dazu ZwierleinDiehl 2007, 132–140.
26 M. W. erstmals erkannt in Jucker/Willers 1982, 283 (I. Jucker).
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 177
8 Sard. Berlin, Staatliche Museen, Antikensammlung
Inv. FG 6538. 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr. (siehe Taf. 4c)
9 Sard in Goldring des 17. Jhs. Antikensammlung der
Universität Bern Inv. DL 288. Mitte 1. Jh. v. Chr. (s. Taf. 4d)
178
Kontur des langgezogenen Schädels stimmen das Fehlen von Alterszügen,
der Stirnwulst, die spitz hervorstehende Nase, die weiche Furche zwischen
Nase und Wange, das feste Kinn mit ausgeprägter Kinnlade sowie die
eingezogene Haarkante oberhalb der Schläfe deutlich mit dem Berliner
Beispiel überein. Der einzige Unterschied besteht in der Zeichnung der
Brauenpartie, die beim Berner Exemplar leicht gestrichelt ist.
Geht man davon aus, dass das Bildnis zu Lebzeiten angefertigt wurde,
entstand die Darstellung um die Mitte des 1. Jhs. v. Chr. Dafür sprechen
die Form des Büstenausschnitts und vor allem die Behandlung der Haare
in einzelnen, kräftigen und ungleichmäßig angeordneten Gravuren27.
ZEUGNIS S E D ER G LY P TIK IM K O N TEXT D ER
REPUBLIKAN ISCH EN B IL D NISK UNST
Ordnet man die betrachteten Werke in den Kontext der republikanischen
Bildnisse ein, so erweitern die betrachteten Beispiele zunächst das Spek
trum an bekannten römischrepublikanischen Porträttypen,28 da keines
von ihnen einem der bisher bekannten Typen rundplastischer Zeugnisse
entspricht.29 Da keine Benennungen möglich sind, läuft man nicht Gefahr,
sich von biographischem Wissen leiten zu lassen, sondern ist ganz auf
die verwendeten Bildformen und formeln angewiesen. Hinsichtlich ihrer
äußeren Erscheinung stimmen die Intagli mit dem aus der Rundplastik
bekannten Bild überein, da alle die charakteristischen Merkmale repu
blikanischer Porträtkonzeptionen mit einer besonderen Betonung von
Altersmerkmalen aufweisen. Die Bildnisse sind damit veristisch im Sinne
der Verwendung physiognomischer Charakteristika, die einem Betrachter
aus seiner alltäglichen Beobachtung bekannt gewesen sein dürften.
In der Bildnisgruppe Leipzig werden insbesondere innere Anspan
nung und Alter geschildert. Tiefe Falten, Hebungen und Mulden des
27 Vgl. Vollenweider 1972, 143.
28 In den Arbeiten zu republikanischen Bildnistypen finden Gemmen in der
Regel kaum Berücksichtigung. Vgl. Megow 2005, 144.
29 Ähnlich wie in der Rundplastik sind die Bildnisse auch bei den Gemmen
bis auf wenige Ausnahmen in kleinen Serien überliefert. Vgl. zusätzlich
Vollenweider 1972, Taf. 124, 1; 125, 1. 4 (zu beachten sind hier vor allem die
Haarmotive wie die hakenförmig eingerollten Strähnen an der Schläfe). Damit
sind auch für die zweite Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. abseits der bekanntesten Pro
tagonisten der späten Republik Bildnisse mit Wiederholungen überliefert.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 179
Karnats sowie erschlaffte Hautpartien sind mit mimischer Anspannung
wie der deutlich kontrahierten StirnBrauenPartie vereint. Die vielfach
beschworene Verbindung aus Alter und auctoritas, die sprichwörtliche
auctoritas senectutis tritt hier deutlich vor Augen.30 Insbesondere das Bild
nis auf dem Leipziger Karneol entwickelt dabei eine gesteigerte bildliche
Präsenz, die Qualitäten, die der Person zugeschrieben werden sollen,
werden suggestiv ausgestellt.31 Auch die Beispiele der Bildnisgruppe Ber
lin–Florenz zeigen durch die eingefallenen Wangen und den knochigen
Aufbau des Gesichts den Wert, der dem fortgeschrittenen Alter des Dar
gestellten beigemessen wurde. In der Bildnisgruppe Berlin–Bern findet
sich dagegen eine Kombination aus kräftigem Gesichtsaufbau und der
nur über die Stirnkontraktion zum Ausdruck gebrachten Anspannung. In
diesem Fall wurden nur sehr dezente Verweis auf das Alter gegeben. Dies
könnte darauf verweisen, dass sich die dargestellte Person noch in einem
vergleichsweise frühen Stadium ihrer Karriere befand. Der Gesichtsaus
druck ist ruhig, wirkt aber vor allem durch die Kinnpartie energisch, so
dass in diesem Bildnis vor allem Entschlossenheit und Tatkraft in den
Mittelpunkt gerückt werden. Wie in der Rundplastik zählen demnach
Alter und angespannte Gesichtszüge zum Standardrepertoire republi
kanischer Porträts in der Steinschneidekunst 32. Alle hier betrachteten
Bildnisse vereint schließlich die Schlichtheit ihrer Frisuren, die zu Recht
immer wieder mit dem vielbeschworenen Streben nach simplicitas verbun
den wurde. Darin bestätigen die Gemmen das auf Basis der Rundplastik
herausgearbeitete Bild spätrepublikanischer Bildnisse.33 Doch während
die Kopien republikanischer Porträtplastik vom 2. Jh. v. Chr. bis in das
3. Jh. n. Chr.34 streuen, sind die hier zusammengestellten Bildnisse auf
den Gemmen durchweg originale Werke spätrepublikanischer Zeit des
frühen 1. Jhs. v. Chr. Zugleich erhält die Überlieferung durch die Gemmen
bildnisse eine Nuancierung, da sie nicht das Ausdrucksspektrum der
Rundplastik wiederholen, sondern eine gattungsimmanente Tradition
herausbilden. So wurden die von rundplastischen Bildnissen bekannten
30 Vgl. etwa Cicero, topica 73.
31 Typologisch bestehen enge Parallelen zum republikanischen Bildnis Megow
Typus IV: Megow 2005, 87–93.
32 Vgl. zusätzlich auch die eindrücklichen Beispiele bei Vollenweider 1972,
Taf. 22, 1; 58, 1; 60, 1–5; 65, 1. 3; 87, 1; 112, 1.
33 Vgl. den deutlichen Negativbefund bei Papini 2002, 434 mit Verweis auf
den Capuaner Goldring ebd. Abb. 395.
34 Vgl. Megow 2005, 143.
180
»Pathosformeln«35 wie heftige Kopfbewegungen mit gespannter Mus
kulatur des Halses oder aufgeworfenem Haar, die sich formal aus der
hellenistischen Herrscherikonographie ableiten lassen, weder bei den
hier betrachteten Bildnisgruppen noch in der weiteren Glyptik spätre
publikanischer Zeit regelmäßig verwendet.36 Der Kopf des Berliner Sard
(vgl. Abb. 8; vgl. Taf. x) ist zwar leicht in den Nacken gelegt und zeigt
einen dezent geöffneten Mund, doch ist diese Bewegung zu verhalten,
um als Ausdruck gesteigerten Pathos angesehen werden zu können.37
In der Glyptik lassen sich insgesamt unterschiedliche Grade mimischer
Bewegung greifen, doch bleibt diese häufig auf eine stark kontrahierte
StirnBrauenPartie beschränkt und ist ganz auf die Darstellung innerer
Spannung und Tatkraft konzentriert.38 Wenngleich auch hellenistische
Porträtgemmen mitunter angespannte Gesichtszüge wie etwa eine stark
kontrahierte Stirn oder Brauenpartie aufweisen, werden die Möglich
keiten differenzierter mimischer Details vor allem ab der Wende vom
2. zum 1. Jh. v. Chr. auf die Spitze getrieben. Bei den hellenistischen
Herrscherporträts wurden sie noch mit jugendlichen Zügen kombiniert
und gezielt als einzelne Elemente eingesetzt,39 im römischen Kontext
wurden sie dagegen Standardformeln mimischen Ausdrucks 40 . Diese
»Anspannungsformeln« entwickelten sich zu Leitmotiven der Bildnisse.
Während in rundplastischen Werken das bestehende Repertoire helle
nistischer Bildformeln Verwendung fand, wurden diese in der Glyptik
im italischen Raum weiterentwickelt. Denn ungeachtet der Frage, ob es
sich bei Gemmenbildnissen um solche von Ahnen handelt oder lebende
Amtsträger dargestellt wurden, weist eine Wiederholung von Bildnissen
auf unterschiedlichen Intagli darauf hin, dass Personen gezeigt sind, die
eine öffentliche Funktion inne hatten und daher mit hoher Wahrschein
lichkeit als römische Bürger angesprochen werden können.41 Ohne im
35 Vgl. dazu Zanker 1976, 589–590.
36 Es finden sich unter den Bildniswiederholungen bisher keine Vertreter der
aus der Rundplastik bekannten Porträts, bei denen diese bildliche Formeln
Verwendung fanden. Vgl. zu diesen Zanker 1995, 479.
37 Vgl. als Kontrast etwa die rundplastischen Bildnisse Megow 2005, Taf. 3. 5–12.
38 Vgl. dazu Fittschen 1991, 269–270.
39 Vgl. z. B. Plantzos 1999, Taf. 3 Nr. 16; 24 Nr. 138; 27, Nr. 153. 154.
40 Vgl. z. B. Vollenweider 1972, Taf. 19, 1; 21, 1; 22, 1; 25, 1; 35, 9; 42, 46, 6.
41 Unter den Bildnissen ohne Repliken sind dagegen auch Angehörige der Mit
telschichten zu vermuten, ebenso wie Zanker 1976, 592 es für die Rundplastik
in Erwägung zog.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 181
Einzelnen ethnische Zuweisungen vorzunehmen,42 ist davon auszugehen,
dass die Stücke politisch aktive Persönlichkeiten der späten Republik
zeigen und an enge Vertraute weitergegeben wurden.43 Angefertigt wur
den diese Bildnisse meist von griechischen Gemmenschneidern. Dies ist
nicht nur vor dem Hintergrund der insgesamt einheitlichen stilistischen
Entwicklung von den griechischhellenistischen zu den hellenistisch
spätrepublikanischen Porträts plausibel.44 Vielmehr ist auffallend, dass
alle Bildnisse, die von ihren Steinschneidern signiert wurden, von grie
chischen Gemmenschneidern stammen.45 Allein durch ihre im Vergleich
zu den rundplastischen Werken weitaus dichtere Überlieferung sollten
Analysen der spezifischen bildlichen Formeln im spätrepublikanischen
Porträt die Zeugnisse dieser Gattung systematisch in die Überlegungen
einbeziehen. So träte deutlicher hervor, welche eigenen Dynamiken ein
zelne Gattungen entwickeln konnten.
Daneben können die Gemmen Untersuchungen zum Phänomen
der spätrepublikanischen Porträts durch ihre spezifische Funktionalität
erweitern. Bisher wurden die Besonderheiten römischrepublikanischer
Porträtkunst primär auf Basis der Rundplastik analysiert. Dabei wur
den die Bildnisse grundsätzlich als Mittel öffentlicher Repräsentation
angesehen.46 Ähnlich wie bei der Analyse verwendeter Bildformeln ist
auch hinsichtlich der Funktionalität eine Beschränkung auf die Aus
drucksform des öffentlich aufgestellten Bildnisses für eine differenzierte
Gesamtbewertung des Phänomens römischrepublikanischer Porträt
kunst kaum zulässig. Bewertungen müssen grundsätzlich auf Basis aller
42 Vgl. etwa die anhaltende Diskussion um den sog. Thermenherrscher: z. B.
Papini 2002, 439–442.
43 Bereits Smith 1987, 33 erkannte den Wert der Gemmen für diese Frage,
ohne jedoch die Wiederholung eines Bildnisses als Argument anzuführen.
44 Hinsichtlich der Kontinuitäten sei etwa auf die Haargestaltung von Plantzos
1999, Taf. 15 Nr. 90 (Philhetairos) gegenüber Vollenweider 1972, Taf. 42, 1–2 oder
Plantzos 1999, Taf. 16 Nr. 91 (wohl Mithradates IV.) gegenüber Vollenweider
1972, Taf. 44. 45, 1 verwiesen.
45 Vgl. ZwierleinDiehl 2007, 109–119; ZwierleinDiehl 1990. Vgl. Plantzos
1999, 133 Nr. 611 Taf. 73; 617. 618.–621 Taf. 74 f. Auch Inschriften, die gemmarii
(Gemmenschneider oder Juweliere) nennen, weisen regelmäßig auf Griechen
hin, z. B. C I L VI Nr. 9436: L. Vittedius Hermias (Freigelassener); C I L VI
Nr. 9433: M. Lollius Alexander (Freigelassener). Die von Vollenweider 1974,
39–47 postulierte italische Bildnistradition in der Glyptik wurde bereits von
Zanker 1976, 585 Anm. 13 zu Recht abgelehnt.
46 Vgl. Giuliani 1986, 47.
182
Ausdrucksformen rekonstruiert werden. In der Glyptik ist das Abbild
einer Person in besonderem Maße mit einer bekennenden Funktion
verbunden.47 Einen Zugang zum inhaltlichen Verständnis von Bildnis
gemmen bietet die Überlieferung, dass Siegelring und Träger als eins
gesehen werden konnten. So heißt es in den Briefen des Cicero: »Dein
Ring sei nicht wie irgendein Gerät, sondern gleich wie du selbst […]« (sit
anulus tuus non ut vas aliquod, sed tamquam ipse tu)48. Der Abgebildete
wurde in seinem Ring als körperlich anwesend verstanden.49 Das Bild
nis am Ringstein war der Träger selbst, blieb also engstens mit diesem
verbunden, selbst wenn es sich durch das Siegeln körperlich vom Träger
löste. Dabei zielte das Bildnis selbst auf unmittelbare Präsenz und erhielt
darüber Bedeutung als Zeichen der in spätrepublikanischer Zeit grundle
genden persönlichen Verbundenheit zwischen politischen Freunden oder
Klientelbeziehungen50.
Gemmen können als Teil und zugleich manifester Ausdruck der
Kommunikation innerhalb dieser personalen Beziehungsgeflechte ver
standen werden, auch sie sind Teil der öffentlichen Kommunikation,
wenngleich auf einer visuell anderen Ebene als die Statuen des öffent
lichen Raumes. Die in verschiedenen Wiederholungen dargestellten
Personen müssen über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügt haben
und vor dem Hintergrund der Spezifika der römisch-republikanischen
Gesellschaft wird man kaum fehlgehen, diese Bekanntheit auf aktuelle
oder vergangene politische Aktivitäten zurückzuführen. Angesichts der
Bedeutung enger sozialer Geflechte für den Alltag der römischen Republik
ist bemerkenswert, dass den Zeugnissen der Glyptik in der Forschung
nicht derselbe Stellenwert eingeräumt wurde wie den in weitaus geringerer
Zahl erhaltenen rundplastischen Bildnissen. Denn nach dem vorliegen
den Befund wurde das Potenzial von Gemmen zwar vor allem im Zuge
der Zuspitzung innenpolitischer Auseinandersetzungen in der zweiten
47 Vgl. dazu Lang 2012, 103–105 für das Beispiel der Philosophenbildnisse oder
Vollenweider 1955 für die Zeit der ausgehenden römischen Republik.
48 Cicero, Epistulae ad Quintum fratrem 1, 1, 13.
49 Sie erstarren gerade nicht in »pathognomischer Eintönigkeit«, wie dies
Giuliani 1986, 240 für die rundplastischen Werke postulierte. Dagegen bereits
Zanker 1995, 476–478.
50 Dies gilt auch abseits einer möglichen Verwendung im Kontext mit einem
bekleideten Amt. Darauf deutet etwa Cicero, pro L. Valerio Flacco 37. Vgl.
Haensch 1996, 451 f. Anm. 10. 14.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 183
Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. erkannt und konsequent genutzt,51 die Anfänge
sind dagegen bereits in der ersten Hälfte dieses Jhs. v. Chr.52 zu suchen.
In der weitgehenden Beschränkung auf die Betrachtung einzelner
Gattungen und Fokussierung auf die rundplastischen Werke wurde in
der Rekonstruktion des Gesamtphänomens demnach bisher nur ein
Ausschnitt der materiellen Überlieferung zum römischrepublikanischen
Bildnis konsequent berücksichtigt. So wäre ausgehend von den vorge
legten Bemerkungen weitergehend zu fragen, inwiefern sich die weit
verbreitete Reduzierung der Bildaussagen auf politische Schlagworte vor
dem Hintergrund dieses Materials halten lässt 53 oder ob nicht stärker als
bisher unterschiedliche Öffentlichkeiten, ihre Bedeutung im Kontext der
römischen Gesellschaft der Republik und die damit verbundene mediale
Diversität der Bildnisse berücksichtigt werden müssten.54
KATALOG
A : B IL D N ISG RU PPE L EIPZIG
1) Karneol. Leipzig, GRASSI Museum für Angewandte Kunst Inv. 1952.55/
438 (Abb. 1a–b; Taf. 4a)
Maße: 1,64 × 1,47 × 0,31. Leipzig, GRASSI Museum für Angewandte Kunst
Publ.: Cain – Lang 2015, 103 f. Abb. II 13 (J. Lang).
2) Verschollen. Glaspaste Würzburg, Martin von WagnerMuseum (Abb. 2)
Maße (Bild): 1,76 × 1,41.
Publ.: ZwierleinDiehl 1986, 198 Nr. 525 Taf. 93. Ebd. schließt sie mit
Verweis auf die leicht geringere Größe und das zu magere Gesicht eine
Identifizierung der Glaspaste mit dem Abdruck Lippert 1 II 2 Nr. 330 (Sarda,
Alia Galbae iam certior, ohne Angabe des Besitzers) aus.
51 Das bisher unpublizierte Material dürfte noch eine ganze Reihe bekannter
Unbekannter der römischen Republik bereithalten, die über die oben skizzierte
Annäherung auf Basis systematischer Vergleiche zu weiteren Bildnisgruppen
zusammengeschlossen werden können.
52 Dahingehend ist Vollenweider 1955, 108, die das Phänomen des »Bekenntnis
charakters« auf die zweite Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. beschränkt, zu korrigieren.
53 Zu kurz greift hier Giuliani 1986, 47, dessen umfassende Bewertung allein
auf Werken der Rundplastik basiert.
54 Interessanterweise genießen Gemmen auch in neueren Überlegungen zur
kontextuellen Wirkung römischer Bildnisse keinen besonderen inhaltlichen
Stellenwert, sondern fungieren etwa als Vignette. Vgl. Fejfer 2008, S. V.
184
3 ) Schwarzer Jaspis. Boston, Museum of Fine Arts Inv. 27.715 (ehem. Slg.
Tyszkiewicz, davor Slg. Piombino Boncampagni) (Abb. 3a–b)
Maße: Dm. 1,6
Publ.: Furtwängler 1900, Taf. XXXIII, 16; LI, 25 (Achat); Vollenweider 1972,
Taf. 52, 4–6 (Achat); Vollenweider 1974, 81 f.; Beazley – Boardman 2002, 64 f.
Nr. 101; Smith 1981, 27. 33 f. Taf. 2 Nr. 3. Daktyliotheken: T. Cades, Catalogo
del Museo del Principe di Piombino. Collezione di 68 impronti cavati da
gemme antiche appartenenti a S. E. il Sig.r Principe di Piombino Nr. 65;
Pirzio Biroli Stefanelli 2007, 147 f. Nr. 413.
4 ? ) Karneol. Boston, Museum of Fine Arts Inv. 27.741 (ehem. Slg. Evans
(Abb. 4a–b; vgl. Taf. 4b)
Maße: 1,6 × 1,2 × 0,3
Publ.: Beazley – Boardman 2002, 72 f. 121 Nr. 116 Taf. 24; erw. Simon 1995,
558 (C. Weiß); ZwierleinDiehl 1986, 306 f. zu Nr. 927. Daktyliothek: Lippert1
II 2 Nr. 223.
B : B IL D N IS G RU PPE B E RLIN – F LO REN Z
1 ) Karneol. Berlin, Staatliche Museen, Antikensammlung Inv. FG 6537
(ehem. Slg. von Stosch) (Abb. 5a–b)
Maße: 1,29 × 1,06 × 0,29
Publ.: Furtwängler 1896, 240 Nr. 6537 Taf. 46; Furtwängler 1900, Taf. XLVII,
26; LI, 26; Lahusen 1989, Taf. 45, 1–2; Vollenweider 1972, Taf. 4. 8. 9.
2 ) Karneol. Florenz, Museo Archeologico Inv. 14998 (alte Inv.Nr. 275)
(Abb. 6a–b)
Maße: 1,25 × 1,00 × 0,40
Publ.: Gori 1731, Taf. XXXXII, 10; Furtwängler 1900, Taf. XLVII, 6; Vollen
weider 1972, Taf. 61, 1–3. Daktyliothek Paoletti: Pirzio Biroli Stefanelli 2007,
223 Nr. 206.
3 ) Karneol. Florenz, Museo Archeologico Inv. 358 (ehem. Slg. William
Currié, 1863 in den Besitz des Museums übergegangen) (Abb. 7)
Maße: 1,05 × 1,00
Publ.: Vollenweider 1972, Taf. 61, 5–7; Lahusen 1989, Taf. 45, 5.
C : B IL D N IS G RU PPE B E RLIN –B E RN
1 ) Hell bis mittelbrauner Sard. Berlin, Staatliche Museen, Antikensamm
lung Inv. FG 6538 (Abb. 8; vgl. Taf. 4c)
Maße: 1,60 × 1,39 × 0,32
Publ.: Furtwängler 1896, 240 Nr. 6538 Taf. 46; Furtwängler 1900, Taf. XLVII,
18; ZwierleinDiehl 1969, 157 Nr. 412 Taf. 73.
LANG: BILDNISWIEDERHOLUNGEN IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN GLYPTIK 185
2 ) Dunkelbrauner Sard in Goldring des 17. Jhs. Antikensammlung der
Universität Bern, DL 288 (Stiftung Leo Merz, ehem. Slg. Fürstenberg,
Donaueschingen) (Abb. 9; vgl. Taf. 4d)
Maße: 1,55 × 1,30
Publ.: Vollenweider 1972, Taf. 97, 5; Jucker – Willers 1982, 283 Nr. 141 (I.
Jucker); Vollenweider 1984, 170 f. Nr. 288; RaselliNydegger – Willers 2003,
166 Nr. 171. Daktyliothek Paoletti: Pirzio Biroli Stefanelli 2007, 313 Nr. 456
(irrtümlicherweise mit Berlin FG 6538 [hier C1 ] identifiziert. Dagegen
sprechen jedoch die abweichende Halsform mit vförmig spitz zulaufenden
Falten am Nacken, die drei nach vorn gerichteten Locken des Nackenhaares
sowie die weniger stark eingezogene Haarkante über der Schläfe).
BILDREC HTE
1a, Taf. 4a © Photo Institut für Klassische Archäologie und Antikenmuseum
der Universität Leipzig (Marion Wenzel).
1b Photo J. Lang.
2 © Photo Martin von WagnerMuseum der Universität Würzburg.
3a. b © Photo Boston Museum of Fine Arts.
4a. b, Taf. 4b © Photo Boston Museum of Fine Arts.
5a © Photo Antikensammlung, SMB (Johannes Laurentius).
5b Nach Lahusen 1989, Taf. 45, 1.
6a © mit Erlaubnis der Soprintendenza Archeologia, Belle Atri e Paesaggio
per la città metropolitana di Firenze e per le provincie di Pistoia e Prato.
6b Photo J. Lang.
7 Nach Lahusen 1989, Taf. 45, 5.
8, Taf. 4c © Photo Antikensammlung, SMB (Johannes Laurentius).
9, Taf. 4d © J. Zbinden, Institut für Archäologische Wissenschaften, Uni
versität Bern.
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BORIS BURANDT
NEUE ÜBERLEGUNGEN ZUR IDENTIFIKATION
DER ZENTRALEN PORTRAITBÜSTE
DES KAVALLERIEHELMES AUS HALLATON (UK)
Seit seiner Auffindung im Jahre 2000 in der britischen Grafschaft Leices
tershire wird über die Ikonografie des sogenannten Hallatonhelmes
(Abb. 1), der seit seiner Restaurierung im Harborough Museum in Mar
ket Harborough ausgestellt wird, spekuliert. Der mit Silberfolie beschla
gene Eisenhelm ist aufwendig an seiner Stirnpartie mittels getriebener
Reliefs unterschiedlicher Plastizität dekoriert. Besondere Betrachtung
verdient in diesem Kontext die weibliche Büste, welche nahezu vollplas
tisch, zentral über der Stirn des potentiellen Trägers aus der Helmkalotte
herausgearbeitet wurde, sich jedoch in solch hohem Maß beschädigt
zeigt, dass eine Identifikation der Dargestellten nicht ohne Weiteres
möglich ist. Simon James schlug in einer der frühen Publikationen zu
diesem außergewöhnlichen Helm vor, es könnte sich um eine Wieder
gabe der Göttin Cybele handeln, da an der Schläfenpartie zwei Löwen
die Büste flankieren und diese allgemein als Begleittiere dieser Gottheit
auftreten.1 S. James weist jedoch in dem gleichen Artikel darauf hin, dass
die Löwen größere Ähnlichkeiten mit Darstellungen aus der Sepulkral
kunst aufweisen und auch als sogenannte Totenwächter interpretiert
werden können, wodurch in logischer Konsequenz eine Ansprache der
Büste als Idealportrait einer Göttin hinfällig würde.2 Der Wiedergabe
einer weiblichen Gottheit widerspricht zudem, dass Darstellungen von
Göttern auf römischer Militärausrüstung vor dem zweiten nachchrist
lichen Jahrhundert ausgesprochen selten sind. Zwar treten dekorative
1 Sharp/James 2012, 39.
2 Ebd.
190
1 HallatonHelm, Eisen mit Fragmenten von teilvergoldeter Silberfolie,
2. Viertel 1. Jh. n. Chr., Harborough Museum (UK)
Elemente, die Bezug auf bestimmte Gottheiten nehmen, durchaus in
Erscheinung – angeführt seien hier lediglich die der Jupiter-Ikonografie
zugehörigen Blitzbündel mit Adlerschwingen, wie sie sich als Motive für
Schilde, Gürtelplatten oder auch Wangenklappen belegen lassen –, Vi
sualisierungen der Gottheiten selbst treten jedoch nicht in Erscheinung.
Fest zum Kanon militärischen Zierrates der Frühen Kaiserzeit gehören
jedoch Darstellungen der Angehörigen des julischclaudischen Kaiser
hauses. So treten vor allem die Herrscher selbst, also Augustus, Tiberius
oder Claudius in Erscheinung. Exemplarisch aufgeführt sei hier das
sogenannte Schwert des Tiberius, dass nach aktuellem Forschungsstand
Tiberius und seinen Adoptivsohn Germanicus im Scheidenmundblech
B U R A N D T : D IE PO R T R A IT B ÜS T E D E S K A V A LLE R I E H E L M E S A U S H A L L ATO N 191
wiedergibt,3 die an verschiedenen Fundorten geborgenen Gürtelplatten
mit Portrait des Tiberius zwischen zwei Füllhörnern,4 die zahlreichen
Schwertaufhängungen mit Portrait des Augustus5 oder der Reiterhelm
aus Xanten-Wardt 6, der typologisch dem Fund aus Hallaton ausgespro
chen nahe steht und zentral die Büste eines römischen Feldherren,
entweder Tiberius, Germanicus oder – mit höchster Wahrscheinlichkeit
– Claudius zeigt. Doch auch weitere Familienmitglieder, wie die desig
nierten Thronfolger, oder weibliche Angehörige, etwa die Kaisergattin
oder mutter lassen sich auf Helmen, phalerae oder Scheidenblechen
nachweisen. In Folge dessen erscheint es meines Erachtens sehr viel
wahrscheinlicher, in der Dargestellten auf dem Helm aus Großbritannien
ebenfalls ein weibliches Mitglied des Kaiserhauses zu sehen als die
Idealbüste einer Göttin. Bislang lassen sich auf militärischen Ausrüs
tungsstücken des ersten Jahrhunderts Livia Drusilla und Agrippina
Maior nachweisen. Erstere auf einem Scheidenmundblech mit Treibde
kor aus Bonn (D)7 und Letztere auf direkt mehreren identischen Me
daillons aus kobaltblauem Glas (u. a. Avenges (CH))8. In der Büste des
Hallaton Helmes also eine dieser beiden Persönlichkeiten zu vermuten
liegt nahe – auch mit Blick auf den zeitlichen Horizont der Fertigung
des Helmes. Da der Helm unzweifelhaft römischer Provenienz ist, dürf
te er nicht vor der Invasion Britanniens durch römische Truppen unter
Kaiser Claudius, mit der 43 n. Chr. begonnen wurde, in den Boden ge
langt sein. Seine Auffindung als Depot in einem indigenen Heiligtum
hat zur Folge, dass er wiederum kaum nach der weitestgehenden Unter
werfung Britanniens gegen Ende des ersten Jahrhunderts datieren kann.
Eine Fertigung im ersten Jahrhunderts n. Chr. ist folglich aus rein his
torischen Erwägungen ausgesprochen wahrscheinlich. Hinzu kommt die
typologische Verwandtschaft zu Helmen wie dem bereits angesprochenen
Fund aus Xanten-Wardt oder solchen des Typs Weiler-Bubenheim9, die
sich alle durch übereinstimmende Konstruktionselemente auszeichnen
und zeitlich in die mittleren Dekaden des ersten Jahrhunderts einzuord
nen sind. Es findet sich bei ihnen stets ein weit auf den Nacken des
3
4
5
6
7
8
9
Hertel 2013, 85. 128. 212 f. Kat. Nr. 168 Taf. 126,3.
Unz/DeschlerErb 1997, 63, Nr. 2422, Taf. 82.
Ebd., 62, Nr. 2401–2403 u. 2406, Taf. 80.
Prittwitz 1991, 225–246.
Miks 2007, 242 f., 786 B 39, 1.
Boschung 1987, 206 f., 247 f., Abb. 79–82.
Fischer 2012, 206 f.
192
Trägers herabreichender, rückwärtiger Schutz mit ausgesprochen kurzer
Falz, Wangenklappen mit ausgearbeitetem Ohrprotektor und eine dia
demartige Gestaltung der Stirnpartie. Außerdem fehlt ihnen die zwischen
die Wangenklappen gegliederte und mittels eines Scharniers visierartig
schließende metallene Gesichtsmaske, die ihre chronologischen Vorgän
ger charakterisiert 10. Der Helm aus Hallaton dürfte somit aller Wahr
scheinlichkeit nach im zweiten Viertel des ersten Jahrhunderts gefertigt
worden sein. Betrachtet man nun die erhaltenen und aufwendig restau
rierten Fragmente der weiblichen Büste auf der Helmkalotte (Abb. 2), so
wird direkt ersichtlich, dass für die Analyse eines Portraits existenzielle
Bereiche unwiederbringlich verloren sind: es fehlt der größte Teil des
Mundes, die gesamte Nasenpartie, die Augen mit Ausnahme der rechten
Augenbraue nebst darunter befindlichem Lied, sowie das Gros der Haar
frisur. Insbesondere die Frisur leistet an anderer Stelle große Hilfe bei
der Ansprache antiker Herrscherinnen. Sie kann für diesen Fund aber
lediglich als ergänzendes Indiz herangezogen werden. So lassen sich über
dem rechten Ohr der Büste noch drei Strähnen identifizieren, die in
leichtem Bogen fallend nach hinten zurückgenommen sind und dabei
das Ohr selbst verdecken. Nach einer weiter oben anschließenden Fehl
stelle können einige Locken ausgemacht werden, welche leicht eingedreht,
beziehungsweise gewellt aus dem Material getrieben sind. Es ist kaum
möglich zu entscheiden, ob es sich um zwei parallel von oben nach unten
verlaufende Strähnen handelt, die im Sinne von sogenannten »Korken
zieherLocken« zu interpretieren wären, oder ob es sich um drei annä
hernd horizontal und somit parallel verlaufende Haarstränge handelt.
Oberhalb dieser stark strukturierten Partie zeigt sich der Ansatz eines
Diadems, das leicht zum Scheitel hin anzusteigen scheint, in seiner Mas
se aber der Korrosion zum Opfer gefallen ist. Drei links des Diademzwi
ckels diagonal ansteigende Rippen dürften nicht zu der Frisur gehören,
sondern zu einer Art weiterem Kopfschmuck, eventuell in Verbindung
mit dem Diadem rekonstruiert werden. Den Hals der Büste begleiten zu
beiden Seiten zwei schmale, nur flach konturierte Streifen, welche direkt
in die Falten des Gewandes über dem Schlüsselbein der Dargestellten
münden und daher wohl ebenfalls sehr viel weniger als Teil der Haar
tracht, denn viel mehr als Teil eines Schleiers angesprochen werden
müssen. Offenbar war die gezeigte Frauenfigur ursprünglich mit capite
velato dargestellt, den Hinterkopf verhüllt. Was das Gesicht betrifft, so
10 Ebd., 205 f.
B U R A N D T : D IE PO R T R A IT B ÜS T E D E S K A V A LLE R I E H E L M E S A U S H A L L ATO N 193
2 Detailaufnahme der weiblichen Büste an der Stirnpartie des
Kavalleriehelms aus Hallaton (siehe Taf. 5)
fällt besonders die recht starke Kinn und Kieferpartie auf. Der Mund
hingegen scheint schmal gemeint – zumindest legt dies die erhaltene
untere Linie der Unterlippe nahe, welche fast die Hälfte weniger in der
Breite misst, als das Kinn. Die Augen dürften weiter auseinander gestan
den haben. So ist der erhaltene äußere Winkel des rechten Auges weit
zur Schläfe hin verrückt, was das Auge als solches von der Nase wegrü
cken muss. Die Stirn wiederum dürfte nicht sonderlich hoch gewesen
sein, da der Verlauf der erhaltenen Frisur nur unwesentlich gegen den
Scheitel hin ansteigt. Der weitreichende Verlust der Frisur macht, wie
bereits unterstrichen, eine klare Ansprache ausgesprochen schwierig.
Hinzu tritt der Umstand, dass die Physiognomie auf die Portraittypen
direkt mehrerer der weiblichen Angehörigen der julischclaudischen
194
Dynastie übertragbar ist, wobei der Grad der Übereinstimmung, sowie
Abweichungen von Kopie zu Kopie variieren kann. Die wenigen nach
vollziehbaren Charakteristika der Gesichtes lassen sich in Einklang mit
den Darstellungen folgender drei Familienmitglieder des Kaiserhauses
setzen: Es sind dies Livia Drusilla, Gattin des Augustus und Großmutter
des Claudius, Antonia minor, Gattin des Drusus maior und Mutter des
Claudius, sowie Agrippina maior, Gattin des Germanicus und Mutter des
Caligula, sowie erst Schwägerin, später dann Schwiegermutter des
Claudius. Alle drei Frauen zeichnen sich in ihren Portraits durch eine
starke Kinnpartie, rundliche Kontur des Gesichtes, schmalen Mund und
weit auseinander stehende Augen aus. Verschiedenen Aufstellungen von
Figurengruppen, die Familienmitglieder des Kaiserhauses zeigen, bezeu
gen, dass alle drei Frauen zudem regelmäßig durch repräsentative Statu
en geehrt wurden11. Wie bereits erwähnt datiert das Fehlen einer Gesichts
maske Helm und Portrait in claudische Zeit. Alle drei Frauen haben al
lerdings als Großmutter, Mutter und Schwiegermutter einen klaren Bezug
zu Claudius als dem herrschenden Kaiser selbst. Eine Eingrenzung allein
über die familiären Verbindungen ist also nahezu obsolet. Einzig Agrip
pina maior weist eine geringere Verbindung zu Claudius auf, da sie
keine Blutsverwandte darstellt. Doch mit dem Jahr 49 n. Chr. rückt sie
als neue Schwiegermutter des Claudius wieder näher an den Kaiser he
ran. Zudem dürfte ihre Beliebtheit bei den Legionen und Hilfstruppen
ebenso eine Darstellung auf militärischer Ausrüstung legitimieren, wie
das große Prestige, dass ihr Gatte Germanicus bei den Truppen genoss12.
Wie wichtig die Person des Germanicus für die Legitimation der Herr
schaft des Claudius und die zu erhoffende Loyalität der Legionen war,
lässt sich unter anderem daran ablesen, dass der Kaiser in seiner offiziellen Herrscherrepräsentation regelmäßig auf seinen beliebten Bruder
zurückgriff und Portraitstatuen des Germanicus neben seinen eigenen
Darstellungen errichten ließ13. Der Ruf des Drusus maior als charisma
tischer Feldherr dürfte dem entgegen in den Streitkräften, die seit
43 n. Chr. Britannien invasierten, bereits verblasst gewesen sein, lagen
seine Erfolge doch über 50 Jahre und somit etwa zwei Dienstgenerationen
11 Boschung 2002, 219–227
12 Vgl. hierzu die Darstellung auf den bereits in Fußnote 8 vorgestellten glä
sernen phalerae, die wohl als Set und in ikonografischer Ergänzung mit dem
Portrait des Germanicus an Soldaten ausgegeben wurden.
13 So etwa in der claudischen Statuengruppe auf dem Stadttor von Verona
oder am 51/52 n. Chr. errichteten Claudiusbogen in Rom (Boschung 2002, 153).
B U R A N D T : D IE PO R T R A IT B ÜS T E D E S K A V A LLE R I E H E L M E S A U S H A L L ATO N 195
an Soldaten zurück. Dies macht eine Darstellung der Antonia minor im
militärischen Kontext unwahrscheinlich. Die bereits angesprochenen
Errichtungen von Statuengruppen in claudischer Zeit, die verschiedene
Konstellationen von Juliern und Claudiern offerieren, zeigen jedoch
durchaus die Mutter des Regenten. So tritt diese etwa in Leptis Magna,
in Herculaneum und auf dem Claudiusbogen in der Hauptstadt Rom
auf 14. Eine solch prominente Darstellung, wie es die Büste auf dem Helm
aus Hallaton aber ohne Frage ist, erscheint dennoch zweifelhaft. Ein
weiteres Indiz, das gegen Agrippina maior und Antonia maior im Falle
der HallatonBüste spricht, dürfte das Diadem sein, das sich noch über
der rechten Schläfe des Portraits zeigt. Es spricht für eine bereits vollzo
gene Divinisierung der Dargestellten und dürfte zusammen mit den
beiden flankierenden Löwen dazu geführt haben, dass S. James hierin die
Göttin Cybele erkennen wollte. Eine der ersten Amtshandlungen des
Claudius als neuer Kaiser war die Vergöttlichung seiner Großmutter,
welche ihm als Einzige einen unmissverständlichen dynastischen Bezug
zu Augustus garantierte. Sie taucht dementsprechend regelhaft in den
Statuengruppen der Herrscherfamilie auf 15. Im Gegensatz zur Majorität
der augusteischen Portraits der Livia trägt die Augusta auf den Wieder
gaben claudischer Zeit keine nodusFrisur mehr. Das Haar ist nun in
lockeren Wellen von einem Mittelscheitel ausgehend nach hinten zurück
genommen, wobei die Ohren weitestgehend bis komplett überdeckt sind.
Neben einer zu postulierenden realen Veränderung in der Haartracht der
Livia dürfte auch dieses Element dazu gedient haben, den göttlichen
Status der Kaisergroßmutter zum Ausdruck zu bringen16. Dies lässt sich
in Einklang bringen mit den erhaltenen Frisurfragmenten am Halaton
helm. Wie beschrieben können über dem Ohr einige locker nach hinten
zurück genommene Strähnen ausgemacht werden. Über dem rechten
14 Ebd., 153.
15 U. a. in Leptis Magna hier gar als monumentale Sitzstatue , in Herculaneum
und in Veleia (Boschung 2002, 9, Nr. 1.13, 25, Nr. 2.6, 120, Nr. 42.10 u. 153). Letzt
genanntes Beispiel zeigt eindrücklich die Übereinstimmung in der Physiogno
mie der Livia und der ebenfalls zur Aufstellung gehörenden Agrippina maior
wenngleich hier das Portrait der Livia im Verhältnis zu Agrippina schmaler
gearbeitet ist, außerdem dient auch hier das Diadem als separierendes Attri
but, das die divinisierte Großmutter von der Schwägerin und Schwiegermutter
abhebt (vgl. Boschung 2002, 25, Nr. 2.6 u. 2.7, Taf. 16 u. 18).
16 Vgl. Darstellungen der Juno, z. B. in Holkham Hall (Angelicoussis 2001,
144 f. Kat. Nr. 45 Taf. 82. 83,1–4).
196
Stirnansatz befindet sich gewellte Haarstränge, die noch in ihrer geringen
Erhaltung an die entsprechende Haarpartie der LiviaPortraits aus der
Basilica von Veleia oder aus dem Augustus und RomaTempel von Leptis
Magna erinnern17 . Ein Diadem tritt bei claudisch datierenden Livia
Darstellungen regelhaft auf, der über den Hinterkopf gelegte Saum der
palla für die capite velato zumindest vermehrt. Beides lässt sich an der
Büste des Helmes in gleicher Form ablesen. Wie die Divinisierung seiner
Großmutter, so fällt auch eine umfassende Reformation des Cybele
Kultes in die Regentschaft des Claudius18. Während sich hieraus eine
besondere Bedeutung dieser Gottheit für den Kaiser selbst nur indirekt
ableiten lässt zeigt ein heute im Kunsthistorischen Museum in Wien
verwahrter Cameo Livia mit Diadem, Mauerkrone und capite velato un
zweifelhaft als bereits vergöttlichte Herrscherin, das Abbild ihres ebenfalls
divinisierten Gatten betrachtend 19 (Abb. 3). Eine Gleichsetzung mit
Cybele, Ceres oder Ops kommt durch die in der linken Hand der Livia
präsentierten Ähren und Mohnkapseln, sowie das Diadem und die Mau
erkrone in Frage, wobei Letztere zusammen mit der Wiedergabe eines
Löwen auf dem Globus, welcher unter dem linken Arm der Livia promi
nent in Szene gesetzt ist, stärker auf Cybele verweisen dürfte, denn auf
die anderen beiden Göttinnen. Ein weiterer Cameo in der Eremitage in
St. Petersburg zeigt Livia im Dreifachportrait mit Augustus und einem
jungen julischclaudischen Prinzen20 (Abb. 4). Hier dürfte eine Gleichset
zung der Augusta mit Ceres durch die Angabe eines Ähren und Mohn
kranzes als einziges Attribut unzweifelhaft sein. Bei einer Statue der
Livia aus dem Theaterbezirk von Leptis Magna21 und einer weiteren
Figur aus dem Augusteum von Roselle ist die vollzogene Divinisierung
ebenfalls offensichtlich, wobei die Attribute lediglich auf eine Mutter
gottheit zielen22. Die Attribute capite velato und Diadem lassen sich, wie
bereits herausgestellt, an der Büste des Hallatonhelmes nachweisen. Bei
den drei beschriebenen diagonalen Rillen oberhalb des Diadems könnte
es sich zudem um die rudimentären Überreste eines weiteren Kopfschmu
ckes aus Ähren und/oder Mohnkapseln handeln, ähnlich der Darstellung
auf dem Petersburger Cameo, einer Büste in den kapitolinischen Museen
17
18
19
20
21
22
Boschung 2002, 9, Nr. 1.13, 25, Nr. 2.6, Taf. 18, 1 u. Taf. 9, 1–3.
Haarmann 1996, 129–130.
Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. Nr.: IXa95.
Neverov 1970, 60.
Boschung 2002, 10, Nr. 1.22.
Ebd., 69, Nr. 20.1, Taf. 56, 2.
B U R A N D T : D IE PO R T R A IT B ÜST E D E S K A V A LLE R I E H E L M E S A U S H A L L ATO N 197
3 Umzeichnung eines Cameos aus Sardonyx mit Darstellung
der Livia, eine Büste des Augustus haltend, nach 14 n. Chr.,
Kunsthistorisches Museum Wien, Zeichnung B. Burandt
198
4 Cameo aus Sardonyx mit Darstellung der Livia mit einem Kranz aus
Ähren und Mohnkapseln, des Augustus und eines kaiserlichen Prinzen,
nach 14 n. Chr., Eremitage, St. Petersburg
in Rom23 (Abb. 5) oder einem weiteren LiviaPortrait in St. Petersburg24.
Es erscheint in Folge dessen und meinem Erachten nach mehr als nur
sinnvoll in der prominenten Büste des Hallatonhelmes die vergöttlichte
Livia in ihrer Mutterrolle als Cybele oder Ceres zu erkennen. Die beiden
Löwen an den Flanken der Stirnpartie des Reiterhelmes könnten dann
eben doch als göttliche Begleittiere fungieren und gleichzeitig in ihrer
augenscheinlichen Übereinstimmung mit Grabskulpturen der Frühen
23 Winkes 1995, 156, Kat. Nr. 81.
24 Ebd., 170, Nr. 94.; zwar ist der Ährenkranz hier in weiten Teilen ergänzt, doch
ist seine Existenz durch die erhaltene Originalsubstanz der Büste unzweifelhaft.
B U R A N D T : DIE PO R T R A IT B ÜS T E D E S K A V A LLE R I E H E L M E S A U S H A L L ATO N 199
5 Portraitbüste der Livia mit
ährengeschmücktem Diadem,
Mitte 1. Jh. n. Chr., Museo
Capitolino, Rom
Kaiserzeit eine Brücke schlagen zwischen der Sepulkral und der Sakral
kunst. Die erst postum vorgenommene Divinisierung der Livia könnte
somit gleichfalls Eingang in das Darstellungskonzept des Hallatonhelmes
gefunden haben, wie der dynastische Hintergrund des Portraits. Basierend
auf diesen Überlegungen schlage ich die in Abb. 6 gezeigte Rekonstruk
tion für die verlorene Partie der Helmbüste vor.
BILDREC HTE
1–2, Taf. 5 Leicestershire County Council, Harborough Museum, Market
Harborough.
3, 6 B. Burandt.
4 State Hermitage, St. Petersburg.
5 Musei Capitolini, Collezione Albani, Palazzo Nuovo, Rom.
200
6 Rekonstruktionsvorschlag zum ursprünglichen Erscheinungsbild der
zentralen Büste des HallatonHelms, Zeichnung B. Burandt
B U R A N D T : D IE PO R T R A IT B ÜST E D E S K A V A LLE R I E H E L M E S A U S H A L L ATO N 201
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SEMRA MÄGELE
UNSICHTBARES SICHTBAR MACHEN
Statuenbasen im urbanistischen Gefüge
von Sagalassos
Das Ensemble, das am 17. April 2015 in Brandenburg an der Havel als
Denkmal für den Ehrenbürger Vicco von Bülow (1923–2011) alias Loriot
eingeweiht wurde, umfasst neben acht sogenannten Waldmöpsen aus
Bronze und einer Aussichtsplattform mit Informationstafeln auch einen
hochrechteckigen Steinsockel (Abb. 1).1 Dieser ist auf der Vorderseite
mit einer Inschrift versehen, und auf der Oberseite sind – nichts als –
die Schuhabdrücke des Geehrten eingelassen. Eine lebensechte Statue,
die in der Regel konstitutiver Bestandteil solcher Denkmäler ist, war
zu keinem Zeitpunkt der Planungs und Gestaltungsphase angedacht.2
Trotz des Fehlens einer Porträtstatue dürfte der Anblick des Sockels bei
dem zeitgenössischen Betrachter eine visuelle Imagination des Karika
turisten und Humoristen erwecken. Der Statuensockel bietet mit dem
1 Das als Waldmopszentrum titulierte Denkmal nach einem Entwurf von Clara
Walter wurde vom Kulturverein Brandenburg unter der Leitung des damaligen
Außenministers Frank Walter Steinmeier gestiftet und befindet sich heute
auf dem Johanniskirchplatz. Die Waldmöpse entstammen als Kunstfigur dem
LoriotSketch Tierstunde – der wilde Waldmops. Die Zahl der ursprünglich acht
Waldmöpse beläuft sich heute auf 20 Stück, die im gesamten Bereich der In
nenstadt aufgestellt sind. Für die Unterstützung und die Erstellung von Fotos
gebührt mein Dank Frau Dr. Wera Groß vom Brandenburgischen Landesamt
für Denkmalpflege. Zugleich bedanke ich mich für die immerwährende Förde
rung und Unterstützung beim Sagalassos Research Project und Marc Waelkens.
2 Die Erben entschieden sich gegen eine Statue mit dem Verweis, dass Vicco
von Bülow das Personendenkmal aufgrund der damit zum Ausdruck gebrachten
Überhöhung abgelehnt habe. Quelle: http://www.zeit.de/2015/17/mopsloriot
denkmalsteinmeierbrandenburghavel (26.09.2017).
204
1 Steinsockel des Vicco von Bülow, Waldmopszentrum,
Brandenburg an der Havel
indexikalischen Zeichen der bloßen Schuhabdrücke eine Assoziations
brücke und ermöglicht so, dem NichtSichtbaren auf einer imaginativen
Ebene nachzugehen. Anders gesagt, er stellt einen materiellen Verweis
dar, um den Bezug zur nicht existenten Statue herzustellen. A1
Der hintergründige, für Loriot charakteristische Humor lässt sich
als Spiel mit dem kulturellen Imaginären und der Einbildungskraft
des Betrachters begreifen: Spuren eines Denkmals, im Zeichen der
M Ä G E LE : S TAT UE NB A S E N IM UR B A NIST IS CH E N GE F Ü GE V O N SA GA L A SSO S 205
Abwesenheit.3 Den Zeitgenossen ist es möglich, die Gestalt Vicco von
Bülows mühelos zu vergegenwärtigen. Wie jedoch gestaltet sich eine
vergleichbare Situation, richtet man den Blick zurück in die Antike?
Nahezu in jeder antiken Stadt begegnet man einer großen Anzahl an Sta
tuenbasen, ohne Statuen. Von explizit konstruierten Leerstellen, wie das
zeitgenössische Beispiel vorführt, kann hier natürlich keine Rede sein. In
vollständigem Zustand zählten die Statuendenkmäler zu den wichtigsten
visuellen Gestaltungselementen des öffentlichen Raums und besaßen
zugleich als Repräsentationsmedien soziale Funktionen. Worin liegt der
Wert der Statuenbasen, die von der archäologischen Forschung lange
Zeit gering beachtet wurden? Die Erkenntnis, dass es sich um integrale
Bestandteile jener Statuendenkmäler handelt – und nicht bloß um stei
nerne Inschriftenträger – hat zu einem neuen Umgang mit dieser großen
Materialgruppe geführt. Über die Zusammenschau diverser Kriterien –
Stand und/oder Fundort, Inschriften, Typen/Format, Beschaffenheit –
lassen sich mehrere Bedeutungsebenen der Statuenbasen rekonstruieren,
sei es in ihrer Funktion als Abbilder sozialer und politischer Hierarchien
und/oder als strukturimmanente Elemente im urbanen Raum.
Die Statuenbasen aus der pidischen Stadt Sagalassos (Südwest
türkei) bilden im folgenden den Ausgangspunkt, um das fragmentierte
Bild einer ursprünglich von Statuen visuell durchdrungenen urbanen
Landschaft zu ergänzen. Dabei kann das Ziel nicht die Sichtbarmachung
beziehungsweise exakte Rekonstruktion einer plastischen Statue in
ihrem ikonographischen und typologischen Erscheinungsbild sein. Im
Gegensatz zum zeitgenössischen Beispiel mit einer bewusst als visu
elles Argument eingesetzten Abwesenheit steht die Leerstelle bei den
antiken Statuenbasen für eine Defizienz, die positiv gewertet jedoch
aufschlussreiche Erkenntnisse liefert und zuvor Unsichtbares sichtbar
werden lässt.4
3 Bei der Eröffnungsfeier erinnerte Frank Walter Steinmeier an Loriots »große
poetische Rede, die so inhaltsleer war, dass vielleicht mancher politischer
Redner peinlich berührt war«. Das Inhaltsleere scheint als FormVorlage des
Denkmals gedient zu haben, das gerade in seiner Nicht-Existenz vorstellbar ist.
4 Ähnlich verhält es sich mit den antiken Ruinen, die von der Vollständigkeit
ins Fragmentarische übergehend eine andere Bedeutung erlangt haben. Vgl.
Schnapp 2014.
206
DIE ANTIKEN STATUEN B ASEN VO N SAG AL A S S O S
Als eine der wichtigsten Repräsentationsformen seit hellenistischer Zeit 5
war das statuarische Ehrendenkmal immer mit einer Bildnisstatue des
Geehrten ausgestattet. Die Statuenbasis war hier eine integrale Kompo
nente.6 Schaut man sich die archäologische Überlieferung an, offenbart
sich indes ein starkes Missverhältnis zwischen den beiden Komponenten
Statue und Basis: Während auf der einen Seite ein außerordentlich hoher
Bestand an Basen erhalten geblieben ist, ist der Großteil der zugehörigen
Bildnisse aufgrund von Zerstörung oder Beschädigung nahezu vollständig
verloren. Dieser Befund trifft für zahlreiche antike Städte zu, so auch für
die pisidische Stadt Sagalassos (Abb. 2). Im Rahmen der Untersuchung
zur statuarischen Ausstattung von Sagalassos war es entsprechend nahe
liegend, neben den rundplastischen Statuen selbst auch die Basen als
relevante Artefakte zu berücksichtigen.7 Seit Beginn der systematischen
Ausgrabungen im Jahre 1990 kamen rund 115 Statuenbasen zutage.8 Von
den Porträtstatuen sind dagegen nicht mehr als 20 Fundstücke erhalten,
in Form von Körper oder Gewandfragmenten. Die kombinierte Unter
suchung beider Materialgruppen nimmt nicht zuletzt eine in der archäo
logischen Forschung zu beobachtende Tendenz auf. Waren Basen seit
jeher aufgrund der Inschriften bedeutsame Objekte epigraphischer und
prosopographischer Forschungen, kam ihnen aus archäologischer Sicht
lediglich eine selektive und untergeordnete Rolle zu. Erst seit kurzem
werden sie als archäologische Objekte mit eigenem Bedeutungshorizont
5 Aus der reichen Bibliographie hier nur eine Auswahl, Zanker 1995, Raeck
1995, Ma 2013.
6 Angesichts der numerischen Überlegenheit ragt die stehende Einzelfigur als
populärste Form unter den statuarischen Ehrendenkmälern hervor. Seltener
sind Reiterstandbilder (vgl. Bergemann 1990 und ders. 1992) oder Gespann
monumente (vgl. Erkelenz 2003a).
7 Mägele 2009. Dokumentiert wurden alle Gattungen statuarischer Ehren
monumente: Hierzu zählen neben den Statuenbasen vereinzelt Säulen und
Pfeilermonumente sowie Bogenmonumente.
8 Eine Gesamtpublikation der Inschriften in Corpusform von Sagalassos er
scheint in Kürze, Eck/Eich/Eich (im Druck). Ältere Editionen zu den Inschrif
ten von Sagalassos bei Lanckoroński 1892, Nr. 188–234, Devijver/Waelkens 1995
und dies. 1997; Devijver 1996.
M Ä G E LE : S TAT UE NB A S E N IM UR B A NIST IS CH E N GE F Ü GE V O N SA GA L A SSO S 207
2 Stadtplan von Sagalassos
verstärkt in historischwissenschaftliche Diskurse eingebunden und
eröffnen wertvolle Perspektivenerweiterungen.9
Ausgehend von der These, dass Statuenbasen für sich genommen
Rückschlüsse über das Selbstverständnis und/oder die Sicht auf den
9 Zur Bedeutung der Statuenbasen bereits Alföldy 1979 und ders. 1984; siehe
auch den Sammelband Alföldy/Panciera 2001. Im Fokus jüngerer Untersu
chungen stehen die mediale und politischsoziale Funktion sowie die formale
und räumliche Kontextualisierung der Statuendenkmäler: (Hellenismus):
Dillon/Baltes 2013; Griesbach 2014; Leypold 2013; Sielhorst 2012; Krumeich
2007; Krumeich/Witschel 2009. (Römische Kaiserzeit): Filges 2007 (Didyma),
Krumeich 2008 (Athen, Akropolis), Leypold 2013 (Olympia); Smith 1998 und
ders. 2006 (Aphrodisias); Gilhaus 2015. Mit Fokus auf bestimmte Personen
gruppen: Erkelenz 2003 (römische Amtsträger), Ruck 2005 (Senatoren), Højte
2005 (Kaiser), Murer 2017 (weibliche Ehrenstatuen in Italien und Nordafrika).
Für die Spätantike umfassend der Sammelband Bauer/Witschel 2007. Vgl. auch
Konzepte zur Objektbiographie, für die Archäologie zuletzt Jung 2015.
208
Einzelnen in der öffentlichen Repräsentation liefern und folglich als figura
tive Bestandteile in den sozial-historischen Kontext der Stadt eingegliedert
werden können, berücksichtigt die folgende Betrachtung der sagalassischen
Statuenbasen in einem knappen Abriss zunächst die Widmungsinschrif
ten.10 Sie verhelfen zur Klärung der Identität der im Bild dargestellten
Person und liefern Informationen zum Grund der Ehrung. Darüberhinaus
tragen sie maßgeblich dazu bei, die Sozialstruktur der Stadt zu erfassen.
Außerdem besitzt auch der Standort des Ehrendenkmals im urbanen Ge
füge eine Signifikanz, da hierüber spezifische Aussagen zur visuellen For
mierung von sozialen und politischen Hierarchien erlangt werden können.
Durch die unmittelbare Materialität der Statuenbasis selbst – Form/Typus,
Größe und Beschaffenheit – wird die Besonderheit des Ehrendenkmals in
seiner kontextuellen Implikation teilweise rekonstruierbar. A2
DIE W IDMUN G SIN SCH R IFT EN AUF D EN STAT UEN BAS EN
Neben dem Anspruch eines Ehrendenkmals, die Aufmerksamkeit anhand
der äußeren Erscheinung und des Standorts zu sichern, war die Kommemo
ration des Dargestellten das übergreifende Anliegen. Dies manifestierte sich
in den Widmungsinschriften auf den Basen, die die Verdienste, Ehrungen
und Taten öffentlich proklamierten. Zugleich bezeugen die Inschriften eine
Dedikationspraxis, die von der frühen Kaiserzeit bis in die 1. Hälfte des
5. Jhs. n. Chr. andauerte und, wenn auch in unterschiedlicher numerischer
Gewichtung, alle gehobenen sozialen Gruppen umfasste – hierzu zählen das
Kaiserhaus, römische Amtsträger, die städtische Bürgerschaft und Athleten.
Die Mehrheit der statuarischen Ehrungen erhielten Bürger von
Sagalassos. Sie reichen von der augusteischen Phase bis in die 1. Hälfte
des 3. Jhs. n. Chr., wobei der größte Zuwachs in der 1. Hälfte des 2. Jhs.
n. Chr. zu verzeichnen ist. Nach Ausweis der tituli honorarii und den öf
fentlichen Ämtern,11 zählten die Geehrten zur lokalen Führungsschicht. Da
diese von einigen wenigen Familien – als herausragend sind die Tiberii
Claudii und Titi Flavii zu nennen – gebildet wurde, überrascht es wenig,
dass deren Mitglieder überaus häufig statuarische Ehrungen erhielten.12 Mit
10 Zur Funktion von Ehreninschriften in der römischen Kaiserzeit vgl. Eck
1995.
11 Zu Ämtern und Leiturgien während der Kaiserzeit vgl. Quaß 1993, 303–346.
12 Vgl. Devijver 1996, 108–114.
M Ä G E LE : S TAT UE NB A S E N IM UR B A NIST IS CH E N GE F Ü GE V O N SA GA L A SSO S 209
3 Statuenbasis des T. Flavius
Severianus Neon, sekundär auf
gestellt im antoninischen Nym
phäum auf der Oberen Agora
4 Statuenbasis des Tib. Claudius
Regulus, sekundär aufgestellt im
antoninischen Nymphäum auf der
Oberen Agora
ihren zahlreichen Wohltätigkeiten (Euergesien),13 worunter die Stiftung
von Bauwerken14 oder die Ausrichtung von Festen und Agonen zu den
Prestigereichsten zählten, dominierten sie das politische, kommerzielle
und religiöse Leben (Abb. 3. 4). A3/4
13 Zum Phänomen des Euergetismus zuletzt Zuiderhoek 2009.
14 Beispielhaft das Macellum aus spätantoninischer Zeit, gestiftet von P. Aelius
Akulas, Richard/Waelkens 2012 und Richard 2014, bes. 261, 265, 267 und 273,
Abb. 2, 9 und 13, oder die Erneuerung des Apollo KlariosTempels im 1. Viertel
des 2. Jhs. n. Chr., finanziert von T. Flavius Collega, seiner Frau Flavia Longilla
und weiteren Familienmitgliedern, zuletzt Eck 2013, bes. 45–49, Talloen/
Waelkens 2004, 175–177.
210
Die in den Familiendominanzen zum Ausdruck kommende Hier
archie und Geschlossenheit spiegeln auch die Ehrentitel wider, die nur
einem äußerst kleinen Personenkreis zuerkannt wurde. Hierzu zählen
die Titel φἰλόπατρις (VaterlandsliebenderPatriot), κτίστης (Gründer,
Bauherr, Stifter, Wohltäter), υιος τῆς πόλεως (Sohn der Stadt), πανἀρετος (Tugendhaftester), ευεργέτης (Euerget), φἰλοκαισαρος (Freund des
Kaiserhauses), die vom Stadtrat (Boule) und Volk (Demos) verliehen
wurden. Der nur für T. Flavius Neon gesicherte Ehrentitel φἰλοκαισαρος
unterstreicht die politisch herausragende Stellung dieser Familie, deren
prominentester Vertreter T. Flavius Severianus Neon (2. Viertel 2. Jh.
n. Chr.) ist. Er erhielt zu Lebzeiten vier statuarische Ehrungen, von denen
drei öffentlich und eine in dem von ihm selbst errichteten Memorial
bau aufgestellt wurden.15 Die ihm zuteil gewordenen selten vergebenen
Titel κτίστης, υιος τῆς πόλεως und πανἀρετος unterstreichen in der
Gleichwertigkeit mit seinen Bildnissen die Einzigartigkeit seiner Person.
Lediglich Tib. Claudius Piso (1. Viertel 2. Jh. n. Chr.) aus der zweiten
bedeutenden Familie in Sagalassos besaß einen vergleichbaren Status.
Ergänzend zu den Ehrentiteln gehörten auch moralischethische
Normen zum gängigen Formular der Widmungsinschriften, die zusam
men mit den konkreten Leistungen den Grund für die Dedikation des
Ehrendenkmals erläutern.16 So begegnen die seit hellenistischer Zeit be
kannten Normen ἀρετη / (Tugend), τειμή / (Ehrerbietung), σωφροσύνη
(Frömmigkeit),17 die häufig mit ἒυνοια (Wohlwollen) ein Wortpaar bilden.
Erneut ragt hier T. Flavius Severianus Neon hervor, da τειμή und ἒυνοια
einzig bei ihm als auszeichnungswürdig befunden wurden.
Während die Ehrentitel als moralische Statements erahnen lassen,
wie umfangreich die Handlungen und Leistungen der jeweiligen Per
sonen waren, halfen die in den Inschriften genannten Ämter jene zu
15 Der Bau in Sagalassos wurde von T. Flavius Severianus Neon zu Ehren
seines Vaters errichtet und mit sieben Bildnisstatuen von Familienmitgliedern
ausgestattet. Über die Funktion des in hadrianischer Zeit errichteten Gebäudes
herrscht keine Einigkeit: Nach Mägele 2009, 220–229 hat es sich ursprünglich
um einen Memorialbau gehandelt, der nach der 2. Bauphase (Ende 2. Jh. n. Chr.)
in eine Bibliothek umgewandelt wurde. Nach Waelkens u. a. 2000, 424 f. war
der Bau von Anfang an eine Bibliothek. Eine kritische Bewertung der Befunde
bei Ferruti 1999/2000.
16 Hervorgehoben wird dies in den Inschriften durch die Präposition ἑνεκα +
Akkusativ.
17 Vgl. Tuchelt 1979, 61; Höghammer 1993, 76–80.
M Ä G E LE : S TAT UE NB A S E N IM UR B A NIST IS CH E N GE F Ü GE V O N SA GA L A SSO S 211
konkretisieren. Es sind nur zwei überliefert, allerdings solche, die zu den
prestigeträchtigsten Ämtern eines Bürgers zählten: das politisch wichtige
Amt des Kaiserkultpriesters18 und die Agonothesie, die die Erfüllung
politischer Interessen begünstigte. Diese mit immensen finanziellen
Aufwendungen verbundenen Ämter wurden nur von reichen Bürgern
übernommen, sodass erneut die Mitglieder der genannten Familien pri
vilegiert waren. Den Anfang in der Reihe der Kaiserkultpriester macht
T. Flavius Neon gegen Ende des 1. Jhs. n. Chr., gefolgt von seinem Sohn
Tib. Claudius Piso. Wie vielfach in Kleinasien beobachtet, agierten ins
besondere die Kaiserkultpriester dank ihres wirtschaftlichen Status als
Stifter und Financiers großer Bauvorhaben. So lassen sich in Sagalassos
drei Gebäude mit dem Wirken eines Kaiserkultpriesters in Verbindung
bringen. Hierzu zählen das Nymphäum des Tib. Claudius Piso, in dem
gleich zwei seiner Bildnisstatuen Aufstellung fanden,19 der Apollo Klarios
Tempel, dessen partielle Erneuerung zu Beginn des 2. Jhs. n. Chr. durch
T. Flavius Collega getragen wurde,20 und das Macellum von P. Aelius
Aquila in spätantoninischer Zeit.21
Die starke Dominanz einer mit Statuen visualisierten männlichen
Präsenz im öffentlichen Raum – neben den Bürgern zählten hierzu Kai
ser, römische Amtsträger und Athleten – blieb über die Jahrhunderte
unverändert. Lediglich sieben Statuenehrungen, mit einer Ausnahme alle
samt aus dem 2. Jh. n. Chr., sind für Frauen überliefert. Die Singularität
inmitten eines von männlichen Porträtstatuen okkupierten öffentlichen
Raums wird man positiv bewerten dürfen, ging damit doch eine größere
Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit einher. Die Inschriften benennen keine
Gründe für die Ehrungen. Ausschlaggebend scheint der verwandtschaft
liche Bezug der Frauen zu einem männlichen Mitglied der ranghohen
Familien gewesen zu sein und somit ihr sozialer Status.22 Das Beispiel der
Claudia Severa, die nach Ausweis der Bauinschrift gemeinsam mit ihren
18 Grundlegend zum Kaiserkult Price 1984; Cancik/Hitzl 2003; Frija 2012 und
zuletzt Kolb/Vitale 2016 mit reichhaltigen Einzelbeiträgen zur Entwicklung
des Kaiserkults. Zum Kaiserkult und den Agonen in Sagalassos bes. Talloen/
Waelkens 2004 und 2005; vgl. auch Quaß 1993, 216–220; 303–317.
19 Mägele/Richard/Waelkens 2007, 491–492 Abb. 17. 497–499; Mägele 2009a.
20 Eck 2013, 45 mit Edition der Dedikationsinschrift des Apollo Klarios
Tempels, hier Anm. 14.
21 Vgl. Richard/Waelkens 2012 und Richard 2014, 261–263.
22 Ähnlich argumentiert Murer 2017, 140.
212
Brüdern Kaiser Trajan ein Nymphäum23 westlich des Stadtzentrums ge
stiftet hat, legt nahe, dass neben dem Status auch euergetische Leistungen
von Frauen den Beschluss zur öffentlichen Ehrung mitgetragen haben.24
Eine zweite wichtige Form statuarischer Präsentation zur politischen
Durchdringung des öffentlichen Raums bilden die Stiftungen zu Ehren
der Kaiser und römischen Amtsträger. Hier setzt der Visualisierungs
prozess in claudischer Zeit 25 ein und findet im späten 4. Jh. n. Chr. sein
Ende,26 ohne dass dabei die Omnipräsenz der privaten Porträtstatuen je
mals aufgehoben worden wäre. Auffällig ist, dass bis Hadrian die Stiftun
gen – hierunter sind auch die mit Statuen bekrönten Bogenmomumente
für die iulischclaudische Dynastie 27 anzuführen – in privater Initiative
errichtet wurden, ab Trajan treten dann der Demos und die Boule als Stif
terinstitutionen auf. Deutlich zurückhaltend, zumindest in numerischer
Hinsicht, bleiben mit sieben Ehrungen die Statuen römischer Amtsträger.
Als letzte wichtige Personengruppe sind die Athleten zu nennen. Ein
Sieg in einem Wettkampf war nicht nur für den Athleten profitabel, da er
oft den sozialen Aufstieg bedeutete, sondern auch die Stadt häufte über
die Siege ihrer Athleten Ruhm und Ehre an.28 Für Sagalassos sind vier
23 Zum Nymphäum, das bislang als Ehrenmonument gedeutet wurde, zuletzt
Richard/Waelkens 2013.
24 Exemplarisch für den herausragenden Euergetismus einer Frau ist Plancia
Magna aus Perge, Boatwright 1991; vgl. auch Murer 2017, 141–144. Als Ehefrau
des T. Flavius Neon war Claudia Severa zusammen mit ihrer Tochter in dem
Memorialbau in Sagalassos mit Bildnisstatuen vertreten, hier Anm. 15. Zur
Flavia Longilla und ihrer Rolle bei der Erneuerung des Apollo KlariosTempel,
hier Anm. 14. Nach Ausweis einer unpublizierten Weihinschrift traten die Pries
terin Briseis und Aelia Ias als Euergetinnen auf, die den Göttinnen Demeter
und Persephone Bauteile für ihr Heiligtum weihten.
25 Den Beginn markieren die beiden kürzlich aufgerichteten Ehrenbögen für
Claudius und für Claudius/Germanicus auf der Südseite der Oberen Agora am
östlichen und westlichen Zugang, Eck/Eich/Eich (im Druck), 51–57. Nr. 8. 9;
Waelkens/Poblome/Rynck 2012, 84–86 mit Rekonstruktionen der Bögen.
26 Als späteste Stiftung ist die des Statthalters der Provinz Pamphyliae, M. (?)
Attius Cornelianus, für einen (nicht mehr bennenbaren) Kaiser der 1. Tetrarchie
gesichert, Eich/Eich 2012.
27 Neben den kaiserlichen Ehrenbögen sind mit Inschriften versehene Bauteile
erhalten, die zu größeren Monumenten gehören; so sind mindestens noch zwei
Ehrungen für Claudius und Nero sowie Nero alleine fassbar.
28 Miller 2004, bes. 216–226. In den wenigen Fällen, wo Angaben zu Bürger
schaften vorliegen, handelt es sich um Athleten aus anderen Städten, oder
sie besaßen mehrfache Bürgerschaften, wie im Falle der Knaben G. Iulius
M Ä G E LE : S TAT UE NB A S E N IM UR B A NIST IS CH E N GE F Ü GE V O N SA GA L A SSO S 213
gymnische Agone überliefert, von denen die Klareia als Älteste die größte
Popularität und Anziehungskraft besaßen.29 Insgesamt sind 15 Statuen
basen aus dem späten 1. bis in die 1. Hälfte des 3. Jhs. n. Chr. erhalten,
die den erfolgreichen Wettkampf der jeweiligen Athleten materialisieren
und vor Augen führen. Dabei rückte die grundlegende Funktion der
Denkmäler, Athleten mit Name und Bildnisstatue zu verewigen, nicht
selten in den Hintergrund, indem Widmungsinschriften als ostentative
Selbstverweise benutzt wurden, um auf denjenigen zu rekurrieren, durch
dessen materielle Aufwendung das Denkmal realisiert werden konnte
(Abb. 5).30 A5
Vor dem Hintergrund dieses Gesellschaftstablaeus liefern die Wid
mungsinschriften nur vereinzelte Informationen zu den Bildnisstatuen
oder zu den Abläufen, die die Aufstellung der Ehrenmonumente be
gleiteten. Einzig in zwei Fällen sind Informationen zu Material, Größe
oder Typus der Statue generierbar. So handelte es sich nach Ausweis
des Epigramms31 bei der Statue des Flavius Zenon (441–451 n. Chr.),
Oberbefehlshaber der Truppen im Osten, um ein lebensgroßes Bildnis
aus vergoldeter Bronze, die dem militärischen Status entsprechend als
Panzerstatue gefertigt war.32
Laukadios, Bürger von Sagalassos und Perge, und Aurelios Antiochianus
Papianos Antiochos, Bürger von Sagalassos, Claudioseleukeia und Timbriada,
Lanckoroński 1892, 225, Nr. 194. Die meisten Athleten dürften somit Bürger
von Sagalassos gewesen sein.
29 Die Klareia wurden auf Initiative des Tib. Claudius Piso im Laufe des
1. Jhs. n. Chr. eingerichtet; in Analogie zu vielen anderen Städten sind auch
in Sagalassos um die Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr. neue Agone (Tertullia,
Rhodoneia und Kallipianeia) eingerichtet worden, Talloen/Waelkens 2004,
201–202 Anm. 112.
30 Prägnant äußert sich dies bei vier Athletenehrungen, für die laut Inschrift
Tib. Claudius Piso als Agonothet verantwortlich war: Devijver 1996, 133, Nr. 4;
Devijver/Waelkens 1995, 119 Nr. 7, Abb. 8 und 9.
31 Lanckoroński 1892, 228, Nr. 208; Merkelbach/Stauber 2002, 118. Das Epi
gramm wurde sekundär auf der Statuenbasis angebracht; die ältere Inschrift
wurde dabei nicht eradiert.
32 Lahusen/Formigli 2001, 506 und 510–518 (fälschlich als Kaiser Zenon iden
tifiziert). Es ist anzunehmen, dass nicht die gesamte Statue, sondern nur Teile
der Tracht wie Panzer, Waffen und Beinschienen vergoldet waren; das Epi
gramm liefert zusätzlich ein Indiz auf die Technik des Goldauftragens (»durch
Farbanstrich« – ἐν γραφίσιν), womit die Blattvergoldung gemeint sein dürfte,
Lahusen/Formigli 2001, 508–509. Zu Panzerstatuen Stemmer 1978.
214
5 Mittelteil der Basis des Athleten Arnestes mit Nennung
des Agonotheten Tib. Claudius Piso, verbaut in der Südmauer
des Torbogens am NordOstEingang zur Oberen Agora
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Der zweite Fall betrifft die Statue des Präfekten Panhellenios33 (um
375–390 n. Chr.), die »wie ein Gott – ἳδρυσεν ὣστε θεόν« ausgesehen habe
und in der Nähe eines heiligen Bezirks aufgestellt war. Der Hinweis auf
das göttergleiche Aussehen lässt sich sowohl auf die Ikonographie als
auch auf das Material der Statue beziehen; während Ersteres nicht mehr
zu bestimmen ist, dürfte die außergewöhnliche Wertigkeit der Statue
am ehesten über den Werkstoff Marmor erlangt worden sein, das in der
Antike für Götterstatuen meist geschätzte Material.34
Weitere indirekte Verweise auf Statuen sind in sechs Fällen durch die
stereotype Formel »ἀνάστασιν τοῦ ἀνδριάντος ἐποιήσατο« gesichert, die
am Ende der Widmungsinschrift mit der gleichzeitigen Nennung der Per
son erscheint, die die Aufstellung des Standbildes (ἀνδριάς) durchgeführt
(ἐποιήσατο) hat. Die Aussage bezieht sich auf die Finanzierung des Ehren
denkmals und betont somit den wirtschaftlichen Status des Stifters. Die
mannigfaltigen Hinweise auf die Stifter solcher Denkmäler sind besonders
nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass eine Aufstellung weit mehr
als nur die Kosten für die Herstellung von Statue und Basis umfasste:
Transportkosten – entweder aus lokalen oder auswärtigen Werkstätten –,
Logistikkosten mitsamt Arbeitern, die die Aufstellung am vorgesehenen
Ort bewerkstelligen, und Kosten in Zusammenhang mit der zwecks einer
langfristigen Memoria erhofften Pflege und Konservierung lassen den
Aufwand erahnen.35 Die Nennung der Person in der Inschrift, die für die
Statuenaufstellung verantwortlich zeichnet, ist vor diesem Hintergrund
nachvollziehbar. In Fällen, wo keine Privatperson, sondern die Polis als Auf
traggeber auftritt, konnten Personen einen Auftrag zur Beaufsichtigung der
korrekten und reibungslosen Aufstellung eines Statuendenkmals erhalten.36
Von der finanziellen Verantwortung befreit, dürften diese Personen auch für
die rechtzeitige Fertigung und Lieferung der Statue gesorgt haben.37
33 Lanckoroński 1892, 229–230, Nr. 214; Devijver 1996, 136–137.
34 Speziell mit Marmor befasst sich Plinius in seinem 36. Buch der Naturalis
Historia; Tuchelt 1979, 70–90; Lahusen 1992, 190–192; vgl. auch Damaskos 1999,
201–202 und 304–309; zur Bedeutung des Materials bei antiken Skulpturen vgl.
Berns 2003.
35 Zu Preisen von Statuen siehe DuncanJones 1982, 78 f., 93–99, 126 f. und
162–166; Pekáry 1985, 13–22; zu Transportkosten von Waren wie Marmor oder
Statuen siehe Harris 2011, 281–282, 309–310; Russel 2013, 141–200, 180. 333.
36 Erläutert wird dies durch das Partizip von επιμέλομαι; Lanckoroński 1892,
229, Nr. 212; Devijver 1996, 149, Nr. 2, Abb. 9.
37 Vgl. Smith 2006, 27.
216
VERORTUNGEN: D IE STATUEN B ASEN IM Ö FF EN T L I C H EN RAUM
Die in den Widmungsinschriften angelegte soziale Distinktion wurde
durch die Verortung der Ehrendenkmäler im städtischen Raum physisch
konstatierbar. Als architektonische Gestaltungselemente erweiterten
die Statuendenkmäler die Gliederung des öffentlichen Raums, der sich
durch Platzanlagen, (Monumental)Bauten unterschiedlicher Funktion
und Straßen strukturierte. Die mit der Ehrung intendierte größtmög
liche Sichtbarkeit für und Wahrnehmung durch eine Gesellschaft, in
der die Selbstdarstellung ein maßgebliches Leitmotiv darstellte, wurde
neben der formalen Gestaltung nicht zuletzt durch die Wahl eines pro
minenten Aufstellungsorts gefördert.38 Die Obere Agora definierte sich
dabei nach Ausweis der Funddichte von Basen als der prominenteste
– locus celeberrimus – Aufstellungsort für Statuenehrungen in Sagalassos
(Taf. 6a; Abb. 2 Nr. 9).39 Ausschlaggebend hierfür war die politische und
religiöse Semantik des Platzes, die durch die angrenzenden Bauten wie
das Bouleuterion an der Westseite und Tempel am bzw. auf dem Platz
sowie Memorialbauten nördlich des Platzes architektonisch manifestiert
wurde.40
Zur Bestimmung des Standorts eines Statuendenkmals dient in erster
Linie der Fundort der Statuenbasen, womit zugleich ein Problem verbun
den ist, da in den meisten Fällen der Fundort nicht mit dem primären
Aufstellungsort des Ehrendenkmals identisch ist.41 Die Gründe hierfür
sind komplex und liegen in den dynamischen Wandlungsprozessen von
Stadträumen, die auch in Sagalassos ab dem 4. Jh. n. Chr. verstärkt ihre
Wirkung entfaltet haben. Davon betroffen waren nicht nur die Standbil
der, wie eingangs erwähnt, sondern auch ihre Basen, die entweder versetzt,
verschleppt oder wiederverwendet wurden, sei es erneut zum Zwecke
der Statuendedikation oder, was häufiger der Fall war, als Baumaterial
38 Reglementierung und Zuweisung der Aufstellungsorte für die Ehrendenk
mäler oblag dem Stadtrat, vgl. Alföldy 1984, 60–61; Zimmer 1992; Stemmer
1995, 332–358; Højte 2006, 114. Zur Präsentation der Ehrenstatuen siehe auch
Erkelenz 2005.
39 Der Befund ist für viele Städte ähnlich, Zimmer 1992; Bergemann 1992,
14–16; Kleinwächter 2001; Erkelenz 2003, 138 und 150; Witschel 2007;
40 Waelkens / Poblome / De Rynck 2012, 80–95.
41 Vgl. Boschung 2002, 128–134; Stewart 2003, 128–136 und 148–154.
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(Abb. 3–5).42 Insofern kann eine historische Auswertung der Statuenbasen
nur vor der Folie der letzten Nutzungsphase und unter Berücksichtigung
der meist punktuell fassbaren Rezeptionsprozesse erfolgen, die zu Verän
derungen in Funktion und Bedeutung führen.
Die Herausbildung als locus celeberrimus setzt bereits zu Beginn der
urbanistischen Gestaltung von Sagalassos in frühaugusteischer Zeit ein.
Als einige der wenigen in situDenkmäler für eine statuarische Ehrung
dienten vier in spätaugusteischer Zeit errichtete Säulenmonumente
(Taf. 6a. Nr. 1 und 6; 6b).43 Mit der Positionierung der ca. 12 Meter hohen
Säulen an den Ecken des Platzes wurde die Autonomie der Oberen Agora
als das städtische Zentrum – in Abgrenzung zur Unteren Agora – un
termauert. Die Säulen trugen nach Ausweis der Einlassungen auf den
korinthischen Kapitellen jeweils ein lebensgroßes, bronzenes Standbild,
von denen zwei namentlich überliefert sind.44 Eine Vorstellung vom sozia
len Status der Brüder Krateros und Ilagoas vermittelt Plinius’ Bewertung
dieser Monumentform: 45 Nach ihm ermöglichten die Säulenmonumente,
den Geehrten über die anderen sterblichen Mitbürger zu erheben, womit
er diese den Bogenmonumenten gleichstellt. A6u7
Die Singularität der Säulenmonumente – eine Wiederholung fand in
der Folge nicht statt – an einem exklusiven Standort bildete den Auftaktund Referenzpunkt für alle nachfolgenden Statuenehrungen, die nun in
der vereinfachten Variante »Standbild auf Basis« konzipiert wurden. Die
kurze Zeit später errichteten Ehrenbögen für das iulischclaudische Kai
serhaus potenzierten die Semantik des Platzes als politisches Zentrum, an
dem die Macht der Kaiser durch die Präsenz ihrer Bildnisse visuell fassbar
wurde (Taf. 6a. Nr. 1; 6b). Es überrascht also nicht, dass auch die meisten
Basen für die römischen Amtsträger als Vertreter des Kaisers auf der
Oberen Agora gefunden wurden. Mehr als die Hälfte aller überlieferten
19 Statuenbasen für die Kaiser lassen sich der Oberen Agora zuweisen,
von denen jedoch nur Einzelne in situ gesichert wurden. Hierzu zählen
42 Zum Phänomen der Spoliierung zuletzt mit umfassenden Beiträgen Altekamp/
MarcksJacobs/Seiler 2013 und dies. 2017.
43 Fundamentbettungen und zahlreiche Bauteile der Säulen sind erhalten, so
dass drei der Säulen in situ wieder aufgerichtet werden konnten, Waelkens /
Poblome / De Rynck 2012, 84–87 mit Abb.; Vandeput 1997, 46–49, 196 f.,
Taf. 13,2–3, 14, 15 und 16,1–2; Berns 2003a, Nr. 36, A4–6.
44 Die Inschriften wurden jeweils auf die Säule angebracht, Vandeput 1997,
46–49, 196, Taf. 13,2–3, 14 und 16; Devijver 1996, 108.
45 Plin. nat. his. 34, 27.
218
6 Obere Agora von Sagalassos, Blick von Osten; 1 Statuenbasen
des Constantius II.; 2 Statuenbasis des Caracalla
7 Statuenbasis des Caracalla,
auf der Oberen Agora
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die Basis für Caracalla (211–217) sowie zwei nahezu identische Basen für
Constantius II. (337–361) (Abb. 6 Nr. 1 und 2; Abb. 7).46 Letztere waren
an der Ostseite des Platzes, vor der Portikus nebeneinander und in einer
Achse zum südlich befindlichen Ehrenbogen für Claudius/Germanicus
aufgestellt. Sie liefern ein (wenn auch) schwaches Indiz, dass die Portiken,
von denen die Agora mit Ausnahme der Nordseite an drei Seiten einge
fasst war, bevorzugte Aufstellungsorte für die Bildnisstatuen waren. Die
Positionierung der Statuen vor oder zwischen den Säulenstellungen der
Portiken sicherten die Aufmerksamkeit der hier zahlreich wandelnden
Menschen.47 Diese gewährte auch die einzige in Sagalassos überlieferte
freistehende Exedra an der Nordostecke des Platzes, direkt vor einem
Säulenmonument gelegen (Taf. 6a Nr. 6).48 In der Nähe dieser Exedra fand
sich ein unprofilierter, rechteckiger Block, der eine besondere Erwähnung
verdient. Laut Widmungsinschrift stammt er von einem Ehrendenkmal
für Kaiser Vespasian49 und bildete nach Ausweis der Maße und Bearbei
tungsspuren den Frontblock einer zusammengesetzten Orthostatenbasis.
Da solch eine Basis bei einem einzelnen Standbild wenig Sinn macht,50
ist in Analogie zu anderen Orthostatenbasen davon auszugehen, dass es
sich bei dem Bildnis Vespasians um eine Reiterstatue gehandelt hat.51 Der
Fundort des Blockes könnte durchaus den Aufstellungsort des Reiter
denkmals beschreiben, bot die Exedra doch eine vorzügliche Möglichkeit,
es im Sitzen angemessen zu würdigen.
Die wenigen Beispiele lassen erahnen, dass die Aufstellungsorte nicht
nur eine ausreichende Sehfrequenz gewährleisten sollten, sondern auch un
tereinander bestehende Bezüge berücksichtigten. So wird man den Fundort
46 Devijver/Waelkens 1995, 155–116, Nr. 1 (Caracalla), 116 und 117, Nr. 2. 3
(Constantius II.).
47 Vgl. die außerordentlich reiche Besetzung mit Statuen in den Portiken des
Augustusforums, Muth 2012, 26–28.
48 Nicht zu klären ist, ob die in die 1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. zu datierende
Exedra auch zur Aufstellung von Statuen gedient hat, Waelkens / Poblome / De
Rynck 2012, 87 mit Abb. Zu Exedren und ihren Funktionen, von Thüngen 1994,
bes. 36–39 und 44.
49 Eck/Eich/Eich (im Druck), 61–62, Nr. 13; Devijver 1996, 132, Nr. 1.
50 Eine weitere Orthostatenbasis, von der sich zwei profilierte Deckplatten
mit Inschriften erhalten haben, trug mindestens vier Bildnisse der Familie des
Prokonsuls der Provinz Lycia et Pamphylia, Gaius Ulpius Antoninus (Ende 2.
oder 1. H. 3. Jh. n. Chr.), Eck/Eich/Eich (im Druck), 111–113, Nr. 43 a/b.
51 JacobFelsch 1969, 79 f. und 91–94; Bergemann 1990, z. B. Kat. E9, E32, E44
und E77.
220
8 Statuenbasis der Ias; Profilzeichnung und Aufsicht mit Einlassungsspuren
der Basis für den Prokonsul der Provinz Asia, Sextus Iulius Frontinus
(Abb. 12), in der Nähe der Reiterstatue Vespasians nicht als zufällig erach
ten, war es doch jener Kaiser, unter dem seine politische Laufbahn startete.
Ähnliches trifft für die Statuenbasis der Ias zu,52 die in der 1. Hälfte
des 1. Jhs. n. Chr. als erste Frau in Sagalassos geehrt wurde (Abb. 8). Der
Fundort der Statuenbasis an der SüdwestEcke der Agora dürfte ebenfalls
den originalen Standort kennzeichnen, denn er ist nur wenige Meter von
dem Säulenmonument des Krateros entfernt, bei dem es sich um den
Schwiegervater der Ias gehandelt hat. A8
52 Lanckoroński 1892, 230, Nr. 218.
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Mehr als 30 auf der Oberen Agora gefundene Statuenbasen belegen
die Dominanz der Bürgerschaft von Sagalassos; somit relativierten sie
deutlich die Präsenz des Kaiserhauses. Der ursprüngliche Aufstellungsort
ist für die Mehrzahl der Statuenbasen nicht mehr bestimmbar, wofür
tiefgreifende Transformationsprozesse im Verlauf des 4. Jhs. und nach
dem Erdbeben um 500 n. Chr. im gesamten Bereich der Stadt verantwort
lich sind.53 Infolgedessen kam der Großteil entweder als Baumaterial in
Mauerverbänden zur Verwendung54 (Abb. 5) oder fand in Zweitverwen
dung Aufstellung im spätantoninischen Nymphäum an der Nordseite der
Agora, wo sie zusammen mit sekundär genutzten Idealstatuen die neue
Ausstattung bildeten (Abb. 3 und 4).55 Im 3. Jh. n. Chr. kam die Dedikation
von privaten Bildnisstatuen auf der Oberen Agora weitestgehend zum
Stillstand,56 vereinzelt folgten im 4. Jh. n. Chr. noch Ehrungen für Kaiser
und hohe Amtsträger.57 Trotz zahlreicher Bemühungen zum Erhalt eines
politisch intakten wie repräsentativen öffentlichen Raums58 war die Auf
lösung dieses einst von Statuen so zahlreich besetzten Platzes bereits ab
dem 4. Jh. n. Chr. ein nicht mehr aufzuhaltender Prozess. A9
Nicht anders verlief es auf der Unteren Agora, das als Zentrum der
Unterstadt, eindrucksvoll gerahmt von den monumentalen Thermen im
Osten und dem Heiligtum des Apollo Klarios im Westen, einen passenden
Platz für Statuenehrungen geboten hatte (Abb. 2 Nr. 3; Abb. 9). Nach den
53 Waelkens 2006, 217–227; Lavan 2006.
54 Mehrere Statuenbasen fanden sich verbaut in der Südmauer des Torbogens
zum Eingang an der NordostEcke der Oberen Agora. Für die Nutzung als
Baumaterial wurden die Schäfte der mehrteiligen Statuenbasen bevorzugt, die
übrigen Teile der Basen wie Aufsätze oder Plinthen wurden entsorgt. Es fällt
auf, dass trotz Verbauung auf die Lesbarkeit der Inschriften Wert gelegt wurde,
was als Akt der pietas und der memoria gegenüber dem Geehrten interpretiert
werden kann.
55 Mägele 2011, 327–328, Abb. 21.8; das Nymphäum hatte mehrere Renovie
rungsphasen, von denen die erste im Verlauf des 4. Jhs. n. Chr. und die zweite
nach dem Erdbeben um 500 n. Chr. dazu geführt haben, die größtenteils beschä
digte Originalausstattung mit wiederverwendeten Statuen und Statuenbasen zu
ersetzen; das Nymphäum blieb bis in das 7. Jh. n. Chr. intakt.
56 Ein Befund, der in vielen Städten des Imperium zu beobachten ist, vgl. Borg/
Witschel 2001, 50–116.
57 Hier Anm. 26, 31 und 32.
58 Jacobs 2013, 8 mit Gesamtplan von Sagalassos. 689–691 und 724 (Obere
Agora). 732–734 (Brunnenanlagen).
222
9 Untere Agora von Sagalassos; 1 Apollo KlariosTempel nach Umbau in
Basilika; 2 hadrianisches Nymphäum des Tib. Claudius Piso; 3 NordOst
Straße; 4 Untere Agora; 5 Ostportikus; 6 Westportikus; 7 Thermen
spärlichen Befunden zu urteilen,59 begann auch hier die Dedikationspraxis
in frühaugusteischer Zeit und korrespondiert mit der architektonischen
Gestaltung des Platzes durch Portiken.60 Die Ehrungen scheinen jedoch
im Umfang niemals an das Niveau der Oberen Agora herangekommen
zu sein,61 was wahrscheinlich der kommerziellen Ausrichtung der Unteren
Agora geschuldet sein dürfte.62 Die Besonderheit in der Entwicklung der
Unteren Agora äußert sich in den intensiven Bestrebungen mitttels Basen
und Statuen, die allesamt von anderen Standorten stammen, den Platz
59 Hierzu zählt u. a. ein aufwendiges Sofakapitell einer Basis, das die Bronzestatue
trug, Vandeput 1997, 195, Taf. 10,1–3.
60 Putzeys 2007, 213.
61 Hierfür lassen sich vier Aufsätze von Basen anführen, die bei der Ostportikus
gefunden wurden; da ungeeignet für die sekundäre Nutzung als Baumaterial,
ließ man sie zurück, folglich könnten die Fundorte zugleich die primären
Standorte der Statuenbasen sein.
62 Putzeys 2007, 282–284 stellt dies überwiegend für die Spätantike fest.
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nachträglich »zu verschönern«.63 Zu den auffälligsten Formationen zählt
dabei eine Gruppe von frühaugusteischen und formal auffälligen Statuen
basen (Abb. 9 Nr. 5; Abb. 10 und 11). Die überlebensgroßen Bronzestatuen
von Bürgern,64 die sie einst trugen, existierten bei der Neuaufstellung vor
der Ostportikus nicht mehr, so dass man allein mit der Aufstellung der
Basen als Gruppe 65 und ihrer ästhetisch ansprechenden Gestalt einen
visuellen Akzent auf dem Platz schaffen wollte. Vieles spricht dafür,
dass diese Statuenbasen ursprünglich die prachtvolle Säulenstraße von
Sagalassos gesäumt haben,66 über die seit augusteischer Zeit der Zugang
in die Stadt von Süden erfolgte. Von der Unteren Agora beginnend de
finierte die Säulenstraße zugleich die Achse, die zum Kaiserkulttempel
führte, der auf dem südlichsten Hochplateau der Stadt errichtet wurde
(Abb. 2 Nr. 1).67 A10u11
Der zu Ehren des Antoninus Pius errichtete Tempel zählt zu den
wenigen städtischen Bereichen, wo Statuenbasen von der Errichtung
bis zur Auflassung des Tempels an der Wende vom 4. zum 5. Jh. n. Chr.68
am ursprünglichen Standort ohne Eingriffe verblieben sind. Tempelbau
und Inauguration des Kaiserkults haben dabei als direkte Auslöser für
Statuenaufstellungen gewirkt. Die sakralpolitische Versinnbildlichung des
Raums erfolgte dabei über Bildnisse eines klar definierten Personenkrei
ses: Eindrucksvoll demonstrierten dies die Statuen der Kaiser Marc Aurel,
Commodus und Septimius Severus,69 ergänzt um Kaiserkultpriester und
Agonisten, als diejenigen, die aufs engste mit dem Kultbetrieb verflochten
63 Zu Skulpturen als »Schmuck – ornatus« auf Platzanlagen des 4. Jhs. n. Chr,
zuletzt Witschel 2007, 116–126.
64 Vandeput 1993, 1999–200, Abb. 2 (Typ 2b). Die Basen trugen Inschriften, die
jedoch stark verwittert sind; die Tatsache, dass es Bronzestatuen waren, spricht
für private Bildnisstatuen.
65 Ausgehend von den Einzelteilen Aufsatz, Schaft und Plinthe hat es sich um
mindestens sieben Basen gehandelt.
66 Zu den spätantiken Umbauten der Säulenstraße Jacobs 2011, 78–80, Abb. 4.
a.b. Zur funktionalen und sozialen Bedeutung von Säulenstraßen, mit beson
derem Fokus auf Perge, Heinzelmann 2003.
67 Lanckoroński 1892, 236, Nr. 188. Ein im Jahre 2003 gefundenes neues Frag
ment der Architravinschrift belegt, dass der Tempel nicht Hadrian geweiht war;
der Baubeginn datiert dennoch in hadrianische Zeit, Vandeput 1997, 77.
68 Zum Ende des Kaiserkults, Trombley 2011; zum Schicksal der paganen
Tempel WardPerkins 2011 und Talloen 2011.
69 Lanckoroński 1892, 225, Nr. 190 (Marc Aurel); 225, Nr. 191 (Commodus); 224,
Nr. 189 (Septimius Severus).
224
10 Statuenbasis vor der Ostportikus der Unteren Agora: Zeichnung
Frontansicht und Oberseite mit Sohlenbettungen und Zapfenlöcher
zur Befestigung der Bronzestatue
waren.70 Die Standbilder auf ihren Basen wurden direkt vor der Tempel
front aufgestellt. Diese gewaltige architektonische und politischreligiöse
Kulisse erlangte jedoch nicht ansatzweise die Anziehungskraft wie sie die
Obere Agora hatte. Ein Grund dürfte wohl der spezifische Zuschnitt auf
Rezipienten sein, ein anderer liegt schlicht in der großen Entfernung des
Tempels zu den städtischen Zentren. Zu Beginn des 3. Jhs. n. Chr. fanden
nur noch einzelne Statuenaufstellungen statt, die angesichts der krisen
haften Entwicklungen um die Mitte des Jahrhunderts gänzlich aufhörten.71
70 Der Kaiserkult manifestierte sich besonders über Feste und Agone, Price
1984, 53–77.
71 Überliefert sind Ehrungen für Severus Alexander und Iulia Mamae, Lanckoroński
1892, 196, wobei das Ehrendenkmal in seiner formalen Gestaltung nicht zu
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11 Statuenbasis vor der Ostportikus der Unteren Agora; Zeichnung Oberseite
mit Sohlenbettungen und Zapfenlöcher zur Befestigung der Bronzestatue
Ein weiterer Stadtraum, dessen thematische Geschlossenheit durch
Statuenehrungen wirkungsvoll in Szene gesetzt wurde, ist die NordOst
Straße, die als wichtigste Hauptverkehrsachse die Mitte zwischen Ober
und Unterstadt markierte (Abb. 9 Nr. 3). Die Statuenbasen dokumentie
ren, dass hier ausschließlich Agonisten vom späten 1. bis zum 3. Jh. n. Chr.
geehrt wurden. Die Fundorte verteilen sich auf den Abschnitt zwischen
dem Eingang zur Unteren Agora und dem Heiligtum des Apollo Klarios.
bestimmen ist. Die letzte kaiserliche Ehrung galt Saloninus oder Gallienus und
Saloninus gemeinsam, Lanckoroński 1892, 198.
226
Als Kristallisationspunkt mit der größten Dichte an Statuenbasen ragt
der Bereich hervor, an dem das vom Agonotheten Tib. Claudius Piso zu
Ehren Hadrians gestiftete Nymphäum lag (Abb. 9 Nr. 2).72 Über eine Stu
fenanlage erreichbar erhob sich der an der Straße gelegene zweistöckige
Bau zu einer monumentalem Fassade. Die Straße war davor promena
denartig ausgebaut und wurde im 3. Jh. mit einer Balustrade ausgestattet,
auf der ebenfalls Statuen aufgestellt waren.73 Die Statuenbasen lassen
klar erkennen, dass das in augusteischer Zeit errichtete Heiligtum des
Apollo Klarios und die zu seinen Ehren ausgetragenen Wettkämpfe, die
Klareia, die Standortwahl für die Ehrendenkmäler bestimmt haben. Die
raumimmanente Semantik erhielt mit dem monumentalen Nymphäum
ein Element, das über Standort und Stifter einen weiteren ideologischen
Bezugspunkt zum Heiligtum des Apollo Klarios herstellte. Sukzessiv
wurde die Wertigkeit des Standorts für die Ehrenstatuen der Agonisten
erhöht, die ihrerseits in ihrer gestaltbildenden Funktion einen anschau
lichen Rahmen für die Festprozessionen bei den Klareia gebildet haben.74
MIT DEN S TAT UEN B ASEN D IE VER LO R ENEN S TAT UEN
»S IC HTBAR MACH EN«
Wie verhält es sich nach den obigen Ausführungen mit der Wirkmacht
von statuarischen Denkmälern im öffentlichen Raum und ihrer ma
teriellen Überlieferung durch die Statuenbasen? Da die wesentliche
Funktion des Ehrendenkmals in der Heraushebung des Einzelnen lag,
könnte man annehmen, dass einem solchen Konkurrenzverhalten auch
im Denkmal Ausdruck verliehen wurde. Wege zur Distinktion lassen sich
in der Regel über Werkstoff, Typus und Format erreichen, für Basis und
Statue gleichermaßen. Beim Material der Statuenbasen dominierte die
Einheitlichkeit; es wurde fast immer der gleiche, lokal abgebaute beige
farbene Kalkstein benutzt. Der für die Verkleidung der Orthostatenbasis
Vespasians verwendete rosafarbene Kalkstein stellt die einzige Ausnahme
72 Hier Anm. 18.
73 Die Balustrade bestand aus Basen mit seitlichen Nuten und Anschluss
blöcken; zwei Widmungsinschriften belegen die Aufstellung von Statuen auf
der Balustrade.
74 Auch wenn Informationen zu Festabläufen in Sagalassos fehlen, sind Pro
zessionen vorauszusetzen. Zur Bedeutung von Prozessionen bei Agonen vgl.
die SalutarisStiftung, Inschriften von Ephesos 1979, Nr. 27.
M Ä G E LE : S TAT UE NB A S E N IM UR B A NIST IS CH E N GE F Ü GE V O N SA GA L A SSO S 227
dar. Da dieser Kalkstein vorzugsweise als Baumaterial verwendet wurde,75
dürften die Platten der Basis auch aus einer Bauhütte stammen.
Die Produktion der Statuenbasen muss dagegen in darauf spezia
lisierten Werkstätten stattgefunden haben. Man beschränkte sich auf
drei grundlegende Basentypen – rechteckig, polygonal (hexagonal und
oktagonal) und zylindrisch –, die entweder in mehreren Teilen oder als
Ganzes gefertigt wurden.
Zu den exklusiven Beispielen des 1. Jahrhunderts zählen neben der
oben genannten Gruppe von Statuenbasen auf der Unteren Agora auch
die Rundbasen. Erstere sind gekennzeichnet durch ein Kapitell mit
Pfeifenfries, zylindrischem Aufsatz und seitlichen Akroterien sowie einem
Sockel und einem Schaft jeweils mit starker Profilierung. Mit solch auf
wendiger Gestaltung erfuhren die Geehrten eine Nobilitierung, die sowohl
durch ihre Singularität als auch durch den prominenten Aufstellungsort
an der Säulenstraße noch verstärkt wurde (Abb. 10 und 11).A12
Ähnliches trifft für die Rundbasen zu (Abb. 12). Durch ihre Selten
heit – dokumentiert sind sechs Exemplare – dürften sie aus der Masse
der rechteckigen und polygonalen Basen herausgestochen sein. Nach
Ausweis von zwei Widmungsinschriften und durch stilistische Vergleiche
12 Statuenbasen des Marcus Lollius und
des Sextus Iulius Frontinus
75 Zu den Steinbrüchen auf dem Territorium von Sagalassos, Degryse 2007.
228
lässt sich zudem der zeitliche Nutzungshorizont, von augusteischer bis
flavischer Zeit, eingrenzen. Geht man von den Geehrten aus, scheint die
Rundbasis zudem vorzugsweise für bedeutende römische Amtsträger des
1. Jahrhunderts genutzt worden zu sein. Sowohl die Basis für den in enger
Freundschaft zu Augustus stehenden Marcus Lollius,76 als auch die des
bereits genannten Sextus Iulius Frontinus beeindrucken nicht nur durch
die qualitätvolle Ausarbeitung, sondern auch durch ihre Dimensionen.
Die jeweils aus einem Block gefertigten Rundbasen erzeugen mit einem
Umfang von 2 Meter – bei einer Höhe von knapp 1,50 Meter – einen
monumentalen Eindruck, der durch die kompakte zylindrische Form
noch intensiviert wird.
Einen hohen repräsentativen Anspruch erfüllte auch die hexagonale
Statuenbasis. Im frühen 1. Jh. n. Chr. noch eine singuläre Erscheinung,
erfreute sie sich vom 2. bis in das 4. Jh. n. Chr. großer Beliebtheit. Die erste
hexagonale Basis galt jedoch keinem Kaiser, sondern einer Frau, oben
genannter Ias (Abb. 8). Ihre Statue muss auf der Agora, die in dieser Früh
phase noch ganz frei von Ehrenstatuen war, eine große Wirkung erzeugt
haben, was nicht nur der Basenform, sondern auch dem Erscheinungsbild
der Statue selbst geschuldet war.77 Die Basis der Ias kann als exemplarisch
bezeichnet werden, denn nicht nur die Statuenbasen der wenigen Frauen
orientierten sich, gut 100 Jahre später, hieran, sondern auch die spätesten
Ehrungen in Sagalassos, die Kaiser Constantius II. galten.
Die überwiegende Mehrheit der Statuenbasen gehört zum recht
eckigen Typus und wurde für Kaiser, männliche Bürger und Athleten
gleichermaßen benutzt. Schlichter als die zuvor betrachteten zeichnet
sich dieser Basentypus durch eine fortschreitende Normierung in Form
und Größe aus. Die auf diese Weise erlangte Einheitlichkeit dürfte die
Wahrnehmung von gleichwertigen und geschlossenen Gesellschaftsgrup
pen verstärkt haben. Besonders deutlich wird dies anhand der Athleten
Statuenbasen, die, nahezu gleich groß und in ähnlich schlichter Ausar
beitung, die inhaltliche Zusammengehörigkeit dieser zudem an einem
Ort versammelten Personengruppe zum Ausdruck bringen.
Der Erkenntnisgewinn anhand der Basen für das plastische Erschei
nungsbild der Statuen beschränkt sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte:
Format und Material. Rückschlüsse auf die Größe der Statuen lassen sich
76 Devijver 1996, 106 Abb. 1; Eck/Mägele 2008.
77 Informationen zum Erscheinungsbild respektive zum Statuentypus fehlen
gänzlich; das Repertoire hierfür war jedoch für die gesamte römische Kaiserzeit
recht überschaubar, zuletzt Murer 2017, 9–11.
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anhand der Breitenerstreckung der Basis ziehen.78 Was bereits bei den
zylindrischen und hexagonalen Beispielen und auch bei der Basengruppe
von der Unteren Agora angeklungen ist, trugen diese außerordentlich
repräsentativen Statuenbasen überlebensgroße bis kolossale Statuen.
Wenn, wie im Falle der IasBasis, zusätzlich noch Verdübelungsspuren
hinzukommen, an welchen sich die Fußlänge der Statue ablesen lässt,
sind die Richtwerte für die Höhe der Statue umso verlässlicher. So be
saß das Standbild der Ias mit einer Höhe von ca. 2,30 Meter kolossales
Format.79 Bildnisse mit diesem außergewöhnlichen Format hat es nur
wenige gegeben: Fünf von insgesamt sieben Basen, die kolossale Statuen
trugen, datieren in das 1. Jh. n. Chr. und wurden nicht etwa für Kaiser
bildnisse genutzt, sondern für Privatporträts oder römische Amtsträger.
Die einzigen kolossalen Kaiserstatuen im öffentlichen Raum waren die
des Constantius II.; 80 der Durchschnitt kaiserlicher Standbilder hatte
mit 1,80–2,20 Meter überlebensgroßes Format. Eine kategorische visuelle
Abgrenzung zwischen kaiserlichen und privaten Bildnissen gemessen an
der Statuenhöhe hat es in den ersten beiden Jahrhunderten nicht gege
ben: Das Gros der privaten Bildnisse hatte jeweils zu gleichen Anteilen
lebens bis überlebensgroßes Format, wobei das Verhältnis zuungunsten
letzterer im fortgeschrittenen 2. Jahrhundert immer mehr abnahm, um im
3. Jahrhundert fast aufzuhören. Wiederum sind es die AthletenStatuen,
die in Analogie zu ihren einheitlichen Basen auch in der Höhe ein ein
heitliches Bild geboten haben: Sie waren allesamt lebensgroß, wobei bei
Knabenehrungen sogar unterlebensgroßes Format üblich war.81
Es bleibt festzuhalten, dass in Form und Format bei den Statuen
basen des 1. Jhs. n. Chr. die merklichste Distinktion vorhanden gewesen
ist. Die verhältnismäßig geringe Menge an Ehrungen im 1. Jahrhundert
hat allem Anschein nach die Exklusivität dieser Materialgruppe gefördert.
Dies ändert sich zu Beginn des 2. Jhs. n. Chr., als im gesamten Stadtgebiet
intensive Baumaßnahmen einsetzen. Der hohe Bedarf an Skulpturen
78 Zur Methode siehe Ruck 2007, 36–46;
79 Ruck 2007, 9–15 und 25 definiert Kolossalität bei männlichen Statuen ab
einer Mindesthöhe von 2,50 Meter, bei weiblichen ab 2,30 Meter (weiblich);
nach Fittschen 1994 sollte eine Statue mindestens die doppelte Lebensgröße
(ca. 1,60 Meter) aufweisen, um als kolossal bezeichnet zu werden.
80 Kolossales Format besaßen auch die akrolithen Kaiserstatuen in den Ther
men, die als Kultstatuen ursprünglich im Antoninus PiusTempel gestanden
haben. Vgl. Mägele 2013.
81 Vgl. hier Anm. 28.
230
– Ideal und Porträtplastik gleichermaßen – trug bei zu einer Produk
tionserhöhung an Basen, die formal immer ähnlicher wurden.
Der Aspekt der Konformität galt auch für das Material der Skulptu
ren, welches anhand der Bearbeitungsspuren auf den Basenoberseiten zu
ermitteln ist. Trotz einer hohen Anzahl an Basen, die mangels relevanter
Aufsätze nicht berücksichtigt werden können, zeigt der auszuwertende
Befund eine deutliche Präferenz für Bronzestatuen, und das über den
gesamten hier behandelten Zeitraum. Die Befestigung erfolgte dabei
über Zapfenlöcher, die mit oder ohne Sohlenbettungen vorhanden sind
(Abb. 8 und 10).82 Beide Varianten fanden bereits an den frühesten Sta
tuenbasen Anwendung83 und sind, je nach Größe der Statue, bis in das
4. Jh. n. Chr. überliefert.84 Die Erkenntnisse aus den Einlassungsspuren
sind in mehrfacher Hinsicht wertvoll: Sie liefern nicht nur Hinweise zur
Bestimmung der Statuenhöhe, sondern anhand ihrer Anordnung lassen
sich auch Standmotive der Statuen rekonstruieren.85
Nur wenige Auftraggeber entschieden sich für steinerne Ehrenstatu
en. An den knapp 20 Statuenbasen lassen sich zwei Befestigungsmetho
den feststellen: Entweder wurde die Statue mit Plinthe in eine Bettung
eingelassen und der Zwischenraum mit Blei ausgegossen, oder, was die
übliche Methode war, sie wurde direkt mit der Plinthe auf der planen
Oberseite der Basis verdübelt. Was anhand der Bearbeitungsspuren nicht
abgelesen werden kann, ist jedoch, aus welchem Material die Statue war,
prinzipiell kommt Marmor ebenso in Frage wie Kalkstein.86 Marmor
scheint jedoch unter Heranziehung der wenigen rundplastischen Funde,
die zu Porträtstatuen gehören, überwogen zu haben. Als Beleg hierfür
stehen die Basen selbst, denn es handelt sich um die prachtvolleren und
repräsentativeren Exemplare, wozu die bereits genannten des Marcus
Lollius und Sextus Iulius Frontinus aus dem 1. Jahrhundert ebenso zählen
82 Zu Versockelungstechniken von Bronzestatuen Willer 1996; vgl. auch Filges
2007, 105–110.
83 So zeigt die Basis der Ias Zapfenlöcher, wogegen die nicht viel älteren Basen
auf der Unteren Agora Sohlenbettungen haben.
84 Die Basen des Caracalla und des Constantius II. trugen Bildnisse von über
lebensgroßem und kolossalem Format (zw. 2,30 und 2,50 Meter); die Statuen
wurden sowohl mit Zapfenlöchern als auch Sohlenbettungen versockelt, womit
zweifellos eine größere Standsicherheit erreicht wurde.
85 Filges 2007, 105–110.
86 Die Nutzung von Kalkstein für Porträtstatuen belegt ein weiblicher Porträt
kopf von hoher Qualität, Waelkens/Poblome 1997, 161, Abb. 91–92
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13 Statuenbasen (von links nach rechts) der Publia Aelia Aruntia,
des T. Flavius Severianus Neon, der Publia Aelia Ulpiana Noe, sekundär
aufgestellt im antoninischen Nymphäum auf der Oberen Agora
wie die Basen der Publia Aelia Ulpiana Noe und ihrer Tochter Publia
Aelia Aruntia aus spätantoninischer Zeit (Abb. 13).87 A13
Die Außergewöhnlichkeit der marmornen Ehrenstatuen inmitten
der Bronzebildnisse bewirkte zweifellos eine größere Aufmerksamkeit.88
Dass die Nutzung unterschiedlicher Materialien als gezieltes Mittel zur
Hervorhebung dienen konnte, legen auch Inschriften nahe, die von der
Kontrastierung bronzener und steinerner Statuen berichten.89 Darüber
hinaus jedoch sind die marmornen und sehr kostspieligen Ehrenstatuen
Ausdruck einer besonderen Wertschätzung, die auf enge persönliche Be
ziehungen fußt.90 Denn überwiegend sind die Stiftungen von den engsten
Verwandten wie Ehefrau, Tochter oder Mutter vorgenommen worden.
87 Devijver/Waelkens 1997, 296, Nr. 1,2; Abb. 2; Devijver 1996, 114, Nr. 4,2.
88 Polychromie dürfte diese zudem erhöht haben, allgemein Brinkmann/Wünsche
2004.
89 Merkelbach/Stauber 2002, Nr. 18/01.05.
90 Im Gegensatz zu Kalkstein mussten Marmorskulpturen importiert werden;
die Werkstätten in Dokimeion gehörten zu den wichtigsten Lieferanten, vgl.
Waelkens u. a. 2002.
232
DER W ERT VO N STAT UEN B ASEN
Auf der Grundlage einer statistisch relevanten Menge liefert die Be
trachtung der Statuenbasen von Sagalassos unterschiedliche Facetten
ihrer Wirksamkeit im öffentlichen Raum. Dabei treten sie zunächst als
bedeutsame Medien für die Repräsentierbarkeit der Stadt auf. Diese
wird nach Ausweis der auf den Basen angebrachten Inschriften durch
die lokale Elite getragen, und das mit großem Selbstbewusstsein, welches
sich angesichts einer gemäßigten Bezugnahme zum Kaiserhaus in erster
Linie an das eigene städtische Publikum richtet. Mit zu Beginn formal
aufwendigen und groß dimensionierten Statuenbasen werden urbane
Räume von unterschiedlichen Wertigkeiten beschrieben, die durch dif
ferente Nutzungshorizonte und soziale Prägungen gekennzeichnet sind.
Diese raumgliedernde Funktion, die die Basen auch für sich alleine er
füllen konnten, manifestiert sich in der materiellen Erscheinungsform,
die zugleich als Abbild einer gesellschaftlichen Ordnung nutzbar gemacht
werden kann. Beispielhaft sind die AthletenBasen, die durch Einheit
lichkeit und Schlichtheit ihren Status im sozialen Gefüge offenlegen.
Die Wirksamkeit der Statuenbasen lässt sich nicht nur auf die ur
sprüngliche Funktion reduzieren, die sie als Träger der Ehrenstatuen
besessen haben. Sie kommt auch in einer Variabilität zum Vorschein, die
den Basen im Laufe der Zeit durch andere Verwendungen zugeführt wird
und die zugleich ihre Bedeutung als historische Artefakte unterstreicht.
Nicht zuletzt wird anhand der Materialität der Statuenbasen deutlich,
dass sie auch ohne den intrinsischen Zusammenhang mit den verlorenen
Bildnissen, die »lediglich« die ästhetische Ebene der Wahrnehmung ver
vollständigt hätten, als statuarische Ehrendenkmäler funktionieren. Dabei
ermöglichen sie durchaus eine allgemeine Vorstellung von den Statuen,
indem sie Informationen zu Material und Format zur Verfügung stellen.
Die Betrachtung der Statuenbasen zeigt nicht zuletzt, dass sie aufgrund
ihrer reichen Überlieferung eine wertvolle Materialgruppe bilden, an
denen Verfahren und Methoden herausgearbeitet werden können, um
scheinbar Unsichtbares »sichtbar« zu machen.
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BILDREC HTE
1 Foto: Wera Groß.
2, 5, 12 Foto: Sagalassos Research Project, K. U. Leuven.
3, 4, 8, 10, 11 Foto: Semra Mägele.
6, 7, 9, 13, Taf. 6a/b Foto: Ahmet Ertuğ.
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J EANETTE KOHL
MARTIALI VERNA DULCISSIMO
Children’s Busts, Family,
and Memoria in Roman Antiquity
and the Renaissance
1
A boy’s story is the best that is ever told.
(Charles Dickens, Oliver Twist)
A beautiful boy, lost in thought – his features delicate and serene. A round
face with full cheeks, lips gently compressed, a pleasant little button nose
and big eyes, almondshaped, under softly arched brows (Fig. 1; pl. 7); his
hair in a bowlcut, straight fringes on the forehead and a cheeky little
braid above his right ear. Martial 2 is his name, yet from his finely chis
eled features we assume a gentle child. His gaze is unfocused: 3 a dreamy
little sleeper in a softly falling nightgown. Our lovely little somnambulist
1 My warmest thanks to the following dear colleagues, who helped me tre
mendously when researching the objects in this article – works for which only
scarce information can be found: Monique Kornell, Jeffrey Spier, Annika Backe
Dahmen, Sheryl Reiss, Caroline P. Murphy and Martin Kemp. I would also like
to thank Sonja SekelyRowland for her assistance with the images, and above
all Thierry Greub for his kindness and patience.
2 The Roman poet Martial (Marcus Valerius Martialis, circa 40–103 AD), father
of the modern epigram, was a contemporary of little Martial.
3 Unlike most other Roman busts of children, the object’s pupils are not marked
or drilled, perhaps they were painted onto the marble, as the “paint ghosts” in
one of the eyes seem to indicate. This observation was generously shared by
Jeffrey Spier, Senior Curator of Antiquities at the Getty Villa, Malibu.
242
1 Unknown artist: Portrait bust of a boy named Martial, Roman, circa 98–117,
marble, J. Paul Getty Museum, Malibu (cf. pl. 7)
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 243
is a visitor from a bygone era. Martial, we learn, died at the age of not
even three. He passed away almost two thousand years ago – the style of
his haircut hints at the Trajan period, between the years 98 and 117 AD.
In this essay, honoring my dear colleague in Classical Archaeology
Dietrich Boschung, I would like to discuss a small number of busts of
children from Roman antiquity and the Italian Renaissance. These ob
jects, although some of them are in the world’s most prominent museums,
have been largely neglected both by art historians and classical archaeolo
gists, and they have never been discussed together, which is somewhat
surprising, given the heavy influence of Roman antique sculpture on early
modern aesthetic thought and artistic practice. In particular the portraits
of dead children with their potential to psychologically unsettle the
viewer, all the more when they are executed in the touchable and presence
generating medium of sculpture, have received but sparse attention – and
are often kept in the museum depots. The bandwidth between portraits
of frisky and selfassured children portrayed after life and those much
rarer images confronting the viewer with the face of premature death is
broad, in Roman Antiquity and the Italian Renaissance alike. For both
time periods, little is known about many of the objects’ immediate physi
cal contexts and their individual functions, let alone the names of the
sitters. In the case of Martial, we are lucky.
In what follows, I will take the intriguing bust of Martial as a point
of departure to discuss some concepts of family and dynastic represen
tation, of societal and familial attitudes toward the value of childhood
and children as they might relate to a number of bust portraits of small
children from the Imperial Roman period and the ‘Renaissance’ in Italy.
I will re-contextualize some of these objects tentatively, providing first
insights into possible family backgrounds and looking into the discus
sion of grieving processes related to premature deaths. This is not the
place to address the complex issues of childhood in antique, medieval,
and Renaissance societies in detail; hence I will neither discuss Philippe
Aries’s milestone publication “L’Enfant et la vie familiale sous l’Ancien
Régime” of 1960, nor the recent revisions of Aries’s viewpoint, namely by
Nicholas Orme.4 However, I will present an attempt at a new identifica
tion of a Renaissance baby bust, and I will for the first time relate it to
an antique object in the British Museum. My contribution to this Fest
schrift aims at a better understanding of the role of likeness and family
4 Ariès 1960; Orme 2001.
244
2 Detail of fig. 1 with inscription
3 Alternative view of fig. 1: Profile, before cleaning of marble
K O H L: MA R TI A L I V E R N A D U L CI SSI M O 245
representation in sculpted portraits of children in Roman Antiquity and
their reanimation’ in early modern Italy.
Let us turn to young Martial again. He was a beloved, apparently
important child – and a fortunate one, for that matter. All the more sur
prising is the laudatory inscription on the front of the bust’s blocklike
pedestal (fig. 2):
“To the sweetest Martial, a slave child, who lived two years, ten
months, and eight days. [For him] well deserving, Tiberius Claudius
Vitalis provided [this monument].5”
Martial was a slave, and his owner cherished the boy to the extent
of having a costly and artful marble bust commissioned in his honor,
perhaps as part of a funerary monument.6 The object on display at the
Getty Villa in Malibu is particularly arresting as it documents affection
and esteem for a single slave in a fine marble monument and epitaph.7
The bust’s most striking detail is the little braided strand of hair above
the right ear (fig. 3).8 It can be identified as a Roman adoption of the
ancient Egyptian ‘horus lock.’ 9 The braid, worn on the right side, marks
him as a boy partaking in the religious cult of Isis.10 Martial must have
been consecrated as a baby, which means that he was under the special
protection of the tutelary deity Isis, a fact that would have guaranteed
5 MARTIALI.VERN / DULCISSIMO.QUI. / VIXIT.ANN.II.M.X.D.VIII /
TI.CLAUDIUS.VITALIS. / B.M. FECIT. The term “dulcissimus” was gen
erally used for younger children, whereas the similar terms “carissimus” and
“pietissimus” were used to characterize children above the age of five. See
Rawson 2003, 50–51.
6 See Rawson 1997, 205–238; 227, fig. 9.12.
7 The marble bust, including its pedestal, is 40,5 cm high and currently on view
at the Getty Villa in Gallery 207. It was purchased by the J. Paul Getty Museum
in 1985. For provenance and details see: http://www.getty.edu/art/collection/
objects/11089/unknownmakerportraitbustwithinscriptionroman98117/
(last access Dec. 12, 2015); see also Acquisitions/1985, 182–83, no. 9.
8 Goette, 1989 (1), 203–217, discusses the Getty bust on 212, no. 20.
9 On the significance of the ‘horus curl’ in imperial iconography, see Gonzenbach
1957, 102–128, Goette 1989 (1), 208.
10 Annika BackeDahmen, in her essay “Initiation of Children into Roman
Mystery Religions: The Isis Case” (currently in print), provides a detailed dis
cussion of the state of research on the different forms of the socalled ‘horus
lock’ or ‘youth lock’ and their relation to the cult of Isis, with a particular refer
ence to Borg 1996.
246
him eternal life.11 The cult of Isis became popular in imperial Rome from
the 1st century BC on and gained a strong foothold in aristocratic circles
and imperial families.12 A number of fine marbles of young children in
Imperial Roman art show the same feature, the most famous one being
the bust of a boy of similar age in the British Museum (fig. 4) of around
150–200 AD, with its remarkably soft and delicate features.13
Martial’s face, as those of a number of other busts of boys of the
first centuries AD, is rendered al vivo, bearing witness to an obvious
interest in the child’s individual facial features and countenance. The
intersection of two significant historical developments is epitomized
in bust portraits like Martial’s: the ‘face value’ of portraiture in Roman
antiquity as documented in the practice and cult of the imagines maiorum
(a controversially discussed field on which I can only touch here), and
new forms of appreciation of childhood in Roman society. Beryl Rawson,
in her comprehensive study on Children and Childhood in Roman Italy,
identifies several key elements of the Romans’ esteem of childhood and
youth.14 Among these are the role of pedagogical concepts, a sensitivity
toward the specifics of childhood development, the importance of the
family in utterances of sentiment, the role of surrogate families in which
slaves and former slaves played a key role, the impact of exempla in guid
ing childhood development, and the importance of commemoration in
funerary monuments, all of which seem to have culminated in the late
first and second centuries BC.
While en buste depictions of the family – father, mother, and child
or children – are a common motif on Roman tombs (and rather popu
lar among families of freedmen), a single marble monument including
a sculpted portrait of a child explicitly denominated as verna, that is a
slave born in a Roman household, would have been rather unusual. Still,
owners would often take the obligations to care for their vernae quite seri
ously, as is documented in a number of epitaphs dedicated to vernae, who
were sometimes the children of free males still living in the household.15
11 Gonzenbach 1957, 102–105. The lock could be worn by boys up to the age of
14 years. For a general discussion see Felgenhauer 1996.
12 Lembke 1994.
13 The object is in the British Museum, registration no. 1805,0703.112. http://
www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.
aspx?objectId=460133&partId=1 (last access: Dec. 16, 2015).
14 Rawson 2003, and Laes 2011 (Dutch original 2006).
15 Bradley 1994, 33–34, 48–49; Mouritsen 2011, 100.
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 247
4 Bust of a young boy, worshipper of Isis, Roman, 150–200 AD, marble,
British Museum, London
Some slave babies even shared wetnurses with the owner’s children, as
is documented in an epitaph by the powerful Augusta Antonia for her
slave Communio.16
16 COMMVNIO VERNA / ANTONIAE AVGVSTAE / V. A. II MES. X /
COLLACTEUS DRUSI / BLANDI F. (Communio, slave of Augusta Antonia,
lived for two years and ten months, the fellownursling of Drusus, son of Blan
dus) (CIL 6.16057), see Rawson 2003, 256–257.
248
5 Roman inscription, 2nd century AD (?), marble.
Ashmolean Museum (currently in storage)
K O H L: MA R TI A L I V E R N A D U L CI SSI M O 249
We know nothing about the precise nature of Martial’s relation with
Tiberius Claudius Vitalis, who commissioned his portrait, except for that
he was a verna in his household and that his owner must have been quite
fond of him. The assumption that he was an illegitimate son conceived
with a slave mother is tempting, yet there is no evidence to support this
speculation.17 An epitaph to a slave boy in the Ashmolean Museum in
Oxford bears a similar inscription (fig. 5):
To the spirits of the dead. For Lucius Annaius Firm(ius?), who lived
5 years, 2 months, 6 days, 6 hours, who was born on the 7th of July
and died on the 10th of September. Annaia Ferusa set this up for her
dearest household slave.18
Lucius Annaius Firmius was born a slave to the household of Annaia
Ferusia, the house’s mistress, who commissioned the tombstone in his
honor, possibly with an accompanying image, now lost.19 Her attach
ment to the little boy must have been considerable: She records the
span of his short life down to the hour – testimony of a close famil
iarity with the child, mixed with caring undertones expressed in the
17 An example among others is the epitaph of a two-year old boy, verna of
Volusia Phoebe. In this case, the mother commissioned the epitaph: DI S
MANIBVS / ARCINO VOLVSIAES / PHOEBES VERNA / VIX. ANN. II /
MENS. VIII / FECIT MATER; Rawson 2003, 255. For the legal relations of
slave mothers, owners, and their children see ibid., 265–267.
18 “D(IS) M(ANIBUS) / L(VCIO) ANNAIO FIRM(—) / VIXIT ANNOS V /
M(E N S I B U S) I I . D(I E B U S) VI . H(ORI S) VI / QU I NATU S E ST /
NON I S IVLI I S / DE FU NCTU S / E ST I I I I I DU S / S E PTE M B RE S /
10 ANNAUA FERUSA VERNAE SU/O KARISSIMO.” See: http://www.
ashmolean.org/ashwpress/latininscriptions/2014/08/01 /helived5years2
months6days6hourstheromanchildslaveandthewomanwholoved
him/ (Blog of the Ashmolean Latin Inscriptions Project (AshLI), last access
December 29, 2015).
19 The inscription tells us that the boy had three names, Lucius Annaius
Fir(mius?) – however, slaves usually had only one name. The tripartite name
and use of his mistress’s name ‘Annaia’ in his middle name ‘Annaius’ tells us
that he must have become a libertus, a freedman, probably shortly before his
death – quite unusual as a slave normally would have had to reach the age of
30 before he could be granted freedom. Why did Annaia still call him a verna?
The Ashmolean’s webpage gives a possible explanation: She freed her little
slave on the deathbed to grant him a death as a free man, see ibid.
250
boy’s description as ‘karissimus’ (Greeklike spelling of ‘carissimus’),
most beloved.20
A very similar (and certainly in an epitaph to a degree conventional
ized) expression of love and appreciation resonates from the portrait of
Martial and its inscription, commissioned by Tiberius Claudius Vitalis,
who might be identical with the imperial freedman whose name is
documented in a large, threestory tomb structure on the Caelian Hill in
Rome. Vitalis was a freedman under Claudius (41–54 AD), during a time
in which imperial freedmen gained considerable influence at court and in
the empire.21 The columbarium was discovered in 1866, on the premises of
the Villa Wolkonsky in Rome. Its marble inscription informs us that the
monument was erected “[t]o Tiberius Claudius Vitalis, son of Tiberius, of
the tribe Galeria, from the rank of Roman eques (…) (who) served in the
second cohort as princeps posterior for eleven years, lived forty-five years.” 22
The tomb must have been built sometime between 41 and 80 AD.23
Freedmen, many of whom climbed the economic ladder and became rich
quickly, frequently became slave owners themselves, hence it is quite
possible that the owner of the ambitiously large Roman tomb structure
is identical with the commissioner of the portrait bust for Martial.24 How
ever, this would date the Getty bust at least twenty years earlier, as an
artistic product of the Flavian rather than the NervaAntonine dynasty
under Trajan.
Veronique Dasen has recently drawn attention to a group of images
hinting at representational strategies alternative to the strictly aristo
cratic imagines maiorum in nonelite Roman circles, in particular those
of freedmen, in the second to fourth centuries AD.25 Her discussion and
re-evaluation of these images is largely based on findings of plaster molds
20 “It is a monument which testifies to the emotional realities which blurred
the strict legal lines between slave and free.” (cit. ibid.), 2nd century AD (?),
from Rome. Ashmolean Museum, ANChandler. 3.90. H. 0.38, W. 0.21, D. 0.4;
currently in storage at the Ashmolean Museum.
21 For a concise description of the status of imperial freedmen see Treggiari
2010, 227–230.
22 85 ILS 2656=Smallwood NH (Nerva Hadrian) 294, inscription, Rome, 2nd
C.AD. In: Campbell 1994, 48.
23 The tomb war erected by Tiberius Claudius Eutychus, son of Tiberius
Claudius Vitalis. See Borbonus 2014, 184–186.
24 See Dunstan 2011, 203.
25 Dasen 2010, 109–145
K O H L: MA R TI A L I V E R N A D U L CI SSI M O 251
in tombs, some of which were already published by Heinrich Drerup in
1980.26 Among these are three molds (face masks used to produce facials
casts) of children’s faces, with the oldest datable in the period between
70–115 AD, according to paleography.27 The oldest of these molds stems
from a tomb in Lyon, which contained hairpins in ivory and bronze, frag
ments of a box, and a funerary stela bearing the inscription:
“To the departed spirit of Claudia Victoria who lived 10 years, 1 month
and 11 days. Her mother Claudia Severina made this monument for her
sweetest daughter and for herself during her lifetime. It was dedicated
sub ascia.” 28 The two other plaster molds of children’s faces were found
in the tomb of C. Valerius Herma, a freedman and owner of the most
opulent and important tomb in the necropolis under Saint Peter’s Basilica
in Rome (fig. 6).29 The mausoleum of around 160 AD is inscribed:
“Valerius Herma made this tomb for himself, his wife Flavia Olympia,
daughter of Titus, his daughter Valeria Maxima, and his son C. Valerius
Olympianus, and for his freedmen, freedwomen and their descendants.” 30
The two funerary molds are probably of his own two children who
died, according to fragmentary inscriptions, at the age of 12 and 4.31 Both
show a certain resemblance to the marble portrait of a bearded man like
wise found in the tomb and probably depicting Valerius Herma.32 Another
plaster mold of a very young infant was found in a sarcophagus in Paris
26 Drerup 1980, 81–129.
27 Dasen 2010, 125.
28 D(IS) M(ANIBUS) / ET MEMORIAE / CL(AUDIAE) VICTORIAE /
QUAE VIXIT ANN(OS) X / MENS(ES) I DIES XI / CLAUDIA SEVERI /
NA MATER FILIAE / DULCISSIMAE / ET SIBI VIVA FECIT / SUB
ASCIA DEDI/CAVIT (CIL 13.2108) – “sub ascia” meaning that the monument
was still under construction. The facial cast was broken during its recovery from
the opened tomb in 1874. For a modern plaster cast taken from the fragmented
mold see Dasen 2010, 125–127.
29 Mielsch/Hesberg 1995, 143–208 (mausoleum H).
30 C(AIUS) VALERIUS HERMA FECIT ET / FLAVIAE T(ITI) F(ILIAE)
OLYMPIADI CONIUGI ET / VALERIAE MAXIMAE FILIAE ET C(AIUS)
VALERIO / OLYMPIANO FILIO ET SUIS LIBERTIS / LIBERTABUSQUE
POSTERISQ(UE) EORUM. Eck 1986, 245–293, 256–258.
31 Ibid. The other possibility is that the funerary plaster molds belonged to
other children of Valerius Herma’s domus, some of which are mentioned in
inscriptions, see Dasen 2010, 128. Both molds and casts are in the Vatican,
inv. no. 229 and 232.
32 Mielsch/Hesberg 1995, 186–190, 198, figs. 230, 231.
252
6 Modern plaster cast of a Roman facial mold, found in the tomb of
Valerius Herma, Vatican, circa 160 AD (after Mielsch and van Hesberg,
1995, p. 253)
in 1878, probably from the third century AD, together with remains of a
glass feeding bottle.33 Although it is very difficult to take a facial plaster
cast of a small baby, it appears that this mold was in fact taken al vivo;
there is a round hole in the middle of the mouth, perhaps produced by the
insertion of a straw, which would have allowed the child to breathe during
33 First published together with Drerups’s molds of children in Dasen 2010,
131–133, fig. 5.8(a) and 5.89(b). Plaster mold and modern cast are preserved in
the Musée Carnavalet, Paris (AP 75).
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 253
the procedure.34 The same might have been the case for the mold of the
smaller child in Valerius Herma’s tomb (fig. 6): It shows an asymmetry of
the upper lip, with its right part lifted slightly higher, again perhaps result
of the use of a straw to make breathing possible while taking the mold al
vivo –35 a techné also underlying the production of imagines maiorum, an
image type firmly established in Roman culture since republican times.
The imagines maiorum, documented in sources by Polybius, Pliny
the Elder, and others, are usually described as cerae vultus – faces cast in
wax. They were produced from indexical plaster molds and then kept in
armaria to be found in the atriums of the patricians’ homes in republican
Rome.36 They were images of utmost likeness with the individual face
whose traces they preserved, while also documenting family likeness.37
The imagines were not mortuary images, nor were they masks in the
sense of antique theatre masks.38 They would not be worn on the face
but carried as objects, sometimes framed, in processions on occasions
like public funerals, from the republican period to the end of the second
century AD.39 The expressi cera vultus Pliny the Elder refers to in his Natu
ral History were freestanding wax portraits, most likely produced from
a plaster mold; a large number of them were probably incorporated into
busts for display in the armarium.40 Portraits made with the help of death
masks are not mentioned in any of the antique Roman sources; instead,
imagines majorum were, it seems, produced during the lifetime of eminent
individuals – they were portraits al vivo, generated on the faces of living
34 The procedure of taking plaster molds of faces in order to cast portraits is
described in great detail in Cennino Cennini’s famous treatise on painting, Il
libro dell’Arte, of the late Trecento, chapters CLXXXI–CLXXXV.
35 Dasen 2010, 130 and fig. 5.6(b).
36 See Flower 1996; Blome 2001, 305–322; Dasen 2010, 109–110; Drerup 1980,
81–129.
37 Molds like these were probably used for the production of busts in wax or
plaster, perhaps also as the basis of marble busts produces post mortem. We do
not know to what extent they also bore conventional features associated with
ethic qualities such as fides, gravitas, severitas.
38 For a discussion of the different and sometimes contradictory definitions of
the imagines maiorum see Flower 1996, 36, n. 26. See also Boethius 1942, 226–
235; Brommer 1953–54, 163–71; Lahusen 1985, 261–289; Dasen 2010, 109–115.
39 Rawson 2003, 335; Flower 1996, 263–269.
40 Pliny the Elder, Naturalis Historia, 35.153, credits Lysistratos of Sicyon with
the invention of similitude reddere instituit, creating images of proper likeness.
254
individuals.41 They probably resembled, at least by the first century BC,
the bust portraits so abundantly produced and on display in the homes
and public spaces of the Roman World, many of which, in turn, might
have been made with the help of casts.42
By the end of the Roman Republic, individual images of children
evolved as a new genre closely related to funerary representation.43 Children
had conquered a prominent place in Roman society and its pronounced dis
play of social standing, lineage, and moral values. Ambitious parents began
to commission laudatory epitaphs on their prematurely deceased children.
As the formal laudatio funebris at the forum was not permitted for children,
parental and family pride found its expression in inscriptions praising the
children’s intellectual accomplishments, professional achievements in the
case of slave boys, and mourning the lost potential of promising offspring.44
The ideal of the puer senex, a child wise beyond his or her age, became a
prominent laudatory trope on many a tomb, in particular on those of freed
men, for whom a prolific progeny and the visual representation of young
descendants compensated for a lack of noble ancestry.45
Pliny the Younger reports an interesting case in which a wealthy
father, the Roman delator M. Aquilius Regulus, apparently used his
young son’s death to promote his own career. Regulus, whom the sources
paint as just the opposite of a loving and caring father (he put his son
up for adoption before the boy died unexpectedly), sets in motion an
unprecedented machinery of image production to publicity underscore
the mourning of his son’s death.46 Pliny writes:
He took it into his head that he would have statues (statuas) and busts
(imagines) of him by the dozen; immediately, all the artisans in Rome
are set to work. In colours, wax, bronze, silver, gold, ivory, marble, the
41 See Flower 1996, 58, 330–331 for the case of Cn. Calpurnius Piso.
42 Pliny, our major authoritative source on artistic production in the first
century AD, describes the imagines with the term vultus, for face, not persona,
for mask. See Dasen 2010, 113–115. Drerup 1980, 112, interprets the descriptions
of the display of imagines maiorum during solemn processions as a parade of
lifelike, dressed mannequins.
43 See here in particular Rawson 2003; Rawson 1997; Evans 1991, 166–170.
44 Examples given in Dasen 2010, 122–124; Rawson 1997, 223, fig. 9.9; Rawson
2003, 47; 206: fig. 1.10; 59: fig. 5.10.
45 Carp 1980, 736–739.
46 Rawson 2003, 332–333.
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 255
young Regulus is depicted again and again (illum coloribus, illum cera,
illum aere, illum argento, illum auro, ebore, marmore effingit).47
The images, together with eulogies written by the father and meant for
public reading, were distributed widely – a rather obvious overcompensa
tion for the lack of a proper family ancestry, let alone a guilty conscience.
The portraits produced in the wake of young Regulus’s death were not
mere funerary objects; their sheer number suggests that they were, most
likely, to be displayed in domestic spaces.48
We do not know for sure if the bust of Martial was part of a tomb
structure or meant for display in a Roman household. Yet its execution
in fine marble suggests some sort of public display. An object similar to
the portrait of Martial was found in the aforementioned tomb of Valerius
Herma and his household: an originally (at least in part) gilded portrait
bust of a boy, sporting the ‘horus lock’ (fig. 7).49 While the object differs
from the bust of Martial in that it is a plaster bust, perhaps made after
the facial cast of the older child found in the same tomb, the similarities
in the overall image concept are rather striking.50
Be that as it may, the bust of Martial with its pleasant and individual
features seems to have been made after an image al vivo, which would
in all likelihood have been a cast. Dasen’s conclusion for the group
of images found in the tomb of the Valerii – that “the molds in the
Vatican’s necropolis may thus witness the appropriation of elite habits
in non-elite families who ordered inexpensive plaster or wax portraits
of children” – may likewise apply for the bust of Martial and its more
precious and enduring material.51 Freedmen, like the tremendously rich
Valerius Herma, had a special taste and a strong motivation for self
representation, trying to surpass the ancient families with a particular
emphasis on making up for the deficit of a family history. With a lack of
47 Pliny the Younger, Epistulae, 4.7. “The excessive mourning of the child
reflects the political ambition of his father who used the obsequies for his
personal promotion.” Dasen 2010, 124.
48 Ibid. The first extant sculpted funerary portraits of children go back to the
JulioClaudian period.
49 Drerup 1980, 87, pl. 37,2; also in Mielsch/Hesberg 1995, 196, n. 6, figs. 240–242.
50 Dasen 2010, 138, fig. 5.11(a) and 5.11(b). She argues, however, that both might not
date from the same time period, with the gilding and the hairstyle of the plaster
bust indicative of a later period, perhaps the beginning of the third century AD.
51 Dasen 2010, 136.
256
7 Gilded Roman plaster bust of a boy with ‘horus lock,’ found in the tomb of
Valerius Herma, Vatican (after Dasen, 2010, fig. 5.11 (a))
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 257
lineage and ancestral imagery, portraits of children became increasingly
important in promoting future promise; they were a key capital of social
climbers. By way of substituting the veristic imagines maiorum exclusively
dedicated to male ancestors with images based on casts of women and
children, a diversification of ‘realistic’ Roman image culture took place,
alongside a diversification of types of funerary images. Valerius Herma’s
mausoleum boasts a mix of different types of family and household
portraiture: free standing plaster busts of children and adults, reliefs in
marble, and fullbody sculptural portraits in stucco positioned in niches.
Hence, the presence of masks, plaster and (lost) wax casts in such tombs
does not come as a surprise. Perhaps changes in beliefs and concepts of
the afterlife provide another explanation for the coexistence of indexical
death masks and casts and funerary portraiture of children in Roman
Imperial mausoleums of the first centuries AD.52
Most likely, portraits bearing inscriptions like Martial’s were also part
of mourning processes and coping strategies after a child’s death. While
not everyone went as far as M. Aquilius Regulus, the desire to keep alive
the memoria of a dear child, male or female, by means of an image close
to life is palpable in an array of antique written sources. The consolatory
potential of images – a human constant – is addressed exemplary in Seneca
as he discusses the diverging reactions of Livia and Octavia to the deaths of
their respective sons: While Livia “did not cease to make frequent mention
of the name of her Drusus, to set up his portrait in all places, both public
and private, and to speak of him and listen while others spoke of him with
the greatest pleasure: she lived with his memory,” Octavia refused consola
tion and renounced worldly life: “Not a single portrait (imago) would she
have of her darling son, not one mention of his name in her hearing.” 53
Martial’s image, like the two captivating busts of children in the
Cleveland Museum of Art (fig. 8) and the Davis Museum at Wellesley
College (fig. 9), I suggest, reflect new forms of both “Trauerarbeit” (Freud)
and public memoria in Roman antiquity.54 In particular the Cleveland
52 Drerup 1980, 91–92 gives examples of such mortuary casts and the resulting
funerary portraits.
53 Seneca, To Marcia on Consolation, 3.3 (for Livia), 3.42 (for Octavia).
54 The bust in the Davis Museum, Wellesley College, is dated to the third century
AD; height 45 cm, marble, gift of Mrs. William H. Hill, object no. 1924.22. The
Cleveland bust (J.II. Wade Fund, CMA 51.288) measures 52 cm in height, includ
ing base and pedestal. See also Wood 1981, 286–302; Fittschen 1992, 301–305;
catalogue entries no. 147, 148, in: I, Claudia: Women in Ancient Rome 1996.
258
8 Portrait Bust of a Child (girl?), circa 250–275 AD, marble,
Cleveland Museum of Art
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 259
9 Roman bust of a child, 200–300 AD, marble, Davis Museum at
Wellesley College
260
10 Portrait Bust of a Child (girl?), profile view, circa 250–275 AD, marble,
Cleveland Museum of Art
bust is a highly finished, artful marble object, a meticulously crafted,
individualized portrait of a child of maybe two or three years. Both the
Cleveland and Wellesley busts have been compared several times as they
share the same, somewhat contradictory combination of girdled dress and
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 261
11 Desiderio da Settignano: Bust of a boy (Christ child?), circa 1460,
National Gallery of Art, Washington
short haircut. While the chiton and high belt tied just below the chest are
typical of antique portraits of girls, the objects’ very short hair and overall
looks are typical of portraits of boys. They depict, perhaps, boys in a state
of apotheosis as Cupid or Apollo, or they may be girls apotheosized as
Diana.55 The object in Cleveland (fig. 10) gives us a good idea of the level of
care and skill invested into Roman children’s portraits in the first centuries
55 Wood 1981, identifies them as boys whereas Fittschen 1992, thinks that they
are girls, mainly because none of the apotheosizing portraits we know from
the second and third centuries show chitons, and the cropped hairstyle is not
necessarily an indicator of male sex.
262
AD, objects whose lifelike appearance, sensory qualities, and aesthetic
appeal Renaissance artist such as Bernardo Rosselino and Desiderio da
Settignano (fig. 11) attempted to rival, equally blurring the lines between
the divine and profane, as in many cases it is unclear whether they are
images of Christ child or individual portraits of Renaissance children.56
While the antique portraits discussed above aim at a perpetuation of
an individual child’s looks and appeal during life – the sweetness, loveli
ness, and promise addressed in commemorative inscriptions combined
with an accuracy (perhaps with an emphasis on family likeness) gained
by the use of life masks – other objects, much fewer in number and lesser
known, point in a different direction. The two images – one from Roman
antiquity, one from the Renaissance – that I will discuss in my concluding
paragraphs show very young children of around one year, babies still. The
contrast to stubnosed Martial with his big open eyes and erect posture
could not be more pronounced: These babies are dead.
The first object is in the British Museum (fig. 12 and 13), an unusual
marble relief en buste, almost fully in the round, dated to the first or second
century AD.57 It shows a toddler with soft, short baby hair, chubby cheeks
yet closed and sunken eyes, its arms tapered in a 45degree angle just
below the armpits, not unlike the bust portraits with angled lower ends
in the style of Martial. The portrait’s somewhat ghoulish look results in
part from the horizontal slit in the eyes, almost as if the dead child’s eyes
had not been closed completely. To my knowledge, the object is singular in
that it depicts a lifesize dead baby boy in the medium of an almost fully
threedimensional marble bust relief.58 Our little dead boy is wearing a
cord across his chest to which crepundia are attached, apotropaic amulets
56 For the Renaissance busts see in particular Coonin 1995, 61–71 and Kohl
2011, 89–101. Wilhelm von Bode was the first to utter the idea that many of the
objects might be cryptoportraits of young sons of the Florentine elite in the
disguise of Christ Child and San Giovannino, see Bode 1928, 154–161.
57 British Museum, reg. no. 1805,0703.110. The object is not on display and was
acquired in 1805 from Peregrin Edward Towneley; see http://www.britishmuseum.
org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?objectId=3990
17&partId=1&searchText=1805,0703.110&page=1 (last access: January 4, 2016).
58 The lack of comparable objects might have led the Museum to label the
object as “marble bust of a sleeping child,” which seems rather unlikely. For
early sources see: http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/
collection_object_details.aspx?objectId=399017&partId=1 (last access January
6, 2016); Smith 1904, 171, no. 1930; Walker 1985, 50 (description, comment on
amulets); Goette 1989 (2), 465–466, figs. 15–16.
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 263
and charms, which probably also served the purpose of identification of
lost children. Perhaps the boy was already sick or had a serious condition,
and the parents might have equipped their son with charms to prevent
evil and shield him from harm. With its height of 26 centimeters it could
have been part of a child’s tomb, yet without an inscription it is impos
sible to identify the child or reconstruct its context.59
Contrary to the vast majority of other sculpted portraits of children
in Roman antiquity, the relief of a toddler in the British museum depicts
a dead child, in all likelihood based on a death mask. It reveals a practice
quite different from both the lifemasks used for imagines maiorum and
those related to images of sweet and lively children on and in Roman
tombs. Here, the face of death was not avoided – on the contrary, it was
translated into a marble object by an able sculptor.
The ideal of the cheerful, promising, sweet child propagated in so
many of the children’s portraits from Roman antiquity had a profound
impact on Renaissance sculpted portraiture of children. Yet there is one
extant sculpted portrait of a baby boy, probably of the early to mid 16th
century, which shares an astounding similarity with the boy wearing crepundia from roughly 1500 years earlier.60 The bust portrait is fully in the
round and shows an infant of no more than nine months or a year (figs. 14
and 15).61 The wellfed and handsome boy’s face bears the stamp of death.
The sunken eyes, the relaxed musculature, the somewhat pointed nose
and the folds of fat around the neck pushed down from the dimpled chin
indicate the use of a death mask as model for the marble portrait.62 The
59 For a comparison see the funerary portrait of Iunia Procula, who died at the
age of eight – a relief portrait (al vivo, though) integrated into a funerary altar
from the Flavian Period, in: Rawson 2003, 47–48, fig. I.II, or the relief portrait
bust of Julia Victorina wearing a lunar symbol on the front of her marble funer
ary altar from the late 1st century AD in the Louvre, Paris (CIL 6.20727).
60 The object, which is in the depot of the Museo Nazionale del Bargello in
Florence, has been published rarely, with a brief discussion only in Langedijk
1974, 379–383. She attributes the work to Domenico Poggini and identifies it
tentatively as Filippo de’Medici. See also Langedijk 1981, 849, no. 7.
61 I would like to thank Joerg-Elard Otten, pediatric maxillofacial surgeon
from the University Clinic of Freiburg/Germany, for sharing his thoughts on
the boy’s age and his overall appearance with me. He agrees that the portrait
depicts a dead child.
62 The dark spots on the rear right shoulder and head are dirt. The object shows
an old inventory number with a date from the 1770. The Bargello inv. no. is 1897,
no. 66. It is mentioned in an inventory of 1825, see Langedijk 1974, 379, n. 4.
264
12 Bust of a dead child wearing crepundia, 1st or 2nd century AD, marble,
British Museum, London (not on display)
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 265
13 ReliefBust of a dead child wearing crepundia, profile
view, 1st or 2nd century AD, marble, British Museum,
London (not on display)
266
14 Bust of a dead child, possibly Pedricco de’Medici,
mid16th century, marble, Museo Nazionale del
Bargello (not on display)
15 Bust of a dead child, possibly Pedricco de’Medici, profile view,
mid16th century, marble, Museo Nazionale del Bargello (not on display)
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 267
bust’s rigid, unmediated horizontal cut at the base is typical of 15th and
early 16th century bust portraits in Florence – before the development of
more ‘artificially’ rounded or angled lower contours in the style of antique
Roman portraiture as they became popular in the later Renaissance and
Baroque periods.63 Other than that, the Bargello baby boy seems to be a
brother across times of the toddler in the British Museum.
Clearly, in both cases the parents, if we assume they commissioned
the works, wanted to have an enduring image of their dead child in pre
cious marble, remembering the lost son in a work of art. A fact that can
be explained only with special affection, high aspirations, and the strong
wish to preserve the individual boy’s unidealized facial features as an ex
pression of the full scope of their loss. Both objects, I suggest, epitomize
the importance of childhood and its intrinsic values not just in a dynastic
but perhaps also in a more private, emotional sense – “Trauerarbeit”
through monuments of personal loss.64
Just how much the loss of a child could affect parents is illustrated
by an episode from Renaissance Venice: On January 1st in the year 1461,
in a noble palace on the Canal Grande, Valerio Marcello died.65 Valerio,
scion of one of the wealthiest and most influential families in Venice, had
barely reached the age of eight years. Given the high child mortality, his
death could have been one tragic incident among others a family was
prepared for. In this case, however, things were different. His young son’s
death left the father, Jacopo Antonio Marcello, in total agony. Jacopo, a
highranking Venetian politician and provedditore, fell in a hopeless state
of depression about the death of his beloved son. The news of his grief
spread quickly, and a series of consoling letters and literary works were
sent to him.66 Yet his grief did not lessen and he did not find consolation
in the artfully crafted, wellmeaning words of solace. Thus, after three
years of mourning, he decided to create a literary monument to his son’s
death and his own love and grief, comprising 14 of the consolatory letters
and his own response.67 In an unprecedented manifestation of fatherly
63 This new formal concept is an adoption from reliquary busts and their usu
ally horizontal footprint. See Lavin 1970, 207–226; Kohl 2007 (1), 9–30.
64 The term was coined by Sigmund Freud in his study “Trauer und Melan
cholie” of 1915.
65 Margaret King has dedicated an entire, fascinating book to the episode, King
1994.
66 King 1994, 173–202.
67 King 1994, 24–59.
268
love, Jacopo’s response to his consolers reveals massive tensions between
the social expectations demanding stoic acceptance of the fact of death
from a man on the one hand and his wish to grieve freely on the other.
The special and loving bond between father and child and the father’s
emotional incapacity to accept his son’s death both thoroughly under
mine common notions of Renaissance childhood and upbringing as being
coined by rigid patriarchal education of emotionally detached fathers.
If we subtract the traits of Renaissance selffashioning within Jacopo
Marcello’s testimony, what remains is a touching literary monument of
death experienced as tragedy, and of a Renaissance father trying to deal
with his human sensations of love, loss, and grief.68
Caroline P. Murphy vividly describes the family life of the Medici
under Duke Cosimo I. in her inspiring book on the Medici princess
Isabella.69 The early loss of several of her sons, who died as infants or were
taken from her as adolescents, dashed the sprits even of a headstrong and
robust woman such as Eleanor of Toledo, wife of Cosimo I. and mother
of Isabella, also known as “la fecundissima” – the most fertile one.70 The
mother of eleven children died in Pisa on December 17, 1562, only nine
days after her fifteen-year old son Garzia and four weeks after her second
eldest son, Cardinal Giovanni de’Medici had both fallen victim to ma
laria – a blow of fate that had dangerously weakened the fortyyear old
duchess. One particular beloved child of hers, Pedricco, named after her
father Don Petro Alvarez de Toledo, had died at the age of ten months in
June of 1547.71 The child was praised as strikingly beautiful and healthy
in contemporary letters.72 Cosimo I. and Eleonora had a great sense for
dynastic representation, as can be seen from the number of portraits by
Bronzino and other court artists showing the elegant mother together
68 For a discussion of the role of affective ideals in paternal education of the
Renaissance see Armon 2008, 213–227.
69 Murphy 2008.
70 See Edelstein 2004, 71–97.
71 Piero de’Medici, called Pedricco, was born on August 7, 1546 and died on
June 9, 1547. He was the second child, and the first son Cosimo I. lost after
the death of his beloved daughter Bia. See http://documents.medici.org/
document_search_results.cfm and http://www.palazzomedici.it/mediateca/en/
Scheda_Cosimo_I_(1519–1574) (last access Nov. 30, 2016).
72 See the letter from Pier Francesco Riccio to Cristiano Pagni of Nov. 30,
1546, when Pedricco was almost four months old. http://documents.medici.org/
document_search_results.cfm.
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 269
16 Agnolo Bronzino: Eleonora di Toledo with her son (Giovanni de’Medici?),
circa 1546, oil on panel, Galleria degli Uffizi, Florence
270
with her beautiful little sons, presented as her pride and joy (fig. 16).73
Given the family likeness with several of the Medici children painted by
Bronzino, I suggest that the bust of a dead boy in the Bargello collections
is likely to be a posthumous portrait of Pedricco de’Medici, produced
after his death mask.74 This is all the more plausible as we know that a
death mask was taken from Cosimo I.’s favorite daughter Bia, Pedricco’s
half-sister, who died on March 1, 1542 at the age of six.75 Her famous
posthumous portrait by Bronzino was probably also based on this mask
(fig. 17).76 Pedricco was certainly important and loved enough to qualify
as the baby we see in the Bargello bust.77 The family likeness with his
siblings in the portraits by Bronzino is indeed striking, as a comparison
with the famous portrait of Don Garcia de’Medici of 1550 in the Prado
(fig. 18) reveals, who would have been three years at the time.
Their sons were the Medicis’ aspiring new line of rulers’ most im
portant capital. Neither did they belong to the family branch of Cosimo
il Vecchio’s descendants – Cosimo I., condottiere Giovanni dalle Bande
Nere’s son, was from the ‘cadet’ branch of the Medici family – nor could
they boast a long noble lineage: Cosimo I. was only the second duke
of Florence after the assassination of Alessandro de’ Medici in 1537.
Compared to the ancient nobility of Rome and the lords of the courts in
central and Northern Italy he was so eager to marry his daughters off to,
Cosimo was nouveau riche, an arrivé with no bloodline and few aristo
cratic credentials. His spouse and children were his capital: His Spanish
wife Eleonora had produced dutifully and abundantly, and three of her
73 See in particular Heikamp 1955, 133–138. Several of the images of Eleonora
and her male children Francesco, Giovanni, Garzia, and Ferdinando, painted
from age 4 onward, were painted and reproduced in two or three versions to be
sent to important allies such as the pope, ibid., 134.
74 No other images of Pedricco have survived – not a surprise given that he died
at only 10 months. A more comprehensive article on the bust of a dead baby in
the Bargello is in production for 2019. I would like to thank Martin Kemp for
directing my attention toward the children of Cosimo I and Eleonora of Toledo.
75 The standard sourcebook for the Medici under Cosimo is Pieraccini 1924–
1925. In the last line of his entry on Bia de’Medici, Pieraccini records: “Sul
cadaverino fu presa la maschera in gesso,” (“On her body her death mask was
taken in plaster”), ibid., vol 2, 80. He cites as his source Conti 1893, 117.
76 An assumption shared by Murphy 2008, 34.
77 Langedijk 1974, 379, attributes the bust in accordance with Ulrich Middeldorf
to the Florentine sculptor Domenico Poggini, who would have been 26 at the
time of Pedricco’s death and already affiliated with the Medici.
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 271
17 Agnolo Bronzino: Bia de’Medici, circa 1542, oil on wood,
Galleria degli Uffizi, Florence
272
18 Agnolo Bronzino: Don Garcia de’Medici, circa 1550, oil on panel,
Museo Nacional del Prado, Madrid
K O H L: MA R T I A L I V E R N A D U L CI SSI M O 273
sons would survive to become influential men; yet the losses of their other
sons were events that were felt strongly in the closeknit Medici family
whose line had previously been in danger of extinction. Not unlike the
wealthy Roman freedmen, their offspring made up for the obvious lack
of noble lineage. Hence, it does not come as a surprise that the marble
bust of the little Medici boy in the Bargello is fashioned after the types of
bust produced by the most famous artists for the descendants of Cosimo
de’Medici a century earlier. Like those Quattrocento bust portraits, Mino
da Fiesole’s portrait of Piero de’Medici of 1453 being the most famous
of them, the bust of a baby shows the horizontal lower cut which was
already about to go out of fashion in the mid-sixteenth century.78 It ties
in perfectly with the famous bust portraits of the family’s brightest stars
of the Quattrocento, which adorned the rooms in the Palazzo Medici, a
reminiscence of family history, a tribute to the promise of Medici children
and their role in future Florentine politics, but at the same time a state
ment of personal loss and the tragedy of premature death.
IMAGE C REDI T S
1–3, pl. 7 Digital image, courtesy of the Getty’s Open Content Program.
4, 12–13 © Trustees of the British Museum; 5 http://www.ashmolean.org/
ashwpress/latininscriptions/files/2014/08/390coloursnap.jpg.
6 after Mielsch and van Hesberg, 1995, p. 253.
7 after Dasen, 2010, fig. 5.11 (a).
8, 10 The Cleveland Museum of Art, Purchase from the J.H. Wade Fund
1951.288.
9 Davis Museum at Wellesley College, Wellesley, MA.
11 https://images.nga.gov/en/search/do_quick_search.html?q=settignano
14–15 Museo Nazionale del Bargello, Florence.
16 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f0/Bronzino__
Eleonora_di_Toledo_col_figlio_Giovanni__Google_Art_Project.jpg.
17 after Langdon, Gabrielle: Medici Women. Portraits of Power, Love and
Betrayal from the Court of Duke Cosimo I. University of Toronto Press,
2006, pl. 9.
18 after Eclercy, Bastian: Maniera. Pontormo, Bronzino and Medici Florence.
London / New York 2016, pl. 99.
78 For more indepths analyses of this type of Renaissance bust portraits, their
forms, materials and agency see Kohl 2007 (1), 2007 (2), 2008.
274
BIBLIOGRAPHY
Acquisitions 1985 Acquisitions/1985, The J. Paul Getty Museum Journal 14
(1986), 182–83, no. 9.
Ariès, 1960 Ariès, Philippe: Centuries of Childhood: A Social History of
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II. BILDER
H. ALAN S HAPIRO
PORTRAIT OF A CENTAUR
A red-figure bell-krater, made in Athens in the same years as the Parthenon,
depicts a charming pair of a centaur and a young woman that defies easy
interpretation (Figs. 1–2). The third figure in the scene, a woman holding
a pair of torches, suggests that we are in a nuptial setting, since Athe
nian weddings took place at night, and most wedding scenes, whether
mythological or generic, include one or more figures holding torches.1
Furthermore, the young woman wears a bridal veil. There are, however,
no inscriptions on the vase.
The krater is now in a private collection and has been given a full
and careful description by Susan Matheson.2 Following a suggestion
of Anneliese KossatzDeissmann in the LIMC,3 Matheson interprets
the centaur and the woman as the bridal couple, Chiron and his wife
Chariklo. The woman with torches is identified as Philyra, the mother of
Chiron. This apparently straightforward reading nevertheless raises sev
eral questions. As is well known, Chiron stands apart from all the rest of
the race of centaurs, as a wise, dignified, and well-mannered figure (δικαιότατος Κενταύρων: Iliad 11. 832), in contrast to the savage creatures who
wreaked havoc at the wedding of the Lapiths Perithoös and Deidameia,
or the wily and lascivious Nessos, who tried to rape Herakles’ bride
Deianeira and contrived the hero’s death with his dying breath. Chiron’s
most important role in Greek myth is as the tutor and mentor of young
heroes, most famously Achilles, but also Jason, Asklepios, Aktaion and
others.4 But he probably could not have done this as a ‘bachelor’ centaur
1 Oakley/Sinos 1993, 26 and passim.
2 Matheson, in Padgett 2003, 200–202, cat. 38. I am deeply indebted to the
krater’s owner for generously providing access to the vase, as well as the pho
tographs reproduced here.
3 LIMC VII, 387, s.v. Philyra, no. 3.
4 For the ancient sources on Cheiron see LI MC I I I, 237, s.v. Cheiron [M.
GhislerHuwiler].
280
1 Attic red-figure bell-krater attributed to the Eupolis Painter.
Private collection (cf. pl. 8)
living alone in a cave, as the other centaurs seem to do. Rather, he has
two important women in his life, his mother and his wife, Chariklo, who
must have formed a kind of surrogate family for the young heroes when
they were in Chiron’s care. But are these the two women on our krater?
It must be said that in the repertoire of Greek art, neither Philyra
nor Chariklo plays a particularly significant role. The first and only la
beled depiction of Philyra came to light only some 25 years ago, with the
publication of a remarkable pointed amphora of ca. 470 BCE, now on
loan to the Metropolitan Museum in New York (Figs. 3–4).5 In a scene of
the Wedding of Peleus and Thetis that wraps all around the body of the
vase and comprises a variety of divine guests, Philyra stands in front of
the house of her son Chiron, where the wedding will take place. Chiron
5 von Bothmer 1990, 168–71. Cf. LIMC VII, 38, s.v. Philyra, no. 1.
S H A PIR O : P O R T R A I T O F A CE N TA U R 281
himself stands at the entrance to the house to receive the groom, Peleus,
who solemnly leads his bride by the hand.
The Copenhagen Painter has here revived a scene that harks back
about a century, to Kleitias’s depiction of the Wedding of Peleus and Thetis
on the François Vase as a procession of gods and goddesses in chariots and
on foot, and to an even earlier version by Sophilos.6 Though these early
scenes do not include a woman who could plausibly be Philyra, it is surely
no accident that our only inscribed representations of her daughterinlaw
Chariklo appear in these same early representations of the Wedding of
2 Detail of the krater in Fig. 1
6 Dinos signed by Sophilos: London, BM 1971.11–1.1; Williams (1983). François
Vase: Florence 4209; ABV 76, 1; Shapiro / Iozzo / LezziHafter 2013, esp. pll. 23–26.
282
Peleus and Thetis.7 Chiron and his family were always intimately bound up
with that of Peleus and Thetis, not least in ‘sharing’ the young Achilles.8 A
fragment of a third vase also includes Chariklo, a dinos by Sophilos that
must have depicted virtually the same scene as his wellpreserved dinos in
the British Museum.9 On all three, Chariklo is not alongside her husband
Chiron, but instead she is together with three other mature goddesses,
Hestia, Demeter, and Leto. Her presence is nevertheless significant, since
the scenes are all about marriage, and Chiron’s wife should not be absent.
Yet it is not clear how Sophilos and Kleitias knew about Chariklo, since
she is not mentioned by name in Hesiod’s Theogony, the one poem where
virtually every other figure on these vases can be found, much less in
Homer, who makes only a few passing references to Chiron in the Iliad,
mostly with reference to his medical knowledge.10 A Scholiast to Pindar
and a fragment that may be from the pseudoHesiodic Catalogue of Women
both say that Chiron was married to a Naiad, but without naming her.11
It seems to me there are several difficulties with seeing Chiron and
Chariklo as a bridal couple on the Eupolis Painter’s krater (Figs. 1–2).
The centaur places his right hand gently on the bride’s shoulder as he
turns back to look at her. As Matheson observes, his mouth is slightly
open “as he speaks words of encouragement.” 12 His is a tender gesture
that at first seems to speak to us directly of the intimacy and affection
of a happy couple on their wedding day. But to think this would be
anachronistic, since this is precisely not how Greek artists depict bridal
couples in this period.13 The pointed amphora discussed earlier is a better
guide to the standard motif (Fig. 3): Peleus leads his bride by the hand,
cheir’ epi karpoi, and instead of looking at her, he looks straight ahead, at
Chiron.14 There is no trace of interaction or affection between bride and
7 Chariklo on the Sophilos dinos: Williams 1983, 23, Fig. 26; on the François
Vase: Shapiro / Iozzo / LezziHafter 2013, pl. 25.
8 For scenes of Peleus (sometimes accompanied by Thetis) bringing the young
Achilles to Chiron, see LIMC I, 45–47, s.v. Achilleus [A. KossatzDeissmann].
9 Athens, Akr. 587; ABV 39, 15; Bakır 1981, 64–65; pl. 3.
10 4. 219, on Chiron giving special pharmaka to Asklepios, father of Machaon;
11. 832, on the medical skills that Chiron taught Achilles; and 16. 143; 19. 390,
on the ashen spear given to Peleus by Chiron.
11 Schol. Pindar, Pythian 4. 182; Catalogue of Women Fr. 162 Most. West 1985, 136
argues that the poem was composed in Athens between ca. 580 and 520.
12 Matheson, in Padgett 2003, 200.
13 For the iconography of weddings see Oakley/Sinos 1993, esp. 45.
14 Above n. 4. For a detail see von Bothmer 1990, 170.
S H A PIR O : P O R T R A I T O F A CE N TA U R 283
groom. The intimate rapport between woman and centaur on our krater
must have a different meaning.
A broader problem is that there is no reason to think that the “Wed
ding of Chiron and Chariklo” was an episode recounted in the epic
tradition, or anywhere else. That tradition is filled with elaborate tales of
the weddings of heroes to goddesses or heroines: Menelaos and Helen;
Kadmos and Harmonia; and of course Peleus and Thetis, the most glit
tering wedding of them all. Poets and painters were not much interested
in exploring the love life or marital status of a centaur.
Chiron did, however, play a complex and recurring role in the story
of Peleus and Thetis that can be reconstructed from a variety of literary
and iconographical sources.15 When the young Peleus had gone to Iolkos
in Thessaly, he was ill treated by the local king, Akastos, and his wife
Hippolyta. She tried and failed to seduce Peleus, then lied to her husband
that it was Peleus who had propositioned her (a motive better know from
the story of Phaidra and Hippolytos, or Joseph and Potiphar’s Wife in the
Old Testament). As punishment, Akastos lured Peleus to Mt. Pelion and
there hid his sword, so that he would be prey to the wild centaurs living
there.16 It was Chiron who saved Peleus’ life by returning the sword to
him. Later, when the gods had decided to marry Thetis off to the mortal
Peleus, much against her will, they chose Chiron as the intermediary to
inform Peleus of his good fortune and advise him on how to overcome
her shapeshifting attempts to elude his grasp – a favorite motif of the
vasepainters.17 And finally, it was at Chiron’s cave on Pelion that the
wedding would take place.
Chiron was thus involved every step of the way in the early life of
Peleus and his courtship of his bride. Thetis was the daughter of the sea
god Nereus, who does attend her wedding on the François Vase, together
with his wife Doris, though in the back half of the procession.18 Who
better than Chiron to play the role of the father of the bride, to counsel
her before the wedding, as I believe we see him doing on our bellkrater?
Thetis was never thrilled with the choice of a mortal hero for her husband,
even though, according to one tradition, the gods chose Peleus for his
extraordinary virtue (εὐσεβέστατον: Pindar, Isthmian 8. 40). With a gentle
15 For a thorough treatment see March 1985, 3–26.
16 For scenes of Peleus “treed” by wild beasts see LIMV VII, 253, s.v. Peleus,
nos. 9–10. Cf. Pindar, Nemean 4. 59–61 for Chiron’s rescue of Peleus.
17 Krieger (1973).
18 Shapiro / Iozzo / LezziHafter 2013, pl. 25
284
3 Attic redfigure pointed amphora attributed to the Copenhagen Painter.
Collection of Shelby White, on loan to the Metropolitan Museum of Art,
New York
S H A PIR O : P O R T R A I T O F A CE N TA U R 285
4 Attic redfigure pointed amphora attributed to the Copenhagen Painter.
Collection of Shelby White, on loan to the Metropolitan Museum of Art,
New York
286
gesture and words of reassurance, Chiron prepares her for the (unseen)
groom who is like a son to the wise centaur.19
To quote Matheson once again, “their relationship seems to be one of
trust.”20 But it is not the trust of a bride and groom, but rather the trust placed
by Thetis in the one individual who has not betrayed her. According to our
sources, Thetis had resisted the advances of Zeus out of respect for Hera, who,
as Homer tells us, had virtually raised Thetis from a child (Iliad 24.59–60).21
But even Hera could not prevent her husband from marrying Thetis off to
a mortal man. Chiron had won the trust of Peleus with his steadfast protec
tion and counsel, and it is in Chiron alone that Thetis also puts her trust.
Although the literary sources do not discuss precisely how the rela
tionship between Thetis and Chiron evolved, a hint may be offered by a
pair of vases of an earlier period. Because of the overwhelming number
of depictions of Peleus struggling with Thetis as she changes shape, of
ten in the presence of Chiron casually observing, we may be inclined to
imagine that Peleus literally wrestled his bride to the altar, like an ancient
version of Shakespeare’s Taming of the Shrew. But these two vases suggest
a longer and more conciliatory sequence of events.
On the Berlin Painter’s stamnos in Palermo,22 Peleus leads Thetis by the
hand toward Chiron, who, with a sweeping gesture of his right hand, gives
her a hearty welcome. Thetis daintily holds out the edge of her garment
with one hand and does not offer any resistance. The ‘taming’ is accom
plished, and Peleus introduces his future wife to the kindly centaur who
has been his benefactor and will now take the bride under his … haunches.
The second vase, a generation earlier and attributed to the black-figure
Acheloos Painter,23 offers a somewhat puzzling antecedent to the scene by the
19 The deliberate omission of a key figure in the story (Peleus) is not an ob
stacle to this interpretation. One need only think of Sophilos’s dinos in London
(supra n. 5), where the bride, Thetis, is nowhere to be seen. To think that
Kleitias “corrected” this omission by putting Thetis inside the house on the
François Vase would be to misunderstand the varieties of narrative techniques
with which Attic vase-painters experimented. For a parallel closer to the date
of our krater, one might consider the wellknown epinetron that is the name
vase of the Eretria Painter: Athens NM 1629; ARV 2 1250, 34; SimonHirmer
1981, 146–47, pl. 216. There are two ornate scenes of weddings, Harmonia and
Kadmos, Alcestis and Admetos, but in both cases the bridegroom is absent.
20 Matheson, in Padgett 2003, 200.
21 March 1985, 8.
22 Palermo V 762; ARV 2 207, 139; LIMC III, 240, s.v. Cheiron no. 40 and pl. 190.
23 Berlin F 1900; ABV 385, 27; LIMV VII, 265, s.v. Peleus, no. 196; pl. 203.
S H A PIR O : P O R T R A I T O F A CE N TA U R 287
Berlin Painter. At the right, a rather animated Peleus approaches Chiron with
a spring in his step and thrusts a bud under the centaur’s nose. With his left
hand Peleus gestures toward his own nose, as if to emphasize the sweet smell
he now shares with Chiron. Behind Peleus follows Thetis, likewise moving
briskly and with no sign of reluctance. The torches in both of her upraised
hands must be a proleptic reference to the impending wedding. None of
the figures is labeled (though there are many nonsense inscriptions run
ning throughout the scene), but one hint at their identities is that Thetis is
slightly taller than her future husband, as befits her status as a goddess. The
rectangular picture field is abbreviated at both left and right, with Chiron’s
horse body, at right, and the back end of a quadriga, at left, beside which
stands a bearded male, cut off at the decorative border. This illusionistic
device is a favorite among certain black-figure painters in this period.24
We now understand that the torches held by the woman at left on the
Eupolis Painter’s krater have a proleptic meaning as well (Fig. 1). That
is, this is not a wedding scene per se. The image is complete in itself and
does not require us to think that it has been excerpted from a larger scene
of the wedding, with Peleus lurking somewhere out of sight. It is a quiet
moment shared by Chiron and Thetis as she mentally prepares herself for
the wedding that is quickly approaching. The empathy and psychological
insight conveyed by the artist are indeed rare in Attic vasepainting, but
it is precisely in this period that other examples may be found.25
The torchbearer on the krater could in fact be Chiron’s wife
Chariklo. As KossatzDeissmann pointed out, this woman’s hairstyle is
not that of a mature woman like Philyra,26 as Matheson would have it,
but it would suit the younger Chariklo. The reverse of the krater shows,
as often in this period, a less ambitious and less finely drawn grouping
of three figures. The white-haired and white-bearded man in the middle
(most of the white has flaked off), carrying a staff, could be Thetis’s father
Nereus, surrounded by two of her sister Nereids.
The figure of Chiron here is remarkable in several ways. As early
as Sophilos, Chiron had distinguished himself from the other centaurs,
wild and naked creatures of nature, by wearing men’s clothing over the
24 Cf. the hydria belonging to the Leagros Group with the sacrifice of Polyxena,
Berlin F 1902; ABV 363, 37; LIMC VII, 433, s.v. Polyxene, no. 22; pl. 347.
25 Cf. for example the scene of Helen’s conflicted emotional state when she first
glimpses Paris arriving at the Palace of Menelaos: cup, Berlin F 2536; ARV 2 1287,
1. I have illustrated and discussed this scene in Shapiro 2005, 52–53, Fig. 5.12.
26 LIMC VII, 387, s.v. Philyra, no. 3.
288
human portion of his body that often masks the transition from man
to horse.27 Here his only garment is an animal skin draped artfully over
the left shoulder. In keeping with a new trend in vasepainting after the
middle of the fifth century, his only human part is from the waist up;
there are no human legs as had been the norm for Chiron in the Archaic
period, starting with the dinos by Sophilos, and continuing well into the
Classical.28 Yet at the same time that Chiron’s body belongs more than
ever to the animal world, his head is an astonishingly sensitive portrait
of a mature man who finds himself in a very delicate situation.
Several physiognomic elements of Chiron’s head and face that belong
neither to the norms of Greek men nor to those of centaurs make this de
piction of Chiron unique. One is struck, for example, by the gently hooked
nose that is unlike the standard nose of a Greek man (or woman), a straight
line running down from the forehead and sometimes curving slightly up
ward at the tip. There are no aquiline noses on Greek vases, like that of, say,
Kleopatra VII of Egypt,29 though we shall shortly see a spectacular example
of one in the art of the Classical period. Chiron has a slight indentation
at the bridge of the nose, just enough to give him some ‘character.’ It is, of
course, not the snub nose of some centaurs that assimilates them to the
model of satyrs. The closest, though not exact, comparisons for Chiron’s
nose are two examples that are both associated with Thrace.
In the decade after the Persian Wars, a new iconography is created
by red-figure vase-painters for the Thracian wind god Boreas, in scenes
of his abduction of the Athenian princess Oreithyia.30 In addition to the
wildly windblown hair and beard, the earliest instance of the subject, on
a wellknown pointed amphora in Munich, gives Boreas a hooked nose.31
A second, even more exaggerated example is the depiction of a Thracian
nurse holding the head of the deceased woman on an equally famous
funerary loutrophoros in Athens.32 All commentators have called atten
tion to the indications of her advanced age (sagging flesh), servile status
(closecropped hair), and Thracian origin (tattooed cheek, reddish hair).
But not all have observed her decidedly unGreek nose.33
27
28
29
30
31
32
33
Williams 1983, 24, Fig. 27.
See Schiffler 1976, 37.
See Smith 1988, 132–34.
KaempfDimitriadou 1979, 36–37.
Munich 2345; ARV 2 496, 2; CVA (Munich 4) pl. 207, 2 for a detail of the nose.
National Museum 1170; ARV 2 512, 12; CVA (Athens 2) pll. 21–26.
See especially PfistererHass 1989, 27, who questions whether the “tattoo”
S H A PIR O : P O R T R A I T O F A CE N TA U R 289
I am not suggesting that Chiron is here intended to be characterized
as a Thracian, only that he diverges, with respect to his nose, just enough
from the Athenian norm to be a highly individualized figure. In a some
what similar way, the figure of Chiron on a calyx-krater by the Niobid
Painter wears high-laced boots with leather flaps that have a Thracian
association.34 Yet nothing else in his rather distinguished appearance
(including a prominent wreath in his hair) suggests a Thracian, only a
touch of exoticism implied by the boots. In fact, both Boreas and the
Thracian slave woman have a large and thick nose, not merely crooked, in
comparison with the Greek ideal, presumably as traits of their barbarian
nature, while Chiron’s nose is delicate and well proportioned, with just a
slight departure from the perfectly straight Greek nose.
Something similar could be said of his hair and beard. While at
first glance the hair looks unkempt and the beard long and straggly in
comparison with the Greek citizen or heroic ideal, a closer look suggests
that both are quite artfully arranged and carry a particular message. The
hair is thick in the back and at the side, completely covering the ear, so
that we cannot tell if it was human or equine, ending in a fringe of short
locks. From the crown, the hair is combed forward and ends in a neat row
of bangs across the forehead. The mustache does not simply merge into
the beard, as is almost always the case, but is rendered in dilute glaze and
looks as if it has been trimmed just enough to cover the upper lip but no
more. The overall impression is that of a dandy who is just past his prime.
Our krater falls into a period when Greek sculptors had only recently
begun to create individual portrait types for contemporary notables. One
thinks especially of Themistokles and Pindar in the generation before
our vase and Perikles a few years later.35 In addition, there are retrospec
tive portraits created in the years before and after the middle of the fifth
century, such as those of Homer and Anakreon.36 We will not find a single
might be just wrinkles in the face, but notes especially the unidealized nose.
That Athenian painters were not far off in their depiction of hookednosed
Thracians is now confirmed by a recently excavated bronze portrait head of
the Odrysian King Seuthes III, dated to the end of the fourth century: Sofia,
Bulgarian Academy of Sciences inv. No. 8594; Daehner/Lapatin 2015, 202–203,
cat. 9 [M. Reho].
34 Boston 1972.850; Prange 1989, 188, N34, pl. 36; LIMC III, 240, s.v. Cheiron,
no. 33; pl. 189.
35 RichterSmith 1984, 210–211 (Themistokles); 177–80 (Pindar); 173–75 (Perikles).
36 Ibid., 140–41 (Homer, Epimenides Type); 83–86 (Anakreon).
290
5 Bronze head from the Porticello Shipwreck. Reggio Calabria,
Museo Archeologico Nazionale
S H A PIR O : P O R T R A I T O F A CE N TA U R 291
6 Bronze head from the Porticello Shipwreck. Reggio Calabria,
Museo Archeologico Nazionale
292
portrait type that matches all the features of Chiron, but it seems to me
very likely that such early experiments in individualized, physiognomic
portraiture have influenced the Eupolis Painter’s unusual depiction of
Chiron.37 Matthias Hofter has suggested that the portrait of Pindar created
toward the end of his life, ca. 460–450, is partly indebted to such images
of centaurs as those in the Olympia West Pediment.38 Furthermore, for
Hofter, there is a deliberate identification between Chiron, whose wisdom
and guidance are celebrated in Pindar’s epinician odes as nowhere else
in Greek literature, and the poet himself, who is a kind of intermediary
between the wise centaur and the young athletic victors whom Pindar
seeks to instruct.39
A close contemporary of our Chiron is the wellpreserved bronze
head from the Porticello shipwreck (Figs. 5–6), which Brunilde Ridgway,
in a thorough discussion of its style, technique, and iconography, dates
to ca. 440.40 Rejecting the often-expressed idea that, with his unusually
long beard, he could represent a specific philosopher of the period, she
identifies the subject as a ‘nonhuman’ individual, with Chiron as the most
likely candidate.41 All of her closest parallels for the head, especially the
shape of the forehead and the pronounced aquiline nose, are centaurs
from Olympia and, even closer, from the Parthenon South Metopes.42
The Porticello head shows a man in late middle age. While it is
hard to compare the rendering of hair or beard in vasepainting with
sculpture in the round, the bronze head has hair that is not as full as
37 This is not to suggest that such individualized portraits are at all common
on vases of this period. As a counter-example, one could think of a bell-krater
of the 430’s with a scene of sacrifice, in which all five men are identified by
inscriptions as historical Athenians of the later fifth century: Boston 95.25;
ARV 2 1149, 9; CaskeyBeazley 1963, 76–78. All of these are “portraits” in the
sense that the names of real people are attached, yet the painter has made no
attempt to characterize them at all differently from one another or from count
less idealized male figures of this period.
38 Hofter 2005, 223.
39 Ibid., 230–32. Hofter particularly calls attention to Pindar, Pythian 9, in
which Chiron gives wise advice not to a mortal, but to the god Apollo, for his
pursuit of the nymph Cyrene.
40 Eisman/Ridgway 1987, 100–102.
41 Ibid., 104–105.
42 South Metopes S 26, S 31, S 32: Brommer 1967, pll. 212; 223; 237. For the
best overall parallel to the Porticello head, Ridgway suggests S 1, Brommer 1967,
pl. 157.
S H A PIR O : P O R T R A I T O F A CE N TA U R 293
Chiron’s but also ends in bangs combed carefully across the forehead.
The beard has an unusual arrangement of tiered locks descending from
the chin43 – again, not quite the same as Chiron’s, but his does have
an extra row of less voluminous locks hanging from the main mass of
the beard. Whether or not both of them were meant to depict the same
individual, namely Chiron, I think we can confidently say that these two
contemporary, unusually sensitive renderings of a thoughtful individual
with a penetrating gaze represent a particular stage in the evolution of
genuine portraiture in Greece.44 It may seem paradoxical that these early
experiments in an especially humanistic and long-lived art form are not
of humans at all, but a hybrid, mythical creature. But, as we have learned
from much of the research conducted at Morphomata since 200945 an
image created at one point in time (High Classical Greece) and with one
particular meaning (Chiron) could be adapted, reworked, or reimagined
in many later periods to represent many different figures. The unusually
‘humane’ qualities that the Eupolis Painter’s Chiron expresses – sym
pathy, understanding, affection – are ones that will have a long and rich
history in European art.
IMAGE C REDI TS
1 – 2, pl. 8 Photo courtesy of the owner.
3– 4 Photo courtesy of the Museum.
5 –6 Photos DAI Rome.
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43 See Eisman/Ridgway 1987, 101; 104.
44 For a recent discussion of the origins and definition of portraiture as “physi
ognomic likeness” in Classical Greece, see Dillon 2006, 8, 176–77, nn. 52–55,
with earlier references.
45 E.g. Boschung 2011.
294
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PAOLO LIVERANI
IL RITRATTO DIPINTO IN
ETÀ TARDOANTICA
La ricerca sul ritratto antico – e su quello romano in particolare – ha
una robusta tradizione e la bibliografia relativa è così vasta che è quasi
impossibile dominarla completamente. La documentazione, tuttavia, è
decisamente sbilanciata: di fronte a un’eccezionale varietà e ricchezza di
attestazioni relative ai ritratti in scultura (statue, busti, erme, bassorilievi,
sarcofagi), si ha una altrettanto straordinaria scarsità di ritratti in pittura,
se si prescinde dall’importantissimo nucleo di ritratti egiziani da El
Fayum.1 Una sintesi delle nostre conoscenze sul tema è disponibile grazie
all’opera di Maria Nowicka,2 ma ciononostante il tema non ha ricevuto
tutta l’attenzione che meriterebbe. Questa asimmetria della documenta
zione condiziona negativamente la comprensione del fenomeno comples
sivo ed è necessario uno sforzo per cercare di riequilibrala, nei limiti del
possibile. Sono diversi gli aspetti da sottoporre a più approfondito esame:
da una parte andrebbero messi meglio a fuoco alcuni concetti fondamen
tali, quali la definizione stessa di ritratto. Ormai, infatti, le classiche defi
nizioni di Bianchi Bandinelli3 e Metzler,4 da cui ancora dipende il quadro
teorico della Nowicka, sono superate 5 e non possono rendere conto, per
esempio, dell’evidenza tarda proveniente dalle catacombe, recentemente
riconsiderata in maniera complessiva da Norbert Zimmermann.6 Dall’altra
parte proprio in età tarda la documentazione delle fonti scritte è più ricca
1
2
3
4
5
6
Parlasca 19692003.
Nowicka 1993a, 112.
Bianchi Bandinelli 1965.
Metzler 1971.
Cfr. Gazda/Haeckl 1997.
Zimmermann 2007; Zimmermann 2012.
296
e ci fa intravedere una fioritura del ritratto dipinto, soprattutto su tavola,7
ma solo una parte dei testi che nella patristica e negli apocrifi cristiani
trattano della pittura in genere e del ritratto in particolare sono stati
esaminati e si attende ancora una esplorazione più sistematica. Non è
questo il luogo per tentare una così vasta impresa, ma si cercherà almeno
di fornire un saggio dei dati che si possono ricavare da questa indagine,
di focalizzare alcuni dei problemi aperti e di mostrare alcune conseguenze
che un riequilibrio della documentazione ha sulla concezione del ritratto,
particolarmente per quel che riguarda l’età tardoantica.8
QUES TIONI D I TER MIN O LO G IA
In latino il termine usato comunemente per indicare il ritratto è imago, che
ha una sua specificità: non può infatti essere utilizzato per le divinità, per
le quali si usa piuttosto il termine signum.9 Imago, inoltre, porta con sé un
accento particolare – anche se assolutamente non esclusivo – sulla conno
tazione funeraria.10 Si pensi al ius imaginum in età repubblicana, riservato
ai membri della nobiltà romana.11 I termini statua e simulacrum, invece,
sono più ambigui, ma tendenzialmente il primo è più adatto a indicare
un ritratto umano, il secondo una statua di divinità.12 Nella Roma repub
blicana l’imago poteva essere quella di cera conservata nell’atrio oppure
la imago picta, probabilmente su tavola, che serviva a presentare l’albero
genealogico del padron di casa mediante linee colorate che collegavano i ri
tratti e mostravano i rapporti di discendenza.13 In età tarda abbiamo infine
l’imago laureata: il ritratto dell’imperatore (generalmente su tavola, dipinta
a tempera o a encausto) coronato e presentato cerimonialmente nelle varie
città dell’impero. Ad esso si può alludere anche come sacer vultus.14
7 Come riconosce già Nowicka 1993a, 49, 62.
8 Ho anticipato alcune osservazioni in Liverani 2015a, 102104; Liverani 2016a.
9 Daut 1975 che osserva come il temine imago sia usato talvolta per indicare
opere d’arte, in tal caso può designare anche divinità; cfr. inoltre Pucci 1991; in
età tarda potevano avere un signum anche imperatori e santi.
10 Flower 1996; Bettini 2000.
11 Rollin 1979, 537; Pucci 2012.
12 Stewart 2003, 1935; Lahusen 1982, 101109.
13 Plin., Nat. Hist. 35.6: stemmata vero lineis discurrebant ad imagines pictas. Sugli
stemmata Nowicka 1993a, 165169; Dimatteo 2014, 4344.
14 Cod. Theod., 13.4. 4 (374 d.C.).
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 297
1 Tondo di con ritratto dei Severi, Musei di Berlino (cfr. tav. 9)
In greco la coppia ἄγαλμα – εἰκών è in qualche modo parallela per
significato all’opposizione tra signum e imago nella terminologia romana,
ma esistono alcune differenze: ἄγαλμα più che la statua della divinità è
la statua a cui viene tributato un culto e quindi talvolta può essere usata
anche per gli uomini, mentre εἰκών in età cristiana può riferirsi anche a Dio
(in contrapposizione a εἴδωλον).15 La terminologia epigrafica – soprattutto
ellenistica – conosce il ritratto dipinto (εἰκών γραπτή), talvolta a grandezza
naturale (εἰκών τελέια) oppure nella forma che latinamente chiamiamo
imago clipeata (εἰκών ἐν ὅπλῳ / ἐν ἀσπιδίῳ) o infine il ritratto dipinto dorato
15 Robert 1960; Saïd 1987; Koonce 1988; Bremmer 2008, 2; Bresson 2012.
298
(εἰκών γραπτὴ ἐπίχρυσος), ossia con il fondo dorato o eventualmente con
applicazioni di decorazioni dorate.16 Fonti papiracee (P.Oxy III 473; BGU II
362) trasmettono anche il termine εἰκονίδιον, che deve essere interpretato
come una variante dell’εἰκών ἐν ἀσπιδίῳ: probabilmente ne possediamo
un esempio nel famoso tondo di Berlino con il ritratto della famiglia di
Settimio Severo17 (fig. 1; tav. 9). Nell’esame della terminologia greca si deve
considerare χαρακτήρ, un termine utilizzato in età imperiale avanzata e in
epoca bizantina con un’accezione particolare: nel senso di volto, ma anche
di ritratto o di sembianze.18 Troviamo anche il prestito dal latino laureata19
e l’equivalente di sacer vultus: θείος εἰκών.20 Infine è attestato γραφίς21 nel
senso di dipinto, o χρυσεὶη γραφίς,22 per un dipinto a fondo d’oro.
IL RITRATTO NEL LA SCULTUR A
In età tarda si assiste a un’evoluzione che solo grazie agli studi più recenti
ha iniziato a delinearsi più chiaramente, per lo meno nelle sue linee essen
ziali. I ritratti in scultura – come è noto – diminuiscono progressivamente
fino a scomparire completamente all’inizio del VII secolo.23 Le cause sono
molteplici, ma la principale dev’essere di carattere sociale: per dirla in
breve, il ritratto onorario perde il suo significato e la sua funzione: esso,
infatti, non serve più per mostrare il legame tra l’onorato e la sua clientela
o il gruppo che lo sostiene, in quanto la carriera e la fortuna politica di
un personaggio sono legate essenzialmente al favore dell’imperatore e
dell’ambiente di corte e sempre meno alla sua base sociale. Di conseguen
za, tra IV e VI secolo, le statue e i ritratti onorari non solo si riducono di
numero, ma raffigurano solo poche persone: l’imperatore, la sua famiglia
16 Blanck 1968; Nowicka 1993a, 1315; Bresson 2012.
17 Łukaszewicz 1987; Heinen 1991; Nowicka 1993b; Nowicka 1994.
18 Sophocles 1893, s.v. χαρακτήρ; Lampe 1961, s.v. χαρακτήρ, 2.
19 Nowicka 1993a, 4950.
20 Robert 1960.
21 Agathias, AP I. 35; I. 36; IV. 4; V. 297; VII. 589; XVI. 36; XVI. 41; XVI. 80;
Cometas, AP IX. 592; Leontius, AP XVI. 32; Philippus, AP XVI. 137; Iulianus,
AP XVI. 181; Synesius, AP XVI 267; Paul. Silent., AP XVI. 277; Eus., Hist. Eccl.
9.11.2.
22 AP XVI 45.
23 Smith 1985, 215219; Kiilerich 1993, 8597; Hannestad 1999; Witschel 2007;
Anderson 2008; Machado 2010; Gehn 2012; Liverani 2015a; Kiilerich 2015, 35
40; Liverani 2016a; Anderson 2016.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 299
e una ristretta élite di corte, con pochissime eccezioni.24 In particolare la
statuaritratto dell’imperatore acquista un risalto inversamente propor
zionale alla sua frequenza: essa viene collocata in posizioni dominanti e
ha una particolare fortuna il monumento a colonna (Säulenmonumente),
in cui la statua viene a coronare una colonna eretta in posizione stra
tegica25 a marcare un nodo urbanistico come perno e traguardo visivo
che organizza lo spazio cittadino,26 anche in connessione con lo sviluppo
delle processioni, che in ambito civico – e successivamente ecclesiastico
– ordinano e strutturano la vita delle città.27
Va inserita a questo punto la discussione di un importante lavoro
di Benjamin Anderson,28 che osserva come in età tardoantica il ritratto
dell’imperatore non venga ormai più dedicato che da un ristretto numero
di altissimi funzionari: il prefetto urbano e quello del pretorio. A parti
re dal VI secolo le fonti scritte trasmettono solo un paio di casi in cui
personaggi differenti (un chartularius e due capi delle fazioni del circo a
Costantinopoli) dedicarono ritratti imperiali, ma con una reazione estre
mamente negativa da parte dell’imperatore. In questo periodo la dedica
di ritratti imperiali sottostà a regole molto stringenti e a un controllo
ferreo. Il ritratto scultoreo, infatti, proprio per l’estrema polarizzazione
sociale tra l’imperatore e i suoi sudditi e per l’esaltazione delle sue rap
presentazioni figurate, poteva diventare il bersaglio di rivolte popolari
che manifestavano l’opposizione all’imperatore. Tra esse la più nota è
la rivolta delle statue di Antiochia nel 387, ma abbiamo altre tracce di
avvenimenti simili dalle fonti scritte e forse anche dalle testimonianze
archeologiche.29 Non mancano infine casi di epigrammi satirici riferiti
a ritratti imperiali, sintomo di una contestazione meno violenta, ma in
ogni caso politicamente insidiosa. Secondo Anderson, dunque, questi
monumenti cambiarono il loro significato: concepiti inizialmente come
attestazioni onorarie per la vittoria e la generosità dell’imperatore, inco
minciano a essere percepiti come espressione di un crescente dispotismo
24 Di fondamentale importanza per queste indagini è la banca dati online
dell’università di Oxford Last Statues of Antiquity http://laststatues.classics.ox.ac.
uk/. Tra le principali eccezioni sono gli aurighi a Costantinopoli: Cameron 1973.
25 Jordan–Ruwe 1995.
26 Liverani 2015a.
27 Per le processioni civiche cfr. Dey 2015 con argomenti interessanti, ma talvol
ta un po’ forzati; sulle processioni ecclesiastiche Baldovin 1987; Romano 2014.
28 Anderson 2016,
29 Liverani 2015b.
300
e generano resistenza e reazioni che possono arrivare fino alla violenza.
Questo quadro spiegherebbe l’assenza di ritratti imperiali nel secolo che
va dall’ultima attestazione di una statua dedicata a Foca (602-610) fino alla
ripresa delle dediche, che avviene con Filippico Bardane (711713). Pochis
sime eccezioni sono attestate altrove (a Ravenna e forse a Salonicco), ma
si tratterebbe di monumenti che hanno un significato locale, non ricolle
gabile direttamente alla committenza imperiale o alla corte. L’assenza di
ritratti imperiali, in conclusione, non sarebbe un fenomeno limitato alla
scultura, ma – se escludiamo le emissioni monetali – coinvolgerebbe tutte
le altre espressioni figurative: i ritratti su tavola, i mosaici e gli affreschi.
Dunque non si tratterebbe di una sostituzione della scultura da parte di
altri mezzi di rappresentazione (la pittura e il mosaico), ma di un vero e
proprio bando del ritratto imperiale per almeno un secolo.
Questa ricostruzione appare di grande interesse e fondata su buoni
argomenti, soprattutto per quel che riguarda il ritratto scultoreo. Si può
invece nutrire qualche riserva sulla sua estensione ai ritratti che – per
semplicità – chiameremo bidimensionali (su tavola, affresco o mosaico).
Si deve tenere conto innanzitutto dei limiti della nostra documentazione
poiché la scultura – almeno quella a carattere pubblico – ha una mag
giore rilevanza nella documentazione scritta antica e una maggiore ric
chezza di attestazioni archeologiche di quanto non avvenga per le tavole
lignee – tutte ovviamente perse a causa della deperibilità del materiale.
Queste inoltre non erano dotate di iscrizioni su pietra, che invece – nel
caso della scultura – possono rimanere a documentare l’esistenza di un
ritratto anche dopo la sua scomparsa. Se infine teniamo conto del fatto
che le rappresentazioni imperiali ad affresco e a mosaico nelle chiese di
Costantinopoli e nell’impero d’oriente possono essere state coinvolte dalle
distruzioni iconoclaste, ci accorgiamo che l’assenza di documentazione
non necessariamente è documentazione di una assenza.
IL RITRATTO IMP ER IAL E SU TAVO LA
Limitiamo per il momento il discorso ai dipinti su tavola: anche questi
vennero certamente coinvolti nelle distruzioni dovute a damnatio memoriae o a rivolte popolari. Quanto alle prime si può ricordare che Costantino
iniziò le ostilità contro Massimiano distruggendone i ritratti30 e lo stesso
30 Lact., De mort. pers. 42, 1. 2: imagines ubicumque pictus esset, detrahebantur.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 301
avvenne con Massimino,31 ma quando si scontrò con Licinio quest’ultimo
distrusse a sua volta i ritratti del rivale.32
Quanto alle seconde, invece, le fonti relative alla Rivolta delle statue di
Antiochia attestano che la folla si accanì contro i ritratti imperiali dipinti
mediante il lancio di pietre prima di assalire le statue.33 Altre fonti sono
più generiche, ma fanno comprendere che l’assalto ai ritratti imperiali
durante una rivolta non dovette essere un fenomeno così raro: Giovanni
Crisostomo, in un frammento di omelia perduta, chiede retoricamente:
«Non sai che, se qualcuno percuote un’immagine dell’imperatore costitui
ta da (una tavola di) legno o da una statua di bronzo, egli non è giudicato
per aver osato infierire contro una materia senza vita, ma per aver portato
violenza contro l’imperatore?».34 Lo stesso concetto è ripetuto anche in
un’omelia pseudobasiliana,35 nonché da Anastasio di Antiochia36 nella
31 Eus., Hist. Eccl. 9.11.2: Γραφαί τε ὅσαι εἰς τιμὴν αὐτοῦ [scil. Μαξιμίνου] τε καὶ
τῶν αὐτοῦ παίδων κατὰ πᾶσαν ἀνέκειντο πόλιν, αἳ μὲν ἐξ ὕψους εἰς ἔδαφος ῥιπτούμεναι συνετρίβοντο, αἳ δὲ τὰς προσόψεις ἠχρειοῦντο σκοτεινῷ χρώματι καταμελανούμεναι. «Di tutti i ritratti dipinti in suo onore o dei suoi figli esposti in ogni
città, alcuni furono buttati a terra e fatti a pezzi, altri ebbero i volti cancellati,
annerendoli con colore scuro» (trad. G. Lo Castro con correzioni).
32 Exc. Vales. 15: Constantini imagines statuasque deicerat.
33 Lib., Or. 22.7; Ioh. Chrys., In sanctum Flavianum Antiochenum, fr. in Ioh.
Damasc., De imag. or. III. 102 (PG 94, 1400 B; ed. Kötter p. 188).
34 Ioh. Chrys., In parabola de sem., fr. in Ioh. Damasc., De imag. orat. II, 61 (PG
94, 1313 C; ed. Kötter p. 163): Οὐκ οἶδας ὅτι, ἐὰν εἰκόνα βασιλέως ὑβρίσῃς, εἰς
τὸ πρωτότυπον τῆς ἀξίας φέρεις τὴν ὕβριν; οὐκ οἶδας ὅτι, ἐάν τις εἰκόνα τὴν ἀπὸ
ξύλου καὶ ἀνδριάντος χαλκοῦ κατασύρῇ, οὐχ ὡς εἰς ἄψυχον ὕλην τολμήσας κρίνεται,
ἀλλ’ ὡς κατὰ βασιλέως κεχρημένος τῇ ὕβρει; Εἰκόνα δὲ ὅλως βασιλέως φέρουσα,
τὴν ἐαυτῆς ὕβριν εἰς βασιλέα ἀνάγει. «Non sai che, se fai offesa a un’immagine
dell’imperatore, tu trasporti l’offesa della dignità su colui che ne è il prototipo?
Non sai che, se qualcuno percuote un’immagine dell’imperatore costituita da
(una tavola) di legno o da una statua di bronzo, egli non è giudicato per aver
osato infierire contro una materia senza vita, ma per aver portato violenza
contro l’imperatore? In breve, poiché reca un’immagine dell’imperatore, essa
fa risalire sull’imperatore l’offesa che è portata a lei stessa.» (trad. V. Fazzo, con
correzioni).
35 Ps.–Basil., Hom. dicta in Laz., PG 31 1456 C: Ὥσπερ εἴ τις ἄνθρωπος ὀργισθεὶς
τὴν εἰκόνα λιθάζοι, ἐπειδὴ τὸν βασιλέα οὐ δύναται, τὸ ξύλον τύπτων, τὸ τὴν μίμησιν
ἔχον. «Come se un uomo preso dall’ira colpisse con pietre l’immagine poiché
non può colpire il re, percuotendo il legno che ne reca l’imitazione.»
36 Anast. Antioch., Frag. de sabbato PG 89, 1405 A: ῾Ο παροινῶν εἴκόνι βασιλέως,
τιμωρίαν δικαίαν ὐφίσταται, ὡς αὐτόχρημα βασιλέα ἀτιμάσας· καίτοι τῆς εἰκόνος
302
seconda metà del VI sec. e, infine, da Leonzio di Neapolis37 (Cipro) nel
VII sec., cioè – sia detto per inciso – proprio nel periodo in cui secondo
Anderson mancherebbero i ritratti imperiali.
Andrebbe fatta, tuttavia, qualche distinzione tra i vari tipi di ritratti
su tavola. Esistevano innanzitutto dipinti monumentali o in ogni caso
di particolare importanza e visibilità, come quelli di Giuliano l’Apostata
descritti da Sozomeno,38 secondo il quale l’imperatore si faceva raffigurare
assieme a Zeus, Ares o Hermes, oppure più in generale come quelli in
cui l’imperatore appariva circondato da guardie e cavalli con i nemici
vinti di fronte a sé, secondo le descrizioni di Apollinare di Laodicea39 e di
Giovanni Crisostomo40 o raffigurato assieme a personificazioni di città,
οὐδὲν ἔτερον οὔσης, ἢ ξύλον καὶ χρώματα κηρῷ μεμιγμένα καὶ κεκραμένα· «Chi
tratta oltraggiosamente un’immagine del re, poi viene punito poiché in realtà
ha disonorato il re, benché l’immagine non sia altro che legno e colori mescolati
e temperati con la cera.»
37 Leont. Neap., Serm. III: PG 93, 1604 C: Ποσάκις τινὲς εἰκόνας βασιλικὰς ἀφανίσαντες καὶ ἐνυβρίσαντες, ἐσχάτῃ τιμωρίᾳ κατεδικάσθησαν ὡς αὐτὸν τὸν βασιλέα
ἐνυβρίσαντες καὶ οὐ τὴν σανίδα· «Quante volte coloro che hanno distrutto o
insultato i ritratti imperiali sono condannati alla pena capitale, come se avesse
offeso l’imperatore stesso e non una tavola?».
38 Soz., Hist. Eccl. 5.17.3.
39 Apoll. Laodic., Fragm. in Ezech. (Mai 1854, 82b, rr. 25): οἱ Ῥωμαῖοι τὰς βασιλικὰς εἰκόνας γράφοντες, τούς τε δορυφόρους περιιστῶσι, καὶ τὰ ἔθνη ὑποτεταγμένα
ποιοῦσι, τὸν ὅμοιον τρόπον κἀνταῦθα. «I Romani, quando dipingono le immagini
degli imperatori vi pongono intorno le guardie del corpo e rappresentano i
popoli sottoposti».
40 Joh. Chrysost., Hom. in apostolicum dictum, Nolo vos ignorare 4 (PG 51, c. 247):
Φέρε τὸν λόγον ἐπὶ τὰς εἰκόνας ἀγάγωμεν, ἃς οἱ ζωγράφοι γράφουσι. Εἶδες πολλάκις
εἰκόνα βασλικὴν κυανῷ κατακεχρωσμένην χρώματι, εἶτα τὸν ζωγράφον λευκὰς
περιάγοντα γραμμὰς, καὶ ποιοῦντα βασιλέα, και θρόνον βασιλικὸν, καὶ ἵππους παρεστῶτας, καὶ δορυφόρους, και πολεμίους δεδεμένους καὶ ὑποκειμένους. «Suvvia,
consideriamo le immagini che dipingono i pittori. Hai visto spesso le immagini
imperiali preparate con il colore blu, quindi il pittore traccia linee bianche e
realizza un imperatore, e un trono imperiale, e cavalli che si trovano accanto, e
la guardia del corpo e nemici incatenati e giacenti (ai suoi piedi)». In inscr. altaris
3 (PG 51, c. 71): Οὐχ ὁρᾶτε καὶ ἐπὶ τῶν εἰκόνων τοῦτο τῶν βασιλικῶν, ὅτι ἅνω κεῖται
μὲν ἡ εἰκὼν, καὶ τὸν βασιλέα ἔξει ἐγγεγραμμένον· κάτω δὲ ἐν τῇ χοίνικι ἐπιγέγραπται
τοῦ βασιλέως τὰ τρόπαια, ἡ νὶκη, τὰ κατορθώματα; «Non avete osservato anche
nei ritratti imperiali che l’immagine stessa che rappresenta l’imperatore è posta
nella parte superiore, mentre sotto, ai piedi, sono raffigurati trofei, vittorie e
conquiste dell’imperatore?»
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 303
dignitari, in scene di caccia o di trionfo sui barbari secondo Gregorio
Nazianzeno.41
Abbiamo però anche indicazioni relative a ritratti imperiali meno
monumentali, ma con funzioni specifiche. Iniziamo dalla funzione legit
timante “passiva”, per così dire: il ritratto del nuovo imperatore doveva
essere accolto dai coreggenti che ne convalidavano – o rigettavano –
l’elezione,42 come avvenne per la laureata imago inviata nel 306 a Galerio
da Costantino al momento della sua acclamazione da parte delle truppe.43
Il ritratto veniva inoltre inviato nelle varie regioni dell’impero perché le
popolazioni riconoscessero il nuovo imperatore, come aveva fatto ancora
una volta Costantino dopo l’acclamazione mandando il suo ritratto a
Roma,44 o Massenzio mandando il suo in Africa.45 L’alleanza tra Massenzio
e Massimino si manifesta nella esposizione associata dei loro ritratti.46 Nel
41 Greg. Naz., Or. 4.80 Contra Iulianum (PG 35, 606 C – 607 A): Ταύταις ταῖς
εἰκόσιν ἄλλοι μὲν ἄλλο τι τῶν βασιλέων προσπαραγράφεσθαι χαίρουσιν· οἱ μὲν τῶν
πόλεων τὰς λαμπροτέρας δωροφορούσας, οἱ δὲ νίκας ὑπὲρ κεφαλῆς στεφανούσας·
οἱ δὲ τοὺς ἐν τέλει προσκυνοῦντας, καὶ τοῖς τῶν ἀρχῶν τιμωμένους συνθήμασιν·
οἱ δὲ θηροφονίας καὶ εὐστοχίας· οἱ δὲ βαρβάρων ἡττημένων, καὶ ὑπὸ τοῖς ποσὶν
ἐῤῥιμμένων ἢ κτεινομένων πολυειδῆ σχήματα. «In questi ritratti, alcuni impera
tori amano farsi rappresentare in un modo, altri in un altro. Alcuni amano far
rappresentare le città più splendide che portano loro dei doni, altri delle Vittorie
che incoronano il loro capo, altri ancora dei notabili che si inchinano e vengono
onorati con le insegne delle cariche che ricoprono. Ci sono quelli che amano
far rappresentare scene di caccia e gare di abilità nell’arco e rappresentazioni
varie di barbari sottomessi e gettati ai piedi del vincitore o uccisi» (trad. C.
Moreschini)
42 Kruse 1934, 2450; Bruun 1976; Nowicka 1993a, 4450.
43 Lact., De mort. pers. 25.13: laureata imago eius adlata est ad malam bestiam
(scil. Galerium) … 3 Suscepit itaque imaginem admodum invitus atque ipsi purpuram
misit, ut ultro ascivisse illum in societatem ideretur. «La sua immagine incoronata
di alloro fu portata a quella mala bestia (di Galerio) … Pertanto a malincuore
accettò l’immagine di Costantino e gli inviò la porpora per dimostrargli che
l’accoglieva come collega». Che si trattasse di una tavola dipinta è chiarito
dall’iniziale intenzione di Galerio di bruciarla.
44 Zosim. 2.9.2: ἐν δὲ τῇ Ῥώμῃ τῆς εἰκόνος αὐτοῦ δειχθείσες.
45 Zosim. 2.12.1: ὁ Μαξέντιος … ἔχειν τε ἤδη βεβαίως οἰόμενος τὴν αρχὴν ἐν Λιβύῃ καὶ Καρχεδόνι τοὺς τὴν εἰκόνα τὴν αὐτοῦ περιοίσαντας ἔπεμπεν. «Massenzio
… credendo ormai di avere in mano saldamento il potere, mandò in Africa e a
Cartagine quelli che avevano il compito di portare in giro il suo ritratto» (trad.
F. Conca, con modifiche).
46 Lact., De mort. pers. 43.3: utriusque imagines simul locantur.
304
383 Teodosio riconobbe in un primo momento l’usurpatore Massimo
concedendogli il diritto di essere rappresentato assieme a lui nei ritratti
e a impiegare il titolo di imperatore.47 A seguito di questo riconoscimen
to, lo stesso Teodosio inviò in Egitto il prefetto Cinegio con l’ordine di
mostrare in pubblico il ritratto di Massimo agli Alessandrini.48 Invece
Teodosio II nel 421 rischiò di scatenare un conflitto, non accettando il
ritratto di Costanzo nominato Augusto da Onorio.49 Il 30 marzo del 452
il ritratto di Marciano fu accolto a Roma da Valentiniano III, che solo
allora riconobbe il collega come legittimo imperatore; famosi sono i casi
del ritratto di Antemio, accolto nel 467 dall’imperatore Leone, che ne
inviò esemplari in tutto l’impero,50 e di quelli di Foca e dell’imperatrice
Leonzia, accolti da papa Gregorio Magno51 a Roma nel 603. Più in ge
nerale l’uso dell’invio alle città del ritratto imperiale è ricordato già da
Severiano di Gabala,52 ma assai più tardi, al concilio di Nicea del 787,
anche il vescovo Teodosio di Armorion ricorda che «quanto ai ritratti
coronati degli imperatori e alle loro immagini inviate alle città e alle
regioni tutte, il popolo onora con ceri e incenso non la tavola dipinta
47 Zosim., 4.37.3: Θεοδόσιος δὲ ὁ βασιλεὺς ἐδέχετό τε βασιλέα Μάξιμον εἶναι, καὶ
εἰκόνων αὐτῷ κοινονεῖν καὶ βασιλέως προσηγορίας ἠξίου. «Teodosio accettò che
Massimo fosse imperatore e ritenne giusto che comparisse assieme a lui nei
ritratti nel titolo di imperatore».
48 Ibid., τὴν εἰκόνα Μαξίμου δεῖξαι τοῖς Ἀλεξανδρεῦσιν ἐπέταξεν. «Ordinò di mo
strare agli abitanti di Alessandria il ritratto di Massimo»,
49 Philostorg., Hist.Eccl. 12.12.
50 Prosper Tyrus, Continuatio Reichenaviensis a. 452; MGH, AA IX, 490: Iconica
Marciani Imperatoris Romam ingressa III kal. Aprilis. Const. Porphyr., De Caerim.
I.87 (ed. Reiske 395396 BC): καὶ διελάλησεν ὁ βασιλεὺς, ὥστε πεμφθῆναι τὰ λαυρεάτα εἰς πᾶσαν τὴν πολιτείαν, καὶ τὰς εἰκόνας κοινῇ ἀνατίθησθαι ἀμφοτέροις τοῖς
βασιλεῦσιν. «L’imperatore dispose che i suoi ritratti incoronati di alloro venissero inviati
a tutto l’impero e che le immagini di entrambi gli imperatori venissero esposte insieme».
51 Greg. M., Epist., App. VI I I: Corpus Christianorum 140A, p. 1101 (= MG H,
Epist. II.3, p. 365); ne dipende Jo. Diac., Vita Gr. M. IV.20 (PL 75, c. 185 B).
52 Severianus Gabalensis, In lav. pedum s. feria V, 9 (ed. Wenger 1967, 226): Οὐδὲ
γὰρ ὅταν βασιλικοὶ χαρακτῆρες καὶ εἰκόνες εἰς πόλιν εἰσφέρωνται καὶ ὑπαντῶσιν
ἄρχοντες καὶ δῆμοι μετ’εὐφημίας καὶ φόβου, οὐ σανίδα τιμῶντες, ἢ τὴν χηρόχυτον
γραφὴν τοῦτο ποιοῦσι, ἀλλὰ τὸν χαρακτῆρα τοῦ βασιλέως. «Infatti quando i ritratti
e le immagini degli imperatori sono portati in giro in una città, i magistrati
e i cittadini vanno loro incontro con acclamazioni e riverenza, onorando non
una tavola, né una pittura a cera, ma il ritratto dell’imperatore, così anche la
creazione». Cfr. anche Déroche 2015.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 305
all’encausto, ma l’imperatore».53 Anche in questo caso vale la pena di
sottolineare la data: ci troviamo infatti ben oltre quel VII secolo in cui le
immagini imperiali sarebbero state bandite e c’è da chiedersi dunque se
non si debba ipotizzare una continuità dell’uso piuttosto che un recupero
antiquario dopo un secolo di desuetudine.
Una funzione legittimante “attiva” era invece legata ai ritratti, che
dovevano essere presenti quando i magistrati pronunciavano i loro giudizi
in rappresentanza dell’imperatore oppure per legittimare l’operato degli
alti funzionari imperiali.54 Un riflesso di quest’uso si trova anche nelle
miniature del Codex Purpureus Rossanensis (fig. 2) in cui Pilato seduto
a giudizio è accompagnato dai ritratti imperiali,55 ma anche nel IV sec.
sui sarcofagi paleocristiani con la raffigurazione dei tre fanciulli ebrei
di fronte a Nabucodonosor: in alcuni di essi il busto del sovrano – che
già costituisce una licenza rispetto al testo biblico – è sostituito da una
tavoletta dipinta (fig. 3), anche se la pittura è resa a rilievo, trattandosi di
un sarcofago scolpito.56 Un tipo di ritratto legato a questa stessa funzio
ne doveva essere anche il ritratto clipeato, o meglio – per riprendere la
terminologia vista poco sopra – l’εἰκονίδιον, che riconosciamo nei dittici
eburnei tardoimperiali associati a personaggi che rivestivano le più alte
cariche nell’amministrazione dell’impero57 e che possiamo immaginare
simili al tondo di Berlino già citato.58 Vale la pena di ricordare a questo
53 Mansi 1766, c. 1014 D: Εἰ γὰρ βασιλέων λαυράτοις ϰαὶ εἰϰόσιν ἀποστελλομέναις
ἐν πόλεσι ϰαὶ χώραις ἀπαντῶσι λαοὶ μετὰ ϰηρῶν ϰαι θυμιαμάτων, οὐ τὴν ϰηρόχυτον
σανίδα τιμῶντες, άλλά τὸν βασιλέα.
54 Joh. Lydus, De Magistratibus II.17 (ed. Bandy 1983, 111); Cassiod., Var. VI,
20. Il ritratto imperiale era tra le insegne del prefetto del pretorio, dei magistri
milites praesentales, equitum, officiorum, del comes sacrarum largitionum, del comes
rerum privatarum, del comes domesticorum equitum et peditum, del comes Orientis,
del praefectus Augustalis, del praefectus praetorio per Illyricum: cfr. Seeck 1876. Cfr.
Kruse 1934, 79106; Rollin 1979, 117143.
55 Bisconti 2000, tav. LIV b.
56 Wilpert 1932, tav. 202.3; Deichmann 1967, 162 n. 324, tav. 62; Dresken
Weiland 1998, 34, n. 10, tavv. 3.2, 78 n. 222 fig. 3; Koch 2000, 148149.
57 Delbrueck 1929, nn. 16, 17, 19, 20, 22, 32, 3435.
58 Si può ricordare a questo proposito il conto per i ritratti imperiali di età
costantiniana (3178 d.C.) P.Oxy LV 3791 (ζωγραφίας θείων χαρακτήρων) o
quello di VVI sec. pure per un ritratto imperiale: Studien zur Palaeographie und
Papyruskunde XX, n. 196: τὴν εἰκόνα τοῦ δεσπ(ότου) ἡμῶν; cfr. Plisecka 2011, 231,
238. Si veda anche un papiro del 492 dall’archivio degli Apioni: SB VI 9152 =
P.Eirene II 12 vv. 1617, Gerstinger 1953, 177.
306
2 Codex purpureus Rossanensis
punto anche la continuità dell’uso di questi clipei in ambito monumentale,
come nell’arcone absidale della chiesa di S. Giovanni Evangelista, costruita
da Galla Placidia verso il 430,59 dove le due linee dinastiche che conflu
ivano nell’imperatrice erano rappresentate dai ritratti musivi in clipei.
59 Ihm 1960, 169171, fig. 2; Amici 2000.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 307
3 Sarcofago dalla basilica di S. Lorenzo – Firenze
In sintesi: per quanto riguarda il ritratto imperiale dipinto, e soprat
tutto quello su tavola, abbiamo elementi per dire che tra IV e VI secolo
esso conobbe una fioritura e una capillare diffusione, sia nelle forme
monumentali che in quelle più ridotte e portatili, e che s’integrò profonda
mente in diverse funzioni vitali della società antica e dell’amministrazione
imperiale. Per il VII secolo, invece, la lettura di Anderson – che ipotizza
una sparizione completa anche di questo tipo di ritratto imperiale – è
probabilmente troppo pessimistica: alcune fonti (Leonzio di Neapolis
e Teodosio di Armorion) sembrano attestare una certa continuità in
questi usi anche durante e oltre il periodo del presunto bando dell’im
magine imperiale. Agli argomenti appena esposti si potrebbe aggiungere
308
4 Abside di S. Apollinare in Classe: quattro imperatori accanto all’arcivescovo
di Ravenna
un’ulteriore osservazione: sembrerebbe strano che l’imperatore abbando
nasse completamente il campo della rappresentazione figurata pubblica
a poteri inferiori di carattere locale, visto che invece questi continuarono
certamente a farsi rappresentare: si pensi al mosaico dell’abside di S.
Apollinare in Classe, databile probabilmente all’età di Costanzo II (641
668), che raffigura quattro imperatori accanto all’arcivescovo di Raven
na60 e celebra la concessione dell’autocefalia alla sede episcopale (fig. 4),
oppure a Roma il ritratto musivo di papa Onorio I (62538) nell’abside
di S. Agnese,61 quello di Giovanni IV (640642) e Teodoro (642648) nel
mosaico dell’oratorio di S. Venanzio,62 quello di Giovanni VII (705707)
nel suo oratorio in Vaticano63 o sull’icona di Maria S. Maria in Trastevere.64
60 Deichmann 1958, tav. 404; Deichmann 1976, II, 274279; Anderson 2016,
fig. 2.
61 Ihm 1960, 141-142, tav. XXVI.1.
62 Ihm 1960, 144-145, tav. XXIII.2.
63 Ihm 1960, 156157.
64 Belting 2001, 158 fig. 46.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 309
Senza contare la tradizione dei ritratti clipeati pontifici nelle basiliche di
S. Pietro in Vaticano e di S. Paolo fuori le mura.65
S PEC IFICITÀ D EL R ITR ATTO D IP INTO
Resta ancora da toccare un aspetto della questione e cioè la caratteriz
zazione specifica del ritratto dipinto in confronto con quello scultoreo.66
L’uso onorario del ritratto dipinto nella parte orientale dell’impero è
testimoniato da una serie di epigrammi dell’Antologia Palatina – non
necessariamente relativi a dipinti su tavola – che è stata studiata da Cyril
Mango.67 Vi si trovano – come è logico – alti funzionari, ma è interessante
notare il suo uso anche per i cittadini che si distinguevano per le loro virtù
e il loro meriti civici – ormai in genere esclusi dalle dediche scultoree. Da
alcuni di questi epigrammi sembra di dedurre che si trattava del modo
normale di onorare personaggi noti per la loro cultura, come è il caso alla
metà del VI sec. della dedica di un dipinto (γραφίς) a Heraclammon68 di
Pergamo, a ricompensa delle sue doti oratorie, o sulla tomba di Eustorgio,
che alla sua morte dovette abbandonare la Musa e gli studi di diritto,69 ma
si potrebbe citare già il dipinto (γραφίς εἰκόνος) di un professore della
scuola di Berythus nel IV sec.70 Secondo Teodoreto di Cirro ancora nel
V sec., gli effeminati erano ricordati da coloro che li amavano mediante
dipinti su tavola.71
65 G. Bordi, in Andaloro 2006, 379395, n. 44b.
66 Liverani 2015 a; Liverani 2016 a.
67 Mango 1986a, 117119; Mango 1986b.
68 Agathias, AP XVI. 36; Mango 1986b, 24-25.
69 Agathias, AP VII. 589.
70 Heitsch 19631964, fr. 30 A1824; Agosti 20042005, 353.
71 Theodoret. Cyr., Hist. Rel. pr. 3: Καὶ ταῦτα τῶν ἐν Ὀλυμπιάσιν ἀγωνιζομένων
ἀθλητῶν τε καὶ παγκρατιαστῶν εἰκόσι τιμωμένων καὶ μέντοι κἀν ταῖς ἱπποδρομίαις
τῶν νικηφόρων ἀναφαινομένων ἡνιόχων τοῦτο αὐτὸ δεχομένων τὸ γέρας. Οὐ μόνον
δὲ τούτους, ἀλλὰ καὶ γυναικώδεις ἄνδρας καὶ θηλυδρίας καὶ ἀμφιβόλους εἴτε ἄνδρες
εἶεν εἴτε γυναῖκες, οἱ τῆς τούτων θεωρίας φιλοθεάμονες ταῖς σανίσιν ἐγγράφουσιν,
ἐπὶ πλεῖστον αὐτῶν τὴν μνήμην διαρκέσαι φιλονεικοῦντες, καίτοι τῆς μνήμης λώβην
ταῖς ψυχαῖς, οὐκ ὄνησιν ἐμποιούσης· ἀλλ’ ὅμως οἱ μὲν τούτων ἐρῶντες τούτους,
οἱ δὲ ἐκείνων ἐκείνους, καὶ ταῦτα λυμαίνοντας, τῇ ζωγραφίᾳ γεραίρουσιν. Καὶ
ἐπειδὴ θνητὴν οὖσαν ὁ θάνατος τὴν φύσιν ληΐζεται, χρώματα κεραννύντες καὶ τὰ
ἐκείνων ταῖς σανίσιν ἐντιθέντες ἰνδάλματα, πολλῷ τῆς ζωῆς μακροτέραν γενέσθαι
310
È però in ambito cristiano che troviamo una particolare fortuna del
la pittura. Negli edifici ecclesiastici – come è noto – non sono attestate
sculture onorarie: la chiesa condivide la tendenza generale tardoantica
della sparizione del ritratto scultoreo, ma si aggiungono in questo caso
motivazioni specifiche: nell’ambiente dedicato al culto, infatti, non si
possono inserire monumenti che distraggano dalla celebrazione liturgi
ca costituendo un fuoco di attenzione autonomo e alternativo.72 Inoltre
esiste tutta una letteratura sui ritratti di santi o comunque di personaggi
di particolare virtù cristiana. Già negli apocrifi Atti di Giovanni, la cui
redazione risale a un momento tra la metà del II sec. e il III, si narra
dell’apostolo che viene accolto a Efeso nella casa di Licomede, uno dei
notabili della città, il quale dopo essersi convertito fa dipingere di na
scosto il ritratto dell’ospite per appenderselo in camera da letto. Quando
Giovanni vede il dipinto non vi si riconosce, fino a quando Licomede gli
porta uno specchio. Il santo «dopo essersi visto nello specchio, osservò
attentamente il ritratto e disse: – Quanto è vero che il Signore Gesù
Cristo vive, il ritratto assomiglia a me, però non è come me, figlio, ma
come la mia figura corporea.»73 Qui appare sia il tema della somiglianza,
che quello della (in)adeguatezza dell’immagine a rendere la verità del suo
modello, intesa come complesso delle doti morali e spirituali. È inoltre
presente il tema del ritratto preso di nascosto, che compare anche nella
vita di Porfirio74 e in numerose altre attestazioni.75
τὴν μνήμην σοφίζονται. «E ciò accade, mentre gli atleti e i pancraziasti che ga
reggiano nelle olimpiadi sono onorati con ritratti e gli aurighi vittoriosi nelle
corse di cavalli ricevono lo stesso premio. E non solo questi, ma anche uomini
effeminati, travestiti, dei quali è incerto se sono uomini o donne, sono dipinti
su tavole da quanti bramano vederli e cercano di far durare il loro ricordo il più
a lungo possibile, sebbene un tale ricordo arrechi all’anima danno e non giova
mento. Alcuni amano questi, altri amano quelli ricevendone danno, e tuttavia
onorano con un dipinto l’oggetto del loro amore. E poiché la morte depreda
la natura che è mortale, essi, mescolando i colori e ponendone le fattezze su
tavola, adoperano la propria intelligenza perché il loro ricordo diventi molto più
duraturo della loro vita» (trad. A. Gallico con correzioni).
72 Liverani 2016 a.
73 Acta Johannis 2628, ed. Bonnet 1898, 165166: καὶ ἰδὼν ἑαυτὸν ἐν τῷ κατόπτρῳ
καὶ ἀτενίσας τῇ εἰκόνι εἶπε· Ζῇ κύριος Ἰησοῦς Χριστός, ὁμοία μοι ἡ εἰκών· οὐκ ἐμοὶ
δὲ τέκνον ἀλλὰ τῷ σαρκικῷ μου εἰδώλῳ.
74 Porphyr., Vita Plot. 1.4.
75 Cfr. infra.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 311
Gregorio di Nyssa sottolinea l’attenzione dei pittori per trasferire la
bellezza del modello alla loro imitazione,76 ma altri autori scendono più
nel dettaglio: Eunapio di Sardi77 porta l’esempio «come succede a coloro
che dipingono i ritratti, essi caratterizzano il modello proposto: mette in
risalto la somiglianza del volto qualche piccolezza dei tratti connotanti,
o una ruga che solca la fronte, o un pelo che spunta sul mento, o qualche
dettaglio simile del volto a cui non si bada, ma che se trascurato non
descrive correttamente l’aspetto, se invece reso con cura diventa l’unica
causa della somiglianza». In maniera simile Teodoreto di Cyrro ricorda
come «i pittori, guardando al modello, ne imitano gli occhi, il naso, la
bocca, le guance, le orecchie, la fronte, i capelli del capo e la barba del
mento e, oltre a ciò, il modo di stare seduti o di stare in piedi, l’atteggia
mento degli occhi, siano essi lieti o torvi».78
Diversi testi narrano il riconoscimento miracoloso di un santo avve
nuto grazie a un ritratto dipinto. Nilo di Ancira, nella lettera a Eliodoro
Silenziario, narra la vicenda di un giovane preso prigioniero durante una
scorreria di barbari, che invocò S. Platone di Ancira. Al suo apparire «il
giovane riconobbe il santo perché aveva visto spesso i suoi lineamenti su
ritratti».79 Nella lettera pseudo-ambrosiana della fine del V o degli inizi
del VI sec., che narra il rinvenimento a Milano delle reliquie dei Santi
Gervasio e Protasio,80 durante una veglia notturna l’autore vede «una
76 Greg. Nyss., De opificio hominis 5 (PG XLIV, 137 A).
77 Eunap. Sard., fr. 57 (ed. Müller, FrHistGr IV, 39; ed. Dindorf, HistGrMin I,
250): ὥσπερ οὖν τοῖς γράφουσι τὰς εἰκόνας τὸ δοθὲν παράδειγμα χαρακτηρίζουσιν
ἐπιτείνει τὴν περὶ τὸ πρόσωπον ὁμοιότητα μικρά τινα τῶν ὑποκειμένων συμβόλων,
καὶ ἢ ῥυτὶς ἐπὶ τοῦ μετώπου διακεχαραγμένη ἤ τις ἴονθος παρανατέλλων παρὰ τὸ
γένειον ἢ τοιοῦτό τι μικρὸν καὶ παρημελημένον τῶν κατὰ τὴν ὄψιν, ὃ παροφθὲν μὲν
οὐχ ὑπογράφει τὸ εἶδος, ἀκριβωθὲν δὲ μόνον αἴτιον τῆς ὁμοιότητος γίγνεται.
78 Theodoret. Cyr., Hist. Rel. 30.7: οἱ ζωγράφοι εἰς τὸ ἀρχέτυπον ἀφορῶντες καὶ
ὀφθαλμοὺς ἀπομιμοῦνται καὶ ῥῖνα καὶ στόμα καὶ παρειὰς καὶ ὦτα καὶ μέτωπα καὶ
αὐτὰς τῆς κεφαλῆς καὶ τοῦ γενείου τὰς. τρίχας καὶ πρὸς τούτοις καὶ καθέδραν καὶ
στάσιν καὶ αὐτὰ μέντοι τῶν ὀφθαλμῶν τὰ ἤθη, εἴτε χαροποιὰ εἴτε βλοσυρὰ εἴη.
(Trad. A. Gallico). Cfr. su queste fonti Kiilerich 2011, 362.
79 Nilus Ancyr., Ep. IV.62 (PG 79, cc. 580 D–581 A): καὶ γνωρίζοντι τοῦτον ἐκ
τοῦ πολλάκις τὸν χαρακτῆρα τοῦ ἀγίου ἐπὶ τῶν εἰκόνων τεθεᾶσθαι.
80 PL 17, 743D; Ps.–Ambros., Epistula in universam Italiam 4 (Aubineau 1972,
8, 11): In tertia vero nocte, defecto jejuniis corpore, non dormienti, sed stupenti, cum
quadam mihi tertia apparuere persona, quae similis erat beato Paulo apostolo, cujus
me vultum pictura docuerat.
312
persona che rassomigliava al beato apostolo Paolo, così come la pittura
mostra chiaramente nelle immagini la figura di lui».
Anche negli Actus Silvestri, redatti nel VI secolo a partire da nuclei te
stuali più antichi,81 troviamo una vicenda simile: l’imperatore Costantino,
infatti, riconosce nei ritratti presentati da papa Silvestro i santi Pietro e
Paolo che gli sono apparsi in sogno in incognito.82 Ancora nel VII sec.
Sant’Artemio, apparso in visione a una giovane di Costantinopoli di nome
Eufemia per risanarla, viene riconosciuto in base alla somiglianza con
l’icona da lei spesso venerata.83
Esiste anche almeno un precedente dello stesso topos che riguarda un
“santo” pagano: secondo la Historia Augusta Apollonio di Tyana sarebbe
apparso in sogno all’imperatore Adriano per avvisarlo di risparmiare
dalla distruzione la sua città natale, cosa che l’imperatore avrebbe fatto
avendo riconosciuto il filosofo in base ai suoi ritratti dipinti nei templi.84
Un altro filone simile riguarda la vivacità delle immagini: come nel caso
del carme di Gregorio Nazianzeno che celebra San Polemone, il cui ritratto
dipinto posto sulla fronte di una casa dissuase una prostituta dall’entrare
presso il suo cliente, in quanto «si vergognò del dipinto come fosse vivo».85
D’altra parte anche fonti più antiche già sottolineavano il tema della
somiglianza dei ritratti dipinti o della somiglianza che risulta evidente per
loro tramite. Cassio Dione narra che i legionari della III legione Gallica,
che avevano proclamato imperatore Elagabalo, furono assediati dai Mauri
e dai pretoriani di Macrino: essi allora portarono il giovane imperatore
sugli spalti e lo dichiararono figlio di Caracalla. Per provarne la discen
denza mostrarono la sua somiglianza con dei ritratti – verosimilmente
81 Canella 2006; Liverani 2008.
82 Actus Silvestri, ed. Mombritius p. 512, ll. 1317: Tunc sanctus Sylvester iussit
diacono suo ut imaginem apostolorum exhiberet, quem imperator aspiciens cum
ingenti clamore coepit dicere: nihil inferius hac imagine in eorum effigie quorum
vultus in visione conspexi. «Allora S. Silvestro ordinò al suo diacono di mostrare
i ritratti degli apostoli: guardandoli l’imperatore prese a dire a gran voce: “in
nulla è inferiore questo ritratto all’aspetto di coloro che mi sono apparsi nella
visione”». Per lo sviluppo del topos Dagron 1991, 3031.
83 Crisafulli/Nesbitt 1997, 180181 n. 34.
84 S HA, Aurel. 24.5: norat vultum philosophi venerabilis Aurelianus atque in multis
eius imaginem viderat templis. In questo caso imago significa ritratto dipinto in
quanto nel passo successivo l’imperatore promise ad Apollonio et imaginem et
statuas et templum, distinguendo chiaramente tra il ritratto dipinto (imago) e
quelli scolpiti (statuae).
85 Greg. Naz., Carm. 1,10: Ὡς ζῶντ’ἐπαισχυνθεῖσα τὸν γεγραμμένον.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 313
su tavola – di Caracalla giovane.86 Sempre nel III secolo il Romanzo di
Alessandro narra che il re macedone si sarebbe presentato alla regina
Candace in incognito sotto il falso nome di Antigono, ma questa lo
avrebbe smascherato ponendolo a confronto con il suo stesso ritratto,
fatto dipingere precedentemente di nascosto da un pittore greco, e chie
dendogli: «riconosci i tratti del tuo volto (χαρακτήρα)»? 87 Nella versione
latina di Giulio Valerio Alessandro Polemio, probabilmente da riconoscere
nel Flavio Polemio console del 338, la domanda della regina diventa più
maliziosa e interessante: «Riconosci il volto di quell’Alessandro che non
puoi dissimulare?».88 In altre parole Candace afferma che si può falsificare
il nome, ma non il volto – e di conseguenza il ritratto che ne ripropone
fedelmente le fattezze. L’Epitome de Caesaribus, della fine del IV secolo,
esalta la somiglianza tra Teodosio e Traiano, che si sarebbe evidenziata
grazie ai loro ritratti dipinti,89 ma in fondo già Plinio il vecchio diceva
espressamente che la pittura di ritratti era la tecnica con la quale veni
vano trasmesse le fattezze con il più alto grado di fedeltà,90 anche se poi
da buon laudator temporis acti aggiunge una nota – per noi non molto
credibile – sull’abbandono di quest’arte ai suoi tempi.
Somiglianza e vivezza sono dunque topoi che ricorrono di frequente
nelle descrizioni dei ritratti dipinti: dobbiamo ritenere che le loro dimen
sioni ridotte ne favorissero la diffusione e generassero, nella percezione
comune, un senso di vicinanza ben diversa da quella dei ritratti scultorei
imperiali su colonne o comunque monumentali. Si pensi già alla nota
lettera di Frontone a Marco Aurelio91 degli anni 145147 in cui il vecchio
86 Cass. Dio 79.32.2: εἰκόνας τινὰς τοῦ Καρακάλλου παιδικὰς.
87 Ps.–Callisth., 3.19; 3.22.
88 Iul. Val., Res gestae Alex. 3.22: “agnoscisne,” ait, “Alexandri illius, quem mentiri
non potes, faciem?”
89 Ep. de Caes. 48.8.
90 Plin., Nat. Hist. 35.4: Imaginum quidem pictura, qua maxime similes in aevum
propagabantur figurae, in totum exolevit. «Anche la pittura di ritratti, con la quale
venivano tramandate nei secoli figure somiglianti al massimo grado, è del tutto
scomparsa» (trad. G. Rosati).
91 Fronto, Ep. 4. 12. 6: Scis, ut in omnibus argentariis mensulis perguleis taberneis
protecteis vestibulis fenestris usquequaque, ubique imagines vestrae sint volgo propositae, male illae quidem pictae pleraeque et crassa, lutea immo Minerva fictae
scalptaeve; cum interim numquam tua imago tam dissimilis ad oculos meos in itinere
accidit, ut non ex ore meo excusserit jactum osculei et savium. «Tu sai che su tutti
i tavolini dei cambiavalute, in tutte le loggette, le botteghe, le tettoie, gli atri,
le finestre, sempre in qualunque luogo i vostri ritratti sono esposti al pubblico,
314
maestro descrive l’onnipresenza dei ritratti dipinti dell’imperatore (non
ché di quelli fittili e scolpiti) e aggiunge – con una certa piaggeria – che
egli non mancava mai di inviare all’immagine un saluto e un bacio,
in segno di devozione affettuosa. In età tarda non era più l’immagine
imperiale ad attrarre tanta devota attenzione, ma quella di alcuni santi
particolarmente popolari, come S. Simeone lo stilita,92 il cui ritratto di
piccole dimensioni a Roma «si trovava in tutti gli atri dei laboratori (…)
attaccato alle colonne» per la protezione dei devoti. Non tutti i santi uo
mini, però, accettavano di buon grado questa devozione: S. Daniele – un
altro stilita di V sec. – aveva fatto gettar via il suo ritratto che un devoto
aveva posto all’ingresso di una cappella.93
Questa proliferazione di ritratti di modeste dimensioni e di ineguale
qualità si accompagnava a un’evoluzione stilistica che – come è noto –
si allontanava gradualmente dal naturalismo di tradizione classica ed
ellenistica. Cionondimeno si trattava ancora di ritratti: di raffigurazioni,
cioè, che dovevano in ogni caso permettere un riconoscimento o una
identificazione del personaggio rappresentato, o per lo meno che dovevano
essere riconosciuti come ritratti. Appare dunque il “ritratto caratteriz
zato”,94 che poteva essere riconosciuto come tale nel contesto più ampio
in cui veniva a trovarsi, invece che per i suoi tratti di stile realistico.
mal dipinti s’intende, e la maggior parte anche modellati e scolpiti con arte
grossolana e fangosa. Con tutto ciò non mi capita mai, per la strada, sotto gli
occhi la tua immagine così poco somigliante a te, senza far sì che, dalla mia
bocca, parta un bacio» (trad. Portalupi).
92 Theodoret. Cyr., Hist. Rel. 26.11: Περὶ γὰρ Ἰταλίας περιττὸν καὶ λέγειν. Φασὶ γὰρ
οὕτως ἐν Ῥώμῃ τῇ μεγίστῃ πολυθρύ λητον γενέσθαι τὸν ἄνδρα , ὡς ἐν ἅπασι τοῖς
τῶν ἐργαστηρίων προπυλαίοις εἰκόνας αὐτῷ βραχείας ἀναστηλῶσαι, φυλακήν τινα
σφίσιν αὐτοῖς καὶ ἀσφάλειαν ἐντεῦθεν πορίζοντας. «Parlare dell’Italia è superfluo.
Dicono, infatti, che nella grandissima Roma è così famoso che in tutti gli atri
dei laboratori, in suo onore, sono attaccati alle colonne piccoli ritratti, quasi che
queste offrano una certa custodia e sicurezza» (trad. A. Gallico con correzioni).
93 Vita S. Danielis Stylitae 12, in Delehaye 1923, 13.
94 Propongo la definizione “ritratto caratterizzato” pur conscio dell’esistenza di
definizioni alternative: Zimmermann 2007, 159, Koch 2000, 109 e Studer–Karlen
2012, 18 li chiamano Ideal-Porträts; Carra Bonacasa 2000, 317 parla di “ritratti
nominativi” tipizzati; cfr. anche Kiilerich 1992. Mi sembra tuttavia che “ritratto
ideale” possa generare qualche confusione con il ritratto di ricostruzione (per
esempio quello di Omero) mentre “ritratto nominativo” allude al fatto che può
essere identificato grazie all’iscrizione con il nome, ma si tratta solo di uno dei
possibili elementi impiegati per far riconoscere un ritratto come tale.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 315
Contribuivano al riconoscimento iscrizioni, acconciature particolari,
monili, tratti vestimentali e probabilmente la stessa tipologia del ritratto
e la sua collocazione. Umberto Eco parlerebbe di selezioni contestuali, nel
caso in cui le scelte vengano attivate dalla compresenza di altri elementi
del testo iconografico e monumentale, e di selezioni circostanziali, attivate
da fattori extratestuali, quali per esempio le funzioni dell’ambiente in cui
erano esposti oppure i rituali celebrati in connessione con il ritratto.95
È utile considerare in questo quadro un particolare elemento che
caratterizza alcuni ritratti a partire dal VI secolo: il nimbo quadrato, che
ritroviamo nei mosaici e negli affreschi a partire dall’età di Giustiniano
iniziando dai mosaici della chiesa di Santa Caterina nel Sinai (fig. 5).96
La sua interpretazione usuale è che si tratti di una variante dell’aureola
circolare e che venga impiegato per indicare personaggi ancora in vita, in
genere i donatori. Si tratta però probabilmente della semplificazione – o
della evoluzione – di un significato più sottile e interessante. La forma
rettangolare fa pensare infatti alla cornice della tavola dipinta e ci può
aiutare un testo di Giovanni Diacono, che – benché della seconda metà
del IX secolo – appare assai bene informato: nel descrivere un ritratto
di Gregorio Magno nel suo convento di S. Andrea a Roma questo autore
spiega che il pontefice «aveva preferito alla sommità del capo una forma
simile a una tavola (tabulae similitudo) piuttosto che un’aureola (corona).
Dalla qual cosa viene evidentemente dichiarato, poiché Gregorio mentre
era ancora in vita aveva voluto che il suo ritratto (similitudo) fosse dipin
to avendo presente la sua utilità, perché potesse essere spesso osservato
attentamente dai suoi monaci, non per la gloria dell’esaltazione, ma per
garanzia del noto rigore.»97 Dunque la vivezza dell’immagine e la sua
95 Eco 1979, § 5. A questi andrebbero aggiunti quelli che Rastier 2003, 182183
definisce come vincoli in absentia: leggi di genere e intertesto.
96 Forsyth/Weitzmann 1965, 13, tavv. C I I I, CXXXVI- CXXXVI I (veduta
generale), CXX-CXXI, CLX-CLXI (ritratti di Giovanni e Longino); Nardi
20092010. Per altri affreschi di VI sec. con il nimbo quadrato cfr. Ladner 1983,
132133, n. 2728. Il nimbo quadrato attorno alla testa dell’apostolo Andrea nella
“catacomba Wescher” (de Rossi/Wescher 1865; Pasi 2003; Pasi 2008, 3945) do
cumentato solo da un disegno sembra dovuto piuttosto a interpretazione erronea
del disegnatore: cfr. già Wilpert275; da ultimo Dresken–Weiland 2010, 210 fig. 98.
97 Io. Diac., Vita Gregorii Magni 4.84, PL 75, c. 231 A: Circa verticem vero tabulae
similitudinem, quod viventis insigne est, praeferens, non coronam. Ex quo manifestissime declaratur, quia Gregorius dum adviveret, sua similitudinem depingi salubriter
voluit, in qua posset a suis monachis, non pro elationis gloria, sed pro cognitae districtionis cautela, frequentius intueri. Cfr. Müller 2009, 29; Marsengill 2013, 60.
316
5 Ritratti con nimbo dell’Egumeno Longino e del
Diacono Giovanni dell’abside di S. Caterina nel Sinai
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 317
perfetta riconoscibilità appare funzionale al mantenimento di una rigorosa
disciplina che i monaci avrebbero associato alla persona di Gregorio, quasi
a sentirne su di sé lo sguardo anche in sua assenza. Da un punto di vista
formale, inoltre, la forma rettangolare del nimbo va interpretata come
un elemento metalinguistico, che qualifica il ritratto come “realistico” e
ricavato da un modello dipinto dal vero, verosimilmente da un ritratto su
tavola,98 in altre parole non un ritratto ideale di ricostruzione.
Come è stato osservato, disponiamo anche di evidenze archeologiche
in questo senso: il caso più famoso è quello di un affresco di IV secolo
nel cubicolo di Oceano della catacomba di S. Callisto a Roma99 (fig. 6). Si
tratta di un busto al di sopra del quale resta un’iscrizione dipinta fram
mentaria [---]iissiim[---]: il volto manca, ma si capisce chiaramente che
era realizzato a parte su un pannello rettangolare inserito nell’intonaco e
ora perduto. Si possono aggiungere altri casi simili. Nell’arcosolio 12 della
Catacomba di Domitilla si riconosce il ritratto di una coppia: la testa della
figura femminile è mancante perché era realizzata a parte su una tavola
e inserita, inoltre tra i coniugi rimane uno spazio rettangolare bianco in
cui doveva essere inserito un ulteriore ritratto dipinto – verosimilmente
quello di un figlio – che era stato realizzato su una tela fissata con chiodi
di cui resta ancora qualche traccia; infine sul petto della donna rimangono
tracce di colla, che dovevano fissare probabilmente un secondo ritratto in
fantile non previsto originariamente.100 Nella catacomba dei Ss. Marcellino
e Pietro l’arcosolio centrale del Cubicolo degli Atleti presenta un incasso
che doveva ospitare una tabula lignea dipinta, ora perduta,101 e forse anche
la lunetta del cubicolo 41 poteva avere un ritratto: restano numerosi chiodi
sul riquadro bianco.102 Nella catacomba di Domitilla esistono immagini
dipinte ad affresco di ritratti su tabula, quasi ritratti al quadrato: nel
98 Krücke 1905, 9495; Matthiae 1967, I, 215216; Osborne 1979, 6364; Warland
1986, 3536; Kessler 2000, 133135; Jäggi 200203, 40, 45 nota 80; Niewöhner
2008, 182; Liverani, 2016
99 Garrucci 1873, tav. 14; Wilpert 1924, I, 108, II, 1089, IV tav. 182.1. Cfr. an
che Wilpert 1903, tav. 134.1; Wilpert 1907, fig. 3; Kollwitz 1957, 7071, tav. 8.2;
Warland 1986, tav. 22; Nestori 1993, 105, n. 15; Belting 2001, 121, 609 nota 28;
Mitchell 1993, 108, fig. 7.45; Kessler 2000, 133134, fig. 6.19; Zimmermann 2007,
165; Marsengill 2011, 63; Marsengill 2013, 5960, fig. 19; Corneli 2014, 240241,
fig. 5; Liverani 2016 a.
100 Zimmermann 2007, 165166, tav. 21a; Zimmermann/Tsamakda 2009, 627
628, fig. 10.
101 Corneli 2014.
102 Deckers/Mietke/Seeliger 1987, 260.
318
6 Ritratto femminile dal cubicolo di Oceano della catacomba di
S. Callisto a Roma
loculo 51 si trova la cd. orante nel trittico,103 in cui il ritratto della defunta
è inserito in una cornice dotata di sportelli di protezione (pure dipinti).
Nell’arcosolio principale del cubicolo 39 l’affresco rappresenta due eroti
103 Wilpert 1891, 50, 55 n. 1 (copia antica di G.A. Toccafondo, Bibl. Vallicelliana
cod. G 6, fol 5v) tav. XXIII, 2, XXIV.1; Wilpert 1903, 459; Zimmermann 2007,
tav. 20d.
LIV E R A NI: IL R IT R AT TO D IPIN TO I N E TÀ TA R D O A N T I CA 319
che reggono una tabula a fondo blu su cui si riconosce il ritratto di una
coppia di defunti.104 Si potrebbe sospettare che anche altri ritratti funerari
che spiccano da un riquadro blu – il colore che costituisce lo sfondo usuale
per i ritratti più solenni105 – possano essere interpretati in maniera simile,
come allusioni a ritratti su tabula: è il caso di una tomba della metà del
IV sec. da Viminacium106 o, ancora una volta nella catacomba di Domitilla,
quello di un’orante nell’arcosolio dei “Piccoli Apostoli”.107
Cerchiamo di tirare le fila di questo discorso. Gli elementi appena
esaminati sembrano convergere in una evoluzione del ritratto dipinto – e
soprattutto di quello su tavola – in un senso che rafforzava nella perce
zione comune i caratteri propri del ritratto e cioè la sua riconoscibilità
nell’ambito della vita quotidiana, in contrapposizione all’evoluzione del
ritratto scultoreo ufficiale e pubblico, che esaltava la sua connotazione
monumentale e in cui l’esigenza della somiglianza si sfocava, schiacciata
com’era dalla volontà di rappresentare il ruolo dell’onorato. Quindi, pur
nel quadro di una evoluzione stilistica generale che tende ad allontanarsi
dal realismo del ritratto romano alto e medioimperiale, il ritratto dipinto
– almeno in una parte delle sue manifestazioni – mantiene una relazione
sufficientemente forte e sentita con i tratti del personaggio raffigurato,
tanto da giungere a sviluppare una particolare codifica – quella del nimbo
quadrato – che poteva essere utilizzata anche nei ritratti monumentali
musivi e ad affresco per sottolineare la somiglianza e il realismo della fi
gurazione, sia pure con una declinazione differente rispetto ai secoli prece
denti. Se una tale ricostruzione è giusta, si dovrebbe riconsiderare qualche
idea sulla ritrattistica della prima età bizantina. Si è infatti proposto di
104 Wilpert 1903, 543, tav. 127.3; Zimmermann 2007, 165, tav. 20e; Zimmermann/
Tsamakda 2009, 621-622, fig. 8. Già in età augustea si può ricordare il ritratto di
M. Scribonius Menophilus dal colombario di Villa Pamphili a Roma (Fröhlich
2009, fig. 2; Liverani 2016 a, fig. 10), che imita una tabula dipinta dotata di
sportelli di protezione.
105 Cfr. Liverani 2014, 1420. Si ricordi anche la descrizione di Giovanni
Crisostomo (cit. supra nota 40) del procedimento pittorico per realizzare un
ritratto imperiale con il fondo blu.
106 Tomba G 2624 da Viminacium (Stari Kostolac, Serbia), Museo Nazionale
di Pozarevać: Korać 1991, 118-121, figg. 11-15; Valeva 2001, 183; Dunbabin 2003,
453-454, fig. 16; Spasić–Jurić 2005; Korać 2007, 179-185.
107 Nestori 1993, 126, n. 39; Wilpert 1903, tav. 154.1; Zimmermann 2002, 250;
Zimmermann 2007, 163, tav. 19a. Si ricordi il già citato caso della tabula retta
da eroti nel cubicolo 39.
320
riconoscere nell’età di Giustiniano la nascita di una corrente realistica,108
che avrebbe influenzato anche il successivo sviluppo dell’iconografia dei
santi. Senza intervenire nello specifico dell’arte bizantina, va osservato
però che a un esame più approfondito la divaricazione tra un’arte idealista
e una realista, tra simbolo e rappresentazione – in tedesco tra Sinnbild e
Abbild, con un gioco di parole intraducibile in italiano – avviene piuttosto
nella differenziazione funzionale dei generi di ritratti (schematizzando:
ritratti scultorei tridimensionali vs. ritratti dipinti bidimensionali, ritratti
di rappresentanza vs. ritratti privati) e che l’apparente irruzione di reali
smo nell’arte giustinianea è piuttosto il riemergere di una tendenza che
non si era mai interrotta,109 ma che è scarsamente attestata per ragioni
contingenti, visto che sono relativamente pochi i mosaici (o gli affre
schi) monumentali di IV e V secolo conservati – in particolare mosaici
con ritratti. Se si volessero invece prendere sul serio alcuni indizi offerti
dall’epigrafia monumentale cristiana, potremmo sospettare l’esistenza di
importanti ritratti di donatori anche in questi secoli meno documentati.110
CREDITI FOTOGRAFICI
1, tav. 9 http://www.colorado.edu/Classics/clas4091 /Graphics/Tondo.jpg
(20.07.2017).
2 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:RossanoGospelsFolio8vChrist
BeforePilate.jpg (20.07.2017).
3 – 4 Foto dell’autore.
5 Foto Araldo De Luca per il CCARoma.
6 Foto Pontificia Commissione di Archeologia Sacra.
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108 Niewöhner 2008.
109 Ancora nel V sec. si contano alcuni ritratti in scultura estremamente reali
stici: cfr. Kiilerich 2011; Kiilerich 2015 specialmente 31.
110 Cfr. alcune prime annotazioni in Liverani 2016 b.
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ADRIANA BONTEA
DIDEROT ET L’ART DU PORTRAIT
Les réflexions sur l’art du portrait sont une constante qui traversent les
Salons de Diderot depuis le début de leur rédaction jusqu’à la fin. Dans ces
écrits sollicités par son ami Grimm pour la Correspondance littéraire, les
remarques sur les portraits exposés au Louvre entre 1759 et 1781 prennent
des formes diverses : parfois ce sont des descriptions succinctes, mais
d’autres fois il s’agit de longs développements sur un art qui ouvre accès
à la marche « de l’esprit humain dans toutes ses recherches »1. Ces mises
au point concernant un art abondamment représenté dans les expositions
dont Diderot offre le compte rendu et fort prisé par le public, visent deux
questions. D’un coté elles prolongent les mêmes reproches que la critique
contemporaine avait formulés à l’égard du portrait, qui serait devenu une
simple technique relevant des arts mécaniques plutôt que des beaux-arts
et destiné à flatter l’amour-propre des commanditaires dont certains,
d’origine obscure ne peuvent intéresser que leur famille ou amis.2 Ainsi
dans le Salon de 1759 des portraits de LouisMichel Van Loo sont à peine
mentionnés puisqu’ils « n’intéressent pas »3 de même que ceux de Drouais
dont « les visages de plâtre » sont suivis d’un bref commentaire sur leur
« fausseté » qui contredit la nature et d’une sanction sans appel : « Ces
1 Diderot 1975–1986, III 62.
2 Le dédain pour le portrait devient un lieu commun à partir de 1747, moment
où le nouveau directeur général des Bâtiments, Le Normant de Tournehem veut
donner un nouvel essor à la peinture d’histoire à l’exemple de Colbert. Plusieurs
textes constatent sur le ton de l’ironie ou de la satire cet engouement du public
pour le genre du portrait. Parmi eux La Font de Saint Yenne, Réflexions sur
quelques causes de l’état présent de la peinture en France (1747) et Sentiments
sur quelques ouvrages de peinture, sculpture et gravure (1754), mais aussi le
Conte de Caylus, Le Salon de 1753. Sur la véhémence du débat, voir Locquin
1913, 309–19.
3 Diderot 1975–1986, I 63.
330
gens voyent donc d’une façon et font d’une autre ».4 Et le Salon de 1763
justifie la dissidence de l’homme de lettre, qui à l’encontre des gens du
monde admirant dans les peintures la ressemblance avec les originaux,
passe rapidement sur les portraits :
Tant que les peintres portraitistes ne me font que des ressemblances
sans compositions, j’en parlerai peu ; mais lorsqu’ils auront une fois
senti que pour m’intéresser il faut une action, alors ils auront tout le
talent du peintre d’histoire, et ils me plairont indépendamment du
mérite de la ressemblance.5
D’un autre côté pourtant, les réflexions de Diderot sur l’art du portrait
s’approfondissent. L’exemple des œuvres de Maurice-Quentin de La
Tour, portraitiste qui échappe aux griefs de la critique, aussi bien que des
entretiens avec le peintre, que Diderot rapporte dans les salons et essais,
nourrissent une réflexion sur la nature entamée déjà dans les Pensées sur
l’Interprétation de la nature révisées en 1754. Si la philosophie de la nature,
s’appuyant sur les sciences expérimentales propose une liaison d’idées
et notions dont le sens n’est jamais absolu, puisqu’elle enchaîne soit des
expériences soit des raisonnements soutenus à un bout par l’observation
et à l’autre par l’expérience, l’art fournit aussi une représentation objective
des rapports au monde, et partant, une interprétation de la nature aux
moyens de la composition, du dessin et des couleurs. Comme la philoso
phie de la nature, la peinture a besoin d’un langage qui peut reprendre la
nature dans sa manière de créer. Ayant éprouvé la sévérité de l’enquête et
aperçu les risques d’une raison qui se clôt sur ellemême aussi bien que
des sens se répandant à l’extérieur (Pensées VI-IX), Diderot convoquait
la peinture en tant qu’interprète de la nature dans sa capacité de créer un
espace mesurable, dont il donne souvent la hauteur et la largeur, autant
qu’un espace mental bien différent des représentations géométriques
puisqu’il appelait à tous nos sens et permettait de nous y transposer.6
4 Ibid., I 67.
5 Ibid., I 203.
6 Nombreux sont les passages où Diderot refait les mythes d’Apelle et de Zeuxis
sur le pouvoir de la peinture à tromper les yeux en décrivant des objets, person
nages ou paysages comme étant hors de la toile, moyennant des expériences au
même titre que le monde perçu : vase de porcelaine ou raie chez Chardin (Salon
de 1763, I, 222–223), jeune fille navrée chez Greuze (Salon de 1765, II, 145–147),
promenade dans les paysages de Vernet (Salon de 1767, III, 129–162).
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 331
Cet usage de l’art, tout nouveau à l’époque, contenait l’aveu d’une phi
losophie qui essayait de repousser les idées transcendantales et l’orgueil
d’une parole sur la nature qui se l’approprie, sans lui enlever la diversité.
A l’exemple de Montaigne qui ne taisait pas l’insuffisance de l’homme
devant les mystères de la nature, le philosophe dresse un inventaire des
questions sur la nature non pas toute faite mais encore en devenir (Pensées
X). Une fois supposé que la nature est en train de se faire et accepté que
son sens ultime échappe à l’entendement, il s’agit de rendre compte de
son état provisoire et de la variété des formes.7 C’est le but des sciences
expérimentales, telles la biologie, la physique, la chimie et des instruments
qu’elles se créent. L’art y participe aussi dans la mesure où il s’attache
à donner une vue sur la nature dans la diversité de ses états présents :
êtres humains, fleurs, animaux mais aussi natures mortes, minéraux,
pierres précieuses. Si parmi les centaines de tableaux exposés aux sa
lons, seulement quelques tableaux de Chardin, Greuze, Vernet, La Tour
intéressent Diderot c’est qu’ils permettent d’appréhender la nature. Les
règles de l’art académique passent derrière l’aptitude du tableau à offrir
un contact avec le monde perçu et à initier à la création des formes dont
chacune se réclame de sa fonction. L’intérêt particulier que Diderot porte
à l’art du portrait est intimement lié à l’éclaircissement du rapport entre
modèle, fragment de la nature vivante, et l’instant figé du tableau qui en
garde les traces. Des pensées sur l’interprétation de la nature qui, cette
foisci, prennent le détour de la critique d’art.
En 1767 Louis-Michel van Loo exposait plusieurs portraits. Peux
valent la peine d’être mentionnés : celui du Cardinal de Choiseul et
celui de l’Abbé de Breteuil retiennent brièvement l’attention de Diderot
puisqu’ils sont ressemblants.8 Conformément à l’usage du temps enre
gistré, entre autres9, par L’Encyclopédie, le mérite principal du genre « est
l’exacte ressemblance qui consiste principalement à exprimer le caractère
et l’air de physionomie des personnes qu’on représente ».10 Inégaux en ce
7 Sur l’analyse de la pensée de Diderot et l’hypothèse d’une science en devenir
qui ne rejoint plus les thèmes du scepticisme, voir Duflo 2003, 116.
8 Diderot 1975–1986, III, 66.
9 Bachaumont 1767, 14 ; voir encore la notice du Mercure de France, octobre
1763, sur un autre tableau de Van Loo, Portrait de l’artiste avec sa sœur devant
le portrait de leur père : « La vérité de ressemblance dans les têtes est d’une
fidélité la plus exacte & ne laisse rien à desirer ni à chercher ; … » (182–184).
10 Dideort et d’Alembert 1751–1772, article Portrait, rédigé par Le Chevalier de
Jaucourt.
332
qui concerne l’exécution, les deux tableaux sont retenus par Diderot pour
avoir donné aux personnages des attitudes renseignant sur la nature :
sagesse pour l’un, air facile et dégagé pour l’autre. Le contraste entre deux
manières de représenter l’état ecclésiastique, une sérieuse et posée, toute
imprégnée de la dignité de la fonction, l’autre moins sage, qualifiée par
l’adjectif « paillard », a pu suggérer à Diderot cette courte exégèse sur le
rapport entre la physionomie, qui vise la nature, et l’habit, qui dénote
l’appartenance à l’ordre religieux. Mais surtout cette opposition sortie du
pinceau du peintre, sert, dans le contexte du salon, d’introduction à la
section suivante, qui est une présentation et réponse au tableau de Van
Loo Portrait de M. Diderot (Ill. 1 ; Pl. 10).
Les réserves devant cette image de luimême sont annoncées dès
le début.11 Portrait « assez ressemblant » en ce qui concerne la douceur
et vivacité, traits que Diderot, confirme par le style de sa prose enjouée,
ironique, mêlant plusieurs voix, il fait défaut puisqu’il présente un per
sonnage de comédie plutôt qu’un philosophe. L’inadvertance des registres
fait l’objet principal de la critique. D’abord c’est la physionomie qui est
manquée : « … trop jeune, tête trop petite. Joli comme une femme, lorgnant,
souriant, mignard, faisant le petit bec, la bouche en cœur. »12 Ces traits
masquent la nature du personnage par un enjolivement qui aboutit sur la
toile à un effet tout contraire à celui que l’on avait recherché. En essayant
de « faire joli » plutôt que de confronter les difficultés d’une nature ingrate,
la peinture présente un déguisement de l’homme sous les traits d’une
femme. Pratique courante de la comédie et de la caricature, le déguisement
par l’art se substitue à la ressemblance avec les productions de la nature
dont les procédés sont précisément ceux que le peintre doit s’approprier.
11 Les remarques de Diderot sur son portrait ont été interprétées souvent et
selon des optiques bien variées. Marc Buffat prend en considération l’ensemble
des commentaires de Diderot sur les portraits de luimême à travers une analyse
stylistique qui aboutit à l’identification du point de vue adopté par Diderot avec
celui du peintre, pour mettre en évidence la situation d’un sujet en position
d’objet, Buffat 1995, 55–70 ; Kate E. Tunstall s’attache à la multiplicité des points
de vue que Diderot adopte sur la représentation de luimême et révèle la cri
tique aussi bien que la défense du portrait de Van Loo en soulignant le rapport
étroit avec l’écriture de Montaigne, Tunstall 2007, 197–210 ; Bernard Vouilloux
considère le texte du Salon dans le contexte élargi des écrits de Diderot pour
dénoncer l’insuffisance des portraits à constituer une image fiable pour la pos
térité, à part le portrait fait par Garand, et situe le lieu du portait dans le travail
du philosophe et dans ses écrits, Vouilloux 2007, 111–164.
12 Diderot 1975–1986, III 66.
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 333
1 Louis Michel Van Loo : Denis Diderot, écrivain, 1767, huile sur toile,
81 × 65 cm, Paris, Musée du Louvre (cf. pl. 10)
334
Dans les Essais sur la peinture (1765), Diderot est sans équivoque sur
les leçons que la nature donne à l’artiste : « La nature ne fait rien d’incor
rect. Toute forme belle ou laide a sa cause, et de tous les êtres qui existent,
il n’y en a pas un qui ne soit comme il doit l’être. »13 La forme des êtres est
une conséquence de leur organisation : disposition des organes soumise
à l’âge et aux passions dominantes aussi bien qu’aux fonctions quoti
diennes. La physionomie n’est plus uniquement un répertoire de traits
donnés par la nature, signe des humeurs qui marquent sur les visages
les quatre tempéraments et les passions qui leurs correspondent, comme
chez les anciens et chez Le Brun encore.14 Elle s’enrichie chez Diderot de
traits imprimés par les occupations ordinaires de chacun que le visage
et les membres révèlent dans les habitudes du corps. Tout un chapitre
des essais dédié aux questions de l’expression a pour but l’élargissement
de la notion de physionomie. Sous ce titre, à côté des humeurs et traits
distribués par la nature, s’inscrivent maintenant les sentiments, l’âge,
les activités et les accidents de la vie.15 Ainsi l’étude de la physionomie
reste, comme chez Le Brun, une partie essentielle de l’apprentissage du
peintre. Mais différemment de son prédécesseur, elle n’est plus réduite
aux expressions particulières mesurant les degrés d’éloignement ou de
rapprochement de parties du visage de la figure-type de la sérénité que
lui et ses collègues de l’Académie admirait dans Saint Michel terrassant
le démon (1518) peint par Raphael et que les apprentis devaient étudier
dans les cours de dessin.16 L’étude de la physionomie, dans son sens élargi,
acquiert dans les écrits de Diderot le statut d’une discipline essentielle,
dont tout le métier du peintre dépend, y compris l’art du dessin et de la
couleur. Cette étude devient synonyme de l’étude de la nature, nature
à laquelle la figure humaine appartient non en tant qu’objet ou modèle
pour la peinture d’atelier, mais plutôt comme échantillons du divers sur
lesquels la nature se donne à voir sous une forme déterminée.
La nature, ainsi que le précise les Pensées sur l’interprétation de la
nature en suivant Buffon, ne produit jamais deux êtres identiques. Ce
13 Diderot 1986, 11.
14 Conférence de Monsieur Le Brun sur l’expression générale et particulière,
recueillie par Picart en 1698, dans Le Brun 1994, 47–109.
15 Baudelaire s’en souviendra lors de la rédaction du Peintre de la vie moderne
(1863) et en tira profit pour ébaucher une première esthétique du moderne à
partir de illustrations de Constantin Guys.
16 Conférence de Charles Le Brun sur Saint Michel terrassant le demon par
Raphaël (1667), rapportée par Félibien, dans Le Brun 1994, 140–157.
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 335
qui intéresse Diderot dans L’Histoire naturelle dont les premiers volumes
paraissent en 1749 suivis de trois autres en 1753, n’est pas uniquement
le procès d’abstraction qui mène aux principes de la connaissance, mais
encore la diversité des phénomènes et surtout l’aptitude de la nature à
« varier le même mécanisme d’une infinité de manières différentes. »17
Or ces variations remontent en pensée à un premier moule, le prototype,
conçu comme cadre de l’organisation de la matière plutôt que modèle.
Par des métamorphoses diverses à l’intérieur de ce cadre, compris en tant
que fonctions constantes de l’être vivant accomplies par des dispositions
différentes de la matière, telle la main chez l’homme et le pied chez le
cheval, la nature invente une multitude de formes qui permettent le
passage d’un règne à l’autre sans qu’il y ait division réelle entre eux. Sur
l’exemple des quadrupèdes, dont les fonctions et parties sont à peu près les
mêmes, Diderot reprend une hypothèse de Maupertius18 dans des termes
qui lui sont propres : « qui ne se sentirait porté à croire qu’il n’y a jamais
eu qu’un premier animal, prototype de tous les animaux, dont la nature
n’a fait qu’allonger, raccourcir, transformer, multiplier, oblitérer certains
organes ? » 19 S’il s’agit ici d’une hypothèse essentielle à la fois pour la
physique expérimentale et la philosophie, c’est qu’elle rend compte des
ressemblances des organes du point de vue de leurs fonctions, tout en
respectant la différence dans les formes. Ainsi la diversité n’est pas sacrifiée
au principe de l’unité tout en rendant possible cette philosophie expéri
mentale, qui procède par hypothèses et conjectures. La nature une, dont
l’équivalent en pensée est le prototype, est une ouvrière infatigable qui se
plaît parfois à montrer cette organisation et d’autres fois à la dérober dans
les formes qu’elle produit, ce qui est encore un indice de son inventivité.
Si la nature agit de la sorte dans la création des ses formes variées
et que la forme et disposition des organes de l’être humain révèlent les
fonctions auxquelles les organes se prêtent, les tâches répétées imposées
par un métier ou un état déterminés sont susceptibles elles aussi d’intro
duire des modifications supplémentaires dans les formes corporelles des
individus. Partant du principe que la peinture a pour tâche de montrer
l’extérieur de l’objet, l’étude des formes ne peut aucunement se limiter à
l’étude de l’écorché, pratique courante de l’enseignement de l’Académie 20.
17 Diderot 1754, Pensée XII, 32.
18 Diderot cite la thèse inaugurale parue en latin en 1753. L’année suivante elle
est publiée en français sous le titre Essai sur la fonction des corps organisés.
19 Diderot 1754, Pensée XII, 35–36.
20 Sur l’intérêt de Diderot pour l’anatomie et les modèles réduits, voir Joly 2008,
57–70.
336
Ce savoir perfide fait oublier à l’œil de voir les superficies et au lieu de
peindre la peau et la chair, « il n’entrevoit toujours le muscle, son origine,
son attache et son insertion. »21 L’apprentissage de la physionomie vient
précisément corriger les leçons d’anatomie, qui enseignent ce qu’il y a
de constant dans la formation et l’aspect des organes, par une étude des
formes susceptibles de variations infinies. Des traits relevant des habi
tudes contractées dans la société où « chaque individu de citoyens a son
caractère et son expression ; l’artisan, le noble, le roturier, l’homme de
lettres, l’ecclésiastique, le magistrat, le militaire »,22 mais aussi l’aveugle
ou le bossu, viennent en compléter et diversifier l’inventaire. Ce qui jus
tifie chez Diderot leur inclusion parmi les physionomies dont le peintre
doit avoir connaissance, c’est le besoin de l’art de prendre à son compte
cette invention prodigieuse dont la nature fait preuve dans ses propres
créations. Les études de physionomie des prédécesseurs tels Le Brun et
Della Porta n’offraient des marches de la nature que des vues abstraites,
rendues par des diagrammes et bonnes pour l’étude dans les ateliers
de l’Académie. (Ill. 2) Diderot demande au peintre et à la peinture de se
situer au même point de vue que la nature au moment où elle engendre
la profusion de ses formes, c’estàdire là où les formes gardent la trace
d’une action dans une posture imposée par une des activités ou états de la
société, sans que cette action ellemême soit représentée. La prémisse de
cette vue élargie de la physionomie est énoncée au début du salon de 1769,
où Diderot cite les paroles du peintre MauriceQuentin de La Tour : « il
n’y a dans la nature, ni par conséquent dans l’art, aucun être oisif. Mais
tout être a dû plus ou moins souffrir de la fatigue de son état : il en porte
une empreinte plus ou moins marquée. »23 Ces modifications des formes
que l’étude de l’écorché ignore, font partie de la physionomie de l’être actif,
dont le portrait offre une vue synthétique dans la disposition du tableau.
Le portrait de Diderot exécuté par Van Loo pèche justement par un
défaut de construction. Bien que la section du salon dédiée à son exégèse
ne contienne que des jugements sommaires, ils suivent de près les déve
loppements du chapitre quatrième des Essais sur la peinture sur l’expres
sion. L’effet « trop jeune » que Diderot remarquait dans le salon s’ensuit
d’une malfaçon du contour du visage, aspect de physionomie longuement
analysé dans l’essai : un ovale arrondi, symétrique en haut et en bas de la
figure, caractérise la jeunesse et la grâce et convient plutôt aux portraits
21 Diderot 1986, 14.
22 Ibid, 42.
23 Diderot 1975–1986, IV 49.
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 337
2 Charles Le Brun : L’Attention et L’Estime : deux têtes de face et une de profil,
17e siècle, papier blanc, dessin à la plume, pierre noire, encre noire,
encre brune, 207 × 259 cm, Paris, Musée du Louvre
de femmes et d’enfants. D’où l’impression de « faire joli ». Pourtant cette
forme jure avec le « toupet gris » signe d’un âge tout différent de celui du
visage. Entre le contour du visage et la couleur des cheveux le désaccord
est tel qu’il aboutit au déguisement du philosophe en « vieille coquette »
qui veut toujours plaire. La référence à un opéracomique de Sedaine, où
le jardinier sot et vaniteux pense ne pas être reconnu par son seigneur
puisqu’il ne porte pas sa perruque,24 suggérait que le portrait était ridicule
puisque outré. En choisissant de présenter l’homme de lettre dans son
milieu familier, sans perruque, en robe de chambre, devant sa table de
travail, la plume à la main, le peintre n’était pas arrivé à créer l’intimité
de l’écrivain absorbé dans ses pensées et son travail.25
24 Le Jardinier et son seigneur, opéracomique représenté sur le Théâtre de la
Foire SaintGermain, Paris, 1761, Sc. VII.
25 Michael Fried attache la critique que Diderot fait de son portrait à une
critique plus générale visant la théâtralité en peinture. Son but est d’effacer le
338
Y contribue encore une deuxième méprise de construction : le ra
petissement de la tête, erreur de proportion qui laisse peu d’espace au
délinéament des traits. Ce qui est sacrifié à une symétrie académique
tenue pour la loi d’une belle proportion en peinture, est justement l’espace
permettant de varier les lignes et les volumes aptes à recueillir les traits
de l’homme travaillé par ses pensées et son devoir. Omettant d’œuvrer
de la même façon que la nature lorsqu’elle différencie entre les formes
d’un même organe, le peintre aboutit à une figure insuffisamment déve
loppée du côté du caractère, puisqu’il manque la précision rigoureuse du
trait qui, trop petit, surtout du côté de la bouche, aplatit le relief. D’où
une expression de convention, empruntée à la représentation théâtrale :
œil tourné vers un interlocuteur situé en dehors de la toile, bouche en
cœur dessinant un sourire aimable et méprisant. L’effet de cette tête sur
l’ensemble de la composition est de tourner la scène privée que le tableau
veut être, en scène comique, digne du théâtre de la foire. Le commentaire
satirique de Diderot porte l’empreinte du rire du spectateur en tant que
juge et partie : « sa mignardise lui donne l’air d’une vieille coquette qui
fait encore l’aimable. » L’effet d’enjolivement touche au ridicule, ce que le
salonnier, bon ami du peintre, ne saurait taire. « Moi. J’aime Michel. Mais
j’aime encore mieux la vérité. »26 Le ton sobre de la critique d’art s’abolit
sous les traits de la satire sousjacente et circonscrit ainsi le genre auquel
la toile appartient en dépit de l’intention du peintre. Le style persiflant
du salon donne l’équivalent discursif de cette figure de pacotille dont
Diderot, le modèle vivant, prend ses distances en la renvoyant au registre
qui lui appartient, plus proche de la caricature que de l’art du portrait.27
rôle du spectateur et de construire la fiction d’une autonomie de la peinture
qui ne s’adresse à personne. En choisissant de présenter les personnages dans
des attitudes et gestes qui montrent une intense concentration, le tableau nie
la présence du spectateur et c’est justement par cela qu’il arrête son regard et
le fixe sur la toile. Absorbtion and Theatricality. Painting and Beholder in the
Age of Diderot, Chicago 1988 108–115.
26 Diderot 1975–1986, III 67.
27 Bien que la caricature ne devient un genre d’art reconnu avant le dix-neu
vième siècle et ne devient objet d’exposition avant 1838 avec l’ouverture du
Salon caricatural à Paris, le terme est en usage. Dès 1752, L’Encyclopédie l’enre
gistre dans le vocabulaire du dessein : « Ce mot est francisé de l’italien caricatu
ra, et c’est ce qu’on appelle autrement charge. Il s’applique principalement aux
figures grotesques et extrêmement disproportionnées soit dans le tout, soit dans
les parties qu’un peintre, un sculpteur ou un graveur fait exprès pour s’amuser
et pour faire rire. Calot a excellé dans ce genre. Mais il en est du burlesque en
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 339
A part l’expression efféminée du visage, ce qui altère encore la vérité
de l’expression est la posture « d’un secrétaire d’État et non d’un philo
sophe. » Diderot fait ici allusion à un autre tableau de Van Loo, luiaussi
exposé en 1767, qu’il ne commente pas mais auquel il fait allusion :
« Michel Van Loo est vraiment un artiste : il entend la grande machine ;
témoins quelque tableaux de famille où les figures sont grandes comme
nature et louables par toutes les parties de la peinture. »28 Il s’agit du
Portrait du Comte Devin et de sa famille, dont la pose et à peu près similaire
à celle du philosophe (Ill. 3). La critique porte ici sur l’art de poser le
modèle. Ce « grand art » vise la justesse des mouvements dans les actions
de la vie, comme le précise encore les Essais sur la peinture. Or le Comte
Devin, ancien secrétaire d’état, récemment nommé directeur de la Caisse
d’escomptes, est représenté dans une double fonction de grand magistrat
3 Louis Michel Van Loo : The Devin Family, 1767, huile sur toile,
110 × 150 cm, private collection, Wikimedia Commons, the free
media repository
Peinture comme en Poésie ; c’est une espèce de libertinage d’imagination qu’il
ne faut se permettre tout au plus que par délassement. » Diderot s’était déjà
essayé au genre en prose dans plusieurs passages des Bijoux indiscrets (1748).
Cf. Vissière 1995, 249–250
28 Diderot 1975–1986, III 69.
340
et de père de famille. La posture adoptée correspond précisément au mo
ment d’une interruption des devoirs officiels, auxquels renvoient le bureau
somptueux, la serviette en cuir, les papiers, l’encrier et la plume, par la
lecture privée qu’il fait à son jeune enfant et à sa femme. L’association de
deux rôles simultanément remplis dans l’instant du tableau suggère que
le portrait de famille participe à la fois du tableau d’apparat et du tableau
intime. Si dans ce cas le choix de la posture du haut fonctionnaire, assis
derrière son bureau et accoudé sur les papiers rangés qu’il ne regarde
pas, est approprié, il en va autrement pour le portrait du philosophe. La
même posture n’est plus justifiée quand il s’agit de représenter l’homme
de lettres occupé à sa tâche. Ici l’interruption du travail est anecdotique
et Diderot veut bien en rendre compte :
La fausseté du premier moment a influé sur tout le reste. C’est
cette folle de Mme Van Loo qui venait jaser avec lui, tandis qu’on
le peignait, qui lui a donné cet airlà et qui a tout gâté. Si elle s’était
mise à son clavecin et qu’elle eût préludé ou chanté Non ha ragione,
ingrato, Un core abbandonato, ou quelque autre morceau du même
genre, le philosophe sensible eût pris un tout autre caractère, et le
portrait s’en serait ressenti. Ou mieux encore, il fallait le laisser seul
et l’abandonner à sa rêverie. Alors sa bouche se serait entrouverte,
ses regards distraits se seraient portés au loin, le travail de sa tête
fortement occupée se serait peint sur son visage, et Michel eût fait
une belle chose.29
Il y a interruption et interruption. Le portrait de Diderot aspire à donner
l’image d’un écrivain adonné à son travail, mais la scène réelle, celle d’une
visite et d’une conversation, fût-elle anecdotique, laisse son empreinte sur
l’image du philosophe au visage lisse et sourire superflu. Ainsi le tableau
fixe sur les traits du philosophe un moment éphémère de la vie et l’associe
à une pose qui devait consacrer pour la postérité la représentation d’un
homme occupée à ses pensées et concentré sur son travail. N’étant pas
puisée dans la logique d’une action suivie et de conséquence, répandue
sur toutes les parties du tableau, la posture est postiche. D’un côté le
visage tourné vers l’extérieur, souriant, inattentif et indifférent à l’action
de la main en train d’écrire, de l’autre la position du corps et des mains,
signifiant précisément le travail, relève plutôt d’une image composite dont
29 Diderot 1975–1986, III 67.
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 341
les parties restent discordantes. De ce désaccord enregistré entre la tête et
le reste du corps découle la fausseté de la représentation. La pose n’étant
pas dictée par le reste de la figure, elle apparaît comme empruntée à un
autre état : celui d’un haut fonctionnaire interrompu dans son métier qui
reste affable et poli.
A ce défaut d’air concoure aussi un accessoire mal choisi, trop somp
tueux et riche pour celui qui le porte. L’ironie de Diderot est mordante à
cet égard : « Et puis un luxe de vêtement à ruiner le pauvre littérateur, si
le receveur de la capitation vient à l’imposer sur sa robe de chambre ».30
Ce détail, un signe de plus du mélange et de la confusion des registres
du tableau dont le salon fait l’inventaire, connaîtra son propre dévelop
pement. Composé un an après le salon, les Regrets sur ma vieille robe de
chambre, est une satire contre le luxe et une réflexion sur la convenance
des accessoires au mode de vie qu’ils servent et dévoilent. Dans le tableau
de Van Loo, la robe de chambre bleuvert moiré de rose témoigne sans
doute du savoir du peintre à rendre les étoffes et leurs jeux de lumières.
Néanmoins elle reste un accoutrement de théâtre, hors de la portée de
celui qu’elle revêt, et par conséquence aussi factice que l’expression du
visage. Tous les éléments du portrait, tel qu’ils sont commentés par
Diderot portent l’empreinte de d’affectation, de l’air guindé, qui est pré
cisément un faire qui s’oppose aux procédés de la nature. Sans jamais
le dire directement, l’auteur du salon accuse dans chacun des éléments
constitutifs du portrait les côtés par lesquels l’art s’éloigne des façons dont
agit la nature. Les descriptions de la jeune fille aveugle et de l’homme
bossu sur lesquelles s’ouvrent les Essais sur la peinture font partie de ces
enseignements privilégiés que la nature met à la disposition du peintre.
En suivant de près, tel que Diderot le fait, les transformations que ces états
impriment au corps dans son ensemble, le peintre apprendra comment
modifier les rapports entre les parties du corps de sorte que la nature de
ce qui est peint se retrouve dans chaque fragment.
Le même souci se retrouve dans la fin de l’analyse du portrait de Van
Loo qui se clôt par une remarque sur un autre portrait, qui, différemment
de celui juste commenté, pourrait bien être digne de la postérité : « Je n’ai
jamais été bien fait que par un pauvre diable appelé Garand qui m’attrapa,
comme il arrive à un sot qui dit un bon mot. Celui qui voit mon portrait
par Garand me voit. Ecco il vero Polichinello. » 31 (Ill. 4) Dans une lettre à
30 Ibid., 66.
31 Ibid., III, 67.
342
Sophie Volland Diderot donne une description de ce portrait. Comme dans
le tableau de Van Loo, il est représenté tête nue et en robe de chambre,
mais point d’autre similarité à part les indices d’un être chez soi. Le seul
accessoire est un fauteuil qui permet une pose recueillie, « le bras droit
soutenant le gauche, et celuici servant d’appui à la tête. » Cette économie
de moyens oblige le spectateur à concentrer son regard sur le regard du
personnage, jeté au loin, en dehors de la toile « comme quelqu’un qui
médite. Je médite en effet sur cette toile ; j’y vis, j’y respire, j’y suis animé ;
la pensée paroît à travers le front. »32 Dans son analyse du portrait de Van
Loo, Diderot suggérait que les occupations philosophiques auraient dû se
répandre sur la totalité de la toile, depuis la forme et la grandeur du visage
et l’expression des traits, jusqu’à la posture, aux gestes et aux accessoires.
Mais c’est le contraire que l’on y voit, et cela à cause d’une juxtaposition
d’éléments disparates qui n’aboutissent pas à rendre, comme chez Garand,
l’état d’un être dont la forme à été travaillé par ses tâches et ses pensées.
De cette méprise relève la manière. « Il n’y aurait point de manière,
ni dans le dessin, ni dans la couleur, si l’on imitait scrupuleusement la
nature. La manière vient du maître, de l’académie, de l’école, et même
de l’antique. »33 Ce savoir-faire est un artifice qui s’insinue dans l’art des
plus grands auxquels Van Loo appartient sans doute, selon Diderot. Dans
plusieurs de ses tableaux, y comprit dans celui de son ami, il a réussi
une des épreuves les plus difficiles du métier qui consiste à rendre la
chair et les superficies, bien qu’inégalement. Il a mieux réussi dans les
portraits d’hommes que de femmes, chez qui les tentes de la peau sont
beaucoup plus variées qu’on le voit dans ses œuvres. Pourtant, comme le
montre le portrait de Diderot, il n’a pas été toujours conséquent à suivre
les voies que la nature poursuit dans ses créations. Or c’est justement
ce qui intéresse le philosophe dans les ouvrages de peinture, à savoir sa
capacité modélante.34 À cet endroit précis l’art rencontre la nature, et le
32 Diderot 1876, Lettre du 17 septembre 1760, 457–458. Sur les difficultés de
donner un bon portrait de luimême, étant donné le changement rapide enre
gistré par sa physionomie au cours d’une même journée, voir le Salon de 1676,
I 67. Une première présentation du portrait fait par Garand est due à Herbert
Dieckmann, dans Dieckmann 1952, 6–8.
33 Diderot 1986, 18.
34 Sur le rapport entre l’esthétique de Diderot et le programme de L’Encyclopé
die destiné à lier les connaissances au savoirfaire des arts et des métiers voir
Modica, 2002, 73–95 ; sur l’‹ esthétique de l’opération › voir surtout 74–76 ainsi
que page 80 sur la constructivité de l’action humaine.
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 343
4 JeanBaptiste Garand : Portrait de Diderot, 1760, Graveur Pierre Chenu,
gravure sur cuivre, Collection des Musées de Langres
344
métier du peintre croise le travail du philosophe. Par des voies différentes
mais qui empiètent l’une sur l’autre, ils donnent une interprétation de
la nature dans sa perpétuelle transformation qui s’opère aussi bien dans
l’instant que dans le temps.35 Diderot en fit l’épreuve lui-même lorsqu’il
invoquait Vertumne, le dieu du changement de temps et des saisons,
dans l’épigraphe du Neveu de Rameau et dans la lettre à Grimm en tête
du Salon de 1763.36 Le renvoi, pratique courante de l’Encyclopédie ouvrant
les termes depuis leurs définitions vers leurs usages multiples, vérifiait
encore une fois, sur l’exemple des genres discursifs, la manière dont les
savoirs se recoupent et se complètent.
La peinture, selon Diderot, est un phénomène qui dépend de l’organi
sation. Qu’elle s’appelle disposition ou invention, l’art du portrait doit avoir
sur le spectateur le même effet qu’un visage aperçu dans la rue. Il faut qu’il
soit « une lettre de recommandation écrite dans une langue commune à
tous les hommes. »37 C’est en cela que les portraits sont ressemblant où ne
le sont pas. Il s’agit moins d’une imitation de la nature dans le sens ancien
de mimesis, que d’une organisation de la surface de la toile conforme à la
perception de l’œil habitué à regarder le monde autour de lui. C’est pour
cette raison que les tableaux de Vernet, discutés dans le même Salon de
1767, donne envie à Diderot de prendre la route de ses paysages, s’y pro
mener, s’y attarder et s’adonner à une rêverie sur les charmes de la nature.
Leur pouvoir est d’obliger l’homme de lettres de changer encore un fois
de genre, de quitter la critique et rédiger une ‹ promenade ›.
Le préambule qui ouvre ce même salon contient un long développe
ment sur l’art du portrait. C’est un essai sur le rapport de la nature comme
modèle pour le peintre et la nature comme principe d’organisation de
la matière. En s’attachant au premier, on peut à la rigueur devenir bon
portraitiste. Mais, en prenant la nature pour modèle et tout ce que dans
la nature est individuel, l’apprenti restera borné dans la reproduction des
accidents, sans pouvoir rendre compte de leurs raisons d’être. Le specta
teur, l’homme de goût, les regardera mais il s’en lassera vite, puisque le
portrait ainsi conçu n’est que la copie d’un modèle qu’il n’a pas crée et
qui ne rivalise pas avec ce que la nature produit. Par contre, le peintre qui
cherche la vérité de la nature, s’attache à travailler comme elle travaille,
35 Les pantomimes du Neveu de Rameau font office de déployer l’emprise des
sentiments à la fois sur le registre du discours comme récit ou dialogue, et dans
l’instant de leurs productions.
36 Diderot 1975–1986, I 195.
37 Diderot 1986, 41.
B O NT E A : D ID E R OT E T L’ A R T D U P O R T R A I T 345
sans modèle préétabli, en générant des formes par l’organisation de lignes,
surfaces et reliefs. Car la peinture rencontre la nature dans cette générati
vité des formes qui recouvre un principe d’action sur la matière amorphe.
Pour cette raison, l’art du portrait selon Diderot n’est pas la reproduction
fidèle d’un modèle, art du troisième ordre après la peinture allégorique
et la peinture d’histoire, mais art de premier ordre, capable de capter les
actions et les passions qui ont engendré une telle figure non pas à travers
une histoire, mais dans des gestes et postures, contours et proportions qui
instruisent sur sa marche. En cela, l’art du portrait s’assimile chez Diderot
au tableau d’histoire, mais il s’agit de l’histoire de l’être humain telle que
la nature la façonnerait et qui aurait présidé a sa configuration présente
sur la toile. D’où le défit que l’art du portrait lance à l’interprétation de
la nature : « Une figure humaine est un système trop composé pour que
les suites d’une inconséquence insensible dans son principe ne jettent
pas la production de l’art la plus parfaite à mille lieues de l’œuvre de la
nature. »38 Et d’où encore que son portrait, tout en étant ressemblant, est
méconnaissable aux yeux de celui qui lui a servi de modèle.
DROITS IC ONO G R AP H IQ UES
1, pl. 10 © RMNGrand Palais (musée du Louvre) / Stéphane Maréchalle.
2 © Musée du Louvre, Dist. RMNGrand Palais.
3 Wikimedia Commons, the free media repository.
4 Collection des Musées de Langres, Sylvain Riandet.
BIBLIOGRAPH IE
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Mémoires secrets pour servir à l’histoire de la République des Lettres en
France depuis 1762 jusqu’à nos jours, t. XIII, Londres 1784, 5–31.
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Diderot et sur l’Encyclopédie, 18–19, 1995, 55–70.
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38 Ibid., 13.
346
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Gaillard (éditeur) Pour décrire un salon : Diderot et la peinture, 1759–1766,
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STEFFEN S IEGEL
DIE ANTIKE DER FOTOGRAFIE
Ein Selbstporträt in drei Bildern
(Daguerre, Talbot, Bayard)
Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass von einer Fotografie in der
Antike nicht die Rede sein kann. Nicht allein ist dieses Bildmedium ganz
und gar eine Innovation der Moderne; gemeinsam mit der Dampfmaschine
und dem Telegrafen, der Eisenbahn und dem Telefon gehört es zu jenem
Ensemble von Technologien, das die Idee des Neuen, die sich mit der Mo
derne verbindet, nachdrücklich konturieren hilft.1 Umso überraschender
mag es sein, dass in einschlägigen Kompendien zur Fotografie-Geschichte
immer wieder bereits auf den ersten Seiten von der Antike die Rede ist.2
Josef Maria Eder etwa eröffnet den historischen Teil seines »Ausführlichen
Handbuchs der Photographie« mit zwei Kapiteln zur antiken Naturkunde
und interessiert sich hierbei vor allem für Licht und Sehtheorien des Al
tertums sowie für die in dieser Zeit gewonnenen Erkenntnisse zur Chemie
der Farben.3 Ein drittes Kapitel schließlich verfolgt den Weg des alchimis
tischen Denkens von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit.4
Nur am Rande sei bemerkt, dass Georges DidiHuberman wiederum die
nominellen Wurzeln des Fotografierens im Mittelalter suchte, als er dem
»Erfinder des Wortes ›photographieren‹« einen luziden Essay widmete.5 Ob
sich solche historischen Sondierungen nun ins klassische Altertum zurück
wagen oder, gewissermaßen nur, ins Mittelalter – sie alle scheinen doch
eher dazu angetan, medienhistorische Verwirrung zu stiften.
1
2
3
4
5
Gitelman, Pingree 2003.
Siehe zum Beispiel Moholy 1939, 11–14. Ihrke 1982, 9. Busch 1989, 13–29.
Eder 1932, 1–18.
Ebd., 19–44.
DidiHuberman 1990.
348
Solche Irritationen liegen in der Natur der Sache. Fragt man nicht nach
der Fotografie in der Antike, sondern vielmehr nach der Antike der Fotogra
fie, interessiert man sich also für die Ursprünge einer modernen Bildtech
nologie, handelt man sich weit mehr als eine Antwort ein.6 Insbesondere
aber muss man mit Rückfragen rechnen. Was genau kann überhaupt als
ein Ursprung des Fotografischen angesehen werden kann? Anders gefasst:
Von welchen Kriterien soll ausgegangen werden, wenn von einer ›Antike
der Fotografie‹ die Rede ist? Wenn Aristoteles tatsächlich, wie immer
wieder behauptet, bereits die optischen Grundlagen der Funktionsweise
einer Camera obscura beschrieben hat,7 sollte er dann in die Genealogie des
Fotografischen aufgenommen werden? Oder ist es plausibler, erst die im
frühen 18. Jahrhundert von Johann Heinrich Schulze unternommenen Ver
suche zur Lichtempfindlichkeit von Silbernitrat als einen solchen Ursprung
anzunehmen, also den Hallenser Gelehrten als einen ersten Ahnherrn
anzuerkennen? 8 Oder sollte hierfür erst der Brite Thomas Wedgwood in
Frage kommen? Dessen Experimente mit »Silver Pictures« aus den 1790er
Jahren können als der vermutlich früheste systematische Versuch gelten,
auf einer physikochemischen Basis tatsächlich Bilder zu produzieren. Wir
können hiervon nur indirekt wissen,9 da es Wedgwood nicht gelang, seine
Ergebnisse zu fixieren, das heißt dauerhaft zu stabilisieren.
Solche Fragen nach einer möglichen ›Antike der Fotografie‹ sind in
des aufschlussreicher als jede mögliche Antwort hierauf. Denn so wenig
sich in einem strengen Sinn von »der Fotografie« (im Singular) sprechen
lässt, sondern einzig von einem breit gespannten Spektrum sehr verschie
dener fotografischer Verfahren, so wenig wird es zuletzt möglich sein, eine
einzige Herkunftsgeschichte des Fotografischen zu erzählen. Herkunft
aber, dies wird mit der Publikation der ersten fotografischen Verfahren
umgehend deutlich, spielt eine entscheidende Rolle für die Bestimmung
dessen, was rasch den summierenden Namen ›Fotografie‹ tragen wird.10
Den Erfindern der verschiedenen fotografischen Verfahren war es daher
nicht allein aufgegeben, die von ihnen entwickelten Bildtechnologien zu
6 Bonhomme 1989. Sheehan/Zervigón 2015.
7 Eder 1934, 52. Schaaf 2002, 48–49.
8 Zimmermann 2007.
9 Davy 1802.
10 Batchen 1993. Siegel 2013. Im vorliegenden Zusammenhang verdient es
Beachtung, dass schließlich auch die Herkunft des Namens ›Fotografie‹ zum
Gegenstand einer nationalistisch aufgeladenen fotohistorischen Debatte wurde.
Siehe Stenger 1932.
SIE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 349
publizieren, das heißt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gefordert
war von ihnen überdies die Veröffentlichung von Berichten, in denen sie
den Ursprung des jeweiligen Verfahrens erläuterten und narrativ einklei
deten, kurz: mit einer Genealogie ausstatteten.
In Frage stand bei solchermaßen doppelt gefassten Publikations
strategien jene Idee, die mit dem Namen der Fotografie verbunden
werden sollte.11 Die Rede über Ursprünge zielte auf die Definition eines
Rahmens, mit dessen Hilfe der Zweck und der Nutzen eines neuen Bild
verfahrens abgesteckt werden konnten. Doch lässt sich dieser zweifachen
Ausrichtung der Veröffentlichung fotografischer Verfahren eine dritte
Ausrichtung an die Seite stellen. Sie betrifft die Dimension der hierbei
entstehenden fotografischen Bilder. Als soeben erst produzierte Objekte
kündeten sie fraglos auf eindrucksvolle Weise von der Kraft einer ganz
neuartigen Form visuellen Zeigens. Die Reaktionen der Zeitgenossen –
etwa das vielfach erhobene Lob für Darstellungspräzision und Detailtreue
– sind sprechend genug.12 Doch mochte sich mit diesen neuen Bildern
auch eine Überraschung ganz anderer Art verbunden haben, die selbst
heute noch erstaunt: wie prominent die Antike als ein Bildgegenstand
der frühesten fotografischen Moderne ist.
JUPITER
Wie ein Bild einzurichten sei, wusste von allen frühen Fotografen wohl
niemand besser als Louis Jacques Mandé Daguerre. Bereits seit dem ers
ten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war er in Paris in wechselnden Rollen
tätig, hierbei aber stets mit einem engen Bezug zur visuellen Gestaltung.13
Fand er sein Auskommen zunächst als Kulissenmaler an verschiedenen
Pariser Theatern, so eröffnete Daguerre schließlich im Jahr 1822, gemein
sam mit seinem Geschäftspartner Charles Bouton, eine eigene Bühne,
die einem besonderen Zweck diente: der Aufführung von Bildern. Dieses
Diorama am Boulevard du Temple griff die ältere Idee des Panoramas
auf und entwickelte sie auf effektvolle Weise weiter. Die von Daguerre
bemalten Leinwände waren transparent genug, um in wechselnder, von
vorne wie von hinten gesetzter Beleuchtung ein bestimmtes Bildmotiv in
verschiedenen Versionen zur Anschauung zu bringen, etwa als Tag und
11 Brunet 2000.
12 Siegel 2014.
13 Gernsheim/Gernsheim 1968. Pinson 2012.
350
Nachtversion. Die sich vor den Augen der Betrachterinnen und Betrachter
verwandelnden Bilder verfehlten ihre Wirkung nicht. Vor allem in den
1820er und frühen 1830er Jahren war Daguerres Diorama eine bekannte
und viel besuchte Attraktion der Pariser Theaterszene.14
Als sich in den späten 1830er Jahren allmählich Gerüchte zu ver
breiten begannen, dass Daguerre mit weiteren neuartigen Bildeffekten
experimentiere, war dies, ohne Näheres wissen zu können, den Pariser
Feuilletons eine ausführliche Diskussion wert.15 Erst recht aber nahm man
auch außerhalb von Paris mehr als nur flüchtige Kenntnis von Daguerres
Experimenten, als in den ersten Tagen des Jahres 1839 in den Zeitungen
Meldungen publiziert wurden, die von jenem Bildverfahren berichteten,
das der Erfinder kurzerhand nach sich selbst benannt hatte.16 Mit der
»Daguerreotypie« wurde einer größeren Öffentlichkeit erstmals ein foto
grafisches Verfahren vorgestellt. Es ist angebracht, hierbei vorsichtig zu
formulieren. Denn jene ›Vorstellung‹ der Daguerreotypie umfasst zunächst
nicht sehr viel mehr als allgemein gefasste Hinweise, die kaum mehr als
äußere Umrisse preisgaben. Vor allem aber wurde der Öffentlichkeit ein ei
gener Blick auf diese Bilder, vorläufig jedenfalls, vorenthalten. Selbst einem
so namhaften Zeitgenossen wie dem österreichischen Kanzler Klemens
von Metternich erging es hier nicht besser. Seine bereits im Januar 1839
nach Paris gerichteten Bitten, neben einer genauen Beschreibung des
Verfahrens auch Bildproben zu erhalten, wurden von Daguerre ebenso
freundlich wie bestimmt zurückgewiesen.17 Er folgte hierbei einer vorge
fassten Publikationsstrategie, die für den Franzosen vor allem bedeutete,
möglichst großen ökonomischen Nutzen aus seiner Erfindung zu ziehen.18
Erreicht war dies mit einem Beschluss der französischen Parlaments
kammern im Hochsommer des Jahres 1839. Es spricht für das Raffinement
des Theaterunternehmers und Erfinders, dass er beinahe im selben Au
genblick, da König Louis Philippe die Urkunde mit dem Beschluss einer
Daguerre auf Lebenszeit zu gewährenden Leibrente unterzeichnete,19 auch
seinerseits zur Feder griff. Daguerre hatte jene dringenden Bitten, die ihn
mehrfach aus der Wiener Staatskanzlei erreicht hatten, nicht vergessen
14 Für einen anschaulichen Bericht siehe Carus 1836.
15 Siehe Siegel 2014, 23–25, 28–29.
16 Ebd., 49–55.
17 Der entsprechende Schriftwechsel findet sich heute im Bestand des Wiener
Haus, Hof und Staatsarchivs in den Akten der Staatskanzlei.
18 McCauley 1991. Siegel 2017.
19 Siegel 2014, 230.
SIE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 351
1 Louis Jacques Mandé Daguerre: Stillleben mit einer Büste des Jupiter Verospi,
Daguerreotypie (ganze Platte), ca. 1839. Budapest, Országos Müszaki Múzeum
(Nationalmuseum für Wissenschaft und Technologie). Das Bildfeld ist heute
nicht mehr sichtbar
und auch nicht sein Versprechen, hierauf zu späterer Zeit zurückzukom
men. In prachtvolle Rahmen gefasst und auf dem Passepartout jeweils
persönlich gewidmet, übergab Daguerre noch im August 1839 drei Pro
ben seiner Erfindung an den in Paris tätigen österreichisch-ungarischen
Botschafter Antal Graf Apponyi. Eines dieser Bilder war dem österrei
chischen Kaiser Ferdinand zugedacht, ein zweites Metternich, das dritte
aber dem Botschafter Apponyi.20 Die von Daguerre auf dem Passepartout
angebrachte Notiz weist ganz auf die Gegenwart eines neuen Bildmediums
hin: »Epreuve ayant servi à constater la découverte du daguerréotype of
ferte à Monsieur le Comte d’Apponyi par son très humble, très obéissant
serviteur Daguerre.« Das Bildfeld selbst aber (Abb. 1) beruft sich auf eine
bildnerische Tradition, die bis in die Antike zurückreicht.
20 Für den Fortgang dieses durch Daguerres Schenkungen befeuerten Inter
esses an der Daguerreotypie speziell in Wien und bei Metternich siehe Faber,
Starl 2002. Faber 2003.
352
Ob Daguerre die hohe Bedeutung des Gipsabgusses antiker Bildwer
ke für die Selbstrepräsentation des europäischen Adels im Sinn hatte,21
als er die fotografischen Bildproben für Kaiser, Kanzler und Botschafter
auswählte? 22 Was Apponyi hier auf einem Bildfeld von kaum mehr als 12
mal 15 Zentimetern zusammengerückt fand, war jedenfalls anspielungs
reich genug, um einem Kenner alter wie neuerer Kunst eine detektivische
Freude zu machen.23 In der rechten Mitte findet sich die Reproduktion
eines BasRelief der Justitia vom Portal der Kathedrale von SaintÉtienne,
links daneben eine Darstellung des dornengekrönten Christus, darüber
ein bruchstückhafter Abguss eines Konzerts zweier Engel von der Chiesa
dei Santi Apostoli in Neapel, links außen aber, das gesamte Bildfeld
unverkennbar dominierend, ein Teilabguss als Büste des sogenannten
Jupiter Verospi, der sich einst im römischen Palast der Familie Verospi
am Corso befand (und noch immer nach ihr benannt wird) und heute
in den Vatikanischen Museen besichtigt werden kann. Unverkennbar ist
Daguerres Zugriff auf tradierte Kunstdenkmäler von einem eklektischen
Gestus getragen. Dies aber verhindert nicht, dass ein Jupiter zum promi
nentesten Gesicht eines Bildmediums werden konnte, das in solchen Pro
ben zum allerersten Mal überhaupt neugierigen Betrachtern gegenübertrat.
PATROKLOS
Gerade zu jener Zeit, da Daguerre die ersten Schritte zur Publikation seines
fotografischen Verfahrens unternahm, war ein Gelehrter auf der anderen
Seite des Ärmelkanals intensiv damit beschäftigt, auch den zweiten Teil
seiner gesammelten Studien zur antiken Kultur herauszubringen. Was der
21 Kockel 2000. Zur hieran anschließenden Geschichte der öffentlichen Insti
tutionalisierung von GipsabgussSammlungen siehe Trautwein 1997, 218–235.
22 Die dem Kaiser zugedachte Daguerreotypie gilt bereits seit dem späten 19.
Jahrhundert als verschollen und wurde nie reproduziert. Aussagen über ihren
Bildinhalt lassen sich daher nicht mehr treffen. Metternichs Bildprobe befindet
sich heute in Prag im Národní technické muzeum (Nationales Technikmuse
um). Sie zeigt ein zum Stillleben arrangiertes Ensemble von Gipsabgüssen,
das von einem Jupiter Tonans dominiert wird. Für eine Reproduktion siehe
Gröning/Faber 2006, 9. Apponyis Bildprobe wiederum wird in Budapest im
Országos Müszaki Múzeum (Nationalmuseum für Wissenschaft und Technolo
gie) aufbewahrt. Der Bildinhalt lässt sich jedoch (wie auch in einigen anderen
Fälle von Daguerres Bildern) nur noch durch Reproduktionen erschließen.
23 Pinson 2012, 205.
SIE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 353
Brite William Henry Fox Talbot unter dem Titel »Hermes, or Classical and
Antiquarian Researches« in zwei Bänden zusammenfasste, bewies eine
jahrelange profunde Auseinandersetzung mit der Antike.24 Ganz scheint es
jedoch, als habe er hierüber versäumt, der eigenen Gegenwart und hierbei
insbesondere der Medienmoderne die nötige Aufmerksamkeit zu widmen.
Oder besser doch: die nötige Hartnäckigkeit. Denn tatsächlich lagen zu
jener Zeit, da die beiden Bände des »Hermes« erschienen, in Talbots Schub
laden bereits seit einigen Jahren alles andere als gewöhnliche Bilder. Der
auf erstaunlichen vielen Feldern profund gelehrte Brite 25 hatte zur Mitte
der 1830er Jahre an einem fotografischen Verfahren gearbeitet, das es ihm
ermöglichte, auf einfachem Schreibpapier mit und ohne Kamera Lichtbil
der herzustellen.26 Zwar hatte Talbot zur Unterhaltung von Verwandten und
Freunden hin und wieder Proben solcher Bilder versandt,27 einem darüber
hinausreichenden Kreis jedoch blieben sie vollkommen unbekannt.
Groß genug dürfte daher Talbots Erstaunen und vielleicht auch sei
ne Verärgerung gewesen sein, als er im Januar 1839 in der Zeitung von
Meldungen zu Daguerre und dessen Erfindung las. So sehr sich Talbot,
hiervon angestachelt, im Lauf der kommenden Wochen endlich beeilte,
gegenüber verschiedenen britischen Institutionen seine von ihm als »Pho
togenic Drawings« bezeichneten Fotografien als eine eigenständige Erfin
dung vorzustellen,28 in Fragen des Erfinderruhms musste er sich, zurecht
oder nicht, benachteiligt sehen. Auf die kurzfristigen Ereignisse des Jahres
1839 bezogen, hatte Alexander von Humboldt gewiss recht, wenn er einen
»unangenehme[n] PrioritätsStreit«29 um den Erfinderruhm vorhersagte.
In langfristiger Perspektive betrachtet, stellten sich die Dinge ohnehin
etwas anders dar. Talbot hatte das beträchtlich folgenreichere Verfahren
entwickelt, war es auf dessen Basis doch möglich, nicht allein (wie bei
der Daguerreotypie) ein fotografisches Unikat herzustellen, sondern viel
mehr, durch den Einsatz eines Negativs, eine große Zahl von positiven
Abzügen. Erst dieser Umstand multipler Reproduktionsfähigkeit aber
nahm die Idee des Fotografischen im vollen Umfang ernst und wurde
für die Geschichte des Mediums insgesamt zukunftsweisend. Um diese
24 Talbot 1838–1839.
25 Eine erste umfassende, die wissenschaftlichen Interessen als Ganzes erfas
sende biografische Darstellung unternahm Arnold 1977.
26 Amelunxen 1988. Schaaf 1992.
27 Siehe Siegel 2014, 23.
28 Ebd., 109–134, 140–142, 147–149.
29 Ebd., 79.
354
Idee genauer zu entfalten und ihr hierbei nicht zuletzt eine theoretische
Kontur zu verleihen, bediente sich der Gelehrte Talbot nicht allein der
Kamera, sondern bald auch der Druckerpresse.
Erstmals im Jahr 1844 und sodann in mehreren weiteren Lieferungen
noch bis 1846 erschien in London ein schmales Mappenwerk, das be
reits mit der auffälligen Titelmetapher eine erste These ausstellte: »The
Pencil of Nature«.30 Das von Talbot im Fortgang dieses Tafelwerks aus
insgesamt sechs Faszikeln entwickelte Zusammenspiel aus originalen
fotografischen Abzügen und einem sich anschließenden Kommentar
gehört der Frühphase von Fotobuch wie Fototheorie gleichermaßen an.31
Was Talbot auf den einzelnen Tafeln hierbei zeigte und in deren Folge
jeweils thematisierte, war in überwiegender Zahl aus der unmittelbaren
Lebenswirklichkeit des Erfinders gezogen. Gezeigt werden unter ande
rem Ansichten seines Anwesen in Lacock Abbey im Ganzen wie auch
in näheren Details oder auch inszenierte Darstellungen von Gegenstän
den – Bücher, Porzellan, Gläser –, die sich im Familienbesitz befanden.
Bereits auf Tafel V aber wurde eine solche fotografische Annäherung an
Talbots eigenen Sammlungsbesitz um ein besonders augenfälliges Bild
bereichert: In annähernd quadratischem Bildfeld zu sehen ist hier eine
»Bust of Patroclus« (Abb. 2).32 Der Gipsabguss dieser hellenistischen
Marmor-Büste, deren Original sich im British Museum befindet, war ein
prominenter Teil von Talbots Haushalt und rückte nun in erstaunlich
kunstvoller fotografischer Reproduktion in »The Pencil of Nature« ein.
Reproduktion ist hierbei das für den Fotografen und Kommentator
entscheidende Stichwort. Wie bereits auf früheren Tafeln in »The Pen
cil of Nature« (siehe dort die Tafeln III und IV) wird auch im Fall der
PatroklosBüste auf die Möglichkeit zur visuellen Katalogisierung von
Sammlungsgegenständen hingewiesen. Der Kunstkenner Talbot war sich
hierbei bewusst, dass seine fotografische Aneignung eines Gipsabgusses
direkt an ältere Modelle der Kunstreproduktion anschließt 33 und dass
30 Talbot 1844–1846.
31 Es liegt auf der Hand, dass Talbots »Pencil of Nature« ein besonders intensives
Forschungsinteresse auf sich gezogen hat. Für eine erste Orientierung sind beson
ders geeignet Schaaf 1989. Armstrong 1998, besonders 107–178. Signorini 2007.
32 Dieser Bestimmung einer Darstellung des Patroklos wurde bereits zu Talbots
widersprochen. Gleichwohl übernehme ich hier die von Talbot gewählte Be
zeichnung, da es mir auf dessen persönliche Aneignung der Büste ankommt.
Siehe Taylor 1989. Saltzman 2015, 107–115.
33 Palmer/Frangenberg 2003. Krause/Niehr 2007.
SIE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 355
2 William Henry Fox Talbot: Büste des Patroklos (Tafel V in
»The Pencil of Nature«), Kalotypie (Salzpapierabzug nach
einem Papiernegativ), wohl 1842–1843
er für diese mit Hilfe seines eigenen Bildverfahrens ein neues Kapitel
eröffnen würde.34 Tatsächlich scheint Talbot diese Frage einer fotografi
schen Erfassung skulpturaler Denkmäler besonders wichtig gewesen zu
sein. Denn nicht allein Tafel V, sondern auch die innerhalb des »Pencil
of Nature« späte Tafel XVII zeigt die Patroklos-Büste (Abb. 3), nun je
doch nicht mehr »en face«, sondern ins Profil gedreht. Insbesondere der
Kommentar zur Tafel V entfaltet erste Hinweise zu einer präzisen und
effektvollen fotografischen Reproduktion von Skulpturen. Eine hellenis
tische Büste wird hierbei, vertreten durch einen Gipsabguss, zum Mus
terfall einer dezidiert modernen visuellen Aneignung von Kunstwerken.
34 Hamber 1996. Marien 1997, 114–125.
356
3 William Henry Fox Talbot: Büste des Patroklos (Tafel XVII
in »The Pencil of Nature«), Kalotypie (Salzpapierabzug nach
einem Papiernegativ), wohl 1843
VENUS
Wohl niemand jedoch hat sich in der Frühgeschichte der Fotografie
so ernsthaft mit der Antike auseinandergesetzt wie Hippolyte Bayard.
Es mag erstaunlich genug sein, dass ein Justiziar im Französischen
Finanzministerium, unabhängig von anderen Pionieren der FotografieGeschichte, darauf verfiel, sich an der Entwicklung eines fotografischen
Verfahrens zu versuchen.35 Noch erstaunlicher jedoch ist, wie umfassend
er hierbei bei der Erprobung seiner Technologie auf Gipsabgüsse antiker
Bildwerke zurückgriff. Die Öffentlichkeit nahm von solchen Versuchen
35 Gautrand 1986. Ferner Jammes 1975. Poivert 2001.
SIE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 357
erst mit großer Verspätung Kenntnis. Denn während Talbot zu Beginn
des Jahres 1839 den von der Pariser Académie des Sciences lancierten
Nachrichten von Daguerres Erfindung immerhin ein weit entwickeltes
Verfahren entgegenhalten konnte, also über hinreichend gute Argumente
verfügte, als eigenständiger Erfinder im Feld des Fotografischen Aner
kennung zu beanspruchen, sah sich Bayard zu diesem Zeitpunkt noch
in einem viel früheren Stadium seiner Forschungen.36 Vor allem aber
sah er sich mit Daguerres »Tutor und Paten«,37 dem einflussreichen Wis
senschaftler, Politiker und Wissenschaftspolitiker Dominique François
Arago, konfrontiert. Dieser versuchte die Erfolgsaussichten Daguerres
gerade dadurch zu vergrößern, indem er Ansprüche weiterer möglicher
Erfinder, Bayard hierbei eingeschlossen, ebenso entschieden wie eigen
mächtig zurückdrängte.38
Die von Bayard auf solche Erfahrungen hin seinerseits angesto
ßenen Initiativen liefen zwar ins Leere, stellen aber dennoch mehr als
eine bloße Fußnote zur FotografieGeschichte dar. Denn sie belegen
die Hartnäckigkeit, mit der Bayard für seine Sache eintrat – bis hin
zum, mediengeschichtlich berühmt gewordenen, fingierten Selbstmord
vor der eigenen Kamera im Oktober des folgenden Jahres.39 Doch bevor
es so weit war, nahm der verkannte Erfinder, mit großer Sicherheit
als erster Fotograf überhaupt, im Juni 1839 in der Pariser Salle des
Commissairesprisseurs mit eigenen Bildern an einer öffentlichen
Gruppenausstellung teil. Es handelte sich um eine Benefizveranstaltung
zugunsten von Erdbebenopfern auf der karibischen Insel Martinique.40
Im Oktober desselben Jahres schließlich erreichte er einen ausführli
chen förmlichen Bericht, den die Académie des Beaux-Arts in ihren
Akten veröffentlichte und in dem sie Bayards Erfindung Originalität
bescheinigte und der weiteren öffentlichen Unterstützung empfahl.41
Doch auch diese Erklärung änderte nichts an der Tatsache, dass sich
36 Bayard hatte sich seit Februar 1839 mehrfach an die Académie des Science
gewandt. Bei keinem der von ihm adressierten Wissenschaftler – im Einzelnen
waren dies César Desprets, JeanBaptiste Biot und Dominique François Arago –
fand er ein offenes Ohr.
37 In diesem pointierten Sinne äußerte sich im August 1839 der Pariser Feuille
tonist Jules Janin. Siehe Siegel 2014, 237.
38 Siehe McCauley 1991. Gunthert 2010, 441–451.
39 Sapir 1994. Lerner 2014.
40 Janin 1839. Bayards Beitrag bleibt in Janins Besprechung indes unerwähnt.
41 Siegel 2014, 170–177.
358
die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit längst schon anderen Akteuren
im Feld des Fotografischen zugewandt hatte.42
Von allen Fotopionieren wählte Bayard das wohl ungewöhnlichste
Studio für seine Experimente mit dem Lichtbild. Nicht wenige seiner
frühen Versuche tragen, noch immer deutlich sichtbar, Spuren seiner
originellen Idee. Aufgrund der geringen Lichtempfindlichkeit seiner
Chemikalien war er auf einen besonders intensiven Lichteinfall ange
wiesen und begab sich kurzerhand auf das Dach seines Arbeitgebers,
des Finanzministeriums.43 Wie blass und verwaschen die aus dieser spe
ziellen Perspektive entstandenen Veduten auch immer sein mögen, noch
fast ein Jahrhundert später zogen sie die ungeteilte Bewunderung Kurt
Tucholskys auf sich, der sie anlässlich einer kleinen Sonderausstellung
des »Salon international d’art photographique« von 1927 sah.44 Mögen
diese Stadtansichten bereits für sich genommen interessant genug sein,
erst recht erstaunen müssen jedoch jene Aufnahmen antiker Skulpturen,
die an eben jener luftigen Stelle entstanden sind. Weder wissen wir, woher
Bayard die von ihm fotografierten Gipsabgüsse nahm, noch können wir
mehr als spekulieren, wie es ihm gelang, diese auf das Dach des Minis
teriums zu bringen.
So tritt uns ein Abguss der Venus de’ Medici (Abb. 4) – in spiegelver
kehrter Aufnahme – in denkbar ungewöhnlicher Umgebung vor Augen.
Gewiss ist es das erste Bild, dass diese Skulptur, gemeinsam mit einer
zweiten, in unmittelbarer Nachbarschaft eines Schornsteins zeigt. Deut
lich zeichnen sich im Hintergrund das Dach und weitere Schornsteine ab.
Wie wenig es Bayard hierbei – etwa im Unterschied zu Talbots Kalotypien
des Patroklos – auf eine ästhetisch ausgereifte fotografische Formulie
rung ankam, wird deutlich, wenn man einen Blick in jenes Musterbuch
wirft, das Bayard während seiner Experimente im Jahr 1839 anlegte. Da
er, hier wiederum ganz wie Talbot, Papier als Bildträger verwendete, war
es ihm ohne Umstände möglich, die von ihm erzielten Ergebnisse in ein
solches Album einzukleben.45 Nach und nach entstand auf diese Weise
42 Gerade in diesem frühen Misserfolg aber, als eigenständiger Erfinder und
Fotograf anerkannt zu werden, sieht Michel Poivert eine wesentliche Ursache
für die spätere Anerkennung Bayards als künstlerischer Fotograf. Siehe Poivert
2003.
43 Kemp 2014.
44 Tucholsky 1927.
45 Siehe zu diesem »Cahier d’essais« den Beginn des unpaginierten Tafelteils
in Gautrand 1986.
S IE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 359
4 Hippolyte Bayard: Abguss der Venus de’ Medici auf dem Dach des Französischen
Finanzministeriums, Direktpositiv auf Papier, 1839. Paris, Société française
de photographie (SFP)
eine Sammlung kleiner Bilder, die einer doppelt verfassten Testreihe
gleich auf den insgesamt 67 Seiten des Albums arrangiert wurde (Abb. 5).
Ganz hat es den Anschein, als habe Bayard auf zweifache Weise sein
fotografischen Versuche variieren wollen: zum einen hinsichtlich der
technischen und chemischen Voraussetzungen seiner Direktpositive, zum
anderen aber hinsichtlich der Ikonografie seiner fotografischen Erfassung
von Gipsabgüssen.
360
5 Hippolyte Bayard: Eine Seite aus dem »Cahier d’essais«, Direktpositiv
auf Papier, 1839. Paris, Société française de photographie (SFP)
S ELBS TPORT R ÄT
Jupiter, Patroklos und Venus: Drei sehr unterschiedliche Pioniere im Feld
des Fotografischen bedienen sich drei sehr unterschiedlicher Bildwerke,
um ihrerseits über eine neue Form der Bildlichkeit erste Auskunft zu
geben. Mit Blick auf die klassische Antike taten sie dies überdies unter
sehr verschiedenen Voraussetzungen. Denn während der Brite Talbot
über eine profunde, nicht zuletzt in Cambridge erworbene Ausbildung
verfügte, die es ihm erlaubte, seinerseits zu »Classical and Antiquarian
Researches« beizutragen,46 dürften der Theatermaler Daguerre und der
Jurist Bayard über kaum mehr als allgemeine Kenntnisse zur antiken
Kunstgeschichte verfügt haben. Ihr fotografischer Zugriff auf solche
Bildwerke war daher gewiss eher pauschaler Art. Doch könnte gerade eine
46 Für einen Zusammenhang zwischen Talbots AntikenStudien und dessen
fotografischer Ikonografie argumentiert Weaver 1992.
SIE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 361
solche allgemeine Annäherung an »die Antike« für die Frühphase des
Fotografischen sprechend genug sein. Denn weit vor jeder differenzierten
Funktionsbestimmung dieses neuen Bildmediums, die Talbot in seinem
»The Pencil of Nature« durchaus bereits im Blick hatte, stand eine Frage
von noch größerer Reichweite im Raum: Was überhaupt lässt sich unter
dem Neologismus ›Fotografie‹ fassen?
Die Idee ist hierbei älter als die Sache selbst. Spätestens in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts mehren sich dokumentierte Überlegungen,
die das Prinzip des Fotografischen in äußeren Umrissen gedanklich vor
wegnehmen. Mit einigem Recht lässt sich diese Zeit daher tatsächlich als
eine »Antike der Fotografie« ansprechen. Georg Christoph Lichtenberg
etwa spekulierte um 1765 in Heft A seiner »Sudelbücher« (A220) darüber,
»ob man nicht vielleicht dereinst würde ein Mittel erfind[en,] die Bilder
in der Camera obscura auf dem Papier stehen bleiben zu machen«.47 In
Texten48 wie Bildern,49 so scheint es, wird bereits im 18. Jahrhundert for
muliert und gezeigt, was sich mithilfe von Physik und Chemie erst einige
Jahrzehnte darauf als ein fotografisches Bild einholen lässt. Wirksam ist
in diesen medienhistorisch prominenten Erzählungen ein teleologisches
Geschichtsmodell, das auf die Entfaltung eines Bedürfnisses dringt und
hierbei Wissenschaft wie Technologie der frühen Moderne gewisserma
ßen in der Pflicht sieht, solche Wünsche oder Träume nach fotografischer
Bildlichkeit ›endlich‹ zu erfüllen.50 Mit guten Gründen lassen sich solche
Beschreibungen ihrerseits als von eigenen Interessen geleitete Zuspitzun
gen einer historischen Entwicklung kritisieren, die nicht ›folgerichtig‹ –
gewissermaßen in der Addition von Optik und Fotochemie – auf einen
Augenblick der Einlösung eines latenten, längst gewünschten Potenzials
hin perspektiviert werden kann.51
Für eine solche Kritik spricht der einfache Umstand, dass die mit
dem Jahr 1839 einsetzende Veröffentlichungsgeschichte des Fotografi
schen insbesondere von einem getragen ist: einer ebenso umfassenden
wie differenzierten Bestimmung der ästhetischen und epistemischen
Voraussetzungen und Möglichkeiten solcher neuartigen Bilder. Das
Fotografische tritt hierbei gerade nicht als ein selbstverständlicher Teil
47
48
49
50
51
Lichtenberg 1971, 25. Siehe zu dieser Notiz auch Pfannkuchen 2009.
Zannier 2006. Jay o. J.
Galassi 1981. Geiger 2004.
Morand 1989. Jay 1991. Batchen 1997.
Marien 1991. Snyder 2002. Wolf 2006.
362
der Medienmoderne auf, sondern wird zum Gegenstand einer intensi
ven Debatte.52 Zu ihren frühesten Beiträgen gehören hierbei gerade jene
Bilder, die die Erfinder der verschiedenen fotografischen Verfahren auf
experimentellem Weg anlegten und später als Muster gelungener Produk
tion vorwiesen. Der Blick fällt hierbei nicht allein auf einen Gipsabguss
des Jupiter Verospi oder die Reproduktion einer PatroklosBüste und
der Venus de’ Medici. In der fotografischen Bildwerdung solcher Figuren
zeichnet sich zugleich ein Selbstporträt des neuen Mediums ab. So un
terschiedlich die technologischen Bedingungen der von Daguerre, Talbot
und Bayard entwickelten Prozesse sein mögen und so verschieden, hier
mit einhergehend, insbesondere auch die erzielte Ästhetik ist, in einem
findet sich ihr Interesse geeint: Das von ihnen verfolgte und fraglos hohe
innovatorische Moment des Fotografischen wurzelt in einer weit älteren
Mediengeschichte. Diese Bildtechnologie der Moderne streift ihre Antike
nicht ab, sondern nimmt sie – ganz im Gegenteil – ostentativ in sich auf.
Die materielle Besonderheit dieser Antike ist ihr hierbei weitreichend
entgegengekommen. Gerade die frühe Phase fotografischer Produktion
wird durch das Problem zu langer Belichtungszeiten beherrscht. Zu lang
jedenfalls immer dann, wenn von der wohl am dringlichsten gewünschten
Funktion dieser neuen Bilder die Rede war: der Herstellung von Porträts.53
So zeigte sich etwa ein mit »Sr.« zeichnender Korrespondent der von August
Lewald herausgegeben Zeitschrift »Europa« skeptisch bei der Beantwor
tung einer selbst gestellten Frage: »Wird das Daguerreotyp zur Darstellung
von Porträts sich anwenden lassen? – Wir zweifeln, obgleich Versuche in
dieser Richtung nicht durchaus negativ ausgefallen sind. Aber selbst als
man in Paris Gesicht und Haar des zu Porträtirenden einpuderte, blieb
das Resultat unvollkommen. Und denken Sie, meine Damen, eingepudert,
weiß, wie der steinerne Saft, fünf bis zehn Minuten lang unbeweglich bis
auf die Zunge sitzen zu müssen, um ein Porträt – dessen größter Vorzug
die absoluteste Wahrheit, nicht modificirt durch die subjective Auffassung
des Künstlers, ist – lohnt das wohl die schreckliche Aufgabe?!«54 En passant
angespielt wird hierbei auf eine Technik, die bei frühen Versuchen mit dem
fotografischen Porträt tatsächlich eine Rolle gespielt hat: Zur Erhöhung
der Lichtreflexion wurden die Modelle weiß eingepudert und ähnelten auf
diese Weise unfreiwillig einer Statue oder aber einem Gipsabguss.
52 Siegel 2014, 467–499.
53 Siehe Siegel 2014, zum Beispiel 25–27, 34–35, 36–37, 60–62, 62–64, 96–98,
126, 371–374, 396–401, 423.
54 Ebd., 454.
SIE GE L: D IE A N T I K E D E R F OTO GR A F I E 363
Wenig wird es daher überraschen, dass die Pioniere des Fotografi
schen beim Anfertigen medialer Selbstporträts auf die ungeschminkten
Originale zurückgriffen. Die Verwendung von Gipsabgüssen gewinnt
hierbei einen sprechenden Sinn: Vorgestellt wird das neue Reproduktions
medium in der bildnerischen Aneignung eines anderen, ihm historisch
vorausgehenden Reproduktionsmediums. Sichtbar wird die ins Bild tre
tende Wirklichkeit auf diese Weise in einer Folge von Übersetzungen. Das
Alte tritt, nun um einen weiteren medialen Schritt verlängert, im Neuen
in Erscheinung. Das Neue wiederum wird durch die Präsenz des Alten
in seinem Darstellungsanspruch legitimiert. Zur Anschauung gelangt
eine Verschränkung von Tradition und Innovation, von Kontinuität und
Wandel. Unter der Hand wird hierbei eine Idee von Mediengeschichte
formuliert, die in ›Antike‹ und ›Moderne‹ nicht länger einen unüberwind
lichen Gegensatz sieht.
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GÜNTER BLAMBERG ER
ICHBILD OHNE ICH
Über Kurt Schwitters’ Merzbild 9b (1919)
im Museum Ludwig
In den Naturalis Historiae des Plinius wird von einem Wettstreit zweier
Maler am Ende des fünften Jahrhunderts vor Christus berichtet, wer denn
der größere Künstler von beiden sei. Zeuxis heißt der eine, Parrhasios der
andere. Zeuxis malt dabei Weintrauben so naturgetreu, dass Sperlinge
herbeifliegen, weil sie in den gemalten Trauben Nahrung zu erkennen
glauben. Parrhasios lädt Zeuxis daraufhin in sein Atelier ein. Dieser
entdeckt ein Bild, das hinter einem Vorhang verborgen ist, und bittet
Parrhasios, den Vorhang beiseite zu schieben. Doch auch der Vorhang
ist nur gemalt. Parrhasios hat den Wettstreit damit gewonnen, weil er
nicht nur ein Tier, sondern einen in der Kunst der Täuschung selbst
Erfahrenen hat täuschen können.1
Diese Anekdote gehört zu den Ursprungsmythen jeder Geschichte des
MimesisBegriffs, sie entdeckt das Vergnügen an simulierter Realität als
Vergnügen an der Täuschbarkeit und bestimmt dieses als eine lustvolle
Mischung aus einerseits der Erkenntnis der Differenz von Abbild und Ab
gebildetem und andererseits der Erkenntnis der erfolgreichen Camouflage
dieser Differenz. Die Erkenntnis der Ähnlichkeit, auf der die Wirkung
1 Cf. Plinius Secundus der Ältere: Naturkunde. XXXV (= Plinius 1978),
55 f: »Dieser [Zeuxis] habe so erfolgreich gemalte Trauben ausgestellt, dass die
Vögel zum Schauplatz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so naturgetreu
gemalten leinenen Vorhang aufgestellt, dass der auf das Urteil der Vögel stolze
Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild
zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den
Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler
habe täuschen können.«
370
des Artefakts beruht, hat demnach die Erkenntnis der Unähnlichkeit zur
Voraussetzung und umgekehrt. Was Ähnlichkeit hier heißt, bleibt freilich
eine Leerstelle. Das Beunruhigende und Paradoxe an dieser Anekdote ist,
dass sie eine »Mikrotheorie der Ähnlichkeit«2 – im Sinne einer Funkti
onstheorie von der Wirkmacht der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit auf
den Rezipienten – entwickelt, ohne den Begriff der Ähnlichkeit zwischen
Abbild und Abgebildetem qualitativ zu bestimmen. Dieser Widerspruch
fällt nur deshalb nicht auf, weil die Referenz der medialen Repräsenta
tionen so trivial ist. Von Weintrauben und von einem Vorhang hat jeder
Leser der PliniusAnekdote ein Vergleichsbild aus eigener Anschauung.
Von daher nimmt es nicht Wunder, dass die PliniusAnekdote eine
morphomatische Figuration3 von erstaunlicher Dynamik in der abend
ländischen Kulturgeschichte ist. Sie wird in diversen Künstlerbiographien
variiert, wenn es um die Entdeckung eines MalGenies geht. So soll z. B.
der junge Dürer ein MichelangeloBild kopiert und darauf eine Spinne
gezeichnet haben, die man für echt hielt. Von Tizian wird gesagt, dass er
ein Lamm so täuschend echt zu malen wusste, dass ein Mutterschaf vor
dem Bild freudig geblökt habe.4
Die Persistenz der Legende von der Tiere wie Menschen täuschenden
Simulationskunst genialer Maler könnte nun auch so verstanden werden:
als eine sinnfällige und dessen Aktualität stets wieder neu bezeugende
Demonstration des griechischen Mythos, welcher der Malerei keine Muse
zuspricht, weil sie es anders als andere Künste nur mit dem Sichtbaren zu
tun habe und deshalb eine bloß menschliche Übung sei, ein Handwerk
erlernbar beim Kopieren – von der Natur oder von VorBildern. Demnach
wäre das Problem der Ähnlichkeit auch nur eines der Machart, nicht eines
der Epistemologie wie in den musischen Künsten, in denen es neben ars
und doctrina, also der Beherrschung von Kompositionstechniken und der
Kenntnis von stofflichen Vorlagen, immer auch eines ingenium als einer
divinatorischen Gabe braucht, um das nur Sichtbare zu transzendieren.
Die PliniusAnekdote problematisiert die Relation von Abbild und
Abgebildetem und verdeckt das Problem zugleich in der Schlichtheit
der Referenz ihrer medialen Repräsentationen. Fiele die Camouflage
2 Andree 2005, 36.
3 Zum Begriff der morphomatischen Figuration cf. die einführenden Artikel
in Blamberger/Boschung 2011.
4 Solche Talentproben finden sich zuhauf in Giorgio Vasaris 1550 in Florenz
veröffentlichten Vite de piú eccelenti pittori, scultori, ed architetti. Entzaubert
wurden sie auf brillante Weise in Kris/Kurz 1995.
B LA MB E RGE R : I CH B I L D O H N E I CH 371
auf, wenn es sich nicht um die Wiedergabe von Weintrauben und einem
Vorhang handelte, sondern um die eines menschlichen Gesichts? Von der
Antike bis in die Renaissance hinein wohl kaum, insofern Standardisie
rung selbst die Porträtierung von ›Prominenten‹, etwa von Herrschern,
prägte, deren Erkennbarkeit also weder an die Ähnlichkeit des Äußeren
(in der Physiognomie von Gesicht und Körper) noch der des Inneren
(im Sinne eines Charakterporträts) gebunden war, sondern an standes
gemäße Insignien bzw. Attributierungen. Schwieriger wird es mit der
Relation von Abbild und Abgebildetem seit den Individualbildnissen
der niederländischen und italienischen Maler des 15. Jahrhunderts, bei
Jan van Eyck oder Antonello da Massina z. B., die als Zeugnis der Au
tonomie und Singularität des modernen Menschen gelten können und
gelten wollen.5 Selbst Meta-Porträts, also Techniken der Selbstreflexion,
die z. B. den Porträtmaler mit ins Bild rücken, ändern in der Folgezeit
ja nichts daran, dass das Problem der Ähnlichkeit auch in der Moderne
aporetisch bleibt, insofern das Individuum als ineffabile erscheint. Vom a
priori Unvergleichbaren in seiner lebendigen Entwicklung ein Abbild zu
fixieren, ist ein Widerspruch in sich selbst. Die Popularität des Genres
Porträtmalerei – wie im übrigen auch des Genres Biographie – könnte
jedoch gerade darin begründet sein, dass aus der Sicht des Publikums die
Lust an der Kunst der Simulation wie zugleich ihrer Entlarvung, die Pli
nius zentral war, ersetzt wird durch die Lust an der scheinbar magischen
Aufhebung der Differenz von Abbild und Abgebildetem im lebendigen
Bild. Dergestalt hätte die Porträtmalerei teil an der ReMythisierung des
Schöpferischen seit der Geniezeit, profitierte in ihrer Wirkmacht also
z. B. von den faszinierenden Legenden vom Künstler als »second Maker:
a just PROMETHEUS, under JOVE«6 oder Pygmalion.7
Dank Nietzsches Aus der Seele der Künstler und Wissenschaftler, dank
seiner kritischen Analyse ihrer Schaffenszeugnisse in Menschliches, Allzumenschliches, weiß man, dass die Differenzlogik von Ähnlichkeit und
Unähnlichkeit unbestimmt bleibt und ihren Beunruhigungswert auch
5 Cf. Boehm 1985.
6 Cf. Shaftesbury 1978, S. 207. Hier heißt es – und die auratische Qualität würde
in meinem Argumentationszusammenhang vom Poeten auch auf die amusische
Kunst der Malerei übertragen: »Such a Poet is indeed a second Maker: a just
PROMETHEUS, under JOVE. Like that Sovereign Artist or universal Plastick
Nature, he forms a whole, coherent and proportion’d in itself, with due Subjec
tion and Subordinacy of constituent Parts.«
7 Cf. zur Virulenz des Mythos Meyer/Neumann 1997.
372
dann nicht verliert, wenn interner und externer Beobachter, Abbildender
und Abgebildeter zusammenfallen wie im Medium des Selbstporträts. Die
Anziehungskraft von Selbstporträts scheint gleichfalls darauf zu beruhen,
dass sie diesen blinden Fleck zu verbergen wissen, wie Parrhasios ein
Bild hinter einem Vorhang, der selbst nur Chimäre ist.8 Eine radikale
und zugleich konsequente Thematisierung wie Eskamotierung dieses
Widerspruchs stellt Kurt Schwitters’ Merzbild 9b (Abb. 1; siehe Taf. 11) dar,
das im Jahr 1919 entstanden ist, sich heute im Museum Ludwig in Köln
befindet und von Schwitters Das Grosse Ichbild genannt wurde, obwohl
es kein Selbstporträt des Künstlers ist, eher dem Genre des StillLebens
anzugehören scheint, komponiert aus Überresten, aus zufällig Gesam
meltem. Der Titel ist ein Rätsel, dessen Lösung im Folgenden versucht
werden soll.A1
Kurt Schwitters (1887–1948) gilt dank seiner Vortragskunst als der
Paganini der Lautdichtung, der experimentellen phonetischen Poesie,
lange vor Ernst Jandl, Oskar Pastior oder Thomas Kling, um nur einige
zeitgenössische Autoren zu nennen, die allesamt SchwittersNachfolger
sind. Mit der zwischen 1923 und 1932 in mehreren Versionen komponier
ten Ursonate, die mit Vokalen und Konsonanten spielt, ohne das damit
Bezeichnete erkennbar werden zu lassen, hat er teil an der alle Künste
übergreifenden artistischen Tradition der Avantgarde, die die vorgebliche
Schwerkraft der Bedeutungen aufhebt – in der Verschiebung des Inter
esses vom Bezeichneten auf die Zeichenträger. Was für den Lautpoeten
Schwitters gilt, gilt auch für den bildenden Künstler, also auch für das
Merzbild 9b: Farben, Formen und das Material des Bildes lassen sich
beschreiben. Der Zusammenhang von Zeichenträger und Bezeichnetem
jedoch wird durch den Titel Das Grosse Ichbild zum Rätsel, denn darge
stellt ist weder Schwitters’ Antlitz noch sein Körper. Es handelt sich um
kein figuratives Abbild seiner Person, wie bei einem Selbstporträt erwart
bar, stattdessen lässt sich heterogenes Material identifizieren, das dem
nichtorganischen Bereich angehört. Der Titel behauptet eine Ähnlichkeit
zwischen Abbildendem und Abgebildetem, die Bildgestaltung dagegen
führt diese Behauptung ad absurdum.
Merzbild 9b – diese Bezeichnung beschreibt zunächst die MachArt des
Bildes. Schwitters, der nach dem Abitur Kunstakademien in Hannover,
Dresden und Berlin besuchte, malte zunächst konventionelle Ölbilder.
8 Cf. Nietzsche 1980 und zum Problem der Verlässlichkeit interner Beobach
terperspektiven cf. Blamberger 1991, 33–38.
B LA MB E RGE R : I CH B I L D O H N E I CH 373
1 Kurt Schwitters: Merzbild 9b. Das Grosse Ichbild, 1919. Bild, Tafelmalerei,
verschiedene Materialien, Höhe: 96,8 cm, Breite: 70 cm. Köln, Museum
Ludwig, Inv.Nr. ML 01437, Leihgabe seit 1985 (siehe Taf. 11)
374
Nach dem Ersten Weltkrieg klebte und nagelte er aus zufällig gefundenem
Material seine Bilder zusammen und nannte das ›MerzKunst‹. Merz,
die Mittelsilbe aus ComMerzBank, referiert auf einen aus einer Wer
beschrift ausgeschnittenen Papierschnipsel. Sie evoziert Assoziationen
wie Kommerz, ausmerzen, Scherz, Nerz, März usw. Die Nummerierung
9b bezieht sich auf die chronologische Reihenfolge der innerhalb einer
Werkgruppe erstellten Bilder. Das Grosse Ichbild ist das 9. Merzbild. Mit
dem Buchstaben B nun hat Schwitters vor allem StillLeben bezeichnet.
Zu dieser Bildgattung scheint das Merzbild 9b, das zugleich Porträt sein
will, auch zu gehören, insofern es wie ein StillLeben tote Gegenstände
versammelt – freilich sind es nicht die seit der barocken VanitasKunst
üblichen wie Blumen, Früchte, Gläser, tote Tiere etc. Sichtbar sind ganz
unterschiedliche Materialien. So erkennt man Textuelles, also Wortfrag
mente aus Zeitungs und Plakatausrissen, außerdem Geldscheine und
eine Fahrkarte (cf. die Zahl 87) oder Fundstücke wie Pappscheiben und
Pappleisten. Der Bildgrund besteht aus Papieren unterschiedlicher Form
und Dicke, die ohne Rücksicht auf die Papierform selbst übermalt sind.
Vorherrschend durch Blaugrün und BraunNuancen. Die Formen selbst
sind geometrischer Provenienz, entweder kreis oder trapezförmig und
spitz, wobei die letzteren ineinander stürzen und zugleich wie Keile auf
die Bildmitte zielen, in der die Kreise dominieren, vor allem zwei: ein gro
ßer, gelbbrauner, der zum Teil verdeckt wird durch einen grauschwarzen.
Sonne und Mond stehen hier nebeneinander, wobei totale Mondfinsternis
herrscht, der Mond durch den Schatten der Erde verdunkelt wird. Ein
dunkles, ein apokalyptisches ZeitZeichen, insofern in die graue Scheibe
die Zeiger einer Uhr eingezeichnet sind. Fünf vor Zwölf ist es demnach.
Man darf das ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ent
standene Grosse Ichbild folglich als ein ZeitBild deuten, als Porträt einer
Umbruchs, einer KrisenZeit, die jede Anstrengung auf eine organische,
kontinuierliche, selbstbestimmte Ausbildung und Bewahrung von Indi
vidualität zunichte gemacht hat und jedes figurative Selbstporträt, das
die Einheit des Ich noch gestaltete, als ein Trugbild erscheinen ließe. Im
Fragmentarischen der Text- und Fundstücke, in der Disparatheit der
Materialien, Farben und Formen bildet sich das Chaos einer Zeit ab, die
auch jeden Lebensplan zerrüttet hat. Darin besteht die Ähnlichkeit von
Zeit und Lebensgeschichte. Das Selbstporträt ist im Zeitporträt insofern
aufgehoben und verschwindet in ihm wie der Anspruch des Einzelnen auf
Eigentümlichkeit und damit auch die problematische Frage nach der
Ähnlichkeit von Bild und Person, nach der Abbildbarkeit einer vordem
als unverwechselbar gedachten Individualität.
B LA MB E RGE R : I CH B I L D O H N E I CH 375
Die Nichtigkeit und Banalität des im Bild versammelten Materials
– Geld, Fahrscheine, der Werbeschriftzug der Braufirma Störtebeker für
ihre BierSchatzkiste – bezeugt den Niedergang der moralischen Werte
am Ende des wilhelminischen Zeitalters. Durch den Vorgang des Merzens,
des Collagierens, brechen diese Nichtigkeiten aus dem Wirklichkeits in
den Kunstzusammenhang ein. Das hat Konsequenzen. Vorbei ist es mit
der Vorstellung von der Autonomie der Kunst und ihrer Eignung zur
ästhetischen Erziehung. Die Merzkunst bietet keinen Schutzraum mehr
vor der schlechten Wirklichkeit, in dem sich die freie und selbstbestimmte
Entfaltung von Individualität und Moralität demonstrieren ließe, wie
noch zu den Hochzeiten des bürgerlichen Idealismus in der Kunst der
Klassik und deren Fortschreibung im 19. Jahrhundert. Die Wirklichkeit
dringt ins Kunstwerk ein, wobei, so Schwitters’ Vorgabe, das Zufallsprin
zip regieren soll. Der Merzkünstler wählt das Alltagsmaterial nicht nach
eigener Willkür aus, sondern nimmt das zufällig Vorgefundene: objéts
trouvés, also das ihm gerade NichtEigentümliche, ÜberIndividuelle.
Normalerweise bildet das Selbstporträt eines Malers dessen eigentümliche
Physiognomie wie die seiner Kunst eigentümliche Manier zugleich ab.
Im Merzbild 9b haben wir es mit einem Ichbildnis zu tun, das scheinbar
beides verweigert.
Scheinbar nur, denn die Merzkunst hat nicht nur eine destruktive,
sondern ebenso eine konstruktive Seite. Der Einbruch der Wirklichkeit
in die Kunst hebt die Autonomie des Kunstwerks auf; zugleich werden
die aus dem Wirklichkeitszusammenhang herausgerissenen Fundstücke
im Kunstwerk jedoch qualitativ neu bewertet bzw. in Kunstmaterial um
gewertet. Im Prozess des Merzens lassen sich demnach drei verschiedene
Stadien unterscheiden. Das Einsammeln zufälliger Materialien ist nur das
erste Stadium, folgt man Schwitters Selbstkommentaren:
Kaputt war sowieso alles. Es galt aus den Scherben Neues zu bauen
[nach dem Ersten Weltkrieg]. Das aber ist Merz. Ich nagelte, klebte,
dichtete. […] So habe ich zunächst Bilder aus einem Material kon
struiert, das ich gerade bequem zur Hand hatte, wie Straßenbahn
fahrscheine, Garderobemarken, Holzstückchen, Draht, Bindfaden,
verbogene Räder, Seidenpapier, Blechdosen, Glassplitter usw. Diese
Gegenstände werden, wie sie sind, oder auch verändert, in das Bild
eingefügt, je nachdem es das Bild verlangt. Sie verlieren durch Wer
tung gegeneinander ihren individuellen Charakter, ihr Eigengift,
werden entmaterialisiert und sind Material für das Bild.
376
Das heißt also, dass nach dem Einsammeln des zufällig vorfindbaren
Materials dessen Umwertung erfolgt. Herausgelöst aus seinen Realitäts
bezügen wird das Material in einem zweiten Stadium ›entformelt‹, wie
Schwitters das nennt:
Das Entformeln der Materialien kann schon erfolgen durch ihre Ver
teilung auf der Bildfläche. Es wird noch unterstützt durch Zerteilen,
Verbiegen, Überdecken und Übermalen. Bei der Merzmalerei wird
der Kistendeckel, die Spielkarte, der Zeitungsausschnitt zur Fläche,
Bindfaden, Pinselstrich oder Bleistiftstrich zur Linie, Drahtnetz,
Übermalung oder aufgeklebtes Butterbrotpapier zur Lasur, Watte
zur Weichheit.9
DeReferentialisierung ist also das Ziel, der Rezipient soll nicht mehr
nach Wirklichkeitsbezügen suchen, sondern das Merzbild als konkrete
Kunst betrachten. Das erfordert, die Signifikanten von den Signifikaten
losgelöst zu betrachten. Nicht mehr einen Dosen oder Pappdeckel in
der Mitte eines Merzbildes zu identifizieren, sondern den Kreis, den er
beschreibt, die Farbe, die er trägt. Die Aufmerksamkeit gilt dann auch
der Anordnung der Teile, z. B. der Spannung zwischen den keil bzw.
trapezförmigen TeilStücken zu den runden, kreisförmigen.
Appliziert man die Methodik einer traditionell ikonologischen Kunst
betrachtung im Sinne Erwin Panofskys,10 so hätte man es im ersten Merz
Stadium als Rezipient mit der Erkenntnis der Wirklichkeitsbezüge des
im Bild versammelten Materials zu tun, also mit einer einfachen, voriko
nographischen Beschreibung. Im zweiten MerzStadium dann mit einer
ikonographischen Analyse, insofern, qua DeReferentialisierung nun,
die Kompositionstechniken als solche der konkreten Kunst der Moderne
zu bestimmen wären. Der Übergang zum dritten MerzStadium ist nun
ein fließender: Schon die Betrachtung der Linien, Farben und Formen
des Merzbildes 9b, die Aufmerksamkeit auf die Spannung zwischen den
keil oder trapezförmigen und den runden Teilen erfordert neben der
ikonographische Analyse die ikonologische Kontextuierung in die zeit
genössische Philosophie und Geistesgeschichte. Evoziert wird dergestalt
die Grundspannung in der Kunst der Jahrhundertwende zwischen Sach
und Gemütslinien, Apollinischem und Dionysischem. Den Raum der
9 Schwitters 1981, 37.
10 Cf. Panofsky 1980 sowie Panofsky 1979.
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konkreten Kunst und ihrer nur ikonographischen Analyse verlässt man
endgültig, wenn man die ästhetische Umwertung der Fundstücke noch
weiter treibt. Das »Werten«, die Einfügung in den ästhetischen Zusam
menhang, ist ja der dritte Schritt im Produktionsprozess des Merzens.
Dem entspräche nicht nur eine ikonologische Rezeption im Sinne der
Lebensphilosophie der Jahrhundertwende in ihrer apollinischdionysi
schen Grundspannung, sondern eine spezifisch vitalistische Sichtweise
des Materials. Das Gelbrunde in der Mitte des Merzbild 9b erschiene so
weder als banaler Alltagsgegenstand noch als bloßer Kreis, sondern als
Sonne, und das grauschwarze Runde, das das Gelbrunde überlagert, als
Mond. In einer dergestalt nicht mehr konkreten, sondern symbolischen
Betrachtungsweise würde aus dem Merzbild 9b ein abstraktes Kunstwerk,
ein Verweis auf den von Schwitters verehrten Zeitgenossen Johannes
Molzahn (1892–1965), der kosmische Bilder gemalt hatte: Sonnen, Mond
, Sternbilder, um den Rhythmus und die Energie des Weltalls einzufan
gen, wie er es in seinem Manifest des absoluten Expressionismus im Heft 10
der Zeitschrift Sturm gefordert hatte. Schwitters widmete Molzahn sein
Gedicht Kreisen Welten Du. Sein Merzbild 25 A. Das Sternenbild (Abb. 2)
aus dem Jahr 1920 spricht gleichfalls für den Einfluß Molzahns.11A2
Das Ich ist unrettbar, es ist nicht mehr Herr im eigenen Haus, es
verschwindet in der Menge: Das sind seit Ernst Mach, Sigmund Freud
oder Georg Simmel bekanntlich Gemeinplätze in der Philosophie, Lite
ratur und Malerei um 1900, die auch zu einem Bruch in der Kunst des
Porträts bzw. Selbstporträts führen. In der Bildniskunst der Avantgarden
des 20. Jahrhunderts werden seitdem Varianten des ›nichtähnlichen
Porträts‹ entwickelt, wie Max Imdahl dies genannt hat.12 Schwitters’
Grosses Ichbild ist nicht-figurativ, nicht-mimetisch, es bildet weder das
Antlitz noch die Physiognomie von Schwitters’ riesenhafter Gestalt ab, es
ist selbstverständlich auch kein Charakterbild, und dennoch ein starker
Nachweis von Schwitters’ Identität als Merzkünstler. Die Unvergleich
lichkeit des Individuums mag nicht mehr darstellbar sein, wohl aber die
11 Cf. zur Kontextuierung von Schwitters vor allem den inspirierenden und
inspirierten Aufsatz von Manfred Engel (Engel 2006) sowie Cardinal/Webster
2011.
12 Cf. Imdahl 2000. Imdahl entwickelt die Theorie des ›nichtähnlichen
Porträts‹ am Beispiel einer Zeichnung bzw. einer Skulptur Giacomettis. Zur
Variatonsbreite des ›nichtähnlichen Porträts‹ in den Avantgarden des 20. Jahr
hunderts cf. Gördüren 2013. Schwitters’ Merzkunst ist leider weder bei Imdahl
noch bei Gördüren Gegenstand der Betrachtung.
378
2 Kurt Schwitters: Merzbild 25A. Das Sternenbild, 1920. Montage,
Collage und verschiedene Medien auf Karton, 104,5 × 79 cm. Kunstsammlung
NordrheinWestfalen, Düsseldorf, Inv.Nr 0141
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seiner Arbeitsweise als Künstler, dem Sensationenchaos der Wirklich
keit konstruktiv und gestaltend zu begegnen. »Ich merze, also bin ich«,
könnte man über Schwitters sagen, und dafür spricht auch seine Bastelei
an einem sogenannten Merzbau in seiner Privatwohnung in Hannover.
Dabei handelte es sich um ein baumartig verzweigtes, in alle Richtungen
und Räume wucherndes Gebilde mit Gipshöhlen zur Aufbewahrung von
Erinnerungsstücken an Freunde und Verwandte. Eine von Peter Bisegger
besorgte Rekonstruktion der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Assemblage
findet sich im Sprengel-Museum in Hannover.13
Die Merzbauten, die Schwitters geschaffen hat, sind parabolische
Nachbildungen einer labyrinthischen zeitgenössischen Wirklichkeit und
zugleich Repräsentationen einer wiederum nichtähnlichen Porträtkunst.
Man könnte sie, in Anlehnung an die Titelgebung des Merzbildes 9b, das
ein Ichbildnis ohne Ich ist, gleichfalls rätselhaft Gruppenbild mit Künstler
nennen. Schwitters ist als Bauherr unsichtbar wie seine Freunde, die in
den Gipshöhlen des Merzbaus durch vergessene, verlegte oder entwendete
Gegenstände repräsentiert sind. Man könnte den Merzbau als Sinnbild
einer Sehnsucht des Künstlers deuten, dass jemand in diesem Sammelsu
rium der Objét trouves nicht nur nach den Spuren der Freunde, sondern
mit dem gleichen Eifer nach ihm selbst suchen könnte.14
Denkbar wäre es Schwitters’ Merzbau auch als Statue eines moder
nen Pygmalion zu betrachten. Eine solche Vermutung liegt zumindest
bei einer verbalen Merzplastik nahe, einem textuellen Porträt, einem
Liebesgedicht, das Schwitters im selben Jahr wie Das Merzbild 9b 1919
geschaffen hat:
An Anna Blume
O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe
dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher.
Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist – – bist
du? – Die Leute sagen, du wärest, – laß sie sagen, sie wissen
nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die
Hände, auf den Händen wanderst du.
13 Bildnachweis siehe www.merzbaurekonstruktion.com (1.1.2016).
14 Diese Spekulation verdankt sich Lars Gustafssons wunderbarem Gedicht
Elegie auf verlegte und vergessene Gegenstände. In Gustafsson 2009, S. 61–62 [im
schwedischen Original in Ders. 1990].
380
Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot
liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir! Du deiner dich dir,
ich dir, du mir. – Wir?
Das gehört [beiläufig] in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1. Anna Blume hat ein Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das Girren deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes
Tier, ich liebe dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir,
Wir?
Das gehört [beiläufig] in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt du es Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du
Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne:
»a n n a«.
Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir! 15
Schwitters’ Gedicht An Anna Blume wurde schnell populär, weil sein
Hannoveraner Verleger Paul Steegemann es auf den Litfaßsäulen der
Stadt groß plakatieren ließ. Schwitters selbst hat zahlreiche Variationen
davon entworfen. Ebenso zahlreich sind die Fortdichtungen seiner Anna
Blume.16 Vom Wortmaterial lässt sich dieses Gedicht als Liebesgedicht
klassifizieren, wobei mit der Grammatik der Liebe anarchisch gespielt
und, wie schon bei der Merzmalerei beobachtet, ein Ganzes aus Bruch
stücken heterogener Provenienz zusammengefügt wird. Eingemerzt und
sich gegenseitig nivellierend finden sich z. B. pathetische Anrufungen
(»O, du Geliebte«), banale Adressierungen (»Du schlichtes Mädchen
im Alltagskleid«), gewöhnliche Liebesschwüre im Berliner Dialekt (»ich
liebe dir«) oder expressionistische Kraftausdrücke (»du tropfes Tier«).
Die Bruchstücke sind jedoch in eine klare Komposition eingebunden,
15 Schwitters 1919/20, 72.
16 Cf. Schwitters 1996 sowie Schwitters 2000.
B LA MB E RGE R : I CH B I L D O H N E I CH 381
wie schon das Farbenspiel des Rätsels in der Mitte verrät. Der Vogel
hat die Farbe grün, welche sonst? Grün ist die Komplementärfarbe zu
rot, zusammengesetzt aus den beiden anderen Primärfarben gelb und
blau. Beim Malen wie beim Dichten kommt es Schwitters eben auf
eine klar konstruierte Ästhetik an. Dafür sprechen auch die zahlreichen
Wiederholungen und Korrespondenzen des Namens Anna oder der
Deklinationsübung (»Du deiner dich dir«), sowie ein Refrain (»Das
gehört [beiläufig] nicht hierher«), der dreimal variiert wird, so dass
sich das Gedicht in vier Teile oder besser zwei Hälften gliedern lässt.
»In die kalte Glut« scheint zu gehören, was »die Leute« in der ersten
Gedichthälfte über Anna Blume sagen, denn das reale Mädchen Anna,
so demonstriert es die zweite Gedichthälfte überdeutlich, gibt es nicht.
Sein Porträtbild entspricht keiner Person in der Wirklichkeit, denn es
ist nichts anderes als ein Wortgebilde, aus BuchstabenMaterial geformt
(»a-n-n-a ich träufle deinen Namen«), konkrete Kunst also, Merzkunst,
ein SchwittersGeschöpf, eine verbale Statue vom Künstler als Pygmalion
angebetet und durch seine Kunst verlebendigt. Zugleich ist dieses Gedicht
ein MetaPorträt, es deckt die Genealogie der PorträtKomposition selbst
mit auf und reflektiert sie spielerisch. Zum ›nicht-ähnlichen Porträt‹ in
den Bildenden Künsten finden sich in den literarischen Avantgarden
des 20. Jahrhunderts zahlreiche Varianten, nicht nur in der konkreten,
phonetischen Dichtung eines Kurt Schwitters. So verrät sich die Moder
nität von Porträttechniken der fiktionalen Erzählliteratur im Bruch mit
monoperspektivisch hierarchisierenden und psychologisierenden Gestal
tungsweisen. Die Porträts sind nicht mehr auf eine zentrale, das Äußere
mit dem Inneren kohärent in allen Eigenschaften verbindende Perspektive
festgelegt. Ein noch konventionelles Beispiel wäre z. B. die akzentuierte
Darstellung Tonis in Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks durch
ihre hervorstehende Oberlippe, ein pars pro toto ihrer Unbekümmertheit
und ihres Eigensinns, ihres in allen Lebensphasen und Zeitläuften stets
widerständigen und unverbiegbaren Charakters. Den Paradigmenwan
del zur Moderne kennzeichnen dagegen Porträts, die enigmatisch sind,
Leerstellen offerieren, durch Perspektivenkollisionen den Leser irritieren,
ihre Genealogie offenlegen, um so die Nichtabbildbarkeit des Menschen
zu demonstrieren.17 In der ästhetischen Komposition das Humanum, die
17 Dafür finden sich zahlreiche Varianten. Als einer der ersten hat Peter von
Matt auf den Paradigmenwechsel von der konventionellen zur modernen Por
trättechnik in der Literatur der Moderne am Beispiel von Figurenporträts von
Franz Kafka oder Robert Musil hingewiesen. Cf. Matt 1983.
382
Eigentümlichkeit, und sei es ex negativo, noch zu retten, als unverfügbar
zu zeigen, erscheint heute – in Zeiten grenzenloser Verfügbarkeit durch
digitale Steckbriefe – als ferne Utopie.
BILDREC HTE
1, Taf. 11 Foto: © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_205859.
2 Foto: © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / Kunst
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TH IERRY GREUB
SELBSTENTZUG ALS SELBSTVOLLZUG:
CY TWOMBLYS SELBSTBILDNISSE
TW OMBLYS SEL B STB IL D NISSE?
Ein berühmt gewordenes, Leonardo da Vinci zugeschriebenes Diktum
besagt, dass sich jeder Künstler in seinem Werk selbst ›male‹: »Ogni
pittore dipinge sé«.1 Folgt man dieser Spur, spiegelt jedes Kunstwerk im
Rezeptionsprozess Momente der künstlerischen Eigenart seines Autors.
Eine wichtige und interessante Ergänzung zu dieser Widerspiegelung des
Künstlers in seinem Werk bildet sein Selbstbildnis, denn es verrät, wie
der Künstler sich selbst sieht beziehungsweise wie er gesehen werden will.
Die Frage nach Twomblys Selbstbildnissen wurde bis vor Kurzem als
gegenstandslos betrachtet, da kein einziges gezeichnetes oder gemaltes
Selbstportrait des USamerikanischen Künstlers vorlag.2 Nur in der von
Twombly erst spät, seit Mitte der 1980er Jahren, mit Vorliebe benutzten
Technik des Photographiedrucks3 existieren ein paar wenige Beispiele.
Doch handelt es sich dabei auch um nur vier Polaroidaufnahmen, die
bisher im Umkehrschluss die Richtigkeit der Behauptung nur noch
1 Vgl. Zöllner 1992.
2 Vgl. zum Künstler etwa Varnedoe 1994, Greub 2014, Del Roscio 2014, Greub
2017.
3 Vgl. Greub 2017, 329–374, sowie die vier Bände mit Photographien von
Twombly, NDR Ph IIV; die beste Übersicht bieten NDR Ph II, Ph 2012 sowie
jetzt Ph 2016. – Was photographische Bildnisse betrifft, so liegen von 1965
und 1966 mehrere im Profil aufgenommene Photos von Künstlerkollegen und
Freundinnen von Twombly vor. – Zu den gemalten Portraits hat Reiner Speck
jüngst interessante Details zu seinem eigenen Familienportrait ausgeführt, vgl.
Speck 2014.
386
weiter bestätigten, das Selbstportrait habe innerhalb des umfangreichen
künstlerischen Œuvres Cy Twomblys keine wesentliche Rolle gespielt.
Cy Twombly (1928–2011), der eigentlich Edwind Parker Twombly
hieß und von seinem Vater, einem Baseballspieler, ›Cy‹ gerufen wurde,4
machte selbst nie viel Aufhebens von seiner eigenen Person. In Interviews
betonte er, dass nicht er selbst, sondern seine Kunst das Wichtige und
Bleibende sein würde und dass er einfach nicht an seiner Person interes
siert sei. In einem Gespräch mit Nicholas Serota 2007 begründet er seine
diesbezügliche Verschwiegenheit mit einem Erlebnis aus seiner Kindheit:
CT: I don’t follow too much what people say. I live in Gaeta or
Lexington, and I just have all the time to myself. I don’t have to
worry, I had years and years during which no one could care less, so
I was very well protected. I had my own freedom and that was nice.
I didn’t have to bother with myself ever except as a vehicle to look
for subject matter …
NS: Why have you always been so reticent to talk about your work?
CT: Because … I’d rather talk about other things. It’s like talking
about yourself really – it’s indulgent. I don’t like to feel indulgent. I
guess. And I never did.
NS: True. Probably because for a long time there wasn’t so much
interest.
CT: Probably, but I head away from it now. Because you know, my
parents were from New England. One from near Boston, the other
from Mount Desert Island. It’s very funny, but when I grew up you
always had to say, ›Yes, ma’am‹ and ›Yes, sir‹. And you were never to
talk about yourself. Once I said to my mother: ›You would be happy
if I just kept welldressed and [had] good manners‹, and she said:
›What else is there?‹.5
Gespräche über sich selbst lehnte Twombly ab, wie er überhaupt als ein
demonstrativ zurückgezogen lebender Künstler galt, der sogar bei Vernis
sagen seine Ausstellungen lieber über die Hintertreppe betrat und ebenso
unbemerkt wieder verließ. Er erlaubte lediglich zwei Selbstaus sagen
enthaltende Reportagen über seine aktuelle künstlerische Produktion
und seine villenähnlichen Wohnorte in Rom, Bassano in Teverina und
4 Nach dem berühmten USamerikanischen Baseballspieler Denten True
»Cy(clone)« Young (1867–1955), vgl. Varnedoe 1994, 9.
5 London 2008, 53.
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 387
Gaeta6 – und es sind insgesamt nur drei Interviews mit ihm bekannt. Die
Bildreportagen stammen mehrheitlich aus der Zeit nach 1993/94, als der
Künstler aufgrund einer in den USA geplanten Retrospektive 7 und der im
Bau befindlichen Cy Twombly Gallery in Houston8 in die amerikanischen
Schlagzeilen gekommen war. Er war buchstäblich – so der Titel einer spä
teren Spurensuche – »[v]erschwunden in Italien«9. Es dauerte nochmals
sieben weitere Jahre, bis sich der nun schon über siebzigjährige Twombly
prominenten Interviewern erstmals zum Gespräch stellte: Im Juni 2000
in London David Sylvester (dem berühmt gewordenen Interviewpartner
von Francis Bacon10), im September und Dezember 2007 in Rom Nicholas
Serota (dem damaligen Direktor der Londoner Tate Gallery) und im
Frühjahr 2010 in Paris MarieLaure Bernadac11 anlässlich der Enthüllung
der von Twombly entworfenen Decke in der Salle des Bronzes im Louvre.
Letzteres eine künstlerische Ehre, die im 20. Jahrhundert bisher nur 1953
Georges Braque zuteil geworden war, der im vormaligen Antichambre du
Roi – dem Raum neben der Salle des Bronzes – Deckenmalereien ausführte.12
Es überrascht deshalb wenig, dass eine vorrangig auf Selbsterkun
dung und Selbstinszenierung zielende Gattung, die sich der Beobachtung
des eigenen Ichs bzw. seiner verschiedenen Rollenspielen und Masken
verschrieben hat, und die bekanntermaßen bei Künstlern wie Rembrandt
oder Lovis Corinth zu einer großen Anzahl von sich selbst ›bespiegeln
den‹, (scheinbar) introspektiven Bildnissen führte, bei Cy Twombly kein
größeres Echo fand.13 Mit seiner Zurückhaltung versuchte der Lexingtoner
6 Herrera 1994 und White 1994. – Frühere Photoreportagen sind hier nicht
aufgenommen, vgl. etwa Vogue 1966.
7 Berlin 1994; die Ausstellung wurde zunächst in New York im Museum of
Modern Art vom 25. September 1994 bis 10. Januar 1995 unter dem Titel Cy
Twombly: A Retrospective gezeigt.
8 Houston 2013.
9 Maak 2005.
10 Varnedoe 1994, 41.
11 Ehemalige Konservatorin am Musée Picasso, seit 2003 »conservatrice géné
rale chargée de l’art contemporain au Louvre«.
12 Vgl. Sylvester 2001, Serota 2008, The Ceiling 2010. – Bei MancusiUngaro
2011 handelt es sich nicht um ein Interview im eigentlichen Sinn, sondern
ein Gespräch über den technischen Zustand von Twomblys Werken in der Cy
Twombly Gallery vom 17. September 2000 in Houston. – Vgl. zum Künstler
interview Lichtin 2004 sowie Diers/Blunck/Obrist 2013.
13 Vgl. Pfisterer / von Rosen 2005 und Boehm 1986. – Wichtig für die kunst
historische Beurteilung der Gattung des Selbstbildnisses weniger als Ausdruck
388
sich selbst der medialen Aufmerksamkeit zu entziehen, um diese auf seine
Kunst zu lenken. Allerdings ist zu vermuten, dass er sich der Wirkung
seines Verhaltens, welches der Mythisierung seiner Person Vorschub
leistete, durchaus bewusst sein musste.
PHOTOGRAP H ISCH E SELF-PORTRAITS
Vielleicht geben die vier im photographischen Werk Cy Twomblys wie
Irrlichter aufscheinenden Selbstbildnisse doch einen Hinweis darauf,
dass ihm die eigene Person nicht so unwichtig gewesen sein kann, wie
dies seine zurückhaltende Haltung zu suggerieren scheint. Denn auf
Photostrecken, die in den sechziger und siebziger Jahren in seinen Pa
lazzi in Rom oder Bassano entstanden, präsentiert sich der Künstler in
ostentativer Selbstinszenierung als sich selbst zelebrierender Dandy in
einem feudalen Ambiente (Abb. 1), teils in Gesellschaft seiner adeligen
Ehefrau, der PortraitMalerin Tatiana Franchetti.
Die Bedeutung der Selbstportraits darf man insofern nicht so sehr an
ihrer quantitativen Anzahl neben den insgesamt über 480 Photodrucken
ablesen, als vielmehr an ihrer Positionierung innerhalb der zu Lebzeiten
des Künstlers publizierten Photographiebände. Während der Band Cy
Twombly Photographs 1951–1999 von 2002 mit einem frühen Selbst(?)
Bildnis14 von 1944 in der Art eines impressionistischen pleinairMalers
einsetzt (Cy Twombly with painting box + umbrella of Charles Woodburry,
Oqunquit, MN; Abb. 2)15 und dieses programmatisch noch vor den be
schreibenden Essay stellt (der Band endet mit zehn Portraitaufnahmen
von Künstlerkollegen, Freunden und Twomblys Sohn Alessandro), wird
der 2008 erschienene Band Cy Twombly Photographs 1951–2007 von einem
Selbstbildnis von 2003 eröffnet (vgl. Abb. 7) und von einer Innenaufnah
me des Palazzo in Gaeta abgeschlossen, der drei Selbstportraits von 2003
vorangehen (vgl. Abb. 6–8).16 Da die Auswahl der Photobände keinem
der Selbstbespiegelung als der Einstudierung eines Rollenspiels war der
RembrandtKatalog London 1999.
14 Es ist unklar, ob die Aufnahme von Twombly selbst mit Selbstauslöser oder
von einer anderen Person gemacht wurde; vgl. zu dieser Photographie jetzt
Siegel 2014.
15 NDR Ph I, 5; das frühe Selbstbildnis findet sich auch im Band Cy Twombly
Photographs III 1951–2010 an erster Stelle (NDR Ph III, Taf. 1).
16 NDR Ph II, S. 2, S. 248, Taf. 179–181.
GR E UB : CY T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 389
1 Cy Twombly, Rom, 1966, Photo: Horst P. Horst
2 Cy Twombly: Cy Twombly with painting box +
umbrella of Charles Woodburry, Oqunquit, MN,
1944, Dryprint auf Karton, 43,1 × 27,9 cm
390
3 Cy Twombly besucht die archäologische Ausgrabungsstätte von Selinunt
auf Sizilien, 1963, Photo: Philip Reidford
Zufall unterlag und von Twombly selbst vorgenommen wurde,17 handelt es
sich bei dieser exponierten Anordnung der Selbstbildnisse gleichsam um
ein das photographische Werk umklammerndes Statement des Künstlers,
der mit dieser Geste explizit aufzeigt, wie wichtig ihm auch hier weniger
die eigene Person als die selbstbestimmte Inszenierung der Photographien
war, beginnend bei der Auswahl des Motivs, der Kadrierung des Bildaus
schnitts bis zur Auswahl der als Polaroids mit einer Sofortbildkamera
aufgenommenen Photos.
Als Beleg dafür kann auch der letzte Band mit Photographien
Cy Twomblys gelten. In Cy Twombly Vol. IV: Unpublished Photographs
1951–2011 von 2012, der mit drei Photos des Tempels F von Selinunt
beginnt und mit auf der Karibikinsel SaintBarthélemy geschossenen
Last Pictures vom Frühjahr 2011 endet, halten photographische Aufnah
men erneut wie in einer Klammer die Anfänge und den Abgesang von
Twomblys künstlerischem Schaffen zusammen: Die erste Abbildung der
17 Ebd., 24 bzw. 261.
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 391
4 Cy Twombly: Clouds, SaintBarthélemy, 2011, Dryprint auf Karton,
43,1 × 27,9 cm
SelinuntMiniserie zeigt den Künstler auf Säulenresten sitzend, in nach
denklicher Pose (Abb. 3), während die beiden nachfolgenden Bilder bewei
sen, dass Twombly genauso sehr an den rund um diesen Tempel verstreut
liegenden, unbehauenen Steintrümmern interessiert war wie am Tempel
selbst. Die letzten acht Photos des Bandes, die zu Beginn des Jahres 2011
auf SaintBarthélemy entstanden, können demgegenüber als Wiedergabe
der ›Letzten Worte‹ des am 5. Juli 2011 verstorbenen Künstlers gedeutet
werden: es handelt sich zunächst um eine Abbildung von (sprechenden)
Angel’s Trumpets gefolgt von vier Photos des Blumenschmucks auf Grä
bern des Friedhofs in Lorient und danach zwei Aufblicke zum Himmel
über der Insel mit dem schlichten Titel Clouds (Abb. 4) – das buchstäblich
392
5 Cy Twombly: Cemetery, Lorient – SaintBarthélemy, 2011,
Dryprint auf Karton, 43,1 × 27,9 cm
letzte Wort behält jedoch das Bild Cemetery (Abb. 5), dessen wie himmel
wärts schwebende, photographische ›Fehlstelle‹ über dem Grabschmuck
Cy Twomblys künstlerisches Vermächtnis darzustellen scheint.
War die früheste bekannte photographische Abbildung Cy Twomblys
möglicherweise mit Selbstauslöser entstanden, wogegen jedoch ihr
absolut durchkomponierter Aufbau zu sprechen scheint, so wurde die
Photographie Twomblys vor dem Tempel in Selinunt, die als eine der
wenigen Ausnahmen den Künstler (inszeniert) ins Bild einschließt, von
Philip Reidford aufgenommen. Ähnlich kann auch das erste der drei den
Band von 2008 beschließenden Self-Portraits (Abb. 6) wohl nicht von
Twombly selbst aufgenommen worden sein, da die Aufnahme gleichsam
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 393
6 Cy Twombly: Self-Portrait, Gaeta, 2003, Dryprint auf Karton, 43,1 × 27,9 cm
hinterrücks erfolgte: auf dem mit der SchnappschussÄsthetik spielenden
Bild sind von Twombly selbst nur Rücken und Hinterkopf zu sehen, ohne
dass zu erkennen wäre, wohin er blicken würde – möglicherweise liest er
gerade in einem Buch. Rechts vom Portraitierten, leicht vor ihm positio
niert, ist eine seiner Skulpturen zu erahnen, die nahezu die gesamte rechte
Seite des Polaroids einnimmt. Ähnlich prominent ragt hinter Twombly
eine Fensterfront auf, die das eintretende Licht – und die eine Kreuzform
annehmende Fensterrahmung – zum eigentlichen Protagonisten der
Photographie werden lässt: die Gestalt des in einem wärmenden Pullover
eingehüllten Künstlers löst sich beinahe im gleißenden Gegenlicht auf.
Twombly gibt auch hier nichts von sich selber preis: seine Arbeitsweise
394
7 Cy Twombly: Self-Portrait, Gaeta, 2003, Dryprint auf Karton, 43,1 × 27,9 cm
– längeres Abwarten, Lesen, Nachdenken, Geschehenlassen in einem alles
Übrige auflösenden Licht bilden sein eigentliches Self-Portait.18
Auf den beiden den Band abschließenden Photoaufnahmen sehen
wir den Künstler nun endlich en face: er ist gerade dabei, sich mit seiner
Polaroidkamera selbst zu photographieren, doch weder das aus größerer
Distanz (Abb. 7) noch das aus nächster Nähe (Abb. 8) aufgenommene
Ergebnis lassen vom Künstler mehr erkennen als ein im Licht aufgelöstes,
18 Das lange Abwarten, die Phasen des Nichtstuns und Lesens, bevor ihn in
Schüben der Werkprozess ›überfällt‹, beschreibt Twombly ausführlich in seinen
Interviews, bes. in Serota 2008.
GR E UB : CY T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 395
8 Cy Twombly: Self-Portrait, Gaeta, 2003, Dryprint auf Karton, 43,1 × 27,9 cm
schemenhaftes Brustbild, bei dem sinnigerweise beide Male, abgesehen
von der das Gesicht verdeckenden Kamera, wie als Grundmotiv ein
zwischen Portraitiertem und Betrachter ›eingezogener‹ horizontaler Holz
balken – der an den Querbalken einer altmodischen Staffelei erinnert –
die absichtsvolle Verweigerung von Einsicht in die eigene Person, Alter,
Aussehen, sozialen Stand oder irgendeine Form der Selbsteinschätzung
respektive Selbstinszenierung (und was dergleichen mehr bei den her
kömmlichen Selbstbildnissen Thema gewesen war) markiert. Mit dem
ostentativen Blick in den Spiegel kehrt der Künstler in thematischer und
zeitlicher Hinsicht zu den eigentlichen Wurzeln der Kunst des Selbstbild
nisses zurück, da zu dessen Verfertigung und zur Erkundung des eigenen
396
Selbst von Beginn an neben dem Schattenriss ein Spiegel als technisches
Hilfsgerät zum Einsatz kam. Twombly selbst gibt sich dem Betrachter in
seinen Self-Portraits jedoch gerade nicht zu erkennen, viel eher liegt in der
Geste der ›Ausweichung‹ ein bewusstes Kalkül Twomblys vor, der sogar
dann, wenn er einen Blick über seine Schulter erlaubt (vgl. Abb. 6) und
sogar wenn er mit der Kamera ganz nahe an das eigene Spiegelbild rückt
(vgl. Abb. 8), nichts Weiteres wiedergibt als Schemen und ein Übermaß
an Licht, welches das Bildsubjekt wie ausblendet.19 Was bleibt, ist eine
Person, die sich durch ihr scheinbar solipsistisches Tun – das Photogra
phieren der eigenen Person im Spiegel – definiert. Da sich im Bild aber
der Moment dieser Aktion selbst mitteilt, stellt Twombly darin nicht mehr
und nicht weniger dar, als seine eigene künstlerische Produktion und
die ›malerischen‹ Mittel. Diese, darauf wies Vincent Katz hin,20 stehen in
der Tradition der Piktorialisten, einer kunstphotographischen Bewegung
vom Ausgang des 19. Jahrhunderts, deren photographischen Ästhetik
hinsichtlich der zufällig anmutenden Wahl des Ausschnitts, der mit der
Nähe zum Motiv verbundenen Unschärfe der Konturen, insbesondere
aber der Bedeutung des Lichts sich Twombly bedient. So bleibt Twombly,
wie Laszlo Glozer schreibt, in seinen Photographien »unsichtbarsichtbar
[…], in gebändigtem Sfumato, das Antlitz versteckt hinter der schwarzen
Maske der Kamera.«21
BERÜHMTE R EFER ENZ
Insofern überraschte es vermutlich auch eingefleischte Twombly-Fans,
als im Oktober 2013 im dritten Band der in einem jährlichen Rhythmus
erscheinenden Gesamtedition der Zeichnungen22 des Lexingtoners plötz
lich gezeichnete Selbstbildnisse vom November 1963 auftauchten.23 Kurz
vor Entstehung dieser vierteiligen Serie hatte Twombly in Paris, wo er
als Teilnehmer einer Car Rallye von Rom nach London Zwischenhalt
machte, sieben Zeichnungen mit dem Thema The Death of Giuliano de
19 Vgl. Greub 2017, 355–374.
20 NDR Ph I, 7–8.
21 NDR Ph II, 261.
22 Vgl. Greub 2017, 89–115.
23 NDR Z III, Nr. 232–235 (die nachfolgend in den Anmerkungen aufgeführten
Katalognummern stammen aus diesem Band).
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 397
Medici verfertigt.24 Sie besitzen alle einen ähnlichen Aufbau: Mit Bleistift
ist in der unteren Bildhälfte ein sockelähnliches Quadrat zu erkennen,
in das in extrem rasch und beinahe unleserlich geschriebenen Schrift
zügen »The Death of / Giuliano de Medici« eingefügt wurde. Darunter
folgen Signatur, Ortsangabe und das Entstehungsjahr: »Cy Twombly /
Paris 1963« (Abb. 9).25 Im Verlauf der Blattfolge werden diese Angaben
immer unleserlicher und geraten durcheinander: so steht in der fünften
Zeichnung26 vermutlich »Giuliano de Medici / Death [?] / Cy Twombly /
Paris [?] 1963 / Paris«. Teilweise, wie auch im eben erwähnten Beispiel,
steht die Schrift anstelle des Quadrats, über dem sich etwa in der Mitte
der Blätter eine zugespitzte oder perspektivische Form anschließt, die
von einem ›fenster‹artigen Rechteck abgeschlossen wird, das jeweils mit
wilden Bleistiftschraffuren betont und wie angefüllt ist. Teils in dieser
›Fensterzone‹, aber auch in der ›Verkürzung‹ wie auch darunter finden
sich rote Wachskreideschlieren, verdichtungen und ›spritzer‹. Sie weisen
zusammen mit dem ›altar‹ähnlichen Aufbau der gesamten Komposition
auf die grausame Ermordung Giuliano I. de’ Medicis hin, der am 26.
April 1478 während der Ostermesse im Florentiner Dom im Moment der
Hostienelevation von den Anführern der PazziVerschwörung Bernardo
Bandini Baroncelli und Francesco Pazzi mit einem »tiefen Dolch
stich« und danach »auf brutale Weise […] mit zahlreichen Dolchstößen
niedergemacht«27 worden war.
In der Abfolge der sieben Zeichnungen, die Twombly auf lediglich
12,4 × 8,8 cm messende Notizzettel verfertigte, ist wie bei einem Dau
menkino die Ermordung Giulianos ›cineastisch‹ mitzuverfolgen: in
jeder der Zeichnungen wird der Bleistiftstrich rasender, ›stechender‹ und
abgehackter, so dass die im ersten Blatt noch klare Struktur der Kom
position immer mehr zu einer ›Todesfuge‹ gerät, in der jeder Strich und
jede Übermalung die Dolchstiche im Fleisch des Opfers zu markieren
scheinen. Die Tötung des Medici wird so von Blatt zu Blatt gleichsam
physisch nachvollziehbar. Zugleich referiert Twombly formal eindeutig
auf ein berühmtes Kunstwerk: wie insbesondere der Blick auf das erste
Zeichnungsblatt (vgl. Abb. 9) zeigt, stand Twombly beim Entwerfen der
Zeichnungen ein prominentes architektonisches Vorbild Pate: das von
Michelangelo 1531 vollendete Wandgrab des Giuliano de Medici in der
24
25
26
27
Kat.Nr. 225–231.
Angegeben in den Notes zu NDR Z III 225–228, danach fehlen sie teilweise.
Kat.Nr. 229.
Walter 2003, 157 (beide Zitate).
398
9 Cy Twombly: The Death of Giuliano de Medici, Paris, 1963,
Bleistift, Wachskreide, 12,4 × 8,8 cm, Privatsammlung
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 399
10 Michelangelo: Grabmal des Giuliano de Medici, 1526–1531, Marmor,
Florenz, San Lorenzo, Sagrestia Nuova
400
Neuen Sakristei von San Lorenzo (Abb. 10).28 Die zunächst als ›altar‹
ähnlich gelesene Grundstruktur der Zeichnungen folgt dabei sowohl
dem architektonischen Gesamtaufbau des Grabmals mit der prominen
ten Nischenfigur des Ermordeten als auch der Betonung der beiden (in
›Verkürzung‹) skizzierten Liegefiguren.
DIE GEZEIC H N ETEN SEL B STP O R TR AIT S
Auf diese Blätter folgen im Werkverzeichnis der Gemälde Cy Twomblys
die bereits erwähnten vier Selbstbildnisse 29, deren erste zwei den Titel
Autoritratto, das nächstfolgende Untitled (Ritratto d’Artista) und das
letzte Untitled trägt. Entstanden sind sie alle am 24. November 196330 auf
Blättern, die die Maße von rund 70 × 50 cm aufweisen. Danach folgen auf
meist gleich großen Blättern Zeichnungen ohne Titel oder Einschrei
bungen. Nur eines davon31 ist Untitled (Issus) betitelt und trägt die heute
nicht mehr lesbare KugelschreiberEinschreibung »(Before the Battle)«32
sowie, in einer Art von quadratischer ›Kartusche‹, den (ursprünglichen
Titel) »HYPERION«. Der Schlachtort Alexander des Großen, »Issus«,
ist zwei Mal in der Bildmitte zusammen mit den Namenskürzeln »A.«
und »D.« (die für ›Alexander‹ und ›Dareios‹ stehen) festgehalten. Auf
den nachfolgenden Blättern hat sich Twombly mit »The Lives & Deeds
of The Gods«33 auseinandergesetzt, worauf auf einer der Zeichnungen die
Einschreibung »(…) Apoll [?]«34 verweist. Somit stehen die Selbstbildnisse
zeitlich zwischen der Serie The Death of Giuliano de Medici und histori
schen Schlachtskizzen (Issus) und Götterstudien.
28 Beim ›fenster‹artigen oberen Teil der Zeichnung fühlt man sich zudem an
Botticellis berühmte postume Portraits des Giuliano de Medici erinnert, von
denen es Versionen in Washington (National Gallery of Art) und Bergamo
(Accademia Carrara) gibt, die um 1475–82 entstanden sind.
29 Kat.Nr. 232–235 (vgl. die Farbabbildungen Taf. 12a–d).
30 Nur Kat.Nr. 233 ist im Bild lediglich mit der Datierung »Nov 1963« bezeichnet.
31 Kat.Nr. 239.
32 Vgl. NDR Z III, 171, Kat.Nr. 239.
33 So die Einschreibung in der in Paris entstandenen Zeichnung Untitled von
1963 (Kat.Nr. 285).
34 Kat.Nr. 241. – Die im selben Blatt zu findenden Kürzel »M.« und »V.«
verweisen auf Mars und Venus. – Vgl. dazu die Studien zu Leda (Untitled
(Study for Leda), Kat.Nr. 274), Birth of Venus (Kat.Nr. 279–283) oder Dionysos
(Kat.Nr. 298–302).
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 401
Die vier Autoritratti vom 24. November 1963 müssen ebenfalls als
Serie betrachtet werden. Alle besitzen ähnliche Merkmale, auch wenn
sie sich einem traditionellen Selbstbildnis mit der Bestrebung nach
Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit des Modells fast vollständig
verweigern. Erkennbar ist auf hellem Blattgrund erneut die Aufteilung
in einen oberen und unteren Bereich. Im oberen ist eine zuerst ovale
(Abb. 11), dann als rote Wolke beschreibbare Ballung von Wachskreiden
konstellation zu sehen (Abb. 12), die in den letzten beiden Zeichnungen
zusätzlich mit schwarzen Stiftwolken verbreitert (Abb. 13), übermalt oder
wie durchgestrichen erscheint (Abb. 14). Aus dieser Wolke ragt eine nach
links gerichtete ›Knolle‹, die wahlweise als Nase oder eine sonstige Art
von Ausstülpung zu lesen ist. In einem Fall ist »V. 1«, also wohl ›Version 1‹
beigeschrieben.35 Darüber ist eine Abfolge zu erkennen, die jeweils von »1«
bis »5«36 bzw. von »1« bis »6«37 durchnummeriert ist und die über vier, sechs
bzw. sieben blattförmigen Figurationen steht, was die Tendenz, innerhalb
der Zeichnungen eine Abfolge zu erkennen, bestätigt. Im letzten Blatt sind
statt der für Bewegung oder ein Vorbeigehen stehenden ›O‹ oder ›D‹
förmigen KringelFormen zwei ›wolken‹ähnliche Verdichtungen zu sehen.
Außer bei einer Zeichnung38 sind alle anderen mit einem vertikalen Strich
am Rand versehen, der einmal mit einem und zwei Mal mit zwei »0« am
oberen und unteren Ende markiert ist.39 Er erinnert an eine Maßangabe und
den Usus, bei heranwachsenden Kindern die Erfolge ihres Körperwachs
tums zu markieren. Bei der vorletzten Zeichnung umfasst diese jeweils am
Blattrand angebrachte Markierung nur die eben beschriebene obere Partie
des Blattes, in zwei Fällen40 auch den unteren Bereich. Dieser wird durch
ein mit Bleistift gezeichnetes Hochrechteck gebildet, welches mit grauer
Wachskreide in Twombly’scher Manier ›ausgefüllt‹ worden ist. Bei zwei
Zeichnungen41 hat der Künstler »Lago« annotiert, zusammen mit einem
(teils in Klammer gesetzten) »M.«42, das auch im letzten Blatt auftaucht,
35 Kat.Nr. 234.
36 Kat.Nr. 232 bzw. 233.
37 Kat.Nr. 234.
38 Kat.Nr. 233.
39 Kat.Nr. 232 bzw. 234–235.
40 Kat.Nr. 232 und 235.
41 Kat.Nr. 233 sowie 234.
42 Ohne Klammer (Kat.Nr. 233) könnte dabei ein See, der mit ›M‹ beginnt,
gemeint sein, etwa – um nur ein Beispiel zu geben – der Lago Maggiore; mit
Klammer (Kat.Nr. 234) eine Person oder Gottheit an dessen Ufer.
402
11 Cy Twombly: Autoritratto, Rom, 24. November 1963, Wachskreide,
Acryl, Bleistift, 69,2 × 50,2 cm, Verbleib unbekannt (Kat.Nr. 232;
siehe Taf. 12a)
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 403
12 Cy Twombly: Autoritratto, Rom, November 1963, Wachskreide,
Acryl, Bleistift, 70 × 50 cm, Privatsammlung, Deutschland (Kat.Nr. 233;
siehe Taf. 12b)
404
13 Cy Twombly: Untitled (Ritratto d’Artista), Rom, 24. November 1963,
Wachskreide, Bleistift, Acryl, 68,5 × 48,2 cm, Von der HeydtMuseum,
Wuppertal (Kat.Nr. 234; siehe Taf. 12c)
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 405
14 Cy Twombly: Untitled, Rom, 24. November 1963, Farbstift,
Ölfarbe, 70 × 50 cm, Verbleib unbekannt (Kat.Nr. 235; siehe Taf. 12d)
406
wenn es sich dort nicht um ein »W.« handelt. Das Set an Konfigurationen
vervollständigen in drei Zeichnungen zusätzlich mit »II view«43 bzw. »view
II«44 gekennzeichnete Figurationen, denen jeweils ein ›w‹förmiges Gebil
de beigesellt ist. Es ist mit rosa Wachskreide übermalt und durch einen
schwarzen Punkt sowie eine (einmal bis zur Unkenntlichkeit übermalte)
Form, die an die Kringel an den oberen Blatträndern erinnert, akzentu
iert. In einer skatologischen Lesart wäre damit ein Hinterteil gemeint,
die längliche Form wäre dann als Aussonderung dieses Körperbereichs
zu deuten. Vervollständigt wird das Blatt in allen vier Fällen durch unter
die Einschreibung »Lago« eingetragene TitelBeischriften: Dem ersten
Autoritratto hat Twombly »Autotrato / Roma / Nov 24 1963 / (Cy Twom
bly)« eingeschrieben,45 der zweiten Zeichnung »Autotrato di Artista / Cy
Twombly / Roma Nov 1963«, der dritten – nun zwischen der oberen ›wol
kigen‹ und unteren »See«Zone – »Ritratato di Artista / Nov 24 1963«46 und
der vierten »Autoritrato (Cy Twombly) / Roma 24 Nov 1963«.47
Die vier SelbstbildnisVariationen gleichen einander demnach in den
Grundelementen, die sie alle in leichten Abweichungen benutzen: Ein
›wolkiges‹ Gebilde mit einer Ausstülpung wird in einem zeitlichen Vorbei
gehen gezeigt.48 Darunter ein See, an dem zwei Mal rechterhand eine ›Po‹
ähnliche Konstellation ›ruht‹. Eine ›Maßangabe‹ zeigt die größenmäßige
oder zeitliche Erstreckung des Vorgangs an. Dabei handelt es sich gemäß
der Beischrift um eine »Ansicht« oder »Aussicht«. Ob das Fehlen dieses
Bildteiles in einem der Blätter seine nebensächliche Bedeutung anzeigt,
bleibt unklar, vielleicht war es nur die (vermeintlich) eindeutige Lesart des
Zeichens, das Twombly davon abhielt, es erneut einzuzeichnen. Hat der
Künstler nun sich selbst an einem See gemalt und seinen Körper in die
Elemente einer ›w‹förmigen Figuration und eine ›Wolke‹ mit Nase bzw.
Phallus aufgespaltet – oder handelt es sich um zwei Personen, die an einem
43 Kat.Nr. 232.
44 Kat.Nr. 233 und 234.
45 Nicola Del Roscio entziffert in den Notes »Autoritratto« (vgl. NDR Z III 166,
Kat.Nr. 232).
46 Hier liest Del Roscio »Ritratto di Artista«, betitelt das Blatt jedoch mit
Untitled (Ritratto d’Artista) (vgl. NDR Z III 168, Kat.Nr. 234).
47 Im zweiten und vierten Blatt (Kat.Nr. 233 und 235) transkribiert Nicola
Del Roscio nur Twomblys Signatur, die Orts und Datumsangabe.
48 Twomblys Formel dafür ist: »passes«. Vgl. die Gemälde und Zeichnungen
mit dem Kürzel »Diana passes«, welche von denselben kringelartigen ›o‹ oder
›d‹förmigen Figurationen begleitet werden (HB IV 70).
GR E UB : C Y T W O M B LYS SE L B ST B I L D N I SSE 407
Wasser lagern? Die Einschreibungen »Autotrato«, »Autotrato di Artista«
bzw. »Autoritrato« mit dem zwei Mal angehängten Künstlernamen lassen
an die erste Möglichkeit denken, auch wenn der ein Mal in Klammern ge
setzte Künstlername 49 Zweifel an der Identität aufkommen lässt: es handelt
sich gleichsam um eine Person ›in Klammern‹, was exakt dem bildlichen
Bestand der vier Selbstbildnisse entspricht. Dies betrifft nicht nur die
nicht gegebene Wiedererkennbarkeit des Portraitierten (es fehlen jegliche
physiognomische Angaben), sondern vielmehr auch den Twombly’schen
Rückzug in seine eigenen malerischen ›Ausdrucksmittel‹ wie dem scheinbar
fäkalischen Malen (daher der Hinterteil in Aktion) und seinen ureigensten
Ausdrucksformen: Kringel, Schlieren, Geschmier, Gekritzel, Übermalungen
und Durchstreichungen – so ist jeweils die Bezeichnung »Auto(ri)trato di
Artista« rot durchgestrichen oder durch ein Kreuz ›ausgelöscht‹.
Die Pointe der Selbstbildnisse Cy Twomblys liegt darin, dass uns der
Künstler darin viel mehr von sich selbst preisgibt, als es auf Basis der Bild
oberfläche zunächst den Anschein hat. Er arbeitet auch im Medium des
Selbstportraits mit seinen charakteristischen Wachskreidelinien, Acryl
farbfeldern, Bleistiftstrichen, Farbstiftschlieren und Formfigurationen.
Letztendlich handelt es dabei aber nicht nur um Elemente aus Twomblys
Motivreservoir, denn all diese Linien, Felder, Striche und Schlieren
stammen unzweifelbar von Twombly und sind konstitutive Elemente
seiner Bildsprache. Als solche aber machen sie seine unverwechselbare
künstlerische Handschrift aus. Die vier SelbstbildnisZeichnungen zeigen
uns Twombly, im Gegensatz zu den Photoarbeiten, nicht in Künstlerpose
oder als (anonyme) Person, sondern in seiner Handschrift – als Spur
des Künstlers selbst.50 In raschem Tempo hinskizziert ›portraitieren‹ all
diese ›Kritzeleien‹ und ›Schmierereien‹ Twombly in vollster Aktion, im
Augenblick höchster Präsenz: im Moment des Malens, dem Moment
seiner exponiertesten Selbst(ent)äußerung. Dies verdichtet sich sinnhaft
im Schriftzug »Autotrato (di Artista)«: tatsächlich haben wir es mit
»SelbstSpuren« des Künstlers zu tun, die – so die Bedeutungen des ita
lienischen ›tratto‹, das Twombly beharrlich falsch schreibt – im Singular
den ›Strich‹, aber auch einen ›kurzen Moment‹, im Plural (›tratti‹) aber
auch die ›(Gesichts)züge‹ oder einfach ›Merkmale‹ und ›Wesenszüge‹
meint. Twomblys Merkmale sind so gesehen die eigenen, von ihm hin
gekritzelten Motive, sein eigentlicher Wesenszug der spontanrasche,
49 Kat.Nr. 235.
50 Vgl. zum Thema der ›Spur‹ bei Cy Twombly Dobbe 2014, bes. 412–415 und
Braungart 2014.
408
wie skizzenhaft hingeworfene Schriftzug. Dieser macht momentan und
insgesamt die Spur des Künstler nachvollziehbar, die ein traditionelles
(mit Aspekten wie Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit arbeitendes)
Selbstbildnis nur in äußerst seltenen Fällen (wie etwa der berühmten
Malfaktur Rembrandts) und lediglich in Spuren preis gibt. Zum selbstde
finierenden Moment des Malers in actu erhoben ist das, was Cy Twombly
verbürgt, seine Handschrift – nicht die ›Züge‹ seines Antlitzes, sondern
die gestischen Spuren seiner künstlerischen Arbeit, die Essenz seines
Schaffens. Verglichen mit traditionellen Selbstportraits entzieht sich
Twombly physiognomisch, um dafür im schöpferischen Akt des Malens
sein Innerstes zu ›entblößen‹. Twomblys Autoritratti sind – und das eint
sowohl die Photographien als auch die Zeichnungen – im verbalen, aus
führenden Sinn ›Ritratti‹.
BILDREC HTE
Alle Werke von Cy Twombly: © Cy Twombly Foundation, New York / Rom;
alle Photographien: © Fondazione Nicola Del Roscio. Courtesy Archives
Fondazione Nicola Del Roscio, die Maßangaben aller Photographien be
inhalten den DryprintDruck mitsamt Karton.
1 © Fondazione Nicola Del Roscio. Courtesy Archives Fondazione Nicola
Del Roscio. Photo Horst P. Horst.
2, 4–8 © Fondazione Nicola Del Roscio. Courtesy Archives Fondazione
Nicola Del Roscio.
3 © Fondazione Nicola Del Roscio. Courtesy Archives Fondazione Nicola
Del Roscio. Photo Philip Reidford.
9, 11–14, Taf. 12a–12d © Cy Twombly Foundation. Courtesy Cy Twombly
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III. TEXTE
J AN N. BREMMER
THE PORTRAIT OF THE APOSTLE PAUL
IN THE APOCRYPHAL ACTS OF PAUL
It is somewhat hazardous to offer Dietrich Boschung an article on
portraits when one is not an archaeologist. For a historian of religion
it would be preposterous even to venture into the field of sculpted
portraits, where Boschung is the undisputed master. Instead, I will
offer a discussion of a portrait on paper. Twenty years ago I made a
few observations about a description of the apostle Paul in the apoc
ryphal Acts of Paul and Thecla,1 which have been largely neglected in
subsequent discussions of that passage. Since the last decade has
seen a renewed interest in ancient physiognomics, both Jewish and
GraecoRoman,2 new commentaries on the Acts of Paul,3 and several
new studies of the passage in question,4 it may be useful to take a
fresh look at it now.
The Acts of Paul belong to a series of second and early thirdcentury
works that supplemented the canonical Acts of the Apostles by relating
further adventures of apostles beyond what is said in the canonical Acts.
The chronology of these apocryphal Acts is debated, but we are fortu
nate that in his De baptismo, written between AD 198 and 206, Tertullian
relates that the Acts of Paul was a forgery by a presbyter in Asia Minor.
This notice firmly places these particular Acts before AD 200 and is a
highly important fixed point for dating and locating the composition of
1 Bremmer 1996, 38–39.
2 Jewish: Popović 2007; Linicum 2013. Greco-Roman: Barton 1994; Vogt 1999;
Henkelman 1999; Swain 2007, to which book I refer for the new and/or cor
rected editions of the later versions of Polemon.
3 Mangogna 2004–05; Barrier 2009; unsatisfactory, Pervo 2014, 88–99.
4 Malina/Neyrey 1996, 100–52; Ebner 2005; Betz 2007; Omerzu 2008; Callon
2014; Nicklas 2015.
416
other apocryphal Acts.5 Given that the author of the Acts of Paul knew
the apocryphal Acts of Peter, as recent studies have now persuasively
argued,6 we may assume that the time of their composition was the last
decade of the second century. Perhaps we could even speculate about a
date shortly after AD 198. It is rather striking that in c. III (below) Paul
is said to come walking down the ‘Royal Road,’ that is, the via Sebaste.
This road had been renovated precisely in AD 198, as we can see from
surviving milestones.7 Could it be that this recent renovation work on the
road induced the author to mention it in his text? In any case, a dating
around AD 200 fits well with the assumption that Paul seems to have
had little influence in Asia Minor prior to this time.8 Unfortunately, the
Acts have not been handed down in their original textual form, but have
to be reconstructed from a series of Greek and Coptic fragments. Enough
has survived to give us a good impression of their contents and the order
of events, however.9
Our transmitted text suggests that the Acts probably started with
Paul’s conversion and stay in Damascus, where he finds the congrega
tion fasting (I), although we do not know why.10 Next he goes to Syrian
Antioch, where he stays with a certain Panchares,11 probably a ‘first of the
city;’ 12 the name Panchares and its cognates, it should be noted, is fairly
rare and suggests southern and southwestern Asia Minor, especially
Caria and Pamphylia.13 Having resurrected Panchares’ son and perhaps
also his wife, Phila (a very common name), Paul is expelled from the city
(II) and goes to Iconium, where he is met by a certain Onesiphorus with
5 For the passage, De baptismo 7, see Hilhorst 1996, 150–58; Poupon 1997.
6 Spittler 2008, overlooked by Zwierlein 2013, who improves upon Stoops 2012,
23.
7 Christol/DrewBear 1992; Peter Thonemann on MAMA XI.9. For its modern
situation, see Arslan 2013.
8 Simonetti 1990, but see also Lindemann 1999, 294–322.
9 Until the new edition in the Corpus Christianorum, series apocryphorum comes
out, the best overview of the story is provided by Bovon/Geoltrain 1997–2005,
1.1127–77 (by W. Rordorf et al.). For the Greek, see Lipsius/Bonnet 1891, 235–72.
10 The literature on Paul’s conversion is immense, but see Hurtado 1993;
Bremmer 2008, 224–33.
11 Bovon/Geoltrain 1997–2005, 1.1128 write Anchares, whereas Schneemelcher
1992, 2. 213–70 at 236 n. 13 rightly notes that the Coptic translator understood
the P at the beginning as an article.
12 See Vogt 1931, 5–97 (Paul: 58 ff ).
13 Balzat et al. 2013 s.v.
B R E MME R : T H E A PO S T LE PA UL IN T H E A PO CR YP H A L ACTS OF PAUL 417
his wife Lectra, a very uncommon name,14 and their sons Simmias and
Zeno, whose philosophical names suggest that our author had intellectual
pretensions, as does the name Cleanthes that appears later on (VIII.7);
one can compare these with the literary names Alcmanes, Gratinus and
Antiphanes that appear in the Acts of Andrew.15
The text then rather abruptly mentions that Titus, the well-known
coworker of Paul, had described Paul’s appearance to Onesiphorus, ‘for
he (Onesiphorus) knew him not by flesh, but only in spirit’ (III.2). In
other words, Onesiphorus knows Paul from his writings but has not yet
seen him in person. Understandably, Onesiphorus awaits Paul on the side
of Iconium that looks in the direction of Lystra. In their commentaries,
Barrier and Pervo still accept Ramsay’s late nineteenthcentury study
of the Road and dispute the value of the text,16 but recent epigraphical
studies (note 7) have shown that the author was well informed. Indeed,
this was exactly the side of Iconium where travellers from Syrian Antioch
(II) would have been expected to arrive. It is not difficult to imagine
Onesiphorus eagerly walking some distance down the Road in order to
meet Paul and his companions. At this point, there follows the passage
that is the focus of our contribution:
Καὶ ἐπορεύετο κατὰ τὴν βασιλικὴν ὁδὸν τὴν ἐπὶ Λύστραν, καὶ εἱστήκει ἀπεκδεχόμενος αὐτόν, καὶ τοὺς ἐρχομένους ἐθεώρει κατὰ τὴν
μήνυσιν Τίτου. εἶδεν δὲ τὸν Παῦλον ἐρχόμενον, ἄνδρα μικρὸν τῷ
μεγέθει, ψιλὸν τῇ κεφαλῇ, ἀγκύλον ταῖς κνήμαις, εὐεκτικόν, σύνοφρυν, μικρῶς ἐπίρρινον, χάριτος πλήρη· ποτὲ μὲν γὰρ ἐφαίνετο ὡς
ἄνθρωπος, ποτὲ δὲ ἀγγέλου πρόσωπον εἶχεν.
And he travelled down the Royal Road, the one to Lystra, and he
stood eagerly awaiting him, and he scrutinised the arriving persons
according to Titus’ description. And he saw Paul coming, a man small
of stature, baldheaded, bowlegged, in a good state of body, single
browed, a bit longnosed, full of graciousness. Sometimes he looked
like a mortal, and sometimes he had the face of an angel.
14 The late Olivier Masson (1922–1997: per epist.) has suggested that it may be
an abbreviation of Electra. Onesiphorus is mentioned in 2 Tim 1.16 and 4.19, and
the name is clearly chosen because of Paul’s appreciation for his help, although
it was not uncommon in the region. Cf. Balzat et al. 2013 s.v.
15 Cf. Bremmer 2000, 16. On names in the Acts of Paul, see Bremmer 2017.
16 Ramsay 1893, 30–35.
418
Unlike scholars who wrote around 1900, there is general agreement today
that Christians in the late second century had no idea what Paul really
looked like. That is hardly surprising. All those who had known him
during his missionary travels had long since died. Those who had known
him in Rome were dead, too, and Roman memories of the apostles Peter
and Paul must have mostly vanished as a result of the Neronian perse
cution.17 In fact, the earliest iconographical pictures of the apostle appear
only in the fourth century,18 and the lack of real knowledge about his ap
pearance is evident in the fact that Peter is regularly confused with Paul
in iconography, just as these two apostles are often confused in texts.19
So what do we make of the description in the Acts of Paul? Let us
begin by observing that it is unique in apocryphal literature. That means
that the author must have had a certain purpose in providing this descrip
tion. Our second observation is that the time of writing of the Acts of Paul
coincides with the socalled Second Sophistic and the age of the Greek
novel. Any convincing explanation must take this literary Umwelt into
account. Finally, a convincing explanation has to account for all charac
teristics of the description and not just concentrate on a few of them. With
these observations in mind, I will now turn to previous explanations.
The first serious analysis of our passage was by the meritorious
church historian Robert M. Grant (1917–2014).20 In a brief article he ad
duces a small poem by Archilochus (114 West2):
οὐ φιλέω μέγαν στρατηγὸν οὐδὲ διαπεπλιγμένον
οὐδὲ βοστρύχοισι γαῦρον οὐδ’ ὑπεξυρημένον,
ἀλλά μοι σμικρός τις εἴη καὶ περὶ κνήμας ἰδεῖν
ῥοικός, ἀσφαλέως βεβηκὼς ποσσί, καρδίης πλέως.
I have no liking for a general who is tall, walks with
a swaggering gait, takes pride in his curls, and is
partly shaven. Let mine be one who is short, has a
bent look about the shins, stands firmly on his feet,
and is full of courage (tr. West).
17 Cf. Ameling 2011.
18 Bradner 1967; Wild 1985; Bisconti 2009.
19 Cartlidge/Elliott 2001, 134–48; Eastman 2015.
20 Grant 1982, who is followed by Lindemann 1999, 319 and Bovon/Geoltrain
1997–2005, 1.1129.
B R E MME R : T H E A PO ST LE PA UL IN T H E A PO CR YP H A L ACTS OF PAUL 419
Clearly, Archilochus does not mention the same features that are attrib
uted to Paul in this poem about the ideal general, except for his being
short and bowlegged. Grant suggests that the author of the Acts of Paul
wanted to portray Paul as a good general, but such a conclusion seems
unwarranted. There is nothing in the Acts that suggests a military role
for Paul, and the expression ‘soldiers of Christ’ in the Martyrium Pauli
(4) is too general. Paul also says about himself in an episode that takes
place in Myra, ‘I am a servant of God, and I am alone, a stranger, small
and of no significance among the heathen’ (V.4) – not exactly the words
one would expect of a general! More importantly, such a conclusion would
leave several other details of the description in our Acts unexplained. On
the other hand, I will grant Grant that our author might have known
the poem, as it was very popular in the second century, as witnessed by
quotations and allusions in Dio, Galen and Pollux.21 Such an allusion
would have enhanced the cultural capital of our author.
The next study to be published on the passage was by the equally
meritorious New Testament scholar Abraham Malherbe (1930–2012).22 He
rightly observes that Grant is too selective in comparing the Acts of Paul
and Archilochus, and suggests that descriptions of Heracles served as a
model for the author of the Acts of Paul instead. Admittedly, Heracles
was quite popular with early Christian authors, but Malherbe himself
concedes that baldness and shortness were not the qualities people ad
duced in contemporary description of Heracles, although the latter was
described as a Dactyl by Pausanias and others.23 Once again, there is
otherwise nothing in the Acts of Paul to connect the apostle with Heracles,
and we conclude that this identification is not a persuasive one.
The next generation looked for a solution into a different direction.
The Hungarian Hellenist János Bollók (1944–2001) begins his 1996
study of the description of Paul by observing that we find detailed
physical descriptions in the papyri, for example in warrants for the
arrest of escaped slaves.24 One of his examples, a papyrus from 156 BC,
describes a certain Hermon: ‘of medium height, without beard, with
muscular legs, knotty chin, a birthmark beside his nose on the left, a
scar at the left corner of his mouth and two barbaric letters tattooed
21
22
23
24
For the passages, see West 1989–92, 1.45.
Malherbe 1986, repr. in Malherbe 1989, 165–70.
Cf. Fowler 2000–13, 2.43–44.
Bollók 1996, 1–15.
420
on his right wrist.’ 25 Bollók argues that these descriptions all focus on
external appearance, whereas the Acts of Paul ‘try to indicate how the
apostle’s disposition is reflected even in his external appearance.’ He
adduces here the last sentence: ‘Sometimes he looked like a mortal, and
sometimes he had the face of an angel.’ More important, I think, is to
observe that such detailed descriptions seem to have been characteristic
of Egypt and do not seem to be known from outside that area.26 Bollók
interprets the last sentence of the description as expressing Valentinian
Gnostic thought, but that is completely arbitrary, since Gnostic ideas
play no role in these Acts.27
Bollók is more inspired when looking at physiognomy as a key to
the description of Paul. Whereas in Jewish literature we usually speak
of a physiognomic consciousness, the Greeks had proper handbooks for
reading character from people’s physical appearance. Such handbooks
were available to the author of the Acts of Paul, who may well have known
the most famous one, by Polemon, a sophist from the time of Hadrian.
Unfortunately, his handbook has been lost, but we have a fourthcentury
excerpt by Adamantius as well as a late antique Latin and even several
Arabic versions, which enable us to reconstruct with some confidence the
material that would have been available to the author of our Acts.28 Bollók
adduces a number of physiognomic interpretations in order to explain
the description of Paul, but although this is a good start, his evidence
is incomplete, sometimes wrong and neglects nonphysiognomic mate
rial. He also suggests that the author of the Acts of Paul has translated
observations made by Paul himself about his physical condition in his
Second Letter to the Corinthians, but this approach is hardly persuasive. For
example, Bollók suggests that Paul’s calling himself ‘powerless’ (2. Cor
10.10, 11.29–30, 12.5, 9–10) corresponds to ‘short, bald’ in our description,
but this seems too quick and unconvincing.29 Similarly unpersuasive is
his idea that Paul’s ‘stupid’ (2 Cor 12.11) corresponds with the ‘in good
condition’ of our text. In other words, apart from the use of physiognomy,
Bollók’s interpretations are not persuasive.
25 For tattoos in antiquity, see Jones 1987, reprinted, somewhat revised, in
Caplan 2000, 1–16; Bremmer 2015.
26 Cf. Hübsch 1968; Clarysse 1991, 49–55; Depauw 2011.
27 Similarly, Betz 2007, 136 n. 36.
28 See Swain 2007, 1–5.
29 See also the critique of Nicklas 2015, 334.
B R E M ME R : T H E A PO S T LE PA UL IN T H E A PO CR YP H A L ACTS OF PAUL 421
Curiously, in that very same year, 1996, Malina and Neyrey also dedi
cated a long chapter to a physiognomic explanation of the description of
Paul. Their analysis falls short of finesse, however.30 When talking about
the meeting of Paul’s eyebrows, for example, they argue that this signi
fies a warrior and quote Suetonius on Augustus (Aug. 79.2), who indeed
mentions that the emperor had supercilia coniuncta. Yet they fail to note
that Suetonius was not aiming for a purely physiognomic description,
but trying to present a detailed picture of the appearance of the emperor;
he also notes the emperor’s small and dirty teeth, his small stature, the
spots on his body and his limping. Their example from Philostratus
also will not do. In his biography of Herodes Atticus (VS 552–53), the
sophist mentions a youth who is as tall as a Celt – not a Celtic warrior,
as suggested by Malina and Neyrey – and who has bushy eyebrows that
meet as though they were one. However, this youth wears a garment of
wolfskins and nourishes himself primarily on milk. In other words, he
is not a very civilised person. Unfortunately, their discussion of other
characteristics in the description of Paul is similarly deficient and their
conclusion that Paul is ‘the ideal male figure’ in the Acts of Paul is simply
not substantiated.
Bollók’s analysis has been taken up by Monika Betz, who accepts his
physiognomic analysis, but does not interrogate his results. However, she
does seem to accept his conclusion that Paul’s depiction is not overly
positive. She progresses beyond Bollók by paying detailed attention not
only to the apostle but also to the second protagonist in the Acts of Paul,
the young maiden Thecla. As I had done before her,31 Betz notices that the
portrayal of Thecla includes signs of lovesickness, a motif well known from
the ancient Greek novel, and that she is depicted as being mesmerised by
Paul. Betz analyses descriptions of the first gaze exchanged between lov
ers in ancient novels and convincingly concludes that ‘love at first sight’
is an important element in these novels. Unlike the male protagonists
of the novel, furthermore, Paul is not portrayed as young or handsome.
Because of his unattractive appearance, Paul is not an erotic competitor
for Thecla’s fiancé Thamyris. His physical form contrasts that of hand
some youths in the novels. He represents the message of Christ, and that
message is about spiritual love, not carnal knowledge or procreation.
30 See especially Malina/Neyrey 1996, 134–45.
31 It is somewhat odd that Betz does not refer to my article, considering that
she knows the book in which it appears.
422
Betz does not connect this conclusion with a detailed analysis of the de
piction of Paul, but her conclusion is sound in general. We have to look
to the relationship between Paul and Thecla to understand the purpose
of the depiction of Paul.
The next study from a New Testament perspective is by Heike
Omerzu.32 She argues that we see Paul through the eyes of Onesiphorus.
As she suggests, this focalisation implies that the depiction must be fa
vourable, as is also suggested by the last sentence. She does not provide
a detailed analysis of the description, however, and her conclusion thus
remains unproven. Moreover, her suggestion that Paul must somehow
have seemed to embody the ‘ideal male’ for Thecla’s mother and fiancé is
not supported by the text. They realise that Thecla is captivated by Paul
but ascribe this to some kind of erotic magic rather than to Paul’s being
the perfect hunk.33 As the text makes clear, Thecla is attracted to Paul’s
message about virginity,34 and she has not yet seen Paul in person, as
Omerzu herself observes. In the end, Omerzu’s study remains unsatisfac
tory because she does not analyse the description in detail.
The latest contribution to the discussion, by Callie Callon, takes a dif
ferent direction and argues that the description suggests an ancient phi
losopher. Her point of departure is the description of Paul as σύνοφρυς,
which she suggests translating as ‘knitted brow’ rather than ‘unibrow.’
Unfortunately, her discussion not only mixes up authors, but it is based
on antiquated editions and she has missed some important passages.35
Moreover, her main piece of evidence is translated tendentiously. To
make her interpretation of σύνοφρυς as ‘knitted brow’ plausible, she
adduces the late second-century AD grammarian Pollux (2.49): καὶ τὰς
ὀφρῦς συνάγων ὁ φροντιστής, τὰς ὀφρῦς συνέλκων. She translates this
as ‘and the brows that join [indicate] the deep thinker [the brows being
drawn together],’ but it should be rendered ‘and he who contracts the
brows is the deep thinker, who draws together the brows.’ Furthermore,
there is no suggestion in Pollux that ‘drawing together the brows’ always
has the same connotations as the English expression ‘knitted brows.’ It is
true that Zeno was known for always having his brows contracted (Diog.
32 Omerzu 2008.
33 Cf. Bremmer 1996, 44–45.
34 Cf. Schöllgen 2000.
35 Cf. Callon 2014, 105–06 where she quotes Bergk’s antiquated edition of
Archilochus and Schmidt’s 1862 antiquated edition of Hesychius as dating from
1965 (an Amsterdam reprint!) as well as confusing Pollux with Hesychius.
B R E MME R : T H E A PO ST LE PA UL IN T H E A PO CR YP H A L ACTS OF PAUL 423
Laert. 7.16),36 but, contra Callon, in Hesychius (σ 2688 Latte/Hansen)
σύνοφρυς is glossed as μεγαλόφρων, μεγάλαυχος, ‘arrogant, boastful.’
The second gloss makes clear that Callon’s preference for interpreting
the expression to mean ‘high minded, high moral or intellectual value’
is misplaced: μεγαλόφρων is a vox media and can be either positive or
negative; the second gloss elucidates the first one.
Since Callon’s main argument for interpreting the description of Paul
as that of a philosopher does not hold, we will now try once again to look
at the various terms anew. My point of departure is the conviction that
the description must have had meaning for contemporaneous readers. We
should therefore look at the sorts of values that were typically attached
to the elements of the description. Callon rightly observes that physiog
nomists were very interested in eyes, which are not mentioned here. Yet
this does not mean that we should ignore physiognomic handbooks, as
she concludes.37 After all, the interpretations offered in handbooks often
derived from everyday values and norms; moreover, the lost handbook
of Polemon, which served as the main source for all surviving physiog
nomic handbooks except for that of Pseudo-Aristotle, dates to the same
century as the Acts of Paul and is thus a valuable place to look for paral
lels, even if early Christian writings in general do not display profound
knowledge of physiognomy.38 Handbooks can therefore help us achieve a
better understanding of the passage. We will now explore the following
characteristics: (1) a man small of stature, (2) baldheaded, (3) bowlegged,
(4) in a good state of body, (5) singlebrowed, (6) a bit longnosed and
(7) full of graciousness.
(1) Paul is small. Pointing out someone’s ‘smallness’ was not a com
pliment in ancient Greece, as we can already see in Homer. Tydeus ‘was
small in stature but a real warrior’ (Il. V.801), Polyphemus calls Odysseus
‘small, worthless and a weakling’ (Od. 9.515) and in the Homeric Hymn
to Hermes (456) Apollo says to Hermes that he ‘is so clever, small as you
are.’ In Xenophon’s Memorabilia (2.12.1), when talking about incantations,
Critobulus says: ‘You mean, I take it, that the spell must be fitted to the
listener, so that he may not take the praise for mockery.’ ‘Yes; for to praise
one for his beauty, his stature and his strength who is conscious that he
is short, ugly and puny, is the way to repel him and make him dislike you
more’ (tr. Marchant, Loeb). Thanks to good advice from Pythagoras, the
36 For the reflection of this frowning in his statues, see Zanker 1995, 93–97.
37 Callon 2014, 104.
38 Cf. BoysStones 2007, 111.
424
Samian athlete Eurymenes was victorious in the Olympics ‘in spite of his
small stature’ (Porph. VP. 15), and Agesilaus was a great general despite
being small and lame (Plut. Ag. 2). This negative valuation of smallness
is not that surprising given that the ideal for Greek males and females
was ‘tall and beautiful.’ 39 The physiognomic handbooks also saw small
ness as a handicap, as the pure Greek is neither small nor tall (Polemon,
Leiden version, 35), and small bodies are too fast.40
(2) Paul was bald. Baldness was considered ugly in antiquity,41 and
sometimes as being caused by lust (Ps. Aristotle, Probl. 18). Aristophanes
even praised his own comedy the Clouds (540) on the grounds that it did not
mock bald men – hardly surprisingly, as he himself went bald early.42 Some
people, like the emperor Otho,43 wore wigs to conceal their baldness, and
emperors were afraid of being mocked for their lack of hair.44 It was therefore
with tongue in cheek that Synesius wrote his famous Eulogy of Baldness.
(3) Paul was bowlegged. Archilochus’ poem shows that straight legs
were the ideal. And indeed, comedy mocks Athenians with misshapen
calves, as we see especially in the case of the general Laispodias.45 The
physiognomist Adamantius (B 32), who relies heavily on Polemon, also
notes that those who ‘have guarded the Hellenic and Ionic race and kept
it pure are sufficiently large men, rather broad, upright, strong, with a
rather white colour, pale, having a moderate and rather firm mixture of
flesh, straight legs, etc. (tr. Repath).’ Given this preference for straight
legs,46 we can understand that its opposite was seen in negative terms.
(Pseudo)Aristotle, as quoted by Anonymus Latinus (86), states that bow
legged people were dimwitted, and the physiognomy promulgated under
the name of Aristotle (813a) says that ‘to walk with feet and legs bent out
means femininity, as being a characteristic of women’ (tr. Swain). It is
39 Verdenius 1949; Gomme/Sandbach 1973, 508 on Menander, Per. 521.
40 Ps.Aristoteles, Physiognomonica 813b (various characteristics of men who
are too small); Anonymus Latinus 88.
41 Persius 1.56; Petronius, Sat. 108.1; Plutarch, M. 607a; Suetonius, Dom. 18.2;
Apuleius, Apol. 59.6 with Hunink ad loc., Met. 5.9; Philogelos 56.
42 Eupolis F 89 Kassel/Austin; Arist. Eq. 550, Pax 767–73.
43 Suetonius, Otho 12. For other examples, see Martial 1.72, 12.45; Anth. Pal. 11.68.
44 Cf. Caesar (Suetonius, Divus Julius 45), Tiberius (Tacitus, Ann. 4.57), Caligula
(Suetonius, Gaius 50); Domitian (Juvenalis, Sat. 4.38 calvus Nero; Suetonius,
Domitianus 18; Ausonius, Monost. de ord. XII imper. 11–12).
45 Eupolis F 107 and Kassel/Austin ad loc.; Dunbar and Sommerstein on
Aristophanes, Av. 1569; Pfeiffer on Callimachus F 486.
46 See also Horstmanshoff 2013.
B R E MME R : T H E A PO S T LE PA UL IN T H E A PO CR YP H A L ACTS OF PAUL 425
thus not surprising that the personal name Kyllos, ‘Bowlegged, Bandy
legged,’ was rare in the Greek world.47
(4) Paul was also εὐεκτικόν, ‘in a good state of body.’ The term is
normally used in a positive sense and often combined with ‘healthy.’ 48
Bollók can adduce only one explanation of the term by a physiognomist.
Pseudo-Aristotle (806b) states: ‘When the flesh is hard and constitution
ally firm (εὐεκτικὴ), it indicates insensibility’ (tr. Swain). This passage
hardly counterbalances the many passages where the word has a positive
meaning, however. Bollók also does not sufficiently consider the fact that
this qualification goes directly against a description of Paul by his op
ponents that is quoted by the apostle himself: ‘For they say, “His letters
are weighty and strong, but his bodily presence is weak, and his speech
contemptible”’ (2 Cor 10.10, tr. NRSV).49 Whatever his outer appearance,
the apostle is certainly not weak in the Acts of Paul, and the characteriza
tion seems to contest Paul’s own words in his letters.
(5) Paul is single-browed. The expression σύνοφρυς has been fiercely
debated, as we have seen. Yet the available evidence has been insufficiently
discussed. Let us start by noticing that there are gender differences. For
ancient women, ‘unibrows’ were seen as attractive, in contrast to our
own time or the Middle Ages, when Chaucer’s Cressida was described as
highly attractive ‘save hire browes joynedon yfeere’ (Troilus and Cressida
V 813–14). The attractiveness of a unibrow for women in ancient contexts
is evident in Malalas’ description of Briseis, Achilles’ concubine, as ‘tall,
fair-skinned, with beautiful breasts, a good figure, eyebrows that met
(σύνοφρυς), a good nose, large eyes with painted eyelids and curly hair
which was combed back’ (5.11, tr. E. Jeffreys et al.). Other references to
unibrows are less detailed, but they all suggest that such eyebrows were
seen as attractive for women.50 In fact, Ovid (AA 3.201) tells us that women
sometimes even used makeup to fill in the gap between their eyebrows.
47 Sekunda 1997.
48 Plato, Leg. 684C; Aristotle, EN 1138a, Top. 106a; Plutarch, M. 562EF; Galen,
Thras. 5.830K, 5.884K.
49 Contra Bollók 1996, 8.
50 Theocritus 8.72; Petronius, Sat. 126.15; Juv. 2.93–94; Anacreontea 16.15–17
West; Claud. Epithal. Nupt. Hon. Aug. 267–68; Dares 13: Briseidam formosam,
non alta statura, candidam, capillo flavo et molli, supercililiis iunctis, oculis venustis,
corpore aequali, blandam, affabilem, verecundam, animo simmplici, piam. Dares
probably goes back to a thirdcentury Greek original, a date suited to its physi
ognomic interest, cf. Beschorner 1992, 250–54.
426
It was different for men. The (probably) first-century AD astrologer
Teucer of (Egyptian) Babylon notes in connection with the zodiacal sign
Gemini: ‘And it denotes swarthy persons, with heavy beards,51 meeting
eyebrows, with bald foreheads, swift in their walk, versed in business,
wealthy.’ 52 There can be no doubt that the physical characteristics enumer
ated here are all negative. This also seems clear in a description by Dio
Chrysostom of a man who was brought before an expert on physiognomy:
‘The people brought before him a person of rugged frame and unibrow
(σύνοφρυν), squalid and in sorry state and with callouses on his hands,
wrapped in a sort of coarse, gray mantle, his body shaggy as far as the
ankles and his locks wretchedly shingled.’ 53 There can be no doubt that
in this enumeration the ‘unibrow’ has negative connotations. This is also
the case in an oration of the second century: ‘A man who knits his brows
is clumsy.’ 54 Interestingly and significantly, the unibrow is also one of the
negative features attributed to the AntiChrist in the Latin Vision of Ezra,
the Greek Vorlage of which probably dates to the second century AD.55
Given these examples,56 it is unsurprising that the physiognomists explain
the ‘unibrow’ negatively. PseudoAristotle notes: ‘Eyebrows that meet
signify moroseness, by congruity’ (812b, tr. Swain). In other texts, people
with unibrows are dimwitted (Anonymus Latinus 18) and troublesome
(Adamantius B 37). Now we do not know exactly what the first readers of
the Acts of Paul will have thought, but in light of this evidence, they can
hardly have seen eyebrows that meet as something positive.
(6) Paul is a bit longnosed.57 The term used, ἐπίρρινον, is primarily
found in astrological literature, where it is sometimes combined with
51 For its negative connotations, see Zanker 1995, 112.
52 Teucer, CCAG 7.199 Boll, tr. J. Holden.
53 Dio Chr. 33.54, tr. H. Lamar Crosby, Loeb.
54 Nicostratus apud Stobaeus iv. 22d. 102: ὁ δέ γε συνάγων τὰς ὀφρῦς σκαιός ἐστι.
55 Visio beati Esdrae 76: super cilia pilos habebit in unum, ed. Bogaert 1984. For
the date of the Latin Vision of Ezra, see Bremmer 2018.
56 Note also Ammianus Marc. 23.6.75; Gregory of Nazianzus, C. 1036.10 (PG
37.1336): Ὦ σεμνὲ, καὶ σύνοφρυ καὶ συνηγμένε: Τί οὖν κακίζεις τὴν ἐμὴν εὐμετρίαν?;
Aristaenetus 1.1 p. 1, 11–12 Mazal. A possible exception is Philostratus, VS 2.1.7.
Grossardt 2006, 2.600 on Philostratus, Heroikos 33.39 insufficiently distin
guishes between men and women.
57 Later Latin versions of the Acts of Paul translate μικρῶς ἐπίρρινον as aquilino
nasone. This is a more positive trait in contemporary physiognomy (‘magnani
mous’); these versions also translate the baldness away. Schneemelcher 1992
translates it as ‘a nose somewhat hooked.’
B R E MME R : T H E A PO ST LE PA UL IN T H E A PO CR YP H A L ACTS OF PAUL 427
other good or bad features – these texts do not help us any further.58
Interesting, however, is a brief description of Paul in the Byzantine
pseudoLucianic Philopatris (12): ‘I experienced the same as you when a
Galilean encountered me, who had a bald forehead, a long nose and who
had walked on air into the third heaven.’ 59 The combination of a long nose
and a bald forehead suggests a somewhat negative meaning. Polemon
(Leiden version, 10a) mentions that he had met a man, (probably) from
Lydia, whom he describes as follows: ‘He had an effeminate mouth, was
boastful in his speech, with a long nose, and chin and cheeks far from
his eyes’ (tr. Hoyland). All in all, the characterization of Paul as having a
somewhat long nose is probably not really that flattering, since the model
nose at the time was a square one,60 but it is also not unduly negative.
(7) Paul is full of graciousness and sometimes looks like a mortal, and
sometimes has the face of an angel. Let us start with a formal observa
tion. As Robert Grant notes, the phrase χάριτος πλήρη at the end of the
description in the Acts resembles the words καρδίης πλέως at the end of
Archilochus’ poem.61 The similarity seems to me to support his idea that
our author knew Archilochus, but the similarity is only formal. Starting
with Malina and Neyrey, several authors have noted that χάριτος πλήρη in
our text is clearly an allusion to the description of the preaching and death
of Stephen, the protomartyr, in the canonical Acts of the Apostles (6.8), a
passage that also includes the expression ἀγγέλου πρόσωπον (6.15).62 In
other words, an informed reader who knows the canonical Acts may begin
to suspect that the Acts of Paul will end with Paul’s martyrdom.63 At the
same time, this final section of the description of Paul also shows that
Paul should not be judged merely on the basis of bodily characteristics. He
might not be an attractive and handsome man, but there is more to him
58 Good: Dorotheus Sidonius, p. 412 Pingree. Bad and good: Teucer, CCAG
7.196 Boll; Hippolytos, Ref. 4.15.
59 For the passage, see especially Hilhorst 1993, 41–42, although he unpersua
sively denies the unflattering nature of the description.
60 Philostratus, VA 7.42.3, Heroikos 10.3, 33.39.
61 Grant 1982, 4 n. 22, who did not comment on the fact that the expressions
both come at the end of the descriptions.
62 Malina/Neyrey 1996, 144; Barrier 2009, 74–75; Nicklas 2015, 336–337.
63 Cf. Nicklas 2015. However, it is still debated whether the author of the
Acts of Paul knew the canonical Acts. This is accepted by Bauckham 1997 and
Marguerat 1997, respectively, and Büllesbach 2001; but denied by Gounelle 2004,
425–31 and Dunn 2014, 168–71. Very nuanced and leaving the question open:
Snyder 2018 (forthcoming).
428
than his physical traits.64 This conclusion fits my earlier observation, which
has been further confirmed by Betz (above), that the less-than-flattering
description of Paul makes sense in light of the following chapters, where
Thecla is pictured as being mesmerised by Paul’s message. If Paul had
been described as physically attractive, her fascination could well have
been understood as physical attraction. This less-than-flattering descrip
tion of Paul, in contrast, warns the reader to look in a different direction.
It is Paul’s message that should concern the reader.
We may also wonder whether Socrates is in the background of the
description of Paul. Socrates was very well known among early Christians,
and his death was seen as a kind of martyrdom.65 Although he was gener
ally considered to have been a very wise man, even the wisest according
to the oracle of Delphi, his appearance was ugly and the target of much
mockery by his contemporaries. Whatever the historical truth of descrip
tions of him, the idea that he was ugly was expressed very soon after his
death in a portrait that was not very flattering, since it assimilated him
to a Silenus.66 In our context it is most interesting that Jerome reports
an anecdote from Socrates himself about his appearance. Unfortunately,
he does not report his source, which was probably a Hellenistic treatise,
but that does not diminish its value for us. He relates that once when
Socrates’ two wives were bickering over him, he started to laugh, since he
was ‘the ugliest man, with ape’s nostrils, a bald forehead,67 hairy shoulders
and bandy legs.’ 68 Now, Jerome knew the Acts of Paul.69 Did he see a con
nection between Paul and Socrates? Unfortunately, we do not know, but
one thing is certain: baldness and bandy legs were not the characteristics
of a handsome man in antiquity!
With this anecdote we have reached the end of our contribution.
Analysing a sculpted or painted portrait is always hazardous, as it is
64 As is stressed by Ebner 2005, 60–62.
65 Harnack 1906, 17–49, criticised by Geffcken 1908; Pfattisch 1908; Benz
1950–51; Döring 1979, 143–61; Dassmann 1993, 39; Baumeister 2009, 22–28.
66 Scheibler 1989, 7–33; Zanker 1995, 38–45; Giuliani 1996, 19–42 (several times
republished in revised versions); Cambi 2011, 209–26.
67 According to Artemidorus 1.21, dreaming of a bald forehead means mockery
and stalling of business. This chapter and 1.22 also illustrate the negative con
notations of baldness.
68 Hieronymus, Adv. Iovinianum 1.48 (PL 23,291B): foedissimum hominem, simis
naribus, recalua fronte, pilosis humeris, et repandis cruribus.
69 Hieronymus, De viris illustribus 7.
B R E MME R : T H E A PO ST LE PA UL IN T H E A PO CR YP H A L ACTS OF PAUL 429
virtually impossible to do so in a detached manner without any personal
engagement. The various interpretations of Paul’s portrait suggest that it
is not that different with paper portraits. Yet I do hope that this explora
tion in an area that does not belong to Dietrich Boschung’s specialties is
not without interest for him.70
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MIC HAEL S QUIRE
A PORTRAIT OF THE ANCIENT ARTIST?
SelfPortraiture in
GraecoRoman Visual Culture
The origins of this chapter are twofold. On the one hand, it is based on
preliminary conversations conducted during the tenure of my pampered
Fellowship at the Internationales Kolleg Morphomata in 2014–2015. On
the other hand, the chapter was written to mark the sixtieth birthday
of Dietrich Boschung – one of the two Rektors of the Kolleg, and from
whose broad and specialist knowledge I greatly benefitted during my
stay in Cologne.
When it comes to the workings of ancient portraiture, few living
scholars have proved more insightful than Dietrich Boschung. Whether
one thinks of the seminal volumes cataloguing portraits of Caligula and
Augustus (both within Das römische Herrscherbild series),1 or else of a 2002
book on Statuengruppen des julisch-claudischen Kaiserhauses,2 Boschung
has shown how Roman portraits actively constructed their visual sub
jects. A defining feature of such publications is the author’s formalist
analysis – concerned with the choice of medium, for example, stylistic
allusion, and not least the arrangement of locks.3 But such concern with
‘Bildsprache’ – that is, with the figurative ‘vocabulary’, ‘grammar’ and
1 Boschung 1989a; Boschung 1993. Boschung’s reclassification of Augustan
portraits was the subject of an important review in Smith 1996. My own engage
ments with Boschung’s work during my time at Cologne were oriented around
a different project, now published as Squire 2016.
2 Boschung 2002.
3 For some brief comments on the ‘Zweck und Sinn des Lockenzählens’ (in the
context of the typology of Augustus’ portraits), see Boschung 1993, 8–10.
436
‘syntax’ of Roman portraiture 4 – has gone hand in hand with broader
cultural historical questions: consider, for example, a 2007 book dedi
cated to the Kosmos der Zeichen: Schriftbild und Bildformel in Antike und
Mittelalter (coedited with Hansgerd Hellenkemper, and in cooperation
with Cologne’s RömischGermanisches Museum),5 or most recently the
digital database dedicated to Imagines Principum (an ongoing research
venture with Reinhard Förtsch).6
What is perhaps most characteristic in all this – and particularly
important for understanding the connection with the Morphomata
Kolleg – is the combined attention to both material and literary sources.
Throughout his career, Boschung has always championed the importance
of putting archaeological evidence into dialogue with textual sources, as
indeed vice versa. The MorphomataKolleg stands as an institutional in
stantiation of this multimedial, cultural historical methodology: of work
ing not only through but also between different media, crossfertilising
disciplinary approaches so as to address larger transhistorical questions.
With that agenda in mind, the present chapter is intended as a con
tribution that is part archaeological, part philological and part cultural
historical in scope. In line with the ‘Figurationen des Porträts’ theme,
my subject will be portraiture – in particular, ancient Greek and Roman
images of individuals. But while so much of Boschung’s work has centred
around portraits of the most powerful figures within the Roman empire,
I wish to explore a rather humbler subset of materials: images by an
cient sculptors and painters that place their makers themselves into the
representational frame.
4 For the most developed attempt to articulate this ‘semantic’ system, see
Hölscher 1987 (translated into English – with an important critical introduc
tion by Jaś Elsner – as Hölscher 2004); particularly influential on Boschung’s
thinking was the work of Paul Zanker (not least Zanker 1987, translated into
English as Zanker 1988).
5 Boschung/Hellenkemper 2007. One might also cite – among numerous
other examples – a co-edited volume on different medial presentations of the
Tetrarchy (Boschung/Eck 2006).
6 For a description, see http://archaeologie.unikoeln.de/node/109#imagines:
‘Während Ehreninschriften, Lobreden und Rechenschaftsberichte seine Er
folge genau benennen, historisch verorten und überprüfbar vorlegen können,
argumentiert das Porträt als Bildmedium nonverbal mit positiv empfundenen
Zeichen und Zuordnungen, mit ästhetischen Werten und mit der lebensnahen
körperhaften Präsenz der Rundplastik.’
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 437
Simply put, my concern will be whether – and in what ways – one
can talk about ‘selfportraiture’ as a phenomenon of GraecoRoman
visual culture.7 The question is in one sense small and selfcontained.
But, in keeping with the Morphomata remit, it likewise feeds into larger
concerns: ultimately, I wish not only to think about ancient materials, but
also to adopt a comparative approach, asking how we might situate and
explain the rise of self-portraiture, above all in fourteenth- and especially
fifteenth-century Renaissance art.8 Other themes ensue – about shifting
ideas of the ‘artist’,9 for example, no less than about the ideology of ‘art’
in antiquity and more modern times.10 I return at the end of the chapter
to those bigger questions. I begin, though, by laying out the available
evidence, turning first to archaeological materials, and second to literary
testimonia.
7 Because of the limitations of space, I resist any temptation to delve into still
earlier precedents, not least in the context of Egyptian art: for some discussions,
see e.g. Drenkahn 1995, esp. 338–340; Davis 1989, 110–113; Hall 2014, 13–14;
Hurwit 2015, 13–16.
8 For the proliferation of selfportraits, especially in the midfifteenth cen
tury, see e.g. Brown 2000, esp. 19–22. For treatments of ancient materials
within longer studies of western selfportraiture, see e.g. Goldscheider 1937,
12–15; Bonafoux 1985, 8; Brown 2000, 19–20; Cheney/Faxon/Russo 2000, 1–13;
Calméjane 2006; 41–48; Hall 2014, 14–15 (slightly oversimplifying things in
claiming that ‘our only evidence is references to self-portraits in texts’, 14).
My thinking about selfportraiture is indebted to a number of other stud
ies besides, foremost among them Koortbojian 1992, Koerner 1993, Griener/
Schneeman 1998, Arnold/Schmolinsky/Zahnd 1999, Horký 2003, esp. 182–193,
and Cumming 2009 (a stimulating thematic guide).
9 On the status of the Greek and Roman artist – and the historiography of
shifting attitudes – see DNO 1.xi–liv, along with my comments in Squire 2013,
esp. 359–69, 2015a and 2016b. Fundamental are Schweitzer 1925, Bianchi
Bandinelli 1957 and Guarducci 1958; cf. Toynbee 1951; Guarducci 1962; Burford
1972; Calabi Limentani 1958; Coarelli 1980; Pekáry 1995; Jockey 2001; Tanner
2006, esp. 141–204, 279–283; Thomas 2007; Stewart 2008, 10–38; Osborne 2010
(with response in Tanner 2010, 283–288); MullerDufeu 2011, esp. 265–284;
Harris 2015, esp. 395–396; Hölscher 2015, esp. 112–117, 168–174; Hurwit 2015,
3–30, 147–156 (with my own response in Squire 2017); Hedreen 2016.
10 On the whole question of the ‘art’ of antiquity, see the introductory com
ments in Squire 2010b (along with the other essays in the same edited collec
tion) and Platt/Squire 2017: the most important contribution remains Tanner
2006.
438
1a Attic redfigure stamnos signed by Smikros, c. 510 BC. Brussels, Musées
royaux d’art et d’histoire, inv. A717 (= ARV 2 20, no. 1 / BAPD 200102)
(cf. pl. 13a)
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 439
1b Drawing of an Attic red-figure stamnos signed by Smikros, c. 510 BC. Brussels, Musées royaux
d’art et d’histoire, inv. A717 (= ARV 2 20, no. 1 / BAPD 200102). Drawing by E. Leroux in the early
twentieth century (cf. pl. 13b)
440
I. IMAGES
The archaeological evidence for selfportraiture in classical art can be
surveyed relatively briefly. Of course, it is perfectly possible that numerous
Greek and Roman works integrated the physiognomic features of those
who painted them (whether in such a way as to be noticed, or not). But
only in a very small number of examples can we be confident that artists
played upon such self-reflectivity.
The most important case studies here come in the context of Attic
vasepainting, above all those vases painted by the ‘Pioneers’ towards the
end of the sixth century BC. In a small handful of cases, we find the writ
ten names of known vasepainters featuring amid the painted scenes.11 But
in one sole example – a red-figure stamnos in Brussels dating to around
520 BC – the name of the person who signed the vase is also repeated as
an identifying label (Fig. 1a–b; pl. 13).12
11 For a catalogue of pots featuring known vasepainters as inscribed figures,
see Neer 2002, 133–134 (with discussion at pp. 87–132). Neer lists eight inscribed
portraits, and nine inscribed references to Pioneer painters. The most famous
are: Munich, Staatliche Antikensammlung, inv. 8935 (a red-figure calyx-krater
attributed to Euphronios that again features Smikros as a symposiast: ARV 2
1619, no. 3 bis / BAPD 275007: cf. Neer 2002, 111–117; Hedreen 2016, 22–26);
and Los Angeles, Getty Villa, inv. 82.AE.53 (a redfigure psykter attributed to
Smikros that labels a figure courting a boy by the name of ‘beautiful Leagros’
as Euphronios: BAPD 30685; cf. Neer 2002, 100–101; Hedreen 2016, 42–46 –
although Hedreen’s hypothesis that this might be a work of Euphronios himself
seems stretched). For the claim that such ‘complex pictorial strategies… for the
incorporation of the artist into the work of art were understandable and ap
preciated’ (54), see now Hedreen 2016, with earlier comments in Hedreen 2014.
12 Brussels, Musées royaux d’art et d’histoire, inv. A717 (= ARV 2 20, no. 1 /
BAPD 200102; for the inscriptions, see Immerwahr 1990, 68, no. 400). Cf.
Beazley 1989, 47 (‘the only certain selfportrait of a vasepainter shows him not
at work but off duty’); Frel 1983, esp. 150–151; Keuls 1997, 289 (‘this painting
constitutes the only incontrovertible selfportrait in Greek vase painting, since
all other instances are debatable’); Neer 2002, esp. 87–93 (‘the only selfportrait
that we possess’, 91); Hurwit 2015, 93–96 (adding that ‘Smikros’ selfportrait
on the Brussels stamnos is the earliest surviving selfportrait in Western art’:
182, n. 74); Hedreen 2016, esp. 1–9 (‘the first “selfie” in European culture’, 1).
Although some have claimed to see other selfportraits in Attic vasepainting
(for some examples, see Keuls 1997, 287–288, n. 16), this is the only secure
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 441
In this particular case, there seems to be no doubting the playful
artistry. Above the central scene (and just below the floral border) is an
inscription that declares the name of the painter: Σμῖκρος ἔγραφσεν –
‘Smikros painted [the pot]’. Directly below the letters of the verb, we see
a muscled youth, who is himself once again labelled ‘Smikros’ (Σμῖκρος):
he is shown relaxing on a couch at the symposium, with his right arm
stretched behind his head, and with a kylix in his left hand. In stark
contrast to all the other letters inscribed within the scene, those nam
ing Smikros curve around the figure’s head; indeed, they seem to frame
the very hand of the figure – perhaps emphasising its pivotal role in the
pot’s combined acts of ‘writing’ and ‘painting’ (ἔγραφσεν). Within the
representational frame of the picture, the backward tilt of Smikros’ head
suggests his absorption in the aulosmusic (provided by a woman who
is here named as ‘Helike’).13 For the external viewer of the pot, however,
the motif also points the gaze upwards, drawing attention to the letters of
the naming inscription above: we see Smikros not only looking beyond
the representational frame of the picture, but also inspecting the very
declaration of his own authorship.
Smikros’ signed image is exceptional within the history of Attic
vasepainting. Occasionally, vases render images of other vasepainters at
work: 14 one particularly nice example comes in the interior of a red-figure
kylix in Boston (Fig. 2), adorned with an image of a youth painting a pot
of the same shape (and thereby inviting audiences to see the image inside
the vase in connection with the painted object that frames our view).15 In
case. Of course, one might think that the name (‘Mr Tiny’) might serve as a
generic nickname within the scene – something especially important given the
sympotic context (cf. below, n. 13); in this case, however, the juxtaposition of
signature and identificatory label underscore the selfreference, as perhaps does
the proliferation of different vases on both sides of the stamnos.
13 For those minded to see it, the name Helike – literally a ‘winding’ or ‘revo
lution’ (and hence used of the Great Bear constellation) – perhaps lent an ad
ditional significance to the curvature of Smikros’ written label.
14 For scenes of potters and painters on Attic vases, the key analysis re
mains Ziomecki 1975, esp. 23–27 (with catalogue at 147–157): Ziomecki notes
6 blackfigure and 12 redfigure scenes. Cf. Richter 1924, 64–86; Noble 1969,
esp. 138–140; Beazley 1989, 39–59; Zimmer 1982b, 26–32; Himmelmann 1994,
23–48; Williams 2009.
15 On the cup (Boston, Museum of Fine Arts, inv. 01.8073; ARV 2 342, no. 19 /
BAPD 203543): cf. Richter 1924, 71–72; Ziomecki 1975, 150, no. 13; Hedreen 2016,
228–231. Compare also the inside of a red-figure kylix attributed to Douris in
442
2 Fragment of the interior tondo of an Attic red-figure kylix in the manner of
the Antiphon Painter, early fifth century BC. Boston, Museum of Fine Arts,
inv. 01.8073 (= ARV 2 342, no. 19 / BAPD 203543)
some cases we even find painters heroising their labours: consider a krater
in Caltagirone depicting two naked artisans at work, for example, with
the goddess Athena presiding (Fig. 3); 16 alternatively, one might think of
a hydria in Vicenza (Fig. 4), this time showing Athena and her winged
Victories descending on a workshop in order to present its craftsmen
Berlin, which shows a possible potter or painter holding a skyphos (Berlin,
Staatliche Museen, Antikensammlung, inv. F2542; ARV 2 803, no. 60 / BAPD
209941; cf. Richter 1924, 69, no. 7; Ziomecki 1975, 149, no. 10).
16 For discussion of the vase (Caltagirone, Mueo Civico, inv. 961: BAPD 4355), see
Ziomecki 1975, 151, no. 19; Beazley 1988, 41, 45; Himmelmann 1994, 37; Williams
2009, 307.
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 443
3 Attic red-figure calyx-krater, second half of the fifth century BC.
Caltagirone, Museo Civico, inv. 961 (= BAPD 4355)
4 Attic redfigure kalpishydria attributed to the Leningrad Painter,
early fifth century BC. Vicenza, Collezione Banca Intesa, inv. 2
(= ARV 2 571, no. 73 / BAPD 206564)
444
(and, to the right, a single craftswoman) with crowns.17 Yet what is most
striking in all these examples is the anonymity of those depicted. Just as
these vases go unsigned, so too are their portrayed figures unidentified:
there is little individualising detail here, and nothing to suggest that we
are dealing with images of the specific people who made them.18
As others have argued at much greater length, images like these
nonetheless complicate the idea of Greek craftsmen working as mere
menial labourers, or banausoi.19 At the very least, they suggest an inter
est in rendering the act of manufacture as visual subject. By the same
token, it is worth noting a number of Attic pots that show metalsmiths
and sculptors at work.20 Similiarly, we sometimes find potters featuring
on monumental sculpted dedications – as on a late sixth-century marble
votive-relief showing a male figure defined by his ceramic attributes
(Fig. 5). Now, this image is not a selfportrait: it is signed by a sculptor
named Endoios, whereas the fragmentary inscription seems to name the
dedicant as ‘Pamphaios’.21 Once again, though, the relief suggests that
the same people who made Greek images and objects could also feature
as their subjects.
What about Classical sculpture: are there any extant examples of
Greek sculptors depicting themselves at work? The only (contested)
instance that I know comes from Vari in southern Attica – a late fifthcentury relief carved from the limestone rock of the grotto of Pan at
Vari (Fig. 6a–b). We see a man, dressed in chiton, holding a hammer
and angleiron, and shown to the left of an altar and steps (which were
17 Vicenza, Collezione Banca Intesa, inv. 2 (= ARV 2 571, no. 73 / BAPD 206564);
cf. Richter 1924, 70–71; Ziomecki 1975, 154, no. 32; Williams 2009, 306. One
might also compare a red-figure kylix in Athens with apparently similar motif
(National Museum, Acropolis Collection, inv 2.166: ARV 2 92, no. 64 / BAPD
200761; cf. Richter 1924, 72–73; Ziomecki 147, no. 1; Beazley 1988, 41).
18 Cf. Neer 2002, 92: ‘Such workers are never named in inscriptions, they are
not individualized.’
19 For the classic articulation of the banausoi viewpoint, see BianchiBandinelli
1957; for the whole question of the status of the artist in antiquity, see the
bibliography cited above, n. 9.
20 The best catalogue remains Ziomecki 1975, 28–33; cf. Zimmer 1982b;
Himmelmann 1994, 23–48.
21 Athens, Acropolis Museum, inv. 1322: for discussion, see Richter 1924, 80,
no. 3; Beazley 1989, 48; Keesling 2003, 56–59; Hurwit 2015, 94–95. More gener
ally on Archaic Athenian votives dedicated by craftsmen, see Scheibler 1979,
along with Keesling 2003, 69–75 and Tanner 2006, 155 (with further references).
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 445
5 ‘Potter relief ’ from the Athenian Acropolis, c. 510 BC.
Athens, Acropolis Museum, inv. 1322
carved into the rock at the same time). In this case, the repetition of the
inscribed name (‘Archedemos’) might possibly be understood to indicate
both the subject represented on the relief and the person responsible for
the dedication.22 Yet there are also good reasons for doubting the claim:
22 On the relief – heralded as ‘das früheste gesicherte großplastische Selbst
porträt’, see DNO 2.662–664, no. 1458. For full discussion, see Schörner/Goette
2004, 21–22, with Taf. 10.3–11.2 (and more detailed bibliography at p. 21, n. 118);
for the inscription, see ibid. 46–47, no. 4 (note that the name Ἀρχέδημος ὁ Θηραῖος recurs in three other instances: ibid. 42–59, nos. 1, 7, 9).
446
6a ‘Archedemos reflief ’ carved inside the grotto of Pan at Vari,
late fifth century BC
6b Drawing of the same relief by Ernst Curtius and Johann A.
Kaupert in the late nineteenth century
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 447
the name and image may just as equally have looked back to an earlier
imagined cultic founder.23
Numerous Roman case studies might be introduced here too. Con
sider the imagery adorning the inside of the socalled ‘Kerch sarcopha
gus’ (Fig. 7),24 for instance, or else the relief image of a funerary altar
that seems to show a sculptor carving a bust-portrait of the juxtaposed
female subject (e.g. Fig. 8).25 Although rare, there certainly are Roman
images that depict the act of production – including a muchdiscussed
sarcophagus relief from Ephesus that shows scenes from inside a sculp
tor’s workshop (Fig. 9).26
But can we call these images ‘selfportraits’? In the case of the
Smikros stamnos (cf. Fig. 1ab), the repetition of the name between the
signatureinscription and the painted scene underlines a knowing degree
of self-reference: however fictitious or fantastic, the fabricated game lies
23 Although Schörner/Goette 2004, 22 conclude that ‘das Relief … dürfte so
mit aller Wahrscheinlicheit nach ein Selbstporträt des Archedemos sein’, they
cannot rule out the possibility that it ‘erst in späterer Zeit zur Erinnerung an
Archedemos als den Ktistes des Kultes angelegt wurde’ (22, with further bibli
ography at nn. 125, 128).
24 For discussion, see e.g. Goldman 1999; Fejfer 2008, 156–157. I have not been
able to find details about another case mentioned by MullerDufeu 2011, 68,
115 – of a certain ‘Kozemases’ signing his name and supposed ‘portrait’ within
a fourth-century Thracian tomb-complex near Aleksandrovo in Bulgaria (dis
covered in 2000).
25 For such Roman ‘Berufsdarstellungen’, the most important catalogue is
Zimmer 1982a, esp. 35–41 (cataloguing depictions of ‘Arbeit in Stein’ at pp. 153–
61, nos. 75–83, and ‘Metallarbeit’ at pp. 179–196, nos. 112–140; cf. also Jockey
1998). These and other images of ‘Roman artists’ are discussed in Squire 2015
(with more detailed bibliography): particularly important are the inscribed fu
nerary images of Eutychides and Zenon (DNO 3.205, no. 2027; DNO 5.610–611,
no. 4214). For Fig. 8 specifically, see Zimmer 1982a, 157–158, no. 80; d’Ambra
1998, 94–95; Varner 2006, 290–292 – along with the catalogue entry in Boschung
1987, 114, no. 958.
26 To the left of the relief, we see five male figures, each apparently assigned
a specific labor: one is engaged in a sketch; a second figure chisels away at a
togate statue; a third seems to be polishing a fragment on a table; a fourth is
shown at work on the drapery of a bust; finally, in the middle of the relief, a
young boy looks on, holding additional tools in his arms. For discussions, see
Mendel 1912, 78–80, no. 13; Conlin 1997, 31–32; Jockey 1998, 637–638; Russell
2013, 345–347; for parallels, cf. Van Voorhis 1998, 175, n. 6, along with the 38
examples catalogued in Jockey 1998.
448
7 Scene of a painter’s workshop painted inside a limestone sarcophagus
from Kerch, first/second century AD. Saint Petersburg, State Hermitage
Museum, inv. P1899.81
8 Marble funerary altar from Rome, early second
century AD. Vatican Museums, Galleria dei
Candalabri, inv. 2671
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 449
9 Drawing of a sarcophagus relief from Ephesus depicting a Roman sculptural workshop, second century AD
450
in recognising the painter of the vase as a welltodo participant at the
symposium.27 With most other examples things seem rather trickier. In
the majority of instances, we do not know who made the objects (a reveal
ing fact in its own right); when it comes to Roman funerary monuments,
moreover, we might reasonably think that it was not the deceased subjects
who made these images. There can be no doubt that GraecoRoman
artists visualised the act of artistic manufacture. Generally speaking,
though, such images seem to function less as self-referential reflections of
the people who made them than as generic scenes of craftsmen at work.
ALL IMAGES HAVE BEEN INCORPORATED BEFORE BEGIN
NING OF NEXT SECTION
II. TEXTS
There is another type of evidence that needs to be considered here: the
evidence of literary texts.28 Textual sources are important for two over
arching reasons: first, they alert us to celebrated images that are today
lost; second, and perhaps more significantly, they provide examples of
ancient viewers – which is to say ancient authors – explicitly discussing
those images as likenesses of the people who made them.
The publication in 2014 of Der Neue Overbeck (DNO) – a monumental,
5volume anthology of 4280 literary and epigraphic sources ‘zu den bil
denden Künsten der Griechen’ – can greatly aid us in collecting the most
pertinent passages. Although DNO does not contain a thematic index,
there seem to me seven relevant textual case studies.29 The limitations of
space prevent me from citing all seven texts in full. Let me begin, though,
by providing a brief analysis of the passages, following the chronology of
the artists that are mentioned.30
27 For discussion (and bibliographic review) of Smikros’ image and other ‘Pot
ter Portraits’, see Topper 2012, 147–155, championing the ‘fantastical’ elements
of the ‘implausible scenarios’ (149); still fundamental is Keuls 1997, 283–292.
28 For an initial discussion, see the comments on ‘autoportraits’ in Nowicka
1993, 175–176.
29 Cf. Squire 2015b, 532.
30 My selection omits Pausanias’ description of a throne of Apollo Karneios
made by the Archaic sculptor Bathykles and displayed at Amyklai (DNO
1.218–222, no. 311 = Pausanias, Description of Greece 3.18.9–3.19.5). Förtsch 2001,
81–82 postulates that Pausanias (3.18.14) mentions a selfportrait of Bathykles
amid the scenes, comparing the evidence of Theodorus (‘Hier seien Bathykles
und seine Werkstatt dargestellt gewesen … Durch derart prominente Votive
banden sich Künstler in zentrale Erlebnisbereiche der Öffentlichkeit ein …’,
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 451
II.1 THEO D O R O S ( DNO 1 .1 9 0– 1 92 , N O S. 275–276 = PL I N Y,
NATURAL HISTORY 3 4 .8 3 AN D P O SID IP PUS 67 A-B):
The earliest artist associated with a selfportrait is the Archaic architect,
metalsmith and sculptor Theodorus (cf. DNO 1.183–202, nos. 267–293).
The Elder Pliny (writing in the 70s AD) mentions Theodorus by name on
four occasions in his encyclopaedic Natural History (7.198 = DNO 1.200,
no. 291; 34.83 = DNO 1.190–191, no. 275; 35.152 = DNO 1.199–200, no. 290;
36.193 = DNO 1.193, no. 277). But in one passage (34.83), Pliny recounts
how Theodorus – famous for his ‘labyrinth’ at Samos – ‘cast himself in
bronze’ (ipse se ex aere fudit). Besides the ‘marvellous reputation of its
likeness’ (similitudinis mirabilem famam), this statue is celebrated for its
‘great subtlety’ (magna subtilitate celebratur), above all on the grounds of a
miniaturist creation that it held. While the statue grasped a file (limam)
in its right hand, the left-hand three fingers contained ‘a little four-horse
chariot’ (quadrigulam) – a ‘marvel of miniaturisation’ (parvitatis … miraculum) that was subsequently removed to Praeneste. So small was this
sculpture, Pliny adds, that a fly could cover it with its wings – chariot
and charioteer alike.31
Pliny’s story evidently harks back to an older tradition, as confirmed
by the publication in 2001 of the ‘New Posidippus’ (dating from the late
third or early second century BC, and preserving poems by the third
century BC epigrammatist).32 Within a section on Andriantopoiika (‘poems
on statues’) is an epigram that draws on a closely related feat of sculptural
miniaturisation (Posidippus 67AB = DNO 1.190–192, no. 276). The sculp
ture is expressly heralded as something ‘Theodorean’ (Θεοδωρείης), and
draws upon the same scaled comparison with the wings of a fly. Reveal
ingly, however, there is no explicit suggestion that this is a self-portait:
82). But the claim is fanciful: Pausanias simply mentions a ‘band of dancers’ –
one comprised of ‘the Magnesians who worked with Bathykles on the throne’
(Μάγνητες οἱ συνειργασμένοι Βαθυκλεῖ τὸν θρόνον).
31 For discussion, see Metzler 1971, 175–179. There are some textual critical
problems here: cf. Squire 2011a, 285–286. For other closely related stories of
sculptural miniaturisation (in relation to Callicrates and Myrmecides), see
Squire 2011a, esp. 1–11, 260–261, 287–288.
32 For text and commentary, see now Seidensticker/Stähli/Wessels 2015 (with
discussion of 67AB at pp. 272–276). The poems have spurred a large bibliogra
phy, but for an excellent introduction to Posidippus’ Andriantopoiika see Prioux
2008: 200–252.
452
Posidippus does not anticipate Pliny’s later testimony that Theodorus’
chariot belonged to a portrait of the sculptor himself.33
II.2 C HEIRIS O P H O S ( DNO 1 .1 70– 1 72, NO. 251 = PAUS AN I AS ,
DECRIPTION OF GREECE 8 .5 3 .7 – 8 ) :
Cheirisophos (‘CleverHanded’) was a common name for artists. But
Pausanias – writing in the second century AD – associates one Cretan
sculptor by this name with a gilded statue of Apollo, displayed in the
Temple of Apollo at Tegea. Nothing is known of the sculptor, Pausanias
declares. But his subsequent comments associate the statue with Archaic
wooden xoana (in a Cretan tradition connected with the legendary works
of ‘Daedalus’). The passage is relevant to us because of one additional
detail: for next to Cheirisophos’ image of Apollo was placed ‘a statue of
Cheirisophos in stone’ (παρὰ τῷ Ἀπόλλωνι ὁ Χειρίσοφος ἕστηκε λίθου
πεποημένος). DNO notes the possibility that this marble statue might
be a selfportrait of the sculptor. It nonetheless adds that ‘man darf daran
zweifeln, dass der im Umgang mit Holz (und Gold) erfahrene Bildhauer
sich selbst in Marmor verewigt hat’, concluding that the information
‘vielleicht eher [als] ein Irrtum des Pausanias in Betracht gezogen werden
[muss]’ (171).
II.3 PHEIDIA S ( ESP. DNO 2 .1 3 2– 1 3 3 , N O. 855 = PL UTARC H ,
LIFE OF PERICLES 3 1 .4 ) :
Antiquity’s most famous self-portrait comes in the context of anecdotes
about the Athena Parthenos – that is, the large chryselephantine statue
crafted by Pheidias during the third quarter of the fifth century BC,
and erected in the Parthenon at Athens. Pheidias, or so the anecdote
goes, incorporated his own likeness into the Amazonomachy scenes that
adorned the statue’s shield, and could be recognised among those fight
ing on the Greek side. The story became apocryphal, and was subject to
further elaborations.
As others have explored at greater length, the anecdote seems to
have originated long after Pheidias’ lifetime, probably during the Hel
lenistic period.34 The most detailed rendition comes in Plutarch’s early
33 The first person to note the connection with the ‘New Posidippus’ was Angio
2001; cf. Squire 2011a, 287–290.
34 On the possible Hellenistic derivation of the stories and their evolution,
see above all Preisshofen 1974 and most recently Davison 2009, esp. 1.97–98,
110–112. Dillon 2006, 180, n. 23 may be right to conclude that ‘the story was
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 453
secondcentury AD Life of Pericles. Explaining why Pheidias was brought
to trial in Athens, Plutarch mentions the jealousy of the Athenians, ‘es
pecially the fact that when he wrought the battle of the Amazons on the
shield of the goddess, he carved out a figure that suggested himself as a
bald old man lifting on high a stone with both hands, and also inserted
a very fine likeness of Pericles fighting with an Amazon’ (καὶ μάλισθ᾽
ὅτι τὴν πρὸς Ἀμαζόνας μάχην ἐν τῇ ἀσπίδι ποιῶν αὑτοῦ τινα μορφὴν
ἐνετύπωσε πρεσβύτου φαλακροῦ πέτρον ἐπῃρμένου δι᾽ ἀμφοτέρων
τῶν χειρῶν, καὶ τοῦ Περικλέους εἰκόνα παγκάλην ἐνέθηκε μαχομένου
πρὸς Ἀμαζόνα).35 Plutarch’s reference to two portraits – one of the sculp
tor, and one of Pericles – is paralleled in only one other passage: in an
early secondcentury AD oration (DNO 2.19, no. 910 = Oration 12.6),
Dio Chrysostom tells how Pheidias was said to have ‘hidden Pericles
and himself on the shield’ (Περικλέα δὲ καὶ αὐτὸν λαθὼν ἐποιήσεν, ὥς
φασιν, ἐπὶ τῆς ἀσπίδος).36
Plutarch and Dio Chrysostom were writing in the early second
century. But elements of the story were foreshadowed in the mid-first
surely pure invention.’ In my view, however, the invention makes the anecdotes
more rather than less interesting. For a visual reconstruction of Pheidias’
‘autportrait’ – albeit against the background of the Parthenon frieze! – see the
image on Calméjane 2006, 43. There seems to me little reason to think that the
anecdote is already reflected in Aristophanic comedy (cf. Hedreen 2016, 4–6,
discussing Knights 604–606; cf. Harrison 1966, 132).
35 Plutarch adds that ‘the attitude of the hand, which holds out a spear in front
of the face of Pericles is cunningly contrived as if with a desire to conceal the
resemblance – which is, however, plain to see from either side’ (τὸ δὲ σχῆμα τῆς
χειρός, ἀνατεινούσης δόρυ πρὸ τῆς ὄψεως τοῦ Περικλέους, πεποιημένον εὐμηχάνως
οἷον ἐπικρύπτειν βούλεται τὴν ὁμοιότητα παραφαινομένην ἑκατέρωθεν). Nowicka
1993, 176–177 compares the anecdotes with those of other ‘portraits cryptiques’ –
including the story of Polygnotus incorporating the sister of Cimon into a paint
ing of Trojan Women (Plutarch, Life of Cimon 4.6 = DNO 2.678–679, no. 1472),
and that of Arellius depicting the traits of his mistresses within a painting
of goddesses (Pliny, Natural History 35.119–120); among other anecdotes, one
might also think of stories about Praxiteles modelling his Knidian Aphrodite on
the celebrated prostitute Phryne: cf. Havelock 1995, 42–49; Squire 2011b, 69–114,
esp. 100–102; Morales 2011). ‘C’est donc dans l’Antiquité que prend son origine
un procédé développé généreusement plus tard dans l’art européen’, Nowicka
1993, 177 concludes: ‘peintres et sculpteurs accordent aux effigies sacrées et
profanes les traits de leurs amis, patrons, épouses et maîtresses.’
36 On the relevance of the story for approaching Classical Greek ideas of por
traiture, see e.g. Calméjane 2006, 43–45 and Squire 2011b, 125–126.
454
century BC works of Cicero (DNO 2.186–187, no. 900 = Cicero, Tusculan
Disputations 1.34): Cicero could evidently draw upon a related tradition,
telling how the sculptor inserted an image of himself within the shield of
Minerva (sui similem speciem inclusit in clipeo), since he was not allowed
to inscribe his name (cum inscribere <nomen> not liceret). The story was
subject to further embellishments too, not least in anecdotes (already
familiar to Cicero) that this integrated portrait of Pheidias was specially
engineered so that any attempt to remove it would lead to the disintegra
tion of the whole work.37
II.4 PARRHA SIUS ( DNO 2.8 24 – 8 2 5 , NO. 1648= T H EMI S T I US ,
ORATIONS 2.2 9 C– D ) :
In a speech delivered in Constantinople in AD 355, the Greek orator
Themistius alludes to a story about Parrhasius, a painter from Ephesus
active in the late fifth and fourth centuries. When Parrhasius painted an
37 The gradual elaborations of this story are the subject of a masterful dis
cussion by Preisshofen 1974, esp. 66–69. The earliest references come in two
passages of Cicero (DNO 2.186–187, no. 898 = On the Orator 2.73; DNO 2.187,
no. 899 = Orator 234). For the subsequent variants, see:
a) DNO 2.189, no. 904 (= Valerius Maximus, Memorable Deeds and Sayings
8.14.6), on the ‘example of Pheidias, who included his own image within the
shield of Minerva in such a way that with its removal the whole structure of
the work would fall apart’ (Phidiae… exemplum, qui clipeo Minervae effigiem
suam inclusit, qua convolsa tota operis conligtio solveretur); first half of the first
century AD.
b) DNO 192–193, no. 911 (= PseudoAristotle, On the World 6 (399b–400a)),
recounting how people say that Pheidias cast his own face in the middle of the
shield (φασὶ… ἐν μέσῃ τῇ ταύτης ἀσπίδι τὸ ἑαυτοῦ πρόσωπον ἐντυπώσασθαι), and
adding that it was so integrated that any attempt to remove would necessarily
lead to the dissolution and destruction of the whole statue (τὸ σύμπαν ἄγαλμα
λύειν τε καὶ συγχεῖν); (?) first or second century AD.
c) DNO 2.193–194, no. 912 (= Apuleius, On the World 32.361), mentioning how
Pheidias ‘inserted a portrait of his own face’ (oris sui similitudinem conliligasse)
in such a way that the whole statue would be destroyed ‘if someone should at
one time have wished to remove the portrait of the artist’ (si quis olim artificis
voluisset exinde imaginem separare); midsecond century AD.
d) DNO 2.196–197, no. 919 (= Ampelius, Memorial 8.10), albeit substituting the
image of Pheidias with a ‘portrait of Daedalus’ (Daedali… imago), and adding
that ‘if someone were to wish to remove the image from the shield, the whole
work would be destroyed’ (si quis imaginem <e> clipeo velit tollere, perit totum
opus); (?) fourth century AD.
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 455
image of Hermes (a picture which otherwise goes unattested), the art
ist endowed the god with his own form (τὴν ἑαυτοῦ μορφήν), thereby
deceiving people with the image’s inscription. The discussion comes in
the context of rhetorical self-promotion (associated with tastelessness and
narcissism: ἀπειροκαλίαν τε καὶ φιλαυτία); 38 it was perhaps modelled on
earlier anecdotes about Pheidias.
II.5 APEL LES ( DNO 4 .1 7 7 , NO. 2927 = PALATINE ANTHOLOGY
9.595):
A single hexameter of an eponymous epigram in the Palatine Anthology
contains an apparent reference to a selfportrait of Apelles: the epigram,
‘on an image of Apelles’ (εἰς εἰκόνα Ἀπελλοῦ), tells how ‘that excellent
Apelles has painted himself in the picture’ (αὐτὸς ἑαυτὸν ἐν εἰκόνι γράψεν ἄριστος Ἀπελλῆς). Only the first line of the epigram is preserved,
and even that has caused controversy (since the word ἄριστος – which
is metricaly required to bring the number of feet from five to six – is not
preserved in the oldest manuscripts). DNO declares that the image ‘wäre
das früheste Selbstporträt eines Malers’. However, we have no indication
as to the date of this poem, and ancient writers provide no other refer
ence to the purported picture. It is nonetheless worth noting the playful
phrasing of the line: the juxtaposition of αὐτός and ἑαυτόν emphasises
the self-reflection involved – no doubt within a poem that once delivered
a highly self-reflective poetic response to an imagined visual stimulus.39
II.6 XENO P H IL O S AND STR ATO N ( DNO 5. 182–183, N O. 3778 =
PAUS ANIA S, DESCRIPTION OF GREECE 2. 23. 4):
The names of Xenophilos and Straton are attested in a number of in
scribed statue-bases from the second and first centuries BC, which most
often mention the two sculptors together (DNO 5.183–189, nos. 3779–
3788). The only extant literary reference, though, comes in a passage
of Pausanias. In the context of a description of the temple of Asclepius
at Argus, Pausanias mentions a cultstatue of the god, who was shown
sitting beside a standing Hygeia. Seated alongside that statue, Pausanias
adds, were those who made it, namely Xenophilos and Straton (κάθηνται
δὲ καὶ οἱ ποιήσαντες τὰ άγάλματα Ξενόφιλος καὶ Στράτων). Pausanias
38 For a German translation of the full speech, see Leppin/Portmann 1998 (the
relevant passage appears on p. 54).
39 For an introduction to the self-reflexive games of epigram – with more
detailed bibliographic survey – see Squire 2010a.
456
supplies no further information about who sculpted these statues of
Xenophilos and Straton, or indeed when they were installed; in fact, there
is no evidence to suppose that the images were made by the sculptors
themselves.40
II.7 IAIA ( DNO 5 .4 4 5 – 4 4 6, NO S. 4 05 4 – 4 055 = PL I N Y,
NATURAL HISTORY 3 5 .1 4 7 – 1 4 8 ) :
The female painter ‘Iaia’ is known only from a single reference from
Pliny – and in a passage that is corrupt (some manuscripts record the
name as Lala).41 Pliny recounts that the painter hailed from Cyzicus (in
Mysia in Asia Minor), and that she was active in Rome during the early
first century BC (‘when M. Varro was young’). In addition to a large
painting of an old woman in Naples, Iaia is attributed with painting
‘her own image before a mirror’ (suam … imaginem ad speculum).42 Pliny
seems to refer here to the first known self-portrait of a female artist in
western visual culture.43 In his De mulieribus claris, first published in 1374,
Boccaccio included the life of Iaia (there named ‘Marcia’) among his 106
biographies of famous women, explicitly mentioning her self-portrait
(66.6); a French illuminated translation of 1403 contains a miniature of
this miseenscène – rendering Iaia a mediaeval nun, and furnishing us
40 Cf. Damaskos 1999, 322 (‘Das Zitat ist etwas unklar formuliert, so daß es
nicht möglich ist, mit Sicherheit zu sagen, was für Statuen es waren und wann
sie gestiftet wurden’).
41 For ancient traditions of female painters, see Kampen 1975 and MullerDufeu
2011, 173–175. The DNO entries (all derived from brief mentions in Pliny’s
Natural History) concern the following painters: Aristarete, Eirene, Calypso,
Olympias and Timarete (4.767–768, no. 3571); Timarete (4.765, no. 3568); Helena
of Egypt (4.245, no. 3052); and Anaxandra (4.727–728, no. 3518).
42 The phrasing is unclear: should we imagine that Iaia is depicted in the paint
ing before her own mirrorreflection (a fairly common trope in the Hellenistic
period: cf. e.g. Balensiefen 1990)? Or did the painter use a mirror to execute
the image of herself? For discussion, see Nowicka 1993, 176.
43 On the female selfportrait in western art, see especially Edholm 1988; cf. e.g.
Borzello 1998; Brown 2000, 98–102, Rideal 2002. Cheney/Faxon/Russo 2000,
1–13 also discuss female ‘selfportraits in antiquity’, mentioning Iaia on p. 9;
their history, however, is rather confused (there is no evidence, for example,
that ‘most’ of the female painters mentioned by Pliny ‘were said to have painted
selfportraits’). On the importance of mirrors to Renaissance concepts of self
portraiture, see especially Brown 2000, 45–55 (with insightful analysis of the
parallels with Narcissus) and Hall 2014, 31–49.
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 457
10 Miniature of ‘Marcia’ painting her selfportrait – within an anon
ymous French translation of Boccaccio’s De mulieribus claris (‘Livre
des femmes nobles et renommées’), painted on parchment, 1403
with one of our earliest illustrations of a convex mirror being used to
paint a selfportrait (Fig. 10).44
*****
Perhaps the first thing to note about these seven literary passages is
their reference to both sculpture and painting: alongside the statues of
Cheirisophos, Theodorus, Phedias and Xenophanes and Straton, we find
references to paintings by Apelles, Parrhasius and Iaia. In some examples,
44 Paris, Bibliothèque nationale, 598 fol. 100v (cf. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/
btv1b84521932/f210.item.zoom); compare also Paris, Bibliothèque nationale,
MS fr. 12420, fol. 101v (a slightly earlier version of 1402: cf. http://gallica.bnf.fr/
ark:/12148/btv1b10509080f/f210.item). Both images are discussed in Perkinson
2009, 180–183; cf. Hall 2014, 32–33. For the Latin text and an English translation
of this chapter of Boccaccio’s Famous Women, see Brown 2001, 274–277.
458
there are good reasons for thinking that we are dealing not with self
portraits strictu sensu, but with posthumous images in honour of earlier
practitioners: this seems to be the case with both passages of Pausanias
(mentioning statues of Cheirisophos, Xenophilos and Straton).45 Whether
or not we include the Pausanian texts, we nonetheless find a wide-ranging
chronological spread – from purported Archaic images (Theodorus, [Chei
risophos]), through Classical examples (Pheidias, Apelles, Parrhasius), and
on to Hellenistic and Roman materials (Iaia, [Xenophanes and Straton]).
But the chronology is rather more complicated than it first appears.
In the case of the poem on the supposed Apelles painting, we have no
information about the epigram’s date. In all other examples, however, the
literary references belong exclusively to the Roman period: we are dealing
either with Latin authors (the earliest being Cicero), or else with Greek
authors of the Second Sophistic or later antiquity. Needless to say, the
sources known to us are dictated by the happenstance of survival. Still,
it strikes me as significant that such references to self-portraiture are not
only limited in number, but also restricted to a later period of artistic
criticism and response.46
There is another point to emphasise about these literary sources.
After all, the references prove fleeting in the extreme: Greek and Roman
authors never discuss images of artists as a topos or subject in their own
right (and they certainly have no term like our language of ‘selfportrai
ture’); rather, the remarks usually come in the context of some other point
or analogy. The stories about Pheidias’ image on the Athena Parthenos
shield provide a case in point: already in the hands of Cicero, the apoc
ryphal story is turned into a topos for thinking about the mutual depen
dency of a composition on its parts. Anecdotes about Pheidias evidently
45 Evidence for such artistportraits (as fashioned by subsequent artists) is
rare, but not unprecedented: see DNO 3.249, no. 2078 (Pliny, Natural History
34.81–82) on Silanion’s statue of Apollodorus, ‘who was himself also a sculptor’
(fictorem et ipsum), and who was portrayed by Silanion as an allegorical represen
tation of anger. The case of DNO 2.318–319, no. 1075 (Vatican, Sala delle Muse,
inv. 16248; probably fourth century AD, and inscribed with the name Φθιδίας)
is much trickier. Some scholars (e.g. Richter 1965, 1.150–151) have considered
this the base of a portraitherm of Pheidias. But the hypothesis seems most
unlikely: the claim – not least given the nominative form – is much more likely
about the purported artist than about the subject (for parallels, see Fuchs 1999,
44–52 and Squire 2013).
46 The Roman reception of Greek art has attracted a large bibliography in
recent years: for a brief overview and scholarly review, see Squire 2012.
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 459
took on a life of their own.47 And in other examples, we are dealing with
isolated references: Pliny’s detail about the the miniaturist quadriga of
Theodorus belonging to a portrait of the sculptor is not anticipated by
Posidippus, for instance; likewise, Pliny’s brief mention of Iaia’s image
perhaps served to explain the presence of a mirror in the painting.
III. PORTR AIT S O F TH E AN CIENT AR TIST
At this point, allow me to bring together the two parts of my survey in
order to offer some broader reflections. On the basis of the materials dis
cussed in this chapter, can we talk about selfportraiture as a meaningful
phenomenon in ancient art? There certainly are some images – whether
extant in the material record, or else attested by literary texts – that
might be discussed under the rubric of selfportraiture. But what strikes
me as significant is the small number of case studies that we have been
able to introduce. Given the paucity of materials, scholars can almost
spin the evidence as they choose. Of course, one could proceed to tell
a ‘modernising’ story of ancient imagemaking, thinking that, if only
more material was available to us, we would know of further examples
of selfportraiture, anticipating the forms and practices of more recent
western artistic practice. At the same time, there can be no denying the
differences: although we have discussed some isolated examples, there is
nothing like a rationalised ‘genre’ of selfportraiture in antiquity. Here,
as elsewhere, we seem to be dealing with a set of what Jeremy Tanner
has nicely labelled ‘family resemblances’ between ancient and modern
materials. GraecoRoman materials bring into focus both similarities and
differences in cultural, social and intellectual perspective.48
One key divergence, it seems to me, lies in underlying concepts of the
‘artist’. In the modern western world, above all from the fifteenth century
onwards, the proliferation of selfportraits is both symptom and cause of
47 More generally on the ‘anecdotal’ importance of such anecdotes about Greek
artists, see Platt fthc.
48 For the idea of ‘family resemblances’ that ‘render the ancient and modern
practices [of art] mutually intelligible’, see Tanner 2010 (quotation from 268),
developing and defending the key contribution of Tanner 2006. ‘Although
characterized by significant parallels’, Tanner 2010, concludes ‘the scope of
artistic rationalization and the character of the rationalized institutions of art
in antiquity and the modern world were significantly different.’
460
a particular attitude: an attitude not only towards individual subjectivity,49
but also towards the agency of the artist – as a selfconsciously fashioned
and fashioning subject. As Ernst Kris and Otto Kurz long ago argued in
their groundbreaking 1934 book, Die Legende vom Künstler: Ein geschichtlicher Versuch, modern western notions of the autonomous artist are ul
timately bound up with religious ideas: in the wake of the Renaissance,
the creativity of the artist was modelled after that of the JudaeoChristian
divine Creator.50 The introspective turn of (post)Renaissance selfpor
traiture gives figurative form to this discourse. Perhaps the most iconic
example is an image painted by Albrecht Dürer in 1500, and today housed
in Munich’s Alte Pinakothek (Fig. 11).51 Dürer here portrays himself in
frontal pose against a dark background: not only does the composition
allude to the conventions of Byzantine and Netherlandish depictions of
Christ (playing on the iconography of Veronica’s veil in particular), it
also shows the artist raising his hands to his chest – almost as if to offer
the onlooker a blessing. Just as Dürer renders himself in divine guise, so
too he heralds the pseudodivinity of his own painterly artistry. Indeed,
so much does Dürer fashion himself in Christ’s image that he adds an
inscription to the composition: a verbal prompt (placed opposite Dürer’s
distinctive monogram on the left) informs onlookers that they are look
ing not at a Christian icon, but at a portrait of the 28yearold painter.52
Whatever else we make of the Greek and Roman materials exam
ined in this chapter, they are a far cry from this defining ‘moment of
selfportraiture’. Inevitably, scholars of classical antiquity look back to
49 Here I am of course thinking of Burckhardt’s classic 1860 analysis of ‘the
development of the individual’ in the Renaissance – translated as Burckhardt
2010, 81–103: ‘Man became a spiritual individual, and recognized himself as
such’ (81); cf. Brown 2000, 27–32.
50 For an English translation, see Kris/Kurz 1989; cf. Tanner 2005, esp. 187–191,
2010, esp. 270, 272–273, 283–288 and MullerDufeu 2011, esp. 265–279. On the
rise of the artist in the fourteenth and first half of the fifteenth century, see also
Martindale 1972; on subsequent romantic developments of the ‘genius’ artist, see
especially Kemp 1989 (on the sixteenth century) and Mason 1993, esp. 225–233
(on the eighteenth).
51 Koerner 1993, esp. xv–xix, 63–246 offers the most stimulating discussion of
the painting and its historical context – labelling it the defining ‘moment of
selfportraiture’; cf. Hall 2014, 83–86.
52 The inscription reads: Albertus Durerus Noricus ipsum me propriis sic effingebam coloribus aetatis anno xxviii (‘I, Albrecht Dürer of Nuremberg was portraying
myself thus, with my own colours, at the age of 28’).
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 461
11 Albrecht Dürer: Self-Portrait, oil on limewood, 1500, 67.1 × 48.9 cm,
Alte Pinakothek, Munich
462
12 Giambattista Tiepolo: Apelles Painting Campaspe, c. 1725–1727, oil on
canvas. Montréal, Museum of Fine Arts, Adeline van Horne Bequest,
inv. 945.929
ancient materials through the lens of subsequent ideas, practices and
forms.53 Wherever we turn, moreover, we find those modern discourses
and modes taking their lead from ancient materials: in the case of self
portraiture specifically, we might think of images where modern artists
portray themselves in the guise of ancient artists – Rembrandt portray
ing himself as the laughing Zeuxis,54 for example, or Tiepolo portraying
himself as Apelles (Fig. 12).55 To talk about ‘selfportraiture’ in classical
53 For one systematic attempt to chart that legacy, see Koch 2013, esp. 201–404.
54 On Rembrandt portraying himself as the laughing Zeuxis, cf. Bonafoux
1985, 47, Blankert 2004, 31–44, Cummings 2009, 90–91 and Hall 2014, 158 (on
a painting in the WallrafRichartzMuseum, Cologne; cf. also Mai 2002 [non
vidi]). For the story of Zeuxis’ death by laughter (attested by a single secondcentury reference by Festus), see DNO 2.890, no. 1747.
55 For Tiepolo portraying himself as Apelles painting Pancaspe (the beloved of
Alexander the Great – here shown in the guise of Tiepolo’s wife, Cecilia Guardi)
SQ UIR E : A PO R T R A IT O F T H E A N CI E N T A R T I ST ? 463
art is already to frame our view of antiquity in modern terms. But we
must be careful not to let our search for formal parallels and continuities
blind us to cultural divergences. Within a book on ‘Figurationen des
Porträts’, that sentiment offers a fitting conclusion: for self-portraiture
does not just figure an image of the maker, it also configures a cultural
ideology of the artist.56
IMAGE C REDI T S
1a, pl. 13a © Musee royaux d’art et d’histoire.
1b, pl. 13b After Gaspar 1902, Plate 2.
2 After Hedreen 2016, Plate 18.
3 After Himmelmann 1994, 36, Abb. 16.
4 After Williams 2009, Plate 26A.
5 After Beazley 1989, Plate 28.
6a After Schörner/Goette 2004, Taf. 11.1.
6b After Schörner/Goette 2004, Taf. 28.1.
7 © The State Hermitage Museum (photograph by Vladimir Terebenin,
Leonard Kheifets and Yuri Molodko).
8, 12 Reproduced by kind permission of the Archiv, Institut für Klassische
Archäologie und Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke, Ludwig
Maximilians-Universität, Munich.
9 After Mendel 1912, 79.
10 © Paris, Bibliothèque nationale de France (MSS Français 598, fol. 100v).
11 Photograph by the author.
see e.g. Levey 1960, 102–104 and Levey 1986, 18–26; note also the Lysippan
‘Weary Heracles’ in the background. Tiepolo returned to the theme in a later
painting of c. 1740 (now in Los Angeles: Getty Museum, inv. 2000.6); for the
ancient sources, see DNO 4.176–177, nos. 2924–2926.
56 For related sentiments, see Soussloff 1997, 21–22 (with a nod to the classic
analysis of portraiture in Berger 1994): ‘in selfportraiture the importance of
the discursive context of artistic identity cannot be completely avoided, for the
way that any individual artist views himself must rely in some way(s) on the
concept that culture holds of the category “artist” … We could say … that if
Renaissance authors selffashioned, so too did Renaissance artists, particularly
in the area of the selfportrait – invented as a genre in this period – leading to
the conclusion that such selffashioning adheres to the genre of selfportraiture
up to the present’ (21).
464
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GEORGI KAPRIEV
EIN LITERARISCHES SELBSTPORTRÄT
AUS DEM BYZANTINISCHEN 13. JAHRHUNDERT
Georgios von Zypern / Gregorios II.
und seine »Autobiographie«
Es ist nicht üblich, das Thema des ›biographischen Porträts‹, ein Kern
Interessensgebiet unseres Jubilars Dietrich Boschung, und das For
schungsfeld ›byzantinische Philosophie‹ zusammenzubringen. In den
Werken der byzantinischen Philosophen sind freilich etliche porträthafte
Skizzen festzustellen. Darüber hinaus gibt es nicht wenige selbstbildnis
hafte Beschreibungen1, die auch in von Philosophen verfassten Schriften
vertreten sind. In diesem Kontext sind die Namen mehrerer Autoren in
der Zeit zwischen Photios von Konstantinopel und Georgios Scholarios,
unter ihnen fast alle Philosophen, die Geschichtswerke verfasst haben,
zu nennen. Keine dieser Schriften sind jedoch ›Autobiographien‹ in
einem engeren Sinn des Wortes; nur eine begrenzte Zahl unter ihnen
steht diesem modernen Begriff nahe. So erwähnt Herbert Hunger neben
der aus dem 4. Jahrhundert stammenden autobiographischen Schilde
rung des Heiden Libanios und den autobiographischen Gedichten des
Gregorios von Nazianz lediglich vier weitere Schriften, die ausnahmslos
aus der späteren byzantinischen Zeit stammen. Es handelt sich dabei um
Schriften von Nikephoros Blemmydes, Kaiser Michael VIII., Georgios
von Zypern und Demetrios Kydones, zu denen eine Selbstbeschreibung
des Theodoros Metochites mitgezählt werden kann.2 Unser Held wird
Georgios von Zypern sein.
1 Vgl. Hinterberger 1999.
2 Hunger 1978, 165–170.
472
I. WER W AR G EO R G IO S VO N ZY P ER N ?
Georgios von Zypern wurde 1241 in Lapithos auf Zypern geboren, das
seit 1191 bis 1267 von der LusignanFamilie beherrscht wurde. Nach
einem komplexen Bildungsweg beendete er seine Schulung bei Georgios
Akropolites in Konstantinopel. Später war er als Lehrer für klassische
Sprache und Rhetorik tätig. Zu seinen Schülern zählten Nikephoros
Chumnos, Maximos Planudes sowie Theodoros Muzalon. Vermutlich
nach Anfang der 70er Jahre stand er parallel dazu als Protoapostolarios
im Dienst Michaels VIII. Ursprünglich war er ein mäßiger Anhänger
der Union von Lyon, setzte sich ihr aber in der Regierungszeit des
Andronikos II. scharf entgegen. 1283 stieg er eilig einige hierarchische
Stufen empor, so dass er am 11. April zum Patriarchen unter dem Namen
Gregorios II. ernannt wurde. Unter seinem aktiven Einfluss und insbe
sondere Kraft seines Tomos von 1285 wurde die Lehre vom ›Hervorgang‹
des Heiligen Geistes und der Relation zwischen dem Sohn und dem
Heiligen Geist entwickelt, die die Theologiekonzepte des 14. Jahrhun
derts in Byzanz beeinflusste und in der Lehre der orthodoxen Kirche
Platz fand. Gregorios wurde mehrfach von prominenten Vertretern der
nachfolgenden Generationen wegen seines literarischen und rhetorischen
(Nikephoros Gregoras) und seines philosophischen und theologischen
Werks (Joseph Kalothetos, Philotheos Kokkinos, Georgios Scholarios)
gerühmt.3 Seine Lehre wurde jedoch von den Zeitgenossen weitaus nicht
unwidersprochen entgegengenommen. Massive Einwände wurden so
wohl seitens des filioque-freundlichen Ex-Patriarchen Johannes Bekkos
und seiner Anhänger als auch seitens radikal konservativer orthodoxer
Kreise erhoben. Die kirchenpolitische Situation verschärfte sich derma
ßen, dass Gregorios sich entschloss, das patriarchale Amt im Namen
des Kirchenfriedens niederzulegen. Das geschah im Juni 1289. Seine
Priesterwürde, seine Lehre und seine theologische Autorität wurden
jedoch auch weiterhin anerkannt. Inzwischen schwer erkrankt, starb
Gregorios 1290 im AristineHerrenhaus am Kloster des hl. Andreas en
Krisei innerhalb Konstantinopels4. Neben seinen theologischen Werken
ist er Autor mehrerer hagiographischer, panegyrischer, literarischer,
3 Siehe Pelendrides 1993, 16; Sopko 1979, 176–178.
4 Über das Leben und Werk des Georgios siehe Sopko 1979; Papadakis 1983;
Martín 1996; Kotzabassi 1998, 1–27; Kapriev 2000; Riebe 2005, 248–269.
K A P R IE V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 473
rhetorischer und pädagogischer Schriften, Predigten, Briefen und einer
autobiographischen Abhandlung5.
II. DIE AU TO B IO G R AP H ISCH E AB H AN D LUN G D ES GEO RGI O S
Diese Schrift (Διηγήσεως μερικῆς λόγος καθ᾽ ἑαυτὸν περιέχων, bzw.
Περὶ τοῦ καθ᾽ ἑαυτὸν βίου ὡς ἀπ᾽ ἄλλου προσώπου)6 wurde zunächst
1753 gedruckt.7 Die Publikation in der Patrologia Graeca reproduzierte
die Ausgabe von De Rubeis8. 1817 erlebte die Schrift anhand eines ande
ren Manuskripts eine neue Veröffentlichung; sie wurde dabei von einer
deutschen Übersetzung begleitet.9 1937 erschien die kritische Edition mit
einer französischen Übersetzung.10 Aus Anlass des 700. Todestages von
Gregorios wurde ein Band mit einer englischen Übersetzung veröffent
licht, dem der Text von Lameere (von 1937) beigegeben wurde.11 Es liegt
auch eine russische Übersetzung vor.12 Das Werk wurde in allgemeineren
Studien,13 wie auch einige Male als selbständiger Gegenstand von For
schungsbeiträgen analysiert 14, darunter ist meines Erachtens der Beitrag
von Georg Misch hervorzuheben.
Die Lebensbeschreibung ist als Einleitung zu einer von Gregorios
II. selbst angefertigten Sammlung seiner Schriften gedacht. Als terminus
post quem wird mit 1282 und als terminus ante quem 1289 angegeben, wo
bei das Datum der Abfassung eher auf die Zeit nach 1285 gesetzt wird.15
5 Zu den Schriften des Georgios samt entsprechender Sekundärliteratur siehe:
Sopko 1979, 236–246 und 249–270; Kotzabassi 1998, 29–331; Conticello 2012.
6 Über den Titel siehe Σ. Κοτζάμπαση, Περὶ τοῦ καθ᾽ ἑαυτὸν βίου ὡς ἀπ᾽ ἄλλου
προσώπου. Παρατηρήσεις στην αυτοβιογραφία του πατριάρχη Γρηγόριου Β΄ Κύπριου, in: Ελληνικά, 58.2 (2008), 281–285.
7 B. M. De Rubeis, Georgii seu Gregorii Cypri patriarchae constantinopolitani
vita, quae ex codice Lugduno-Batavensi nunc primum graece in lucem prodit,
cum latina interpretatione, et notis, Venise 1753.
8 Migne Patrologia Graeca, t. 142, Paris 1863, 20A29D.
9 Matthiae 1817, 5–14. Siehe auch die Übersetzung in Beck 1982, 147–152.
10 Lameere 1937, 177–191.
11 Pelendrides 1993. Nachfolgend benutze ich diese Ausgabe.
12 Троицкий, 1870.
13 Kotzabassi 1998; Hunger 1978, 168–169; Hinterberger 1999, 354–358 u. a.
14 Misch 1931; Garzya 1974; Κοτζάμπαση 2008.
15 Über die Datierung und den vermutlichen Inhalt der Sammlung siehe
Κοτζάμπαση 2008, 285–290.
474
Das autobiographische Schreiben war also für die Zeitgenossen des Pa
triarchen bestimmt. Er erzielte dadurch eine Art Rechtfertigung seines
Lebensweges, wie das auch für die anderen byzantinischen Autoren lite
rarischer Selbstbilder galt – eine Selbstdarstellung um ihrer selbst willen
war verpönt.16 Das Besondere in Gregorios’ Fall ist, dass er sich durchaus
auf seinen Bildungsgang und sein Schriftgut konzentriert, wodurch er
»ein bemerkenswertes Zeugnis für das Ringen eines gebildeten Menschen
der frühen Palaiologenzeit um ein gültiges Selbstverständnis und um
die Bestimmung seines geistigen Standortes« ausstellt 17. Seine μερικὴ
διήγησις ist als »Sondergeschichte«18 lediglich in dem Sinn zu deuten,
dass sie eine persönlich einmalige Lebensgeschichte darstellen will und
nicht etwa, dass sie danach strebt, die politischen und sozialen Umstände
›mechanisch‹ zu streichen. Der Begriff ist vielmehr als eingehende Er
zählung über einen komplexen Handlungsverlauf zu verstehen,19 durch
die Gregorios versucht, seine existenziellen Prioritäten darzulegen und
zu begründen. Er arbeitet letztendlich einen persönlich modulierten Ty
pus aus. Auch bei ihm ist dem erinnerten Leben ein Muster untergelegt,
aus dem eine kohärente Geschichte konstruiert wird.20 Insgesamt strebt
Gregorios danach, ein für seine Epoche relevantes Bild des ›würdigen‹
Verstandesmenschen und dessen Wertesystems zu zeichnen.
Diesem Ziel dienen nicht zuletzt die absichtsvolle Distanzierung von
sich selbst und die entsprechende Objektivierung des Selbst. Wie bereits
in einem der Titel der Schrift vermerkt, schreibt Gregorios in dritter
Person. Wie es einem gewissenhaften Herausgeber geziemt, stellt er (als
Herausgeber in erster Person sprechend) seinen Autor durch eine bio
graphische Skizze dar. Dass es um die Anfertigung eines Kulturmusters
am Beispiel von Positiva in Anhebung zu den Negativa seines eigenen
Lebenslaufs geht, lässt Gregorios außer Zweifel. Mit den letzten Sätzen
verlässt er demonstrativ die antiken Vorbilder und sagt ausdrücklich,
dass »der ›Er‹, von dem er redet, er selber ist: Ich will nichts mehr sagen,
um nicht […] den Anschein zu erwecken, als ob ich für den Mann, es
heißt: für mich selbst, Partei ergriffe … Wenn also einer in Sachen jenes
Mannes ein günstiges oder ungünstiges Zeugnis ablegt, so trifft, erkläre
16
17
18
19
20
Siehe Hunger 1978, 166 u. 168; Hinterberger 1999, 383.
Hunger 1978, 169.
Misch 1931, 2.
Hinterberger 1999, 110–116.
Ders., 58 u. 83.
K A P R I E V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 475
ich, mich der Tadel, mich das Lob.«21 Trotz dieser Gebärde ist die Behaup
tung allerdings prinzipiell nachvollziehbar, dass das autobiographische
Schreiben des Gregorios »nicht bloß in der äußeren Haltung, sondern in
den maßgebenden Kategorien antikisch geformt, so dass fast ein jedes in
ihr herausgegebene Stück Lebensinhalt einem der Motive entspricht, die
in den um tausend und mehr Jahre zurückliegenden Selbstbiographien
heidnischer oder christlicher Oratoren hervortraten«22.
III. BYZANT INISCH ER H UMAN ISMUS O D ER
HELLENISCH ER K ULT UR PATR IOTISMUS?
Nicht nur das literarische Profil, sondern der ganze Lebensstil des Georgios/
Gregorios eröffnet die Möglichkeit, dem von Paul Lemerle etablierten
Begriff des ›byzantinischen Humanismus‹23 (öfters auch als ›byzantini
sche Humanisten‹ bezeichnet) nachzugehen, indem diese Einstellung
»in keinerlei fühlbarem Gegensatz zu den kirchlichen Funktionen und
der Teilnahme an den Kämpfen um die Orthodoxie steht«24. In diesem
Fall wird also nicht die spätere, extreme Bestimmung des byzantinischen
Humanismus verwendet. Sie ist bei Gerhard Podskalsky schon in seinem
Meisterwerk25 zu finden und in dessen späteren Publikationen (insbe
sondere in seinem »programmatischen Aufsatz«26) weiterentwickelt, um
in sein letztes Buch27 zu kulminieren. Er konstruiert die Konfrontation
zweier sich bekämpfender Methoden: die monastischhesychastische
(die er mit einer »bildungsfeindlichen Orthodoxie« identifiziert) und
die humanistischwissenschaftszugewandte, die gerade von den »Hu
manisten« vertreten würde. Dazu tritt eine Gruppe, alles in allem von
Markos Eugenikos und Manuel Gabalas vertreten, der eine gewisse
›Schizophrenie‹ der Personalidentität zwischen Humanismus und pala
mitischem Hesychasmus zugewiesen wurde. Die akzentuierten Kriterien
21 Ed. Pelendrides/Lameere, 42,303–44,312; vgl. Misch 1931, 5–6.
22 Misch 1931, 6. Über das antike und spätantike autobiographische Schrift
tum als Vorläufer der byzantinischen selbstdarstellenden Abhandlungen vgl.
Hinterberger 1999, 63–70.
23 Lemerle 1971.
24 Hunger 1978, 168.
25 Podskalsky 1977.
26 Podskalsky 1998.
27 Podskalsky 2003.
476
für den Humanismus (klassische Ausbildung, dialogfähige intellektuelle
Haltung, Engagement in sozialer Theorie und Praxis, Konflikte mit der
kirchenamtlichen Autorität etc.) reichen jedoch nicht aus, die konkre
ten Vertreter dieses »Humanismus« ideologiefrei zu identifizieren. Es
entsteht die Gefahr, unter diesem Begriff alle schriftstellerisch aktiven
philosophischen Autoren in Byzanz – abgesehen von ihrer intellektuellen
und geistlichen Selbstbestimmung – zusammenzufassen, falls sie dem
Forscher persönlich sympathisch sind.
Die Versuche, einen solchen »byzantinischen Humanismus« zu ›de
stillieren‹, muten heutzutage grotesk an. Nicht mehr die Vorliebe für die
hellenische Literatur ist nun für den ›Humanismus‹ bestimmend. Er soll
viel eher ein intensives Befassen und Experimentieren mit der ›menschli
chen‹ oder ›fleischlichen‹ Weisheit, d. h. mit der antiken Philosophie und
dem rationalen Diskurs, darstellen, die zu einer direkten oder indirekten
Opposition mit der Weltanschauung und der Politik des byzantinischen
orthodoxen Establishments führen müsse.28 Als Hauptmerkmale des
›Humanismus‹ müssen dessen Paganismus, eine auf die offizielle Kultur
und die Kirchenlehren gerichtete dissidente Haltung, und der Utopismus
gelten. Letztendlich muss die ›wirkliche‹ Philosophie in Byzanz ihrem
Charakter und ihrer »Essenz« nach eine antibyzantinische gewesen
sein.29 Diese kuriose anachronistische Fiktion schafft es zuvorderst, die
Inadäquatheit des HumanismusBegriffs in Hinsicht auf die philosophi
sche und kulturelle Situation in Byzanz nachzuweisen.
So weit geht Hunger zwar nicht. Er spricht von einem »christlichen
Humanismus«, der sich auf ein Potential antiker Güter stützt, das man
einer seit den Tagen der Spätantike ununterbrochenen Bildungstradition
verdankt. Deren Grundpfeiler sollen die Verflechtung antiken philoso
phischen Gedankenguts mit der orthodoxen Dogmatik erweisen. Als
wesentlichste Merkmale seien festzuhalten: aktives Studium der antiken
Literatur und deren Nutzung für die eigenen literarischen Produkte samt
einer ›ehrlichen‹ Anerkennung der Orthodoxie und dem Verständnis
heidnischer Gedanken als einer veredelungsfähigen Vorstufe des Chris
tentums. Hunger fügt hinzu, dass diese Erscheinung auch im Westen,
und zwar vor allem für das 15. und 16. Jahrhundert, bekannt sei.30 Die
Selbstbestimmung des versierten RenaissanceHumanismus ist jedoch
28 So Siniossoglou 2011, 26.
29 Siniossoglou 2011a.
30 Hunger 1978, 49–50.
K A P R I E V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 477
mit der derart vorgestellten Kultureinstellung schwer zu vereinbaren.
Die Renaissance-Humanisten definierten ihre Denkweise durch die
Ablehnung der aristotelisch fundierten Philosophie, an erster Stelle der
Dialektik, der Epistemologie und der Metaphysik. Ihr antimetaphysisches
Programm entfaltete sich hauptsächlich auf die fünf Fächer der studia humanitatis (Grammatik, Poetik, Rhetorik, Geschichte, Moralphilosophie),
ohne ein systematisches Philosophieparadigma zu prägen. Die Eigenart
dieser studia war das spezifische Verhältnis zu einem selektierten, antiken
literarischen Fundus, der seit knapp 700 Jahren, so die Renaissance
Humanisten, vernachlässigt worden war. Aus diesem Grund scheint es
angemessener zu sein, anstatt den pauschalen Begriff ›Humanismus‹
in Bezug auf Byzanz zu verwenden, über eine theozentrische und eine
anthropozentrische Denklinie mit allen ihren Konfrontations und Be
rührungspunkten zu reden, die beide spätestens seit dem 11. Jahrhundert
kontinuierlich zu verfolgen sind.
Gregorios zählt mit seiner Haltung zur zweiten Denklinie, indem er
sich aber in eine neuentstandene Kulturform einbezieht. Georg Misch
erklärt, dass die Zeit nach der Wiederaufrichtung des oströmischen
Reichs im Jahre 1261 eine Zeit der Wiederherstellung der alten Traditio
nen auch im Schrifttum und Bildungswesen gewesen sei. Er bezeichnet
diese »Wiederherstellung« als »Renaissance«, ἀναβίωσις, und setzt sie
mit einem »Frühhumanismus« in Beziehung, indem er auch die fast
ununterbrochene, durch Schule und Studien gepflegte, tausendjährige
literarische Kontinuität der Erbmasse hervorhebt.31 Die klassische Bil
dung war, dies ist anzumerken, für den belesenen Byzantiner zu jeder
Zeit eine Norm gewesen. Die Katastrophe von 1204 führte aber aufgrund
einer neuartigen Deutung der hellenischen Erbschaft zur Ausbildung
eines hellenischen Kulturpatriotismus’.32 Nun begannen mehrere Intel
lektuelle, den Hellenismus und seine Zivilisation als eigenen Kulturwert
und kulturelle Grundlage wahrzunehmen. Nach der authentischen Gestalt
der antiken Kultur wurde aus dieser Sicht eigentlich nicht gefragt. Diese
Kultur wurde vielmehr ideologisch stilisiert und instrumentalisiert. Die
hellenophilen Kulturpatrioten blieben sowohl der imperialen politischen
Norm als auch dem christlichen Glauben loyal. Nichtsdestotrotz bahnte
sich eine neue Auffassung über den Kern der byzantinischen Zivilisation
und der Ordnung ihrer Prioritäten ihren Weg.
31 Misch 1931, 1.
32 Siehe Runciman 1970, 14–22; Meyendorff 1981.
478
Das Wort »hellenisch« begann schnell seine pejorative Konnotati
on zu verlieren; es bedeutete nicht mehr schlechthin »heidnisch«. Die
Entwicklung des Wortgebrauchs von »Hellas«, »Hellene«, »hellenisch«
war eine merkwürdige. Für Niketas Choniates in seiner am Anfang des
13. Jahrhunderts verfassten Χρονικὴ διήγησις (Historia byzantina) sind
z. B. die Byzantiner die Ῥωμαῖοι, die er den Ἰταλοί gegenüberstellt, nicht
selten noch als Φραγγοί und sogar βάρβαροι bezeichnet. »Hellas« ist
ihm immer noch nur ein Toponym, durch das eine bestimmte Region des
Reiches benannt wird. Die »Hellenen« sind definitiv die alten Griechen,
wobei das Wort (wie auch das Wort »hellenisch«) für ihn lediglich ein
geschichtlicher Begriff ist, der das Heidentum impliziert. Diese Position
wurde in der Folgezeit von breiten intellektuellen Schichten als ana
chronistisch bewertet. Der Begriff »Hellene« setzte sich nicht so sehr als
ethnische, sondern als würdige kulturelle Bezeichnung durch, und das
Wort »hellenisch« wurde in einer positiven, den kulturellen Zusammen
hang bezeichnenden Bedeutung benutzt, ohne dabei eine Gleichsetzung
der Hellenen mit den Heiden zu suggerieren. »Hellas« war als Name des
Reiches auch offiziell in Gebrauch. Nikaia, aber auch Thessaloniki und
selbst Konstantinopel pflegte man nun wegen des Bildungsstandes als
»neues Athen« zu preisen.33
Diese Haltung nimmt unverkennbar auch Georgios/Gregorios ein.
Das zeigt deutlich seine Wiedergabe des bekannten Bonmots: »wer nach
Nikaia kommt, der kann das alte Athen sehen, so groß ist dort die Fülle
gelehrter Männer«34. Spontan nennt er ebenda die Lateiner Ῥωμαῖοι35,
indem er sie schlicht als ἑτερογλώσσοι, »Anderssprachige«, identifiziert
– und zwar gerade dort, wo er erklärt, dass sie ihre Hand auf Zypern
gelegt hätten.36 In einem ähnlichen Zusammenhang spricht er doch über
die βάρβαροι ἰταλοί, die gerade τὸ ἑλληνικόν, »das Hellenentum«, auf
der Insel unterjocht hätten.37 Das Betonen des Hellenischen als Identifi
kationsbeleg ist in seinem Zeugnis herauszuhören, dass er dem Gerücht
folge, Blemmydes sei nicht nur der weiseste unter den Hellenen, sondern
unter allen Menschen überhaupt.38 Seine Selbstidentität ist nicht mehr
rhomäisch (da sie auf der Zugehörigkeit zum Reich und orthodoxem
33
34
35
36
37
38
Siehe Kapriev 2012, 13–14.
Ed. Pelendrides/Lameere, 24,70–73.
Ed. Pelendrides/Lameere, 22,35.
Ed. Pelendrides/Lameere, 22,26–28.
Ed. Pelendrides/Lameere, 20,8–9.
Ed. Pelendrides/Lameere, 26,95–98.
K A P R I E V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 479
Christentum basiert), sondern »hellenisch«. Sie ist also vor allem eine
literarischkulturelle Prägung, obschon das ›Ethnische‹ bereits im Hin
tergrund ertönt. Das »hellenische« Bildungsideal, kulturpatriotisch als
Lebensmuster gedeutet, ist der Schlüssel zur Verwandlung der Lebens
geschichte des Georgios in eine Bildungsgeschichte.39
IV. DER BILD UN G SG AN G
IV.1 DIE H ER K UNF T
Der Text beginnt dennoch mit einer kurzen Beschreibung des Ursprungs:
»Die Heimat des Verfassers dieses Buches ist die Insel Zypern«40. Denn
Georgios’ Herkunft wurde im Laufe der kirchlichen Querelen als Vorwurf
gegen ihn genutzt, auch von Bekkos, der gesagt haben soll: »Diese Pest,
die erst das Meer unsicher machte, ist schließlich auf uns losgefahren«41.
Als Rechtfertigungszweck wird, neben dem Hellenischen, auch das Profil
seiner Familie umrissen. Aufgrund seiner Beschreibung Georgios als
»Aristokrat nach Herkunft«42 zu bezeichnen, trifft nicht zu. Es gab in
Byzanz keine Aristokratie im westeuropäischen Begriff. Es wurde der
Person eine bürokratische oder administrative Nobilität zuerkannt, die
durch ihre hohe öffentliche Position bestimmt wurde. Es waren in der Tat
Familien, deren Vertreter Generationen lang Obrigkeitsposten bekleideten
und entsprechend eine höheren Autorität genossen – was kein Gewähr
dafür war, dass dieser Zustand nicht eines Tages ein Ende kennen würde.
Genau diese Haltung ist der Erzählung des Georgios zu entnehmen.
Er erklärt, dass seine Väter und Urväter und das ganze Geschlecht
vor ihm zu den Reichsten und den Angesehensten seiner Heimat zählten,
bevor die »Barbaren«, »Italiener«, die »Hellenen« nicht versklavten. Da
nach nahm die Familie das gemeinsame Geschick ihrer Landsleute hin,
indem sie nunmehr zur Mittelschicht gehörte.43 Durch dieses Zeugnis,
wie auch durch den Topos des stillschweigenden Verlassens der liebenden
Familie aufgrund seiner Wissbegierde, bestätigt Gregorios die authentisch
byzantinische Sicht, dass der Träger der sozialen Relevanz die einzelne
Person ist. Georgios suggeriert allerdings, dass »weder der Geburtsadel
39
40
41
42
43
Siehe Misch 1931, 7.
Ed. Pelendrides/Lameere, 20,5–6.
Misch 1931, 3–4.
Ders., 2.
Ed. Pelendrides/Lameere, 20,5–14.
480
noch die geistliche Hierarchie, sondern die Aristokratie des Geistes, die
auf der klassischen Bildung beruht«,44 das eigentliche Existenz- und
Wertezentrum bildet.
Schon durch die Beschreibung der Herkunftsumstände beginnt er
auch seine Stellung den Lateinern und dem Westen gegenüber zu ver
deutlichen. Seit dem 9. Jahrhundert wurden die Lateiner von den Byzan
tinern sowohl in einem ›Wirsie‹Bezug als auch als Mitglieder derselben
Kulturgemeinschaft betrachtet. Nach dem Beginn des 13. Jahrhunderts
wurde die Bezugnahme auf den Westen eine (im Unterschied zum la
teinischen Selbstbewusstsein) erforderliche und zugleich traumatische
Angelegenheit für die Byzantiner. Die ›Bewältigung‹ des Westens war ein
Existenzbestandteil des gebildeten Rhomäers, die man auf verschiedene
Weisen zu vollziehen suchte.45
Die Position des Gregorios ist eine ambivalente. Die Erwähnung der
Unterjochung der Hellenen seitens der Barbaren, bzw. Anderssprachigen,
dient ihm ausschließlich zur Erklärung des Mangels an griechischer Bil
dung auf der Insel. Gerade in seiner Heimatstadt und in Nikosia sollte
Georgios seine elementaren grammatischen und logischen Kenntnisse
erwerben, woran er aber viel eher scheiterte. Er habe sich nicht die Gram
matik, sondern ihren Schatten, wie auch eine dunkle Einleitung in die
aristotelische Logik angeeignet. Die Erklärung dafür versucht er sowohl
durch die kurze Dauer als auch – und vor allem – durch die lateinische
Unterrichtssprache zu erklären, die er nicht versäumt, als fremd und
»bastardisch« (νόθος) zu erklären.46 Die Lateiner werden noch ein Mal in
der Abhandlung erwähnt, und zwar in der Aussage, dass Gott die große
Stadt Byzanz den Lateinern genommen und sie den Römern wiedergege
ben habe.47 Die Tatsache, dass in dieser Schrift, in der ohnehin fast nichts
über christliche Fragen gesagt wird, gerade hier der Name Gott ein einziges
Mal erwähnt wird, darf nicht irritieren. Die Pointe liegt hier nicht etwa
darin, dass Gott sich etwa gegen die gotteswidrigen Lateiner zugunsten der
frommen Rhomäern entschieden habe, sondern auf die inhaltliche Wende,
die Georgios die Gelegenheit gibt, seinen Bildungsweg in Konstantinopel
fortzusetzen. Seine Bezugnahme auf die Lateiner ist also nicht unbedingt
eine versöhnliche Einstellung, aber sie ist keinesfalls eine aggressiv ent
fremdende. Diese Position prägt auch seine theologische Haltung.
44
45
46
47
Misch 1931, 2.
Siehe Kapriev 2012, 3–31.
Ed. Pelendrides/Lameere, 22,33–54.
Ed. Pelendrides/Lameere, 32,170–171.
K A P R I E V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 481
Die trinitarische Formel des Gregorios, dass der Heilige Geist nur aus
dem Vater Sein erhält, indem er aber eine sowohl innertrinitarische als
auch ökonomische ἔκφανσις ἀΐδιος, »ewige Erscheinung« bzw. »Offenba
rung«, durch den Sohn erfährt, wodurch sich seine Existenz verwirklicht,
wird heute als der einzige besonders wichtige Konzilsbeschluss des 13.
Jahrhunderts in Byzanz eingeschätzt,48 als »the key doctrinal statement
of the century«49. Dieser Beschluss wird als derjenige Akt betrachtet,
der die Tür für eine theologische Einigung des Westens und des Ostens
und eine Union der östlichen und der westlichen Kirche zustieß.50 Man
muss zugeben, dass durch die Formel des Gregorios und ihre Akzeptanz
die Möglichkeit tatsächlich eliminiert war, die FilioqueFormel und
die dadurch geäußerte Trinitätstheologie in ihrer lateinischen Prägung
in die Dogmatik der östlichen Kirche einzuführen. Der Standpunkt
des Gregorios ist aber nicht als durchwegs unflexibel-antilateinisch zu
bezeichnen. Durch das elegante Abwenden der strengphotianischen
Überlieferung macht Gregorios, dies ist anzumerken, Raum frei für eine
Verarbeitung des lateinischen Triniätskonzepts innerhalb der Normen der
östlichen patristischen Tradition. Seine Formel sucht nicht zuletzt einen
aus östlicher Sicht theologisch korrekten Konzeptionsrahmen zu schaffen,
in dem die beiden Seiten die kontroversen Fragen gleichstimmig hätten
diskutieren können.51 Mit seiner Lehre vom ›Hervorgang‹ des Heiligen
Geistes reiht er sich in eine Denklinie ein, die schon in der ersten Hälfte
des 12. Jahrhunderts von westlichen Theologen entwickelt worden war,52
und in den theologischen Werken des Niketas von Maroneia († 1145) und
des Nikephoros Blemmydes (1197–1272) ihren Niederschlag fand, wobei
der Einfluss des Blemmydes auf Gregorios gesichert ist.
IV.2 DER AUSB ILD UN G SW EG
Nachdem er seine Ausbildung auch in Nikosia enttäuscht abbrach, kam
der fünfzehnjährige Georgios nach Hause zurück, ohne aber seinen Willen
nach weiterer Bildung verloren zu haben. Aus diesem Grund begab er sich
auf eigene Faust auf die Suche nach einem weisen Mann, einem richti
gen Lehrer. In seinem Bericht arbeitet er besonders die abenteuerlichen
48
49
50
51
52
Papadakis 1983, 153.
Papadakis 2011, 37.
Vgl. Papadakis 1983, passim; Kolbaba 2011, 62–68.
So Papadakis 2011, 35–40.
Siehe Anselmus Havelbergensis, Dialogi, lib. II, in: MPL 188, 1163A1210B.
482
Elemente seines Bildungsweges heraus.53 Weil Konstantinopel zu der Zeit
von den Kreuzfahrern besetzt war, gelangte er über Meereswege durch
Palästina nach Ephesos zur Schule von Nikephoros Blemmydes, dem
angeblich weisesten unter allen Hellenen und allen lebenden Menschen.
Die Absicht, sein Schüler zu werden, scheiterte jedoch. Männer aus
Ephesos haben ihm gesagt, dass der Philosoph ihn nicht sehen wolle, weil
Georgios zu jung und dazu noch ein Fremder und Armer sei. Darüber
hinaus würden die Leute aus dem Kreis um Nikephoros ihn in dessen
Kloster nicht zulassen.54
Damit sind schon einige Grundzüge des höheren Schulwesens in
Byzanz entworfen. Die Ausbildung auf einem höheren Niveau war eine
private Angelegenheit und wurde in privaten Schulen gelehrt. Die Aus
wahl der Schule und des Lehrers war eine Sache des Wissbegierigen. Seine
Aufnahme war der Willkür des Lehrers ausgeliefert, indem Kriterien wie
Alter, Fremdheit und Armut eine Rolle spielen könnten. Der Unterricht
war kostenpflichtig. Fremdheit dürfte auch ein negatives Kriterium dar
gestellt haben. Der Verlauf des Unterrichts, der von den Interessen der
Lehrenden bestimmt wurde, bildete aus der Schule ein Freundeskreis,
der nicht immer bereit war, Fremdlinge zu assoziieren.
Nach einigen Monaten, die er in der Armee des Michael Palaiologos
verbrachte, wo er umsonst versuchte, Mittel für sein weiteres Studium
zu erlangen, erreichte er die ersehnte »Quelle der Gelehrsamkeit« (τῶν
λόγων πηγή), die provisorische Hauptstadt Nikaia. Er sollte aber fest
stellen, dass auch dort »die Gelehrten nur wieder Grammatik und Poetik
lehrten, auch das oberflächlich genug …; von Rhetorik und Philosophie
und den anderen Wissenschaften, die man vor allem andern als das,
was des Menschen würdig ist, treiben und verstehen muss, begriffen sie
nichts, wussten nicht, was das ist, ja kaum dass es das gibt«. Sie zwangen
die Schüler Deklinationen, Konjugationen und Verbalformen einzuüben
und Mythen und Fabeln zu pauken. Um die Wahrheit aber kümmerten
sie sich, bemerkt Gregorios bissig, zu wenig.55
Nach der Befreiung von Konstantinopel hatte Georgios endlich das
Glück, sich der würdigsten Wissenschaft, der Philosophie, zu widmen. Er
wurde zum Schüler von Georgios Akropolites, der zu dieser Zeit als der
Weiseste »im Wissen« (τὰ ἐς λόγους) galt. Entscheidend dabei war, dass
der außer seinen Kenntnissen eine mitleidsvolle Seele besaß und jedem,
53 Hinterberger 1999, 358.
54 Ed. Pelendrides/Lameere, 28,100–104.
55 Ed. Pelendrides/Lameere, 26,86–32,156.
K A P R I E V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 483
der zu lernen strebte, helfen wollte. Der Kaiser habe ihn unterstützt, in
dem er ihn von seinen öffentlichen Diensten befreien ließ.56 Wie schon
unter Theodor Laskaris seit 1255, hatte Akropolites auch unter Michael
Palaiologos das Amt des Großlogotheten, d. h. des Außenministers inne
und wurde vom Kaiser auch nach seiner »Befreiung« mit politischen
Missionen betraut (etwa am Konzil von Lyon 1274). Akropolites gilt als
Reorganisator des Bildungswesens in Konstantinopel, indem er diese
Neuorganisation auf dem privaten Wege persönlicher pädagogischer
Betätigung (und nicht etwa in der Form der staatlichen oder kirchlichen
Hochschule) unternahm.57 In Bezug auf sein Verhalten zu diesem Lehrer
erweist Gregorios eine weitere Besonderheit der byzantinischen Philo
sophiebildung.
Seiner Erzählung nach stellte das »Labyrinth des Aristoteles« die Stri
cke und Gewebe des Akropolites dar, wodurch er seine Lehren plausibel
machte. Dazu unterrichtete er noch Euklides und Nikomachos, d. h. Geo
metrie und Arithmetik.58 Georgios, der jüngste im Schülerkreis, bekennt,
dass er in die peripatetische Philosophie verliebt und ihr ergeben war. Er
schätzte, bekennt er, Aristoteles höher als alle anderen Philosophen.59 Er
schildert, dies sei hervorgehoben, seinen Lehrer mit großer Liebe, aber er
erklärt sich zum Nachfolger nicht seiner, sondern der Lehre des Aristoteles.
Der LehrerSchülerBezug vollzog sich vielmehr in der Form eines gleich
berechtigten Dialogs. Dieses Verhältnis forderte keine Unterwerfung des
Schülers. Im positiven Fall bildeten die Lehrer mit ihren Schülern einen
Freundeskreis, der auch nach dem Schulabschluss bewahrt blieb. Der
Schüler fühlte sich nicht verpflichtet, der Lehre seines Lehrers zu folgen.
Im Prinzip entwickelte er seine eigene. Das ist der Grund dafür, dass die
meisten byzantinischen Philosophen zu behaupten pflegten, sie hätten
keine Lehrer gehabt. Der Philosoph war von jeglicher Abhängigkeit frei.60
Gregorios, der zu den rhetorisch begabtesten rhomäischen Denkern
zählt, gibt des Weiteren zu, dass er letztendlich in der Rhetorik ein Auto
didakt geblieben sei.61 Die autodidaktische Bildung war in Byzanz keine
ausgesprochene Rarität. In seiner eifrigen Vorliebe für die aristotelische
Philosophie habe bei Georgios während seines Studiums die Eleganz
56
57
58
59
60
61
Ed. Pelendrides/Lameere, 32,168–177.
Misch 1931, 13–14; Sopko 1979, 49.
Ed. Pelendrides/Lameere, 34,179–185.
Ed. Pelendrides/Lameere, 34,200–202.
Siehe Kapriev 2016.
Ed. Pelendrides/Lameere, 36,208–224.
484
seiner Rede nachgelassen, weswegen er von seinen Kommilitonen ver
lacht worden sei. Weil er extrem ambitioniert und ehrgeizig war, berichtet
Gregorios, warf er sich auf diese Übungen. Er nahm sich aber zum Vorbild
nicht solche Lehrer, »die alles Schöne in der Rhetorik und gerade das
Anmutige, Attische, Würdige, wahrhaft Hellenische des Ausdrucks ver
dorben haben, sondern die ausgezeichnetsten unter den alten Rhetoren,
sozusagen die Erfinder und Väter dieser Kunst«. Da ist er schnell »ein
anderer geworden, als er es gewesen war« (ἕτερος γέγονεν ἐξ ἑτέρου)62.
Die letzte Aussage, samt der Betonung der Ambition und des Ehrgeizes,
spiegelt das byzantinische Haltungsmuster wieder, demnach die wirklich
würdige Person sich selbst weiterbildet, ›ausbaut‹, und ausschließlich aus
eigener Kraft ihren Werdegang ›errichtet‹. Selbstgefällig hebt Gregorios
hervor, dass seine Leistungen ein Paradigma geworden seien, das viele
vorgezogen hätten nachzuahmen.63
Bei seinem Verlangen nach »Wahrheit« ist Georgios hohes Ziel die
Philosophie. Gregorios nennt sich Philosoph. Er macht jedoch eine
Karriere als Lehrer der Rhetorik. Es ist nicht notwendig, einen Wider
spruch in diesem Umstand zu erkennen.64 Zu einem Konflikt zwischen
dem ›Philosophen‹ und dem ›Rhetoren‹ konnte es nicht kommen, weil
in Byzanz beide Fächer grundlegend zum philosophischen Curriculum
zählten. Nicht von ungefähr setzt etwa Psellos die Philosophen und die
Rhetoren gleich.65 Es ist keineswegs so, dass Gregorios in der Philosophie
nachliess, wenn er sich beruflich der Rhetorik widmete. Der Unterschied
liegt darin, dass die Philosophie grundsätzlich privat und von wenigen
Lehrern unterrichtet wurde. Ganz selten gab es eine öffentliche, berufs
philosophische Karriere. Demgegenüber war die rhetorische Schulung
für alle Zweige der Öffentlichkeit erforderlich und die Nachfrage unver
gleichbar höher.
Der wirkliche Gegensatz im Leben des Gregorios und des hochstre
benden Verstandesmenschen in Byzanz war dabei nicht der für den Wes
ten geläufige Gegensatz ›weltlich-geistlich‹, aber auch nicht »der antike
Gegensatz zwischen dem theoretischen und praktischen Bios«66, der selbst
für die Hesychastenlehrer nicht galt. Die beiden Lebensweisen waren
62 Ed. Pelendrides/Lameere, 34,200–36,220.
63 Ed. Pelendrides/Lameere, 36,222–224.
64 So Misch 1931, 13–15.
65 Michael Psellus, The History of Psellus, hg. von C. Sathas, London 1899,
15,10–15.
66 So Misch 1931, 3 u. 8; siehe auch Hunger 1978, 168–169.
K A P R I E V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 485
sehr wohl auch im Dasein des byzantinischen Geistlichen vereinbar. Der
eigentliche Gegensatz ist zu suchen zwischen dem Öffentlichem und dem
Privatem. Das hohe Philosophieren und überhaupt die hohe Geistigkeit
demonstrierten sich in richtigem Maße in der privaten Lebenswelt. Die
Verwirklichung im persönlichen privaten Gelehrtenkreis war das Ideal
und die authentische Lebenssituation des byzantinischen Philosophen.
V. DIE MENSCH L ICH E VO L LSTÄN D IG K EIT UN D I H RE VERL ET ZUN GEN
Gregorios fand in den Studien und insbesondere im Studium der aristo
telischen Philosophie den vollständigen Lebensgehalt, die höchste
Befriedigung seines Strebens. Ganz im Gegenteil dazu betrachtete er
seine öffentliche Karriere, inklusive seine Erhebung zum Patriarchen von
Konstantinopel, als Unglück und Versklavung.67 Als glücklichste Zeit be
stimmt er die Spanne zwischen seinem 26 und 33 Jahr, d. h. die Periode be
vor er durch öffentliche Dienste engagiert wurde,68 also den Zeitabschnitt,
den er bei Akropolites und nur als Lehrer verbrachte. Es ist die Zeit, als er
seine Entscheidung erfüllte, das Leben des Philosophen, d. h. des »freien
Menschen« (ἐλεύθερος) zu führen. Für einen Philosophen, ja für den
freien Mann überhaupt, ziemt sich, räsonniert er, in »Ungeschäftigkeit«
zu leben.69 Der Philosoph und der freie Mensch, die Philosophie und das
freie Leben abseits der Öffentlichkeit, waren ihm zufolge gleichbedeutend.
Dazu zählt zunächst die Verfassung der eigenen Schriften, deren
durch die Berufung zum öffentlichen Dienst verursachte geringe Quan
tität er beklagt, aber zugleich ihre Qualität, ihren Stil, ihre Klarheit und
Erhabenheit hoch lobt.70 Das vollständige Leben des Verstandesmenschen
setzt aber auch das Sammeln und Abschreiben von Handschriften der
»alten weiser Männer«, also antiker und frühchristlicher Autoren, voraus.
Dies gehört zu einer langen Tradition, die mit Photios und Arethas von
Kaisaria ihren Anfang nimmt. Gregorios schreibt sich darin gerne ein,
indem er irgendwie flüchtig, in Bezug auf seine Armut, erwähnt, dass er
sich »mit seinem eigenen Schweiß«, also in mehreren Fällen selbst ab
schreibend, die Bücher, die er so sehr liebte, verschafft habe.71 Auf diese
67
68
69
70
71
Misch 1931, 8.
Ed. Pelendrides/Lameere,
Ed. Pelendrides/Lameere,
Ed. Pelendrides/Lameere,
Ed. Pelendrides/Lameere,
38,235–236.
38,243–245.
40,273–274 u. 289–303.
40,279–42,284.
486
Weise errichtete er seine Bibliothek, die Codices mit Werken von Platon,
Aristoteles, Demostenes und Elias Aristides sowie Florilegien mit Texten
von Homer, Theokrit, Sophokles, Aristophanes, Euripides, Synesios von
Kyrena, Philon, Plutarch, Prokopius von Kaesaria, Thukydides, Lukian,
Gregorios von Nazianz und Strabon beinhaltet habe.72 Selbst das Hervor
heben der Armut und der gesundheitlichen Probleme, die teilweise durch
die Abschreibungsarbeit verursacht worden seien,73 gehört zum Idealbild
des Gebildeten, der kraft seines Willens und Geistes die unseligen Um
stände des Alltagslebens überwindet.
Über den öffentlichen Lebensweg des Gregorios erfährt man durch
seine autobiographische Beschreibung so gut wie nichts. Seine Erhebung
zum Patriarchen ist zwar erwähnt, »aber nur als etwas bloß Negatives:
nicht als Krönung seines Lebens, sondern als Abweg vom Ziel, persönlich
angesehen ein Unglück«74. Er ist »auf den höchsten Patriarchenthron in
Wahrheit eher hinaufgezogen worden als aufgestiegen; denn dies alles
geschah mit ihm ohne Absicht und Zutun seinerseits« 75. Es ist gegen
seinen Willen vollzogen, da er sich dadurch in die Streitereien über die
dogmatischen Neuigkeiten, den kirchlichen Ansturm und die Seelsorge
verwickeln musste. Dadurch wurde er in die Mitte der Verwirrung der
Ereignisse mithinein gezogen und aus dem glücklichen, ja seligen Leben
verstoßen. Seine Seele war betrübt und er konnte nicht mehr schriftstel
lerisch tätig sein. Er hörte gegen seinen Willen mit dem Schreiben auf.76
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Gregorios in der Philosophie und
Theologiegeschichte ausschließlich mit seinen Werken bekannt geblieben
ist, die er im Laufe seines Patriarchats verfasst hat. Er schätzte sie aber
offensichtlich nicht so hoch ein, weil sie unter dem Druck der äußeren
Umstände und nicht kraft seiner eigenen intellektuellen Entwicklung
entstanden sind.
Abschließend sollte man anmerken, dass Gregorios durch sein litera
risches RechtfertigungsSelbstporträt ein Idealbild des Verstandesmen
schen seiner Zeit umreißen will. Die menschliche Vollkommenheit wird
grundsätzlich durch die Freiheit definiert, die Kraft der Ausbildung, des
Philosophiestudiums, des Lehrens und des Verfassens verwirklicht wird.
72
73
74
75
76
Martín 1996, 19–317.
Ed. Pelendrides/Lameere, 40,274–42,282.
Misch 1931, 8.
Ed. Pelendrides/Lameere, 38,246–249.
Ed. Pelendrides/Lameere, 38,246–249 u. 40,264–272.
K A P R I E V : GE O R GIO S V O N Z Y PE R N UND SE I N E » A U TO B I O GR A P H I E « 487
Die Verpflichtung zu öffentlichen Ämtern wird als »böse Notwendigkeit«77,
Beraubung der Freiheit und Verletzung der Vollständigkeit bestimmt –
dazu zählt selbst das Besteigen des »höchsten unter den patriarchalen
Thronen«78.
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MARTIN ROUS S EL
FIGURATION DES LE BENS UND ZERSTREU UNG
DES BILDES IN EDGAR ALLAN POES
THE OVAL PORTRAIT
das genaue Bild von dem, was wir ohne unsere Zerstreuungen*, ganz und gar ausgeliefert den Demütigungen des
Göttlichen, wären. (Albert Camus)
I. S KIZZE
Porträtskizze nennt Robert Walser einen im Buchdruck weniger als zwei
Seiten umfassenden Text, der im September 1907 in der Theaterzeitschrift
Die Schaubühne erschien. Warum verwendet Walser für seine feuille
tonistischliterarische Beschreibung des »Prinzen von Homburg«1 aus
Heinrich von Kleists Drama den Begriff Porträt? Biographische Texte als
Porträt zu bezeichnen, ist zunächst eine durchaus übliche metaphorische
Strategie der Übertragung aus dem Bild in den Schriftbereich.2 Ausge
hend von der Porträtskizze lassen sich eine Reihe von Beobachtungen
anstellen, die in figurativer Hinsicht 3 im Konventionellen des literarischen
Porträts und in der Differenz von visueller und literarischer Rahmung
Fragen ästhetischer Formgebung sichtbar werden lassen:
– erstens, und naheliegend, dass die Entgegensetzung von Porträt und
Biographie eine von Bild und Text ist, wobei gegenseitige metaphorische
1 Walser 2003, Bd. 3, 47–49, hier 47.
2 Vgl. zur zugrundeliegenden Horaz’schen Formel ut pictura poesis Kircheisen
1904 (hier besonders die Einleitung).
3 Figuration verstanden als Ausformung, das heißt als eine Form im Hin
blick auf ihre sinnlich gestaltgebenden Implikationen.
492
Überblendungen möglich sind, indem ein Bild, wie es etwa auf der Bühne
dargestellt wird, erzählt werden kann oder indem ein Text, wie ein Bild,
vor Augen führen kann;
– zweitens, als Frage formuliert: Was aber wäre ein, im Sinne der
Metapher, ›bildhafter Text‹, mithin eine Porträtskizze? (Im Falle Walsers
handelt es sich offensichtlich um den Bildtypus eines Schauspielers,
der auf der Bühne Kleists Prinz Friedrich von Homburg dargestellt
hatte – also um ein aus einer bildhaft vergegenwärtigten dramatischen
Aufführung entwickelte Lebensbeschreibung, verkürzt auf signifikante
Bühnenmomente.)
– Drittens scheint also die metaphorische Codierung eines eigentlich
biographischen Textes als porträthaft in besonderer Wei se eine Logik
des Ausschnitts oder der Szene zu unterstützen, die im Falle einer über
greifenden Darstellung von Szenen im Sinne einer ›Lebensgeschichte‹
oder einer Erzählung ›von Geburt bis zum Tod‹ nicht anwendbar wäre.
Zugrunde läge demnach eine Spannung von Szene und Szenenfolge, Aus
schnitt und Gesamtdarstellung, Punkt und Verlauf, synoptischer Schau
und zeitlichem Verlauf.4 Sowohl Porträt als auch Biographie rekurrieren
demnach (gemäß dem Gesetz ihrer Gattung) auf eine Ganzheit: die eines
räumlichen Ensembles (das sich in den Charakterzügen oder den Zügen
eines Gesichtes manifestiert) beim Porträt; die einer zeitlichen Folge (die
durch den Begriff individuellen Lebens begrenzt wird) im biographischen
Text. (Walser wendet diese Ganzheit durch die Bezeichnung ›Skizze‹, die
sowohl bildlich wie textuell zu verstehen ist: Das Porträt des Prinzen von
Homburg gerät in seiner Gänze zur Maske, hinter der sich die Geschichte
dieser Maskierung auftut: »Es ist mir, als sähe ich ihn vor mir, den Prin
zen von Homburg. Er ist in das Kostüm seiner Zeit gesteckt worden«,
beginnt Walsers Text und endet: »Du liebe Zeit, er geht eben ganz in der
Rolle auf. Talent hat der Schuster gehabt, der ihm die Kanonenstiefel
angemessen hat, nicht er, das heißt, ja, Talent schon, aber alles das geht
4 Sabine Eickenrodt stellt fest, dass es sich um »meistens kleine[ ] Formen
der literarischen PorträtKunst« handle (Eickenrodt 2004, hier 125). An Walsers
Kleist in Thun diskutiert sie historische Bezugnahmen der Stilistik auf die histo
rische Porträtmalerei, wie etwa die Psychologisierung des Porträts im 18. Jahr
hundert. Im Übrigen geht Eickenrodt von einem »bei Walser zu verzeichnenden
radikalen Bruch[ ] mit einem klassischästheti schen Porträtverständnis« aus,
dass nämlich – etwa bei Simmel – zunehmend die Darstellung des Gesichtes
im Sinne physiognomischer Organi sation in den Vordergrund rücke (139).
R O USSE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 493
den einfach geborenen Bürger nichts an.«5 Der Konjunktiv im Eingang
macht aus Homburg eine imaginäre Person, von der, greifbar, nur »das
Kostüm seiner Zeit« bzw. das »Talent« des Schusters der »Kanonenstiefel«
übrig bleibt. Die Erzählung der Porträtskizze demaskiert das Porträt also
in der Skizze einer zeitgeistigen Kostümierung.)6
– Viertens scheint das Porträt die Funktion eines Rahmens ein
zunehmen, der die skizzenhafte Erzählung in einem (sei es auch ›un
wahren‹) Bild zusammenfügt; als Bild eines Textes durchstreicht dieser
bühnenreife Rahmen gleichsam sich selber in der Buchstäblichkeit des
Wortes ›Porträt‹, das (es geht ja um Kleists Drama Prinz Friedrich von
Homburg) ironischerweise auf die Deklamation berühmter Verse hinaus
läuft, von denen Walser drei bzw. vier zitiert: »Nun denn auf deiner Kugel,
Ungeheures –« und: »Pah, eines Schuftes Fassung, keines Prinzen. / Ich
denk’ mir eine andre Wendung aus.«, schließlich: »Da will ich bauen, will
ich niederreißen.« »Das sind keine so einfachen Menschen, die [solche
Verse; MR] sagen können«, kommentiert Walser, und auch der Homburg
Darsteller spreche »die Verse schlecht«.7 Das durch des Schusters talent
voll hergestellte Kanonenstiefel eindrückliche HomburgBild auf der
Bühne wird also nicht nur demaskiert, sondern zudem durchkreuzt von
einer Schrift, die dem Leben (der Biographie) entrückt ist und die – als
in der Unmöglichkeit adäquater Deklamation gegebene Schrift – zum
Bild der Bühne und ihrer Sprache wird.8
Was also ist, nimmt man diese vier Beobachtungen zusammen, der
Zweck der Bildmetapher des literarischen Porträts? Diese Zweckfrage
bildet den Rahmen der folgenden Überlegungen, das heißt die Frage,
wie das Bild als Zweck des Textes fungieren kann. Sind es einerseits in
der Regel kürzere Texte, die als Porträt bezeichnet werden, während der
Genrebegriff Biographie zumeist für größere Gesamtdarstellungen eines
Lebens verwendet wird, bringt andererseits die Distinktion eines Textes
5 Ebd., 47 und 49.
6 Dass Walser dabei mehr als nur einen formalen Anschluss an ein etwaiges
Genre ›literarisches Porträt‹ sucht, verdeutlicht seine Titelwahl ›Porträtskizze‹
mit ihrem Changieren zwischen malerischem und textuellem Entwurf, aber
auch die Betonung – imaginärer – Bildlichkeit im Eingang des Textes: »Es ist
mir als sähe ich ihn vor mir […].« (Hervorhebung: MR)
7 Ebd., 48.
8 Die Unaussprechlichkeit Kleist’scher Verse ist Thema in Was braucht es zu
einem Kleist-Darsteller? (März 1907 in der Schaubühne erschienen. In: Walser
2003, Bd. 15, 23–26)
494
als Porträt, mithin als Bild, eine Vagheit der Vorstellung für die Frage
nach der Form eines Textes mit sich. Über das Porträt als Form eines
Textes zu sprechen, impliziert – in tendenziell paradoxer Gegenführung
– gerade den Verzicht auf Form (der des Bildes und seines Rahmens, des
Textes und seines Gesetzes: der Gattung, des Titels, der Bauform usw.).
Wenn das Bild als Porträt zur Form eines Textes herangezogen wird, dann
nur in der Vagheit/Bestimmtheit einer Bildidee.9
Diesen vier Linien – einer vermeintlichen Entgegensetzung von Bild
und Text, der Vorstellung eines bildhaften Textes (also gleichsam einer
wörtlich genommenen Ut-pictura-poesisFormel), dem Verhältnis von
Raum und Zeit sowie der Funktion des Rahmens – soll im Folgenden
in allgemeiner Hinsicht auf konzeptionelle Merkmale des Porträts (II.)
nachgegangen werden, bevor eine Lektüre von Edgar Allan Poes Das ovale
Porträt die verschiedenen Aspekte einer erzählerischen Figuration des Por
träts im Wahrnehmungsparadigma der Zerstreuung zusammenführt (III.).
II. PORTRÄT ALS FIG UR ATIO N
Porträt, Figuration und Mimesis bezeichnen drei sich ergänzende Facet
ten von Darstellung: Während portrait oder altfranzösisch portret zunächst
die Hervorhebung oder Verstärkung (por/pour) eines Charakterzuges
(trait) oder einer gezogenen Form (tracé) meint, zielt die Figuration auf
eine Feststellung (figure), die BildWerdung einer zeitlichen Gestaltung
(figuration), und zielt die Mimesis auf ein ZurErscheinungBringen, das
nicht pure Wiederholung sein kann: »aus sich selbst, nicht von den ande
ren her soll […] das Bild [figure] sich darstellen. Aus sich als Anderem.«10
Die »im Porträt verdichtete Logik der Mimesis« oszilliert entsprechend
»zwischen den Extremen der reinen Präsenz (von der die Mimesis auf
gehoben würde) und der Ähnlichkeit (in der sie die Abwesenheit des
Modells oder sogar sein Verschwinden betont).«11
9 Kant hat in der Kritik der Urteilskraft von ästhetischen Ideen gesprochen,
um solcherart paradoxe Formaspekte zu thematisieren. Vgl. die aktualisieren
den Überlegungen von Günter Blamberger (2011). Zur kantischen Problematik
eines ›Zweckes ohne Zweck‹, wie er für die Bildfiguration des literarischen
Porträts entscheidend ist, vgl. Derrida 1992, 111.
10 Nancy 2015, 33. Eckige Klammern des Übersetzers nennen zur terminolo
gischen Verdeutlichung das französische Original.
11 Ebd., 11.
R O USSE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 495
So kann die Geschichte des Porträts die Geschichte seiner Figu
rationen zunehmend auf die hervorstechenden Züge einer Figur und das
heißt auf das Gesicht zulaufen (»Figure wird in bestimmten Kontexten
praktisch synonym mit ›Gesicht‹«12). Das Gesicht ist jedoch nicht nur der
Ort, an dem die markantesten Gesichtszüge darstellbar werden, sondern
zudem Ort, wo sich die Beseelung des Körpers, die Mimik (visage) oder
die erstarrten Züge eines Totenkopfes, das Lächeln (des Lebens) oder
die Grimasse (der Maske) ausdrücken lässt. In seinem Wörterbuch der
Gemeinplätze schreibt Flaubert bündig: »Porträt. Das Schwierige ist,
das Lächeln wiederzugeben.«13 Man kann daraus nicht direkt folgern,
inwiefern das Porträt sich zwischen den Polen des Lebens und des Todes
abspielt oder gar eine Erzählung des Lebens zum Tod oder des Lebens aus
dem Tod bietet. Die Möglichkeit des Porträts ist vielmehr zunächst eine
des Blicks, der Sichtbarmachung für einen Betrachter, und aufgrund der
doppelten Notwendigkeit von Präsenz und Ähnlichkeit, von Präsentation
und Repräsentation handelt es sich in aller Allgemeinheit um »unsere
Möglichkeit, präsent sein zu sein«, die sich im Porträt »entwirft, entzieht
und entscheidet«.14 Während sich im Entwerfen ein Zusammenhang von
Planung und Ruine andeutet,15 impliziert der Entzug (retrait) ein Spiel
des trait, das darauf hinweist, dass im Portrait nicht nur der Vollzug,
der Ausdruck oder der Eindruck waltet, sondern die Figur des Porträts
anwesend oder ähnlich nur sein kann, weil sich die Möglichkeit der Prä
senz im Blick des Betrachters verschiebt.16 Das Urteilen schließlich liegt
12 Ebd.
13 Flaubert 2000, 100.
14 Nancy 2015, 7 (im Original kursiv). Die Möglichkeit, das ›etwas‹ kraft eines
zeichnenden Zuges (frz. trait) ›anwesend‹ ist, verortet Derrida in einer vierfa
chen Matrix: »Präsentation der Repräsentation, Präsentation der Präsentation,
Repräsentation der Repräsentation, Repräsentation der Präsentation.« (Derrida
1992, 20 f.)
15 Vgl. hierzu weiter unten, insbesondere Anm. 41.
16 Sigrid Weigels Vermutung, dass Derrida in seiner Meditation über den trait
lediglich den »Entzug des Auges aus einer bekannten Konstellation« vollziehe
(gemeint ist die Trias Hand, Auge und Linie; Weigel 2015, 50), greift zu kurz und
übersieht, dass die ›Blindheit‹, von der Derrida spricht, auf der thematischen
Ebene durchaus augenfällig sein kann. So lässt das Spiel mit der Blindheit das
Auge nicht einfach wegfallen, sondern spielt das Sichtbare in den Bereich des
Kognitiven: trait meint auch den ›Einfall‹, das ›erkannte Merkmal‹, mithin die
Voraussetzung für Zeichenhaftigkeit, Zitier barkeit und Übersetzbarkeit im Un
terschied zur Singularität sensorischer Eindrücke. Die ›Blindheit‹ liegt also »am
496
damit nicht nur im Blick: Es gründet sich auf die zwei Seiten des Zuges,
der teilt und verbindet, seiner Präsentation oder seiner Repräsentation.
Dabei hängt beides zusammen:
Ein Porträt präsentiert vor allem die Spannung einer Beziehung.
Keine Beziehung zu »jemandem« – die Beziehung zweier Personen
schafft nicht unbedingt ein »Doppelporträt«, es kann genauso gut
eine Szene darstellen, also eine Erzählung, während das Porträt nicht
erzählt, sondern sich jeder Art von Rede, Narration oder Deklaration
enthält, indem es eine ausschließliche Beziehung zu sich selbst un
terhält. In diesem Selbstbezug liegt gleichzeitig das ganze Wesen des
Bezugs zum Betrachter, dem sich jemand als ein »Selbst« präsentiert.17
Überhaupt hängen Porträt und Erzählung gerade dadurch, dass sie – in
figurativer Hinsicht – einander exkludieren, zusammen: Indem es die
Züge eines Charakters in den Vordergrund rückt, verbirgt das Porträt
die Striche, des Zeichners oder Malers, die sukzessive Folge an für sich
bedeutungsloser Markierungen, die erst in der abgeschlossenen Summe
ihrer Präsenz die Repräsentation zu sehen geben. Dieser Hintergründig
keit einer erzählbaren Zeitlichkeit verdankt das Porträt die Verdichtung
von Präsentation und Repräsentation in einem: Die Zeit der Entstehung
bedingt die eigenständige Formierung eines Ensembles von Strichen und
Zügen, aus der heraus das Porträt – in seiner Abgeschlossenheit – die
Spannung zu dem Objekt (Subjekt) aufbaut, dem es ähnelt.
Ursprung der Zeichnung […]: die trans zendentale und die sakrifizielle Blindheit.
Die erste ist gewissermaßen die unsichtbare Bedingung der Möglichkeit der
Zeichnung, das Zeichnen selber […]. Sie kann nicht als darstellbarer Gegenstand
einer Zeichnung gesetzt oder genommen werden. Die zweite dann – also das
Opferereignis, das, was den Augen zustößt, die Erzählung, das Schauspiel oder
die Darstellung von Blinden – reflektiert sozusagen diese Unmöglichkeit, in
dem sie zum Thema der ersten wird. […] Zwischen den beiden […] kann das
Ereignis das Wort der Erzählung hervorrufen, den Mythos, die Prophezeiung,
den Messianismus, den Familienroman oder die Szene aus dem Alltagsleben
und liefert so der Zeichnung ihre thematischen Gegenstände oder Schauspiele,
ihre Figuren, ihre Helden, ihre BlindenTableaus« (Derrida 1997, 46) – Zur
›Blindheit‹ als Metapher einer dreifachen Zwischenstellung, Fügung oder Fal
tung vgl. das Kaptitel »Schrift, Zeichnen und Schreiben: Ästhetik des Strichs
(Derrida)« in: Roussel: 2009, 71–93, hier 90 f.
17 Nancy 2015, S. 29.
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 497
1 Hillel Braverman: Porträt des Mose (Ausschnitt), spätes 19. Jahrhundert,
17 ½ – 14 inches, Library of Congress, Washington, DC18
18 Abbildung nach Karp 1991, 118.
498
Zunutze gemacht hat man sich dieses Verschwinden der Zeit im Bild
schon im Mittelalter, wo Mönche aus mikrographischen Buchstaben Zier
rate, Ornamente und Bilder erschlossen. Insbesondere jüdische Künstler
haben diese Tradition bis ins 19. Jahrhundert und in die Gegenwart hinein
bewahrt, wie ein Porträt zeigt (das allerdings im verkleinerten Bildzitat
seinen Text gerade nicht zu lesen, sondern nur zu sehen gibt), das um
die Jahrhundertwende 1900 entstanden ist (Abb. 1). A1
Mikrographische Schrift/Bildkunstwerke stellen als Bild einen
Einlass in die Erzählung dar, aus der sie sich zusammensetzen: Die
Zeichnung wird aus miniaturisierten Buchstaben gebildet, die in der
Verkettung zu Wörtern und Sätzen Linien zu bilden scheinen. So kann
Moses im Porträt Hillel Bravermans die allegorische Maske der Zehn
Gebote darstellen: Das ganze Buch Deuteronomium findet sich in dieses
Porträt eingezeichnet, bzw. erzählt das Buch Deuteronomium das Bildnis
Mose, dem die Gebote sich, göttliche Urheberschaft eingerechnet, wiede
rum der Erzählung nach verdanken.
Paradox an den mikrographischen Bildern ist vor allem, dass die
Schrift, Buchstabe für Buchstabe, das Distinkte des Bildes unterläuft,
das heißt: den Abstand, den das Bild als Sichtbares fordert, einzieht, in
das Bild hineinführt und es Stück für Stück aufrollt. Der besondere Zug
oder Strich (trait), in dem sich die Mikrographie als Bild gibt, besteht
also in seiner Doppelnatur als TrennendVerbindendes. Das Bild wird
hier doppelt ungreifbar: weil einerseits das Bild als Distinktes das ist,
»was man mit einem Zuge entzieht, im Abstand hält und es [– nur so –]
auch mit diesem Entzug markiert«; 19 und weil andererseits das Bild in
die Elemente von Schrift zerfällt, die zusammengelesen einen Text und
kein Bild ergeben, so dass man sagen kann, dass die Spuren des Bild
lichen, Zug um Zug, das Bildliche entfernen. Der Strich der Mikrogra
phie, dies ist die Spezifik seiner Figuration, lädt also zu einer Oszillation
zwischen Text und Bild ein, zwischen Lektüre als Modus des ›Zu-sichselbstSprechensinanderemNamen‹,20 mithin der Verinnerlichung des
Äußerlichen, und dem BildBlick als Wahrnehmung einer Distinktion,
mithin als Beobachtung, wie das Bild in sich abgeschlossen ist und erst
als solches überhaupt als Bild Bild werden kann. Hierin liegt ein me
ditativer Grundzug der Mikrographie, dem sie wohl ihre Prominenz in
jüdischhebräischen Traditionen verdankt.
19 Nancy 2006, 10.
20 So kann man mit Weimar 1999 die hermeneutische Diskussion bündeln.
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 499
Im Grunde veranschaulicht das mikrographische Bild damit eine
Ökonomie des Sehens, von der her jedes Bild seine Bildhaftigkeit gewinnt:
Denn auch wenn ein Bild das ist, »was man mit einem Zug entzieht,
im Abstand hält«, so ist dieser Entzug doch erst das, was das Bild als
Ungreifbares erst dem Greifen entzieht: »Dieses Ungreifbare gibt sich
im Zuge und durch den Entzug seines Abstandes, durch diese distractio,
die es entfernt.«21 Wenn Walter Benjamin in seinem Aufsatz über ›Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ dem au
ratischen Kunstwerk am Beispiel des Museumsbildes (als ästhetisches
Modell des 19. Jahrhunderts) die zerstreuende Kraft des Kinos (gemäß
dem Funktionswandel der Medien im 20. Jahrhundert) entgegensetzt,
so handelt es sich hier nicht einfach um den Gegensatz von Aufmerk
samkeit (der Betrachter des Bildes im Museum) und Zerstreuung (der
Kinogänger). Denn auch die Kontemplation einer Traube von Menschen
vor einem Bild im Museum ist nur denkbar im Entzug des Blicks, in der
Versenkung ins Bild, die die Zerstreuung als Abwesenheit des Betrach
ters erscheinen lässt.22
Benjamin rekurriert hier auf eine Unterscheidung, die Immanuel
Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht getroffen hatte:
Zerstreuung (distractio) ist der Zustand einer Abkehrung der Auf
merksamkeit (abstractio) von gewissen herrschenden Vorstellungen
durch Vertheilung derselben auf andere, ungleichartige. Ist sie vor
setzlich, so heißt sie Dissipation; die unwillkürliche aber ist Abwe
senheit (absentia) von sich selbst.23
Die Umstellung von Zerstreuung als absentia auf Zerstreuung als Dis
sipation beruht also zunächst auf »tiefgreifenden Veränderungen der
Apperzeption«,24 genauer einer Bewusstwerdung der Funktion von Wahr
nehmung. Eine solche »Rezeption in der Zerstreuung« lässt sich im Sinne
21 Nancy 2006, S. 10.
22 Vgl. Kants Reflexionen zur Anthropologie, wo »contem pla tion« ausdrück
lich mit »dissipation« oder »Zerstreut seyn – sich zer streuen« gleichgesetzt
wird (Kant 1900, XV, 228). – Medientechnologisch akzentuiert, macht erst die
Fotografie (die mehr als jedes andere Medium der Ähnlichkeit und nicht der
Präsenz verpflichtet ist) den Betrachter vor dem Bild wieder sichtbar – so in
Thomas Struths bekannten Museum Photographs (Struth/Belting 2003).
23 Kant 1900, VII, 206 (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 47).
24 Benjamin 1977, 136–169, hier 166 (im Original kursiv).
500
der Dissipation genau dann besser einüben, wenn die Aufmerksamkeit
auf möglichst »ungleichartige« Vorstellungen (Kant) verteilt wird, mit
hin wenn das Objekt der Wahrnehmung sich beständig ändert. Bewegte
Bilder sind deshalb das paradigmatische Medium einer Einübung in die
Dissipation, bzw. hat die »Rezeption in der Zerstreuung am Film ihr
eigentliches Übungsinstrument«.25
Das eigentlich Interessante an der Figur der Zerstreuung ist, dass
es sich hierbei um die Faszination für etwas handelt, das nicht eintritt.
Zwischen Präsentation und Repräsentation des Bildes oder zwischen der
distractio als Kontemplation/Dissipation (willentlich) und der distractio
als absentia (unwillentlich) entzieht sich das Distinkte und entzieht sich
mit dem Distinkten die Distinktion: Als Distinktes ist das Bild von der
Distinktion, die es hervorbringt, unterschieden. Kontemplativ wird diese
Grenze überschritten, dergestalt, dass ein solcher Zustand, »habituell«
geworden, »in Wahnsinn ausschlagen« kann (Extremfall der absentia), im
Fall jedoch, dass sich die »unwillkürlich reproductive Einbildungskraft
eine Diversion« macht (»z. B. durch Lesung der Zeitungen«), ein »Wie
dersammeln (collectio animi)« nicht nur möglich ist, »um zu jeder neuen
Beschäftigung bereit zu sein«, sondern sogar als eine »die Gesundheit
des Gemüths befördernde Herstellung des Gleichgewichts seiner Seelen
kräfte« wirken kann.26 Entweder also befindet sich das Gemüt in absentia,
oder aber es sammelt sich und entzieht den Wahrnehmungen in distractio
ihre zerstreute, gleitende oder unbewusste Beziehung (die diese Art der
Wahrnehmung als Kontemplation ausmacht) zugunsten einer konzen
trierten Besinnung (Kant spricht von abstractio).
III. PORTRÄT ALS ER ZÄH L UNG
Im Diskurs über die Wahrnehmung und das Ästhetische kommt dem
Begriff der Zerstreuung also die Funktion zu, zwischen Bild und Schrift
zu vermitteln, das heißt in der Figuration das Bild als Zielpunkt eines
Gestaltungsprozesses einzusetzen und in der Schrift als dem Momen
tum, mithin als Reflexionsort einer visionären Macht das Bildliche zu
entziehen. Die Macht des Bildes ruht in seiner Unsichtbarkeit; seine
Ohnmacht ergibt sich aus seiner Distanz zur Schrift, die die Nähe zum
25 Ebd.
26 Kant 1900, VII, 207.
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 501
Objekt bringt, das es darstellt. Virulent sind solche Überblendungen und
›paragonischen‹ Konstellationen bereits seit der Antike, insbesondere
seit Platons Überlegungen zur Schrift. Die Besonderheiten der (Laut)
Schrift lassen sich demzufolge – im Rahmen einer Grammatologie – in
einer Matrix verorten, derzufolge Schrift peinture du vivant sei: bezogen
einerseits auf die Stimme, den reinen Ton und von jeglicher Abbildhaftig
keit befreiten, ungebundenen ›universellen‹ Ausdruck des Lebens (von la
voix de la nature spricht Rousseau); bezogen andererseits auf die Malerei,
der »eine irgendwie geartete natürliche Universalität« zukomme (weil sie
»so wenig wie das Alphabet an eine bestimmte Sprache gebunden ist«),
während sie zugleich »der imitativen Nähe«, »die sie gegenüber ihrem
Modell hat«, unterliegt:
Unter einem universellen Gesichtspunkt wäre die Malerei vollkom
men empirisch, multipel und austauschbar wie die sinnlich wahr
nehmbaren Einzelwesen, die sie außerhalb jeden Codes repräsentiert.
Die ideale Universalität der phonetischen Schrift verdankt sich
hingegen der unendlichen Distanz gegenüber dem Luat […] und dem
Sinn, der durch die Rede bezeichnet wird.27
Bekanntlich ist dieser Aspekt der Abbildhaftigkeit und des Empirischen
in der platonischen Philosophie durchgängig als suspekt erschienen.
Indem die Schrift buchstäblich visuell erscheint, ähnelt sie selbst der
Malerei und »verrät«, wie diese, »das Sein und die Rede, die Worte und
die Dinge [les mots et les choses] selbst, weil sie sie erstarren läßt [parce
qu’elle les figes].« Als Figur, expression figée und insofern sie eigenwer
tiger Figuration unterliegen, haben/machen die Schriftzeichen wie die
Züge eines Bildes »Bilder von Lebewesen [figure de vivants]«. Eigentlich
beunruhigend an der »Ähnlichkeit mit der Malerei« ist also, dass die
Schrift »den Tod überbracht [hat].«28 Die Schrift in ihrer Empirizität
ruft also immer schon das Bild herbei, das sie dem Sinn der Rede nach
27 Derrida 1974, 517.
28 Derrida 1974, 501 (Übersetzung teilweise modifiziert). In der abendländischen
Geschichte der Schrift hat sich diese Idee der Figuration der Schrift durchaus
verschoben: von der pädagogischen Verurteilung durch Platon bis hin zu einer
ambivalenten Geschichts philosophie bei Rousseau, für den die Schrift zum
»l’origine de l’inégalité« unter den Menschen wird, das heißt mit der Schrift die
natürliche Lebensgrundlage des homme naturel/sauvage – die Jagd, »capture du
vivant« (501) – unter dem Vorzeichen einer Konkurrenz wiederholt wird.
502
leugnet – sie ruft es also als Idee herbei (weil sie an dieser Idee teilhat),
um es zu ›töten‹. Es ist dieser Tod, der bei Edgar Allan Poe – der diesen
Diskurs aufgreift und, in einer doppelten Figur, verdichtet und ausein
anderschreibt – in einer Erzählung formbildend ist.
Die kleine Erzählung Poes – eine seiner kürzesten – verdichtet diese
Aspekte der Schriftgeschichte und Grammatologie um den Begriff des
Porträts. Das ovale Porträt (The Oval Portrait) erschien erstmals 1842
in Graham’s Magazine unter dem durchaus sprechenden Titel Der Tod
im Leben (Life in Death). Die wirkmächtigere Fassung unter dem heute
bekannten Titel wurde aber 1845 im Broadway Journal publiziert; sie un
terscheidet sich vor allem in den Eingangssätzen, wo Poe ursprüngliche
Erläuterungen der Handlungssituation im Eingang des Textes wegließ, so
dass Das ovale Porträt gleichermaßen erratisch wie komplex verschachtelt
anfängt:
Das château, in welches mein Diener gewaltsam eingedrungen – denn
lieber hatte er dies gewagt, als mich in meinem desperat verwundeten
zustande im Freien nächtigen zu lassen –, war eines jener Bauwerke
von vermischter Düsternis und Hoheit, wie sei seit langen Zeiten in
den Appenninen dräuen, in Wirklichkeit nicht minder denn in der
Phantasie von Mrs. Radcliffe. (684)29
Der doppelte Einschub (zunächst der Nebensatz »in welches mein
Diener …«, in den dann noch einmal eine lange Parenthese eingebaut
wird) ersetzt also die in der ersten Fassung des Textes gegebene längere
Einleitung mit einer Erklärung, wie es zur Verwundung des Herrn und
Erzählers gekommen ist. Umso kryptischer bleibt die Motivkonstellati
on in der späteren Fassung. Der Effekt jedoch ist einer der Pointierung:
Verwundung (gleich, woher sie stammt, mit der Gefahr, der Herr könne
vom Leben ins Tod gerissen werden) und schutzgebendes Bauwerk (das
in der Kursivierung des französischen Wortes château gleich als fremd
ausgewiesen wird 30) bauen ein Spannungsfeld zwischen Leben und Tod
auf, das in den metaphorischen Konnotationen eines zweiten Spannungs
gefüge aufgegriffen wird: nämlich in der Düsternis, für die nicht nur die
Bauwerke des Apennin bekannt sein mögen, sondern auch die Gothic
Novels von Ann Radcliffe, deren Phantasiegebilde in Korrespondenz
29 Zitate aus dem Ovalen Porträt werden im Folgenden mit Seitenangabe im
Fließtext nach Poe 1979 angegeben.
30 Später ist die Rede »von der bizarren Architektur des château« (684).
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 503
zur als drohend geschilderten Wirklichkeit treten. Das düstere château,
das dem »desperat« gefährdeten Leben Schutz vor dem Tod verspricht,
steht also in einer sowohl mimetischen Beziehung zur Wirklichkeit
als auch in einer assoziativatmosphärischen Verknüpfung mit einem
literarischen Genre. Poes Erzählung verortet das château zwischen einer
proximité imitative – als wäre sie nach der Wirklichkeit ›gemalt‹ – und
einem eindringlichen Stimmungsgefüge, wie es Gothic Novels genuin als
Lektürephantasma zu lesen geben.
Diese beiden Matrizen – Leben/Tod und Bild/Schrift – prägen den
Fortgang der Erzählung ungleich mehr als die implizierte Handlung, die
von der Verwundung ihren Ausgang nehmen könnte. Denn das château
ist bis in seine letzten Winkel hinein mit Gemälden behängt, deren »Be
trachtung« (684) sich der Erzähler vor dem Einschlafen widmen will –
ergänzt um die »Lektüre eines schmalen Bändchens, das […] eine Kritik
und Beschreibung der Bilder zum Inhalt hatte.« (685) Als Zwischenfazit
des Inhalts resümiert deshalb der Erzähler: »Lang, lange las ich – und
mit Andacht schaut’ ich.« (685) – Durch einen Zufall, als er nämlich die
Beleuchtung seines Zimmers umstellt, stößt sein Blick auf »das Porträt
eines eben zum Weibe reifenden jungen Mädchens.« (685) Von der Le
bendigkeit dieses Porträts ist er in der Folge in den Bann gezogen und
fürchtet – vorübergehend – gar, dass seine »Vision« ihn »getäuscht« haben
könnte (685). Wie der Leser, dessen mögliche Visionen des Gemäldes
durch einen Hinweis auf die Art, wie (Thomas) Sully Vignetten gemalt
habe, unterstützt werden (vgl. 686), vom Titel her weiß, handelt es sich
um ein ovales Porträt, dessen »Lebensähnlichkeit« den Erzähler »schließ
lich überwältigte, verstörte und entsetzte« (686), so dass er – schon zuvor
hatte er die Augen schließen müssen – den Zustand völliger Blindheit
herstellen muss und den leuchtenden Kandelaber wieder zurückstellt,
Dunkelheit herstellt, um wissend zu werden: »Nachdem die Ursache
meiner heftigen Erregung so dem Blick entzogen war, sucht’ ich begierig
in dem Bändchen nach, das die Gemälde und die Geschichte behandelte.«
(687)A2
Bei dem Rest von Poes Erzählung – immerhin etwa ein Drittel des
gesamten Textes – handelt es sich um ein Zitat aus diesem Buch. Begreift
man Das ovale Porträt insgesamt als eine Konkretisierung und Ausgestal
tung, als eine Figuration der in den Verschachtelungen der Eingangssätze
beschriebenen Spannungen, dann vollzieht sich in diesem Zitat die
Ausgestaltung schriftlicher Referenz, wie sie in der vagen Reminiszenz
an Ann Radcliffe als formales Muster vorgegeben war. Im ovalen Porträt
und im Zitat aus dem Erläuterungsbändchen erfüllt sich demzufolge das
504
2 Thomas Sully: Porträt von Frances Keeling Valentine Allan, ca. 1810,
The Valentine, Richmond, VA31 (siehe Taf. 14)
31 Bei Frances Keeling Valentine Allan handelt es sich um Poes Ziehmutter,
zu der er sehr »devoted« war. »In 1829, tubercolosis claimed Frances just as it
had Poe’s mother years earlier.« (Case/Semtner 2009, 18.)
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 505
Versprechen, das mit der mimetischen Wirklichkeitskonstruktion (›dräu
endes‹ château) und der Macht der Phantasie (›dräuende‹ Gothic Novel)
doppelt vorgezeichnet war.32 Die Mimesis vollendet sich in »einer absolu
ten Lebensähnlichkeit des Ausdrucks« (686), den das Porträt anzunehmen
imstande ist; die Schrift aber liefert eine Erklärung, die gegenüber dem
›mimetischen‹ Sieg des Lebens über das Bild (an die Stelle des Bildes tritt
die Blindheit des Beobachters), den tatsächlichen Sieg des Bildes über
das Leben beschreibt. In diesem Chiasmus erfüllt sich Poes Erzählung,
deren Titel Das ovale Porträt jetzt selbst als Paradoxe markiert erscheint:
Bild für den Text, als Titel eines Bildes, das Erzählung ist – Erzählung
vom Porträt, das eine Geschichte enthüllt, die unsehbar, schließlich
unsichtbar überwältigt und erklärt wird in der Schrift, die Zitat ist.
Die Erklärung greift dabei sowohl auf die von Poe rationalisierte roman
tische Vorstellung zurück, dass der Tod einer schönen Frau das poetischste
aller Motive sei als auch auf den PygmalionMythos, dessen bekannteste
antike Schilderung in Ovids Metamorphosen zu finden ist: Bei Poe jedoch
ist es kein Bildhauer wie Pygmalion, der eine Frau künstlerisch darstellt,
sondern ein Maler, der seine Frau porträtiert, die, obgleich sie die »die
Kunst, die ihr Rivalin war«, hasste, einwilligt, sich »viele Wochen lang im
dunkelhohen Turmgemach« (687) malen zu lassen. In einem malerischen
Rausch kam es, »daß er nicht sehen wollte, wie das Licht […] die Lebens
geister seiner jungen Frau verwelken ließ« (687), und »er wollte nicht sehen,
wie die Tönungen, die er darauf [der Leinwand] verteilte, den Wangen des
Wesens entzogen wurden, das neben ihm saß«, so dass sich mit dem letzten
Pinselstrich die Erkenntnis einstellt: »›Wahrlich, das ist das Leben selbst!‹«,
und indem er »sich jählich herum[warf], die Geliebte zu schaun: – Sie war
tot!« (688) Poes Variante des Kunst-und-Leben-Komplexes betreibt gegen
über dem antiken Mythos eine Art mimetischer Inversion: Der Frauenfeind
Pygmalion gestaltet sich eine Skulptur, die nach Fertigstellung unter seinen
Küssen zum Leben erwacht; Poes Maler porträtiert nach dem Leben, und
der Erfolg seiner Kunst ist der Tod des Lebens.33 Man kann das für zwei
32 Dass Poes Erzählung in einerseits der Referenz auf das ja im Text unbildlich oder sinnbildlich bleibende Porträt und andererseits dem Zitat aus dem
Buch einen doppelten Ausschluss (und zugleich Einschluss) erzeugt, betont
auch Elisabeth Bronfen: »Zwei Momente des Unheimlichen beenden also diese
Erzählung und verschmelzen Modell und Abbild, Lebendes und Totes: eine
buchstäbliche Deanimation der Frau und eine sinnbildliche Ani mation des
Porträts.« (Bronfen 2004, 170)
33 Bronfen verweist noch auf eine andere Referenzlinie im Doppelthema
506
Perspektiven auf das Selbe halten: auf die ›Lebendigkeit‹ der Kunst bzw. auf
die ›Lebensähnlichkeit‹ der Kunst als Tod des Lebens.34
Poes MalerModellPorträtTriade findet sich im Ovalen Porträt
als wörtliches Zitat wiedergegeben. Derart ist die Geschichte des ova
len Porträts dem unmittelbaren Erlebnisraum des Erzählers entrückt.
Nichtsdestotrotz, oder gerade in dieser Zitatstruktur, kann die Binnen
erzählung zum Spiegel für die Obsessionen des Erzählers (der »begierig
in dem Bändchen« nachliest, was es mit dem ovalen Porträt auf sich
hat) herhalten. Von der Faszination für die Lebensähnlichkeit nimmt ja
die Suche des Erzählers nach einer Erklärung für die ›überwältigende‹
Wirkmacht des Porträts ihren Ausgang. Nur mit großer Mühe und mit
Leben/Tod und Mann/Frau: »Die Schlußszene in The Oval Portrait – ein per
fektes Porträt, das neben/für sein totes Modell steht – zeigt eine bedeutsame
Umkehrung von Darstellungsweisen wie etwa Claude Monets Camille sur son lit
de Mort (1879). […] Poes Künstler […] versuchen nicht das Bild einer für immer
hingeschiedenen Frau festzuhalten; seine fieberhafte Obsession, sie darzustel
len, ist vielmehr die Voraussetzung ihres Todes.« (Bronfen 2004, 165)
34 Bereits Rousseau hat in seiner Adaption des antiken PygmalionStoffes den
Fragehorizont erweitert, indem er die Selbsterkenntnis der verlebendigten Sta
tue – Galathée – in den Mittelpunkt rückt. Ihr »C’est moi« in der wiederholten
Berührung (»se touchant encore« heißt es in der Regieanweisung von Rousseaus
scène lyrique) kehrt kontrapunktisch wieder in einem »Ce n’est plus moi«, als
sie »touche un marbre«, also das Material, aus dem sie entstanden ist (Rousseau
1961, Bd. 2, 1230). Der Kunstmythos Rousseaus beschreibt also, wie in der
Reflexion, in der Wiederholung, der Raum eines Lebens gegen den Tod (Marmor) entsteht. Damit gibt Rousseau dem Mythos eine illusionäre Wendung,
die Pygmalion selbst als Sorge erkennt: »Ravissante illusion qui passes jusqu’à
mes oreilles, ah! n’abondonne jamais mes sens.« (Ebd.) – Bei Poe weicht diese
Illusion im Moment ihres Wahrwerdens der Erkenntnis des Todes – was bei
Rousseau im Traum (der Illusion) möglich scheint, wird in der Reflexion von
Unmöglichkeit zur Paradoxe. – Lance Taits Theaterstück The Oval Portrait
(2005), das auf Poes Erzählung basiert, dreht den Kunst/Leben-Komplex wieder
in Richtung von Rousseaus Lösung, indem bei Tait das Modell und das Porträt
einen Dialog führen und es unklar bleibt, ob die Frau tatsächlich stirbt. Vgl.
Patillo 2006. – Eine Parallelversion zum Oval Portrait hat Nathaniel Hawthorne
mit The Birth-Mark geschrieben, das quasi zeitgleich zu Poes Erzählung im
März 1943 in The Pio neer erschien; Thema hier ist anstelle des Vermögens
der Malerei, ›Lebensähnliches‹ im Zeichen absoluter Schönheit zu erschaffen,
die wissen schaft lich-experimentelle Vervollkommnung der Schönheit einer
Frau, Georgiana, (durch Eliminierung eines birthmarks) – um den Preis, dass
Georgiana schließlich stirbt.
R O USSE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 507
»tiefem und mit ehrfurchtsvollem Grauen« (686 f.) kann sich der Erzähler
vom Porträt abwenden und in die Blindheit (weil nur mit abgewandtem
Auge erfahrbar) der Erkenntnis eintauchen. Sein Grauen kehrt als Reflex
in der Binnenerzählung wieder, wenn den Maler nach Vollendung seines
Werkes »ein Zittern […] und große Blässe [befiel], Entsetzen packt’ ihn«
(688). Ihm jedoch ist die Abkehr vom Bild, das ja in seinem Fall tatsächlich
das ›Leben‹ (seiner Frau) verkörpert, nicht möglich, da die Frau tot ist. Es
ergibt sich somit eine doppelte Struktur mit einer doppelten Verschiebung:
(1) der Maler blickt auf (a) seine Frau und (b) sein Bild; (2) der Erzähler
wendet sich (a) dem Bild zu und (b) dem Text über das Bild. (a) und (b) in
Struktur (1) sind durch ein Nicht-Wollen (das der Text zweimal kursiviert
anzeigt) korreliert: Der Maler »wollte« nicht seine Frau anschauen, und er
»wollte nicht sehen«, wie sein Malen mit jedem Pinselstrich, der das Bild
lebendiger erschienen lies, eben dieses Leben dem Modell entzog. (a) und
(b) in Struktur (2) sind durch ein doppeltes NichtKönnen aufeinander
bezogen: Der Erzähler kann zunächst nicht den Blick vom Porträt wenden,
so dass er »wohl eine Stunde lang halb sitzend, halb zurückgelehnt vor
dem Porträt [blieb], mein Sehen fest darauf gerichtet« (686); als sich ihm
des »Bildes Zauber […] entdeckt: in einer absoluten Lebensähnlichkeit des
Ausdrucks« (686), kann er seiner »Erregung« und seinem Entsetzen nur
Herr werden, wenn das Porträt »dem Blick entzogen« (687) wird (indem
kein Licht mehr auf das Bild fällt und es ins Dunkle zurückfällt). Die
Erstarrung, der Bann, in dem der Blick aufs Bild gefangen wird, kann
nur gelöst werden, in dem der Eindruck, im Porträt das Leben selbst zu
sehen, im Gedanken einer bloßen »Lebensähnlichkeit« gebrochen wird, die
freilich derart ›lebendig‹ zu wirken scheint, dass der eigentlich rettende
Gedanke doch von »ehrfurchtsvollem Grauen« begleitet bleibt, das sich
erst durch »die vagen und wunderlichen Sätze« (687) zu lindern scheint,
die der Erzähler zur Geschichte des Porträts nachliest.
Bringt man nun die beiden Strukturen/Geschichten in ihre chrono
logische Reihenfolge (mit dem Verknüpfungspunkt des ovalen Porträts),
dann ist es das doppelte NichtWollen des Malers, aus dem das Bild in
seiner täuschenden Lebensähnlichkeit entsteht. Dem Eindruck dieser
Täuschung (so das Wort Täuschung denn angemessen ist) wiederum
kann sich der Erzähler anfangs nicht entziehen, um dann in einer Auf
deckung (oder besser: befriedigenden, weil rettenden Erkenntnis)35 der
35 »Schließlich doch sank ich – befriedigt, das wahre Geheimnis seiner Wir
kung erschaut zu haben – im Bett zurück.« (686)
508
letztlich am Werk befindlichen Ähnlichkeit 36 die Ursache einer erst hierin
ermöglichten Abwendung vom Bild und Hinwendung zum Text zu finden.
Das Porträt steht damit inmitten der Kreuzung zweier Strukturen, eines
NichtWollens und eines NichtKönnens, aber auch zwischen dem Maler
und seiner nicht gewollten Hinwendung zum Leben (seiner Frau) und der
Abwendung des Erzählers von der Lebendigkeit des Porträts zur (ihn)
rettenden Lebensähnlichkeit des Porträts, die ihn – in der Dunkelheit des
Bildlichen bzw. seiner Blindheit – zur Lektüre führt. Grundfigur dieser
Übersetzungsprozesse zwischen Lebendigkeit und Erstarrung, zwischen
Bild und Text ist (auch) in Poes Erzählung die Zerstreuung. Nachdem
der Erzähler beim ersten Blick auf das ovale Porträt unwillkürlich die
Augen geschlossen hatte und geschlossenen Auges die Möglichkeiten
einer Vision des Lebendigen prüft, öffnet er ein zweites, kalkuliertes Mal
die Augen, um das, was er sieht, auch zu erkennen:
Daß ich nun richtig sähe, konnt’ und wollt’ ich nicht bezweifeln; denn
schon das erste Blitzen des Kerzenscheines auf dem Ölgemälde hatte,
so war’s mir, die träumische Betäubung zerstreut, die über meine
Sinne gesunken, und mich alsbald in waches Leben aufschrecken las
sen. (685 f.) (That I now saw aright I could not and would not doubt;
for the first flashing of the candles upon that canvas had seemed to
dissipate the dreamy stupor which was stealing over my senses, and
to startle me at once into waking life.)37
Die Sicherheit, die der Erzähler gewinnt, hängt an dem, was er später als
»Lebensähnlichkeit des Ausdrucks« (»an absolute life-likeliness of expres
sion«) resümiert. Dabei erläutert die hier zitierte Beobachtung/Reflexion
eine paradoxe Anlage dieser »Lebensähnlichkeit«. Denn einerseits partizi
piert das ovale Porträt (wie jedes Porträt) qua Bildlichkeit an Strukturen
der Repräsentation oder der Wiedergabe von Gesichtszügen (Lebensähnlichkeit), während andererseits eben das ovale Porträt diese Ähnlichkeit
ins Absolute der Präsenz des Lebens zu steigern scheint (jedenfalls im
blitzartigen Aufleuchten, das diese Erkenntnis vom re prä sentativen
36 Von hierher erklärt sich auch die ausführlichen Gedankengänge des
Erzählers, die sich mit der Vignettentechnik und dem ornamentalen Rahmen
beschäftigen: Sie stützen die Erkenntnis des Bildhaften durch ihren parergo
nalen Diskurs.
37 Englische Fassung zitiert nach Poe 1850, 367.
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 509
Modus in einen jähen Augenblick tranferiert).38 Jener »stupor«, der die
Sinne des Erzählers wie in einem Traum (»dreamy stupor«) gefangenzu
halten scheint, weicht durch das Aufblitzen des lebendigen Ausdrucks.
Das Bild ruft aus dem Traum ins Leben. Indem es aber evoziert, hebt es
selbst die Grenzen seiner Bildlichkeit (Ähnlichkeit) auf, als wäre es das
Leben selbst. Stupor ist hier also wörtlich als Benommenheit zu verstehen,
als Eingenommensein von sich selbst, wenn die Sinne das Wahrgenom
mene auf Distanz zu halten vermögen. Diesen Abgrund, der das Bild von
seiner Betrachtung trennt (und den Traum der Repräsentation begrün
det), hebt der Erzähler – oder hebt das Bild – auf, um im selben Moment
(nur ein Aufblitzen später) wieder hinter diesem Abgrund, gleichsam ›Au
fond des images‹39 zu verschwinden. Hier, wo es Bild ist oder wird, bleibt
es zugleich unsichtbar.40
38 »Wie das englische ›likeness‹ [oder ›likeliness‹] ist Ähnlichkeit ein konjunk
tionaler Begriff und für die Porträtforschung so zentral, da er dort die Referenz
von realer Person und Abbild bezeichnet« (Becker 2016, hier Anm. 4, 96; mit
Bezug auf Gottfried Boehms Bildnis und Individuum, 1985); gleichermaßen
bietet sich jedoch auch ein Zugriff auf das Porträt vom »Begriff der ›Nicht
Ähnlichkeit‹« an, wie etwa bei Max Imdahl, der »die Vergegenwärtigung des
Porträts als konstitutiv für die Gattung erachtet« (Becker 2016, Anm. 5, 96), die
mithin als Abwesenheit/Repräsentation der Person zu deuten ist. Zur Span
nung zwischen Präsentation und Repräsentation, die das Porträt kraft des trait
(Zug, Linie), der als Entzug (retrait) Spur (trace) wird, mobilisiert vgl. Anm. 14
und – mit Blick auf die evokative Macht dieser Spannung – Anm. 40.
39 Vgl. zu den bildphilosophischen Hintergründen Nancy 2006 (Originaltitel:
Auf fond des images).
40 Die Evokation des Bildlichen sehe ich demnach als Teil der erzählerischen
Semiose an, die zwischen Evokation (des Bildlichen) und Zitation (des Buch
stäblichen) oszilliert. Anders als Bronfen – für die die »Paradoxie der Geschich
te […] darin [liegt], daß sowohl der Maler (hinsichtlich des Porträts) als auch
der Erzähler (hinsichtlich des Porträts und der es ergänzenden Erzählung) das
Double benutzen, um die Tatsache zu verbergen, daß das Leben immer bereits
vom Tode gezeichnet ist« – sehe ich das Paradoxe in einer Logik der Evidenz
begründet: in einem Umschlag des Sichtbaren in Erkenntnis, die verbunden ist
mit einer Abwendung von dem, was dieses Erkennen bedingt. Kernbegriff die
ser Paradoxie ist die »Lebens ähn lich keit«, die gleichermaßen als Indiz des Todes
(mit dem Fluchtpunkt der zitierten Erläuterung zum Tod der Frau) wie als Indiz
einer lebenseinräumenden Distanz (mit dem Fluchtpunkt des ›aufwachenden‹
Erzählers) lesbar ist. Vgl. zur evokativen Macht des Bildlichen als Logik von
VorBildern, die ins Leben rufen, Macho 2011.
510
Organisiert wird dieses metaphorisch eingekleidete ›Aufwachen‹ aus
›traumgleicher Benommenheit‹ durch die Figur der Zerstreuung (»dis
sipate«). Zerstreut löst sich die Benommenheit angesichts der Distanz des
Bildes und seiner bloßen likeliness auf; wach, aber zerstreut ist das ›Bild‹,
eigentlich aber das ›Leben‹, im Aufblitzen ganz (»absolute«) da. Vielleicht
muss es deshalb (um Bild zu bleiben) sofort wieder verschwinden. An
seine Stelle und als ein Appendix tritt das erläuternde Zitat aus dem
aufgefundenen Buch. Es ist dies ein letzter und unmissverständlicher
Hinweis: Der zerstreute Betrachter des Bildes ist ein Leser, der (viel
leicht) auch deshalb das Bild wie eine Vision sieht, ohne sie sich als Bild
aneignen zu können. Im Kontext einer »Literatur mörderischer Werke«
besticht das Ovale Porträt dadurch, dass es »ein zugleich gesehenes und
gelesenes Porträt [ist], die Geschichte eines Künstlers, der sein erschöpftes
Modell – seine Frau – tötet, nachdem er ihren Körper dem Untergang
[ruine] geweiht hat.«41 Die »darstellerische Treue« des Malers verwandelt
sich im Zeichen des »Untergang[s] [ruine]« in reine Schuld am Tod. Doch
wissen wir, dass diese doppelte Einzeichnung von ›darstellerischer Treue‹
und ›Schuld‹, von Leben oder Lebensähnlichkeit und Tod, die unteilbaren
Zeichen des Ruinösen trägt, einer Zerstreuung, die die Einheit des Por
träts evoziert und entzieht: »[D]er Dank des Zugs oder Strichs [la grâce
du trait] bedeutet, daß am Ursprung des graphein eher die Schuld oder
die Gabe steht als die darstellerische Treue.«42
41 Derrida 1997, 40. Gegenüber dieser Poe’schen zerstreuten Spannung zwischen
Lesen und Sehen beschreibt beispielsweise Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian
Gray eine Art lesend vor Augen geführten Gerichtsprozess, die »Geschichte ei
nes Mordes oder Selbstmordes, einer Zerstörung [ruine] und eines Geständnisses
[confession]«, »zugleich die Erzählung einer Darstellung, die den Tod in sich birgt:
Ein todbringendes Portrait reflektiert zunächst die Fortschritte der Zerstörung
[ruine] auf dem Gesicht seines Modells, das zugleich sein Betrachter ist, so daß
das Subjekt [sujet] hier von seinem Bild betrachtet, dann verurteilt wird« (ebd.).
Zur Ruine als Figur, »[p]our ne rien vous montrer du tout«, vgl. ebd., 72.
42 Ebd., 35. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des trait bleiben also ebenso teilbar
wie unteilbar: »Etwas Gezogenes, eine Umrißlinie [tracé], wird nicht gesehen.
Man dürfte sie wohl deshalb nicht sehen […], weil das, was ihr an farbiger Dichte
bleibt, dazu tendiert, immer schwächer zu werden, um den bloßen Rand einer
Kontur zu markeiren: zwischen dem Innen und Außen einer Figur. Ist diese
Grenze einmal erreicht, gibt es nichts mehr zu sehen […], und dies ist der trait […].
Diese Teilbarkeit des trait unterbricht hier jede reine Identifizierung […]. Diese
Grenze wird nie in einer Gegenwart erreicht […]. Nichts gehört dem Strich oder Zug
(an) […]. Er verbindet nur, fügt nur zusammen, indem er trennt.« (Ebd. 57)
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 511
Wenn das Ovale Porträt also eine Figuration des Lebens beschreibt,
so gibt sich das Leben hier nur als Zerstreuung, das heißt als etwas, das
eintritt, indem es sich als Distinktes entzieht. Dabei lebt die Erzählung
auch davon, dass der Begriff des Lebens beständig auf verschiedenen
Ebenen verhandelt wird: im Leben des Erzählers, das sich als vom Tod
bedroht zeigt und der im Schloss Zuflucht sucht; im Leben des Bildes,
das als Vision ins Bewusstsein dringt, um, bewusst werdend, hinter den
Zeilen der Schrift zu verschwinden; im Augenschlag, der das, was der
Erzähler sieht (offenen Auges), und das, was er imaginiert (geschlossenen
Auges), trennt wie zwei unterschiedliche Leben – als eine Transformation
des Lebens als das, was überwältigt, in das, was erzählbar wird; als Leben
der Erzählung, die doch nur dem Tod (der gemalten Frau), der an ihrem
Ende steht, das Leben des Bildes entgegenstellen kann.
Als literarisches Porträt erzählt Das ovale Porträt somit auch vom Ver
such der Schrift, das Leben des Bildes zu bändigen: Das Leben des Bildes
aber, so die Pointe der Erzählung, ist der Tod des Lebens. Und anders
noch: Indem sich die Erzählung als Erzählung einer wohl lebensbedroh
lichen Verwundung des Erzählers darstellt, kann sich Schutz, Genesung
nur in einer Serie an Substituten des Lebens einstellen: vom Schloss
zum Porträt, und vom Porträt in genealogischer Perspektive zur Frau, die
es darstellt, und hiermit, in der Zerstreuung des Bildes (geschlossenen
Auges), das Leben der Erzählung. So kommt dem erhellenden Zitat und
der Erläuterung des ovalen Porträts zunächst eine deiktische Funktion
zu, insofern das Zitat mit seiner Rahmung als Buch auf den Nucleus der
Poe’schen Erzählung verweist und insofern das Zitat zum ovalen Porträt
in den Fokus des Ovalen Porträts (mit dem Titel der Erzählung als Rah
men) rückt; die Erzählung wird dabei im Zeichen einer mehrfachen, sich
überlagernden Zitation (des Zitats aus einem Buch und in Poes Erzäh
lung; des Titels von Poes Erzählung aus dem Buchzitat) kontextualisiert
und schließlich im Titel Das ovale Porträt fixiert. Die Fixation auf das
Porträt aber inkarniert das Leben in die Erzählung, die ja auch eine Er
zählung vom Entzug des Bildes ist, das in den Zerstreuungen der Schrift
und im Gang der Erzählung als Faszinationsmoment eingerückt und
wieder aus dem Blickfeld geschoben wird.
Wenn Poes Erzählung die »Wendung ins Sinnbildliche« des ovalen
Porträts als »ein Mittel der Sprache, ihre ›Unschuld‹ zu bewahren«,43 zu
behaupten scheint, so spielt sie damit mitnichten das Bild (in seiner
43 Bronfen 2004, 171.
512
Empirizität) gegen die Schrift (und ihren Sinn) aus. Denn die Empirizität
des Bildes zeichnet auch die Schrift der Erzählung, die im ovalen Porträt
ihr Sinnbild nur vordergründig auf Distanz halten kann. Das ovale Porträt
benutzt vielmehr Bild (ovales Porträt) und Schrift (zitiertes Buch) als
unteilbare Momente einer Figuration des Lebens in der Zerstreuung des
Bildes. Paradoxerweise rettet die Erzählung in dieser Unbildlichkeit des
Lebens genau das, was auch das Bild der Einbildungskraft einbildet: Le
bendigkeit, die in der Erzählung sogar den Tod des Lebens einschließen
kann.44 Unschuldig am ›Mord‹ bleiben also beide: die Sprache oder Rede
(parole) der Erzählung (ohne das Bild) wie das der Erzählung entzogene
Bild. Nur in der Zerstreuung kann Poes Erzählung – in der Empirizität
seiner Schrift und kraft des Sinns der Idee – das ovale Porträt zugleich
zur Erscheinung bringen, wie sie es auch im Spiel der Buchstaben fallen
lässt, es aufgibt und nur in der Doppelfigur von Leben und Tod sinnhaft
konturieren kann. In dem Moment, wo die Erzählung – insistent im Ti
tel – das ovale Porträt als sein eigentliches Phantasma insinuiert,45 muss
44 Eine ähnliche Spannung der Erzählung zur Figuration des Lebens am
Bei spiel eines Porträts kennzeichnet auch Gogols Erzählung Das Por trät
(1835/1842), wo es um das Bildnis eines Wucherers geht, das zwar nach der Na
tur gearbeitet ist, die Seele aber nicht erfasst, weshalb es jeden Betrachter ver
folgt und ihm gleichsam seine Seele (sein Leben) raubt. Der Maler Tschartkow,
Besitzer des Porträts, beginnt aus Neid in maßlosem Exzess und bis zur eigenen
Vernichtung gelungene, talentvolle, lebendige Bilder aufzukaufen und wahllos
zu zerfetzen – als wären diese zerstreuten Fetzen, nach seinem Tod bei ihm
aufgefunden, das Material der Erzählung. – Vgl. auch JeanLuc Godards Film
Vivre sa vie, in dem das Ovale Por trät vorgelesen wird und mit Titelschrift
auf einem Buchdeckel selbst zum Bild und Rahmen wird. »Die Rahmen in
The Oval Portrait vermehren sich, wie Mary Ann Caws [Caws 1983] einsichtig
angemerkt hat […]. Und für die Zuschauer von Vivre sa vie gibt es den jungen
Mann, der Baudelaires Übersetzung von Poe liest, aber mit der Stimme von
Godard spricht, der wiederum einen Film über seine Frau dreht und sie nach
dem Lesen dementsprechend umbringt. [Fußnote:] […] Was The Oval Portrait
suggeriert, ist, dass der Akt, Anna Karina [Godards Frau und Hauptdarstellerin]
zu filmen, schon die Tötung ist, die in den letzten Momenten von Godards Film
vorgespielt wird.« (Jacobs 2012, 225, und 212 zum »erschütternde[n] Labyrinth
von Hypermedialität«, das Godards Film eröffnet und – so Jacobs’ Pointe – in
Atom Egoyans Kurzfilm Artaud Double Bill, in dem Godards Film im Kino
angeschaut wird, noch einmal potenziert wird.)
45 Das ovale Porträt nimmt diese Insinuation des Titels sogar so ernst, dass
seine ganze Erzählung in beinahe kriminalistischer Manier – man denke
an den Autor des Doppelmordes in der Rue Morgue und der vielen anderen
R O US SE L: E D GA R A LLA N P O E S THE OVAL PORTRAIT 513
Das ovale Porträt beständig zwischen dem empirischen Bild und der Idee
oszillieren – beides uneinholbar, eines abgelenkt vom anderen, in einer
ungewissen meditativ geteilten Mitte.
BILDREC HTE
2, Taf. 14 The Valentine, Nr. V.30.36.129.
LITERATUR VER ZEICH N IS
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Kriminalgeschichten – an der Idee der Beobachtung oder besser der Zeugen
schaft arbeitet, so dass man den kleinen Text insgesamt als (einem veralteten
Rechtsterminus nach) documentum insinuationis bezeichnen könnte, mit dem
sich Zeugen vor Gericht zu ihrer, vom Gericht korrekt ›insinuierten‹, Aussage
bekannten. Dass diese lebendige Zeugenschaft in den Bereich einer Gramma
tologie gehört, zeigt die Verwandtschaft zum Testament, dessen Charakter »[j]
edes Graphem […] seinem Wesen nach [als] testamentarisch« (Derrida 1974,
120) – oder insinuierend – zeichnet.
514
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LUDWIG JÄGER
MYTHOLOGISCHE ›PORTRAITS‹
Barthes’ ›Mythologien‹ und
ihre semiologische Reflexion
I. DIE MYT H O L O G ISCH E ›EN TZIFF ER UN G‹ D ES MYT H O S
Roland Barthes’ Untersuchungen der »Mythen des französischen All
tagslebens« (11)1 nehmen in essayistischen Miniaturen, die zwischen
1954 und 1956 verfasst wurden, »die Sprache der sogenannten Massen
kultur« (9) in ihren verschiedenen medialen Erscheinungsformen (›Zei
tungsartikel, Photographien in Illustrierten, Filme, Theateraufführung,
Ausstellungen‹ etc.; vgl. 11 und 252) ›ideologiekritisch‹ in den Blick. In
diesen ›semiologischen Darstellungsformen der kleinbürgerlichen Welt‹
werde – so seine Analyse – in jeweils charakteristischer Weise die histo
rische Konstituiertheit und Relativität der gesellschaftlichen Gegenwart
›ideologisch‹ hinter einem Schleier von ›Natürlichkeit‹ verborgen. Diesem
»ideologischen Mißbrauch auf die Spur zu kommen« (11), hinter der
›dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen‹ ›falsche Evidenzen‹
(vgl. 9) freizulegen, d. h. »en détail die Mystifikation deutlich zu machen,
die die kleinbürgerliche Kultur in universelle Natur verwandelt« (9),2 ist
1 Reine Seitenverweise aus Barthes 32015 werden im Folgenden nur mit Seiten
zahl in Klammern im Fließtext nachgewiesen.
2 Der Topos vom Geschichtsentzug durch den Mythos ist zentral für Barthes
Mythostheorie: »[…] der eigentliche Zweck der Mythen ist es, die Welt unver
änderlich zu machen« (311); sie haben das Ziel »jede geschichtliche Situierung
zu leugnen« (214); sie generieren »eine Ordnung von Behauptungen, denen alle
Geschichte entwichen ist« (227), oder wie es auch heißt: »Der Mythos entzieht
dem Gegenstand, von dem er spricht, jede Geschichte. (306; ebenso 268).
518
die zentrale Intention Barthes’. Dabei ist er sich durchaus darüber im
Klaren, dass sowohl das Modell der »›Entmystifizierung‹ […] allmählich
Verschleißerscheinungen zeigt« (12),3 als auch darüber, dass – wie es im
Vorwort der Ausgabe von 1970 heißt – die ›Ideologiekritik‹ »im selben
Moment, in dem sie plötzlich wieder dringend geworden war (im Mai
1968), feiner geworden [ist], oder jedenfalls der Verfeinerung [bedarf]« (9).
In der Tat folgt das ›ideologiekritische‹ Verfahren Barthes – und
darin liegt die analytische Pointe der ›Mythen des Alltags‹ – denn auch
weniger der »Brechtschen Methode der Entmystifizierung« (87), d. h. einer
Ideologiekritik, die es auf eine Identifizierung und Therapie von Formen
›entfremdeten Bewußtseins‹, auf die Sichtbarmachung seiner ›Verblen
dungen‹ (vgl. 236, 237) abgesehen hat, als vielmehr einer Analyseoption,
die einen semiologisch entfalteten Begriff des Mythos (251–316) verwendet,
um mit seiner Hilfe ›Aufschluss‹ über die ideologische Verfasstheit der
›bürgerlichen Welt‹, insbesondere über ihre Tendenz zur ›Naturalisierung‹
des Historischen zu erlangen: »Von Anfang an schien mir der Begriff des
Mythos geeignet, über diese falschen Evidenzen Aufschluß zu geben« (11).
Der MythosBegriff erfüllt dabei die strategische Funktion, das was tra
ditionell Ideologiekritik heißt, in einem sprach und zeichentheoretischen
Horizont zu reformulieren. Durch die gewählte ›Mythos‹Option lässt
sich das ideologiekritischen Verfahren als ein ›Entzifferungsprogramm‹
(vgl. etwa 258, 275 ff.)4 rekonzeptualisieren, in dem Ideologiekritik in
Sprachkritik überführt wird. Die mythologische Entzifferungsarbeit ist
– in der erweiterten Bedeutung, die Barthes dem Begriff der »mythischen
Sprache«5 gibt – eine sprachkritische Arbeit. Sie behandelt den Mythos
3 Gleichwohl spielt dieses Analysemodell durchaus eine terminologische Rolle:
vgl. etwa Barthes 2015, 9 (»Mystifikation«); 12 (»Entmystifizierung«); 39 (»Ent
mystifizierung«); 87 (»Entmystifizierung«); 175 (»Mystifikationstechnik«); 213
(»mystifizierende Macht«), 219 (»entmystifizieren«) etc.
4 Der Mythologe »entziffert den Mythos, er erkennt ihn als Deformation« (276).
Während dem Mythenleser der ideologische Mechanismus verborgen bleibt, weil
seiner Lektüre alles so erscheint, »als riefe das Bild ganz natürlich den Begriff
hervor, als fundierte der Signifikant das Signifikat«, ›zertrümmert‹ der Mytho
loge die scheinbare quasi natürliche Evidenz des Mythos (278).
5 Vgl. 252 und 253, wo Barthes von einer »generalisierten Auffassung der Spra
che« spricht. Neben dem medial erweiterten Sprachbegriff verwendet Barthes
»Sprache« auch in einem engen, modalen Sinn, auf den »mythische Rede«
nicht eingeschränkt werden müsse (253); vgl auch 282, wo Barthes den Mythos
im Gegensatz zu ›geschlossenen Sprachen‹ wie der mathematischen als »eine
Sprache« bezeichnet, »die nicht sterben will«.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 519
als eine Sprache (»Der Mythos ist eine Sprache«, 11), bzw. als eine Rede
(»Der Mythos ist eine Rede«, 251 ff.),6 d. h., sie fokussiert ihn und seine
›Botschaften‹ als »ein System der Kommunikation« als »eine Weise des
Bedeutens« (251). Und weil sie den Mythos, insofern sie ihn als ›Sprache‹
und als ›Rede‹ adressiert, zugleich als ein »semiologisches System« (253 ff.,
284), ein »semiologisches Schema« (257) begreift, darf die ideologiekri
tische Untersuchung als »semiologische Analyse« (9), die mythologische
Entzifferung als »semiologische Demontage« (9) durchgeführt werden.7
Kurz gesagt: Der Mythos ist ein Zeichensystem, dessen ›konstitu
tiver Mechanismus‹ (vgl. 276), d. h. dessen semantische Arbeitsweise,
in den einzelnen Mythologien aufgedeckt und sichtbar gemacht werden
soll. Es ist ›die Art, wie der Mythos seine Botschaften äußert‹ (vgl. 251),
die in den Fokus analytischer Aufmerksamkeit gerät. Dabei richtet sich
Barthes insbesondere auf die – wie man sie nennen könnte – ›doppelte
Semantik‹ der einzelnen kulturellen Figurationen, auf die »Oszillation«
(269) zwischen den in einem ersten semiologischen System verfügbaren
Sinnressourcen und der ›mythischen Bedeutung‹, die er auch ›Ultra
Bedeutung‹ nennt (283), mit der der Mythos als ›sekundäres System‹ den
primären Sinn überschreibt: Die mythische Rede operiert als »eine zweite
Sprache […], in der man von der ersten spricht« (259), sie »wird aus einer
Materie geformt, die im Hinblick auf die entsprechenden Botschaft schon
bearbeitet ist« (253).8 Eben diesen semiologischen Mechanismus – von ihm
wird noch näher die Rede sein – versucht der Mythologe zu entziffern:
Er führt an einem reichen Register unterschiedlicher medialer Gestal
tungen9 vor, wie sich eine ›parasitäre‹, nämlich mythische Bedeutung als
sekundäre in einen primären Sinn ›einschleichen‹ (vgl. 281 f.) und ihn
›deformieren‹ (vgl. 269 ff.) kann.
6 Vgl. auch 270, 273, 278, 295 f; dass Barthes »Rede« (parole) synonym mit
»Sprache« verwendet (vgl. etwa auch 117, 251), lässt sich freilich nicht auf
Saussure zurückführen, dessen Theorie er als Bezugstheorie angibt. Vgl.
Barthes Hinweis auf seine SaussureLektüre im Vorwort der Ausgabe von 1970
(9) sowie seine Bezugnahmen auf Saussures SemiologieIdee (253 ff, 257 ff ).
7 Das mythologische Analyseverfahren ist als Entzifferungsverfahren der
Operationsmodus der Mythologie, die ihrerseits als Wissenschaft ein Teil der
Semiologie und damit, »nur ein Bruchstück jener umfassenden Wissenschaft
der Zeichen ist« (253 ff.).
8 Vgl. auch 258, 280, 299 f.; vgl. hierzu auch unten Abschnitt III.
9 Vgl. 252: »Der schriftliche Diskurs, aber auch die Photographie, der Film,
die Reportage, der Sport, Schauspiele, Werbung, all das kann als Träger der
mythischen Rede dienen.«
520
II. EINE ›PO R T R AIT G AL ER IE‹ D ER AL LTAG SMYT H EN
Freilich bilden die von Barthes aus dem Horizont der Alltagskultur zum
Zwecke seiner semiologischen Analyse herausgegriffenen ›mythischen
Objekte‹ kein beliebiges Ensemble. Sie sind zwar dem gleichsam ›uner
schöpflichen Vorrat an mythischen Signifikanten‹ entnommen (vgl. 275),
einem letztlich unabschließbaren ›Katalog kollektiver Bilder‹, in dem
›die Bourgeoisie ihre Vorstellungen zum kleinbürgerlichen Gebrauch
verbreitet‹ (vgl. 293). Aber bei den ausgewählten kulturellen Figurationen,
an denen die einzelnen Mythologien den Prozess der ›semiologischen
Demontage‹ durchführen, handelt es sich nicht um kontingent austausch
bare Fälle, sondern um je spezifische, charakteristische Beispiele für den
›konstitutiven Mechanismus‹ des Mythos, um ›Physiognomien‹, in denen
die kleinbürgerliche Kultur jeweils exemplarisch ihr ideologisch entzif
ferbares ›Gesicht‹ zeigt. Immer geht es um singuläre Figurationen, »um
dieses Bild, das für diese Bedeutung gegeben wird« (253), um mythische
Fallbeispiele, an denen der Mythos in medial individualisierter Form
identifiziert werden kann. In den Mythologien versucht Barthes, sich in
einem gleichsam porträtierenden Gestus dem allgemeinen, makrokultu
rellen Verfahren der ›mythischen Rede‹ anzunähern, indem er es jeweils
in mikrokulturellen, individualisierten medialen Gestalten aufspürt. Die
Mythologien bilden gleichsam eine Portraitgalerie, in deren Einzelbildern
»das Antlitz der Zeit«,10 die ideologische Vorstellungs und Bilderwelt
der ›Bourgeoisie‹, in individualisierten, unverwechselbare Ausdrucks
formen, zum Vorschein gebracht wird. Das Ensemble dieser Portraits
reicht von mythischen Objekten wie etwa »Einsteins Gehirn« (118 ff.) oder
10 Die Metapher »Antlitz der Zeit« nimmt Bezug auf den Titel einer Sammlung
von Portraitfotografien des Fotografen August Sander aus den zwanziger Jahren
des 20. Jahrhunderts (Sander 1929). Barthes bezieht sich in Die helle Kammer auf
Sander (Barthes 1989). Vor dem Hintergrund des Verbots des SanderBuches
1934 durch die Nationalsozialisten stellt Barthes mit Blick auf Sanders Portrait
fotografien fest: »Ist nicht die Fähigkeit, den sei’s politischen, sei’s moralischen
Sinn eines Gesichts wahrzunehmen, selbst schon eine soziale Abweichung.«
(Barthes 1989, 44/47). Insoweit kann man auch Barthes Mythologien als den
Versuch verstehen, das bourgeoise ›Antlitz seiner Zeit‹ zu portraitieren und in
den EinzelPortraits ›den politischen und moralischen Sinn‹ des Portraitierten
wahrzunehmen.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 521
dem auf dem Pariser Autosalon 1955 präsentierten ›neuen Citroën‹, DS
19 (196 ff.), der Göttin (DS = déesse), die Barthes Anlass gibt, Automobil
und Kathedrale gleichermaßen als »epochale Schöpfung« zu deuten, »die
mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von
deren Bild, wenn nicht von deren Gebrauch ein ganzes Volk zehrt, das
sie sich als ein magisches Objekt aneignet« (196), über Reportagen wie
etwa der von Paris-Match über den »JetMan« als »Mythos des Fliegers«
(121 ff.) oder einer Reportage des Figaro, die den Leser ›vertraulich‹ am
Alltag des ›Schriftstellers in Ferien‹ (André Gide) partizipieren lässt
(vgl. 37 ff.), wobei die ›Enthüllung‹, »daß er den Weißwein trocken und
das Beefsteak ›englisch liebt‹ […] die Erzeugnisse seiner Kunst nur noch
phantastischer, ihre Wesen nach göttlicher« werden lässt, bis hin zu Ereignissen wie dem der »Tour de France« (143 ff.), deren ›epische Ordnung‹
sich etwa in den Verkleinerungsformen der Radfahrernamen zeigt (»aus
Lauredi wird Nello«, und Raphaël Geminiani […] wird bald Ralph […]«),
in denen »sich Servilität, Bewunderung und ein Anspruch auf Voyeu
rismus [vermischen], den das Volk gegenüber seinen Göttern hat« (144).
Dass sich Barthes’ essayistische Miniaturen als Portraits lesen lassen,
wird nicht zuletzt auch daran sichtbar, dass es sich bei den mythischen
Objekten, an denen er seine mythologischen Demontagen vollzieht, sehr
häufig um Fotografien bzw. fotografierte und gefilmte Köpfe und Gesichter
handelt.11 Das ›Antlitz‹ der Bourgeoisie zeigt sich offenbar besonders präg
nant in den Fotografien und Filmen, in denen es gleichsam physiognomisch
inszeniert wird: So verfügt der »Mythos des Abbé Pierre […] über einen
wertvollen Trumpf«: den Kopf des Abbé, der alle »Zeichen des Apostolats«
(›gütiger Blick‹, ›franziskanischer Haarschnitt‹, ›der Bart des Missionars‹)
aufweist, wobei insbesondere der Haarschnitt »den Abbé in den heiligen
Franziskus [verkleidet]« und so den »wachsende[n] ikonographische[n]
Erfolg dieses Haarschnitts in den Illustrierten und im Film« (68 ff.)12 erklärt.
Es ist »das Gesicht der Garbo« (89 ff.), das etwa im Film Reine Christine
als ›bewundernswertes Objekt‹, als ›vergöttlichtes Gesicht‹, »jenen flüchtigen
Augenblick dar[stellt], in dem die Klarheit der Essenzen des Fleisches einer
Lyrik der Frau weicht« (90). Weiter sind es die Portraits, mit denen einige
›photogene‹ Kandidaten für die Wahlen zur Nationalversammlung ihre
›Wahlprospekte schmücken (vgl. 209 ff.), in denen die ›Wahlphotographie ‹
11 Ich gebe im Folgenden hierfür nur einige Belege. Es ließen sich aus dem
Ensemble der Mythologien eine ganze Reihe weiterer Beispiel anführen. Zur
›Lektüre‹ von Gesichtern vgl. auch von Matt 1983.
12 Die Kursivierung hier und in den folgenden Zitaten stammt von mir, L. J.
522
ihre (analysebedürftige) ›Überzeugungskraft entfaltet: »Das Photo ist Spie
gel, es zeigt Vertrautes, Bekanntes, es bietet dem Wähler sein eigenes Abbild
dar, geläutert, vergrößert […]. Der Wähler findet sich darin ausgedrückt
und zugleich heroisiert, er ist eingeladen, sich selbst zu wählen […].« (210).
Und schließlich ist es auch ein Portrait-Foto auf der Titelseite des
Paris-Match, das Barthes im zweiten Teil 13 der Mythen des Alltags als Bei
spiel 14 heranzieht, um an ihm den ›konstitutiven Mechanismus‹ (276) der
›mythischen Rede‹ in einer Theorie des Mythos zu entfalten: das Foto
›eines jungen Negers15 in französischer Uniform‹, der ›den militärischen
Gruß erweist‹, »die Augen erhoben und vermutlich auf eine Falte der
Trikolore gerichtet« (260). An diesem Beispiel 16 erläutert Barthes seinen
zentralen semiologischen Gedanken, dass es sich bei dem Mythos um ein
»erweitertes« (260 f.), ein »sekundäres semiologisches System« handelt,
das auf einer primären »semiologischen Kette aufbaut« (258), genauerhin,
dass die ›mythische Rede‹ sich eine primäre Semantik, den ›salutierenden
Neger‹, aneignet, um eine sekundäre, mythische Semantik zu etablieren,
den ›Begriff‹ der ›französischen Imperialität‹, wobei die Mächtigkeit der se
mantischen Evidenz17 des mythischen Begriffs darin besteht, dass das Bild
13 Den zweiten Teil seines Buches Der Mythos heute verfasste Barthes nach
träglich anlässlich des Erscheinens der Mythologien 1957 in Buchform. Sie
waren zuvor fast alle zwischen 1954 und 1956 als essayistische Artikel in der
Zeitschrift Les lettres nouvelles erschienen.
14 Das zweite Beispiel, das er heranzieht, ist ein in einer lateinischen
Grammatik enthaltener Beispielsatz »aus einer Fabel von Äsop oder Phädrus«
(259 ff.; quia ego nominor leo), an dessen ›doppelter Bedeutung‹ (1) »ich werde
Löwe genannt«, (2) »ich bin ein grammatisches Beispiel« er den Mechanismus der
mythischen Rede erläutert.
15 Dass Barthes das Wort ›Neger‹ (nègre) ohne jede Distanzierungsmarkie
rung verwendet, zeigt dass sein Gebrauch am Ende der neunzehnhundertfünf
ziger Jahre noch nicht gegen die Regeln der politischen Korrektheit verstieß.
›Liest‹ man im Übrigen das ParisMatchTitelbild mit den Augen des spectators
aus Barthes Heller Kammer (vgl. Barthes 1989), so sticht weniger die dunkle
Haut des französischen Soldaten hervor, als vielmehr seine Kindlichkeit. Das
Punctum des Bildes, »das mir mitten aus der Seite ins Auge springt« (52), ist,
dass der ›salutierende Neger‹ wie ein Kindersoldat wirkt.
16 Die Analyse des ›kleinbürgerlichen Mythos des Negers‹ (82 ff.) durchzieht
den theoretischen, zweiten Teil der Mythen des Alltags wie ein roter Faden. Vgl.
228, 260 f; 263, 264, 269, 271, 272, 276 f, 280, 296, 307
17 Vgl. zu Barthes’ Verwendung des Evidenzbegriffes etwa 278, 286; hierzu
auch Jäger 2015.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 523
des salutierenden, dunkelhäutigen Soldaten für den ›naiven Mythenleser‹
(vgl. 277; freilich nicht für den ›Mythologen‹!) »ganz natürlich18 den Begriff
[der französischen Imperialität] hervorruft« (278): »Der Mythos existiert
genau von dem Moment an, in dem die französische Imperialität in den
Naturzustand übergeht« (278). In der ›Zertrümmerung‹ (vgl. 278) dieser
Natürlichkeit, in der ›Störung‹19 der semantischen Evidenz, d. h. in der
›Zerstörung der Bedeutung des Mythos‹ (vgl. 276) besteht dann die ge
nuine semiologische Arbeit des Mythologen: ihr geht es im Wesentlichen
darum, in den ›Physiognomien‹ der bürgerlichen Ideologie die Gewalt zu
Vorschein zu bringen, mit der die semantischen Operationen des My
thos im Interesse der Artikulation eigener Bedeutungsintentionen‹ (253)
vorfindliche Alltagssemantiken ›deformieren‹ und ›Geschichte in Natur
verwandeln‹ (294).20 Die mythologischen ›Portraits‹ enthüllen die mythi
sche Semantik in ihrem Zentrum, im Kern ihres Verfahrens, da wo sie
›im Übergang der Geschichte zur Natur‹ eine ›Welt ohne Widersprüche‹
organisiert und den Grund für eine ›glückliche Klarheit‹ ihrer Bilder legt.
Hier ermöglichen die Portraits, die gleichsam das Wesen der bürgerlichen
Ideologie offenlegen, jenen »Rückgang hinter das unmittelbar Sichtbare«,
den der Mythos zu ›unterdrücken‹ versucht (296).
Es ist vor allem der Prozess dieser ›Naturalisierung von Begriffen‹,
den Barthes als konstitutives Moment seiner semiologischen Theorie
des Mythos herausarbeitet und dessen ›Demontage‹ (9) den zentralen
Gegenstand des mythologischen Verfahrens darstellt. Der portraitierende
Gestus ist also eine demontierender Gestus, ein Gestus, der das semio
logische Verfahren des Mythos offenbar werden läßt, das im Folgenden
näher zu fokussierende Verfahren, vorgefundene Semantiken mythisch
zu überschreiben und sie als solche mit Evidenz auszustatten.
III. ANEIGN UNG UN D D EFO R MATIO N: VERF AH REN D ES MYT H O S
Barthes begreift den Mythos, wie sich bereits oben gezeigt hat, als eine
»Weise des Bedeutens«. Er ist nicht bestimmt »durch den Gegenstand
seiner Botschaft, sondern durch die Art, wie er sie äußert« (251). Er muss
als ein semantisches Verfahren verstanden werden, das durch das zugrunde
liegende »semiologisches Schema« (257) bestimmt und organisiert wird.
18 Kursivierung von mir, L. J.
19 Vgl. hierzu Jäger 2004.
20 Vgl. weitere Belegstellen zu diesem Topos oben in Anm. 2
524
In einem gewissen Sinne ist er dabei eine Aneignungsmaschine – oder
besser: eine Wiederverarbeitungsmaschine, die das, was sie sich (gleichsam
widerrechtlich) semantisch aneignet, nämlich den ›Sinn‹ des primären
sprachlichen Systems, auf das sie zugreift, gleichsam zweckentfremdet,
ihren eigenen Intentionen unterwirft.
III.1 DIE UTO P IE D ER ›T R ANSIT IVEN SP R AC H E‹
Der Mythos begeht – wie Barthes formuliert »Diebstahl an einer Sprache«
(280). Er ›stiehlt die Sprache‹ (286), von der aus er sich ›besitzergreifend‹
(vgl. 272) entwickelt und verwendet sie für seine Zwecke. Er ist eine »ent
wendete und zurückerstattete Rede«, wobei freilich »die zurückgegebene
Rede nicht mehr ganz die gestohlene [ist]« (273). Die Bedeutung des sa
lutierenden, dunkelhäutigen Soldaten ist nicht mehr einfach das, was das
Titelbild an seiner ikonographischen Oberfläche zum Ausdruck bringt,
›salutierender, dunkelhäutiger Soldat‹, sondern eine ›Überschreibung‹
(Entwendung) der primären Bedeutung, durch eine zweite (zurückgege
bene) mythische Bedeutung, ›französische Imperialität‹, die durch diese
Überschreibung mit semantischer Evidenz ausgestattet wird.
Die Metaphern, mit denen Barthes den Mythos und seine Verfahren
charakterisiert, sind fast ausschließlich negativ konnotierte, moralische
Metaphern: Der Mythos hat etwas ›Empörendes‹ (vgl. 273); er ›schleicht
sich als ›parasitäre Bedeutung‹ in den Sinn ein‹, den er sich aneignet,
und ›bläht ihn auf‹; er kolonisiert und korrumpiert ihn. »Er entreißt dem
Sinn, von dem er sich nährt, ein hinterhältiges, erbärmliches Weiterleben«
und »macht den Sinn zur sprechenden Leiche« (282).21 Kurz: der Mythos
operiert semiologisch zugleich mächtig und deformativ: Das Verhältnis
der mythischen Semantik zu dem von ihr ›erbeuteten‹ (vgl. 252) Sinn
»ist wesentlich ein Deformationsverhältnis« (268 f.; vgl. 281, 297). Dass der
Mythos in seinen Operationen Sinn deformiert, liegt vor allem daran, dass
das primäre sprachliche/mediale System, auf das er trifft und das er sich
zueigen macht, von Entstellung unberührt ist. Die entwendete Sprache
ist eine unentstellte Sprache. In diesem Modell der primären Sprache als
unentstellter Sprache zeigt sich als regulative Idee eine kommunikations
theoretische Utopie Barthes, die Utopie einer Sprache nämlich, die im
Gegensatz zur ›entpolitisierten Rede‹ des Mythos (vgl. 294 ff.) »eine
politische Sprache« ist (299), eine »Sprache des produktiven Menschen«
21 Formulierungen und Zitate dieser Art finden sich in dem Abschnitt »Der
Mythos als entwendete Sprache« (280 ff.). Die Kursivierungen in den Zitaten
sind von mir, L. J.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 525
(300): »Überall wo der Mensch spricht, um das Reale zu verändern und
nicht, um es als Bild zu bewahren, überall, wo er seine Sprache mit der
Herstellung der Dinge verbindet, wird […] der Mythos […] unmöglich«
(300). Bei der nichtmythischen Sprache, der Objektsprache (vgl. 299 ff.),
handelt es sich – so Barthes – um eine transitive Sprache, eine Sprache die
nicht von den und über die Dinge spricht, sondern, die »die Dinge spricht«
(297): »Wenn ich Holzfäller bin und auf den Baum zu sprechen komme,
den ich fälle, dann spreche ich den Baum – in welcher grammatischen
Form auch immer – ich spreche nicht über den Baum« (299).22
Unabhängig davon, wie man nun Barthes’ negative Konnotierungen
des mythischen Verfahrens und seine Utopie der transitiven Sprache ein
schätzt, bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass der Mythos einen Sinn
wiederverarbeitet, den er vorfindet: Er ist nicht referentiell auf die Welt
selbst gerichtet – »aus der ›Natur‹ der Dinge kann er nicht hervorgehen«
(252) –, sondern auf semiologisches Material, das in unterschiedlichen me
dialen Gestalten auftreten kann: »Der schriftlich Diskurs, aber auch die
Photographie, der Film, die Reportage, der Sport, Schauspiele, Werbung,
all das kann Träger der mythischen Rede dienen« (252). Der Mythos fin
det also immer schon eine medial vielgestaltige erste ›Sprache‹ vor (und
nicht ›die Dinge selbst‹), die er verarbeitet. Diese greift er in einer ›zweite
Sprache‹ auf, in der »nicht die Dingen, sondern ihre Namen« verhandelt
werden (299), »denn der Mythos kann nur auf Objekte einwirken, die
bereits die Vermittlung einer ersten Sprache erfahren haben« (299 f.).
»Der Mythos [ist] immer Metasprache« (297).
Dass die »mythische Rede […] aus einer Materie geformt [wird], die
im Hinblick auf eine entsprechende Botschaft schon bearbeitet ist« (253),
dass sie sich nicht einer gleichsam direkten Bezugnahme auf die Welt
verdankt, unterstellt ein semantisches Normalverfahren, das den Bezug
von Zeichen auf Zeichen, von ›Sprache‹ auf ›Sprache‹ als ein abgeleitetes,
gewissermaßen nicht originäres Verfahren ansieht, weil der Standardfall
des Bedeutens, wie ihn die ›Objektsprache‹ bereitstellt, in der grund
legenderen Bezugnahmeform von Zeichen auf die Wirklichkeit besteht,
also in einer Weise des Bedeutens, in der die »Sprache operativ ist, mit
ihrem Objekt transitiv verbunden« (299). Hierbei ist die Sprache im
Umgang mit den Dingen frei: die Bedeutungen, die sie hervorbringt, sind
22 Das politische Moment dieser Utopie will ich hier nicht kommentieren, auf
das epistemologische – oder, wenn man so will, das semiologische – werde ich
unten zurückkommen.
526
»arbiträr« (283)23 – im Gegensatz zur ›mythischen Bedeutung‹, die »nie
vollständig arbiträr« sein kann (273), weil sie kein unvermitteltes Nah
verhältnis zu den ›Dingen‹ hat, sondern immer bei schon bestehendem
Sinn ansetzen muss.
III.2 DIE TRAN SK R IP TIVITÄT D ER ›P R IMÄR E S PRAC H E‹
Das ist die Grundannahme, von der Barthes ausgeht. Freilich ist eine
solche Position weder epistemologisch noch zeichentheoretisch über
zeugend. Man kann nämlich mit guten Gründen die These vertreten,
dass es keine Weise des Bedeutens gibt, in der nicht bereits in der ›ersten
Sprache‹ – die referentielle Bezugnahme auf die Welt der Gegenstände und
Sachverhalte – verwoben ist mit und ermöglicht wird durch inferentielle
Bezugnahmen von Zeichen auf Zeichen.24 Zeichen sind nicht dadurch
arbiträr, dass sie bei der Bezugnahme auf Gegenstände und Sachverhal
te der Realwelt von anderen Zeichen unabhängig wären (was sie nicht
sind), sondern dadurch, dass sie ihre semantische Aufladung unabhängig
von präsprachlichen Dingen oder kognitivmentalen Entitäten (Begriffe
etc.) bewerkstelligen. Der »Sinn der Dinge« liegt nicht der Sprache »als
präsemiologischer Zustand« voraus.25 Wenn die Arbitrarität der Zeichen
in einer Freiheit besteht, dann ist es die Freiheit von nicht-semiologischen
Bestimmungsgründen ihrer Bedeutungen (Dinge, Begriffe etc.), nicht aber
die Freiheit von anderen Zeichen (was immer das sein könnte).26 Dass
Zeichen (oder allgemeiner Skripturen27 unterschiedlicher medialer Pro
venienz) auf Zeichen (bzw. Skripturen) Bezug nehmen, (und hierdurch
vermittelt auf die ›Wirklichkeit‹), ist durchaus unter den ›Weisen der
Bedeutung‹ der Standardfall. Ja – man muss wohl davon ausgehen, dass
hierin ein grundlegender Operationsmodus der kulturellen Semantik
23 »In der Sprache ist das Zeichen bekanntlich willkürlich: nichts verpflichtet
das akustische Bild Baum, auf »natürliche« Weise den Begriff Baum zu bedeu
ten« (Barthes 1964, 108).
24 Vgl. hierzu etwa Jäger 2010a.
25 Barthes hält es für eine Eigenschaft der Poesie, dass sie danach strebt,
»einen präsemiologischen Zustand der Sprache« wiederzufinden, um »nicht
zum Sinn der Wörter, sondern zum Sinn der Dinge selbst zu gelangen.« (283)
26 Eben hierin scheint Barthes aber fälschlicherweise das Wesen der Arbi
trarität zu verorten: »In einem einfachen System wie dem der Sprache [langue]
kann das Signifikat nichts deformieren, weil das leere, arbiträre Signifikant ihm
keinerlei Widerstand bietet« (268).
27 Zum Begriff Skriptur vgl. Jäger 2012b.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 527
besteht, die in einem viel umfassenderen Maße ›bereits bearbeitete (se
miologische) Materie‹ wiederverarbeitet, als das Barthes anzunehmen
scheint. Die kulturelle Semantik ist nicht nur in ihrer mythischen Vari
ante, sondern in ihrer Grundverfassung durch Verfahren der Bezugnahme
von Zeichen auf Zeichen, d. h. durch transkriptive 28 Verfahren geprägt.
Kultureller Sinn (Semantik) kann prinzipiell nur da entstehen, wo Medien
bzw. Symbolsysteme entweder auf sich selbst oder auf andere Bezug neh
men und transkribierend auf das multimediale Universum vergangener
oder gegenwärtiger Kommunikate zurückgreifen. Alle Stillstellungs
Artefakte – Redeausschnitte, Bilder, Texte, Partituren und Skulpturen,
Speicherungen jedweder Art – dürfen verstanden werden als Adressen
möglicher Bezugnahmen in den Diskurswelten rezenter Kulturen oder
den Archiven des kulturellen Gedächtnisses. Sie fungieren – mit Burke
zu reden – als das ›Baumaterial der kulturellen Konstruktion‹29, auf das
die Transkription zugreift, ein Material, das immer bereits medialen Status
hat, also eine ›bereits bearbeitete Materie‹ (vgl. 253) darstellt.
Transkriptive Bezugnahme von Skripturen auf Skripturen stellt also
grundsätzlich – und nicht nur im Falle des mythischen Verfahrens – eine
der wesentlichen Quellen kultureller Semantik dar, ein Verfahren, in dem,
in der remediatisierenden Rückwendung eines symbolischen Systems
auf sich selbst oder auf andere mediale Systeme, Skripturen aus ihren
vorgängigen diskursiven Zirkulations und Gebrauchsbedingungen ge
löst und zur Bearbeitung bzw. Wiedereinfädelung in den semantischen
Haushalt unter neuen Rahmenbedingungen vorübergehend stillgestellt
und als stillgestellte de- und rekontextualisiert werden. In die Konstitu
tion von Sinn ist also immer eine mediale Bewegung30 eingeschrieben,
in deren Vollzug sich Medien in einer rekursiven Geste auf sich selbst
oder auf andere Medien, d. h. auf die Spuren vergangener Mediationen
beziehen. Nur wenn man – wie Barthes das tut – ›Weisen des Bedeu
tens‹ privilegiert und für allein authentisch hält, in denen ›Objekte‹
nicht ›schon die Vermittlung einer ersten Sprache‹ erfahren haben, lässt
sich das mythische Verfahren hinsichtlich seiner transkriptiven Natur
als eine ›Deformierung‹ interpretieren. Nur dann kann man auch in
dem Umstand, dass der Mythos »nur auf Objekte einwirken [kann], die
bereits die Vermittlung durch eine Sprache erfahren haben« (300), eine
28 Vgl. hierzu etwa Jäger 2012b.
29 Vgl. Burke 2005, 145.
30 Vgl. hierzu etwa Jäger 2012a.
528
seiner wesentlichen Eigentümlichkeit sehen, obgleich diese Bestimmung
tatsächlich nicht erst für die ›Metasprache‹ des Mythos, sondern bereits
für die ›Objektsprachen‹ gilt, die sich der Mythos aneignet.
IV. DAS ›S EM IO L O G ISCH E SCH EMA‹ D ES M YT H O S
Barthes’ Versuch, bei der Entfaltung seines MythosBegriffes auf Saussures
Semiologie 31 zurückzugreifen, ist grundlegend und fruchtbar, freilich in
verschiedener Hinsicht auch problematisch. Zunächst legt Barthes mit
Recht einen Zeichenbegriff zugrunde, der hinsichtlich der Konstituenten
des Zeichens nicht binär, sondern ternär konzipiert ist.32 Das Zeichen ist
eine Beziehung zwischen drei und nicht zwischen ›zwei Termen‹: »Es gibt
also den Signifikanten, das Signifikat und das Zeichen, das die assoziative
Gesamtheit der ersten beiden Terme« darstellt und als eigenständiges
Moment beachtet werden muss (256). Die ›engen funktionalen Implika
tionen‹ zwischen diesen drei ZeichenKonstituenten sind auch ›für die
Untersuchung des Mythos als semiologisches Schema unerlässlich‹ (vgl.
256 f.), und zwar deshalb, weil sich das dreidimensionale Schema im
Mythos wiederfindet. Es tritt hier freilich in einer erweiterten Form auf:
Der Mythos ist nämlich insofern ein besonderes semiologisches System, als
er – wie sich bereits oben gezeigt hat – »auf einer semiologischen Kette
aufbaut, die schon vor ihm existiert«. Er ist »ein sekundäres semiologisches
System« (258), das auf ein erstes System, auf die Sprache (im medial erwei
terten Sinne des Begriffs) zugreift, wobei für Barthes dieser Zugriff mit
einer Reduktion des ersten Systems verbunden ist: Die Zeichen-Ganzheiten
aus Signifikant und Signifikat der ›ersten Sprache‹ werden in der zweiten,
der ›mythischen Rede‹ zu einfachen Signifikanten, oder anders – der My
thos transformiert die (ganzen) Zeichen des ersten Systems in bloße Sig
nifikanten, die er für seine eigenen Semantisierungsintentionen nutzen kann
(vgl. 258). Im Signifikanten des mythischen Zeichens überlappen sich also
für Barthes das (ganze) Zeichen des ersten und die Ausdrucksseite des
zweiten Systems: Der mythische Signifikant enthält das ›Gesamtzeichen‹
(258) der ersten ›semiologischen Kette‹, das zugleich als »abschließenden
Term« des (primären) sprachlichen Systems und als »Ausgangsterm des
31 Vgl. hierzu etwa Jäger 2010b, 134–163.
32 Vgl. zur ternären Struktur des Saussureschen Zeichenbegriffs vgl. auch
Jäger 1978, hier 25 ff.; ebenso Jäger 2008, hier 54 ff.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 529
mythischen Systems« fungiert (159). Beide Überlappungsmomente nennt
Barthes einmal – mit Blick auf das erste System – Sinn (abschließender
Term) und bezüglich des zweiten Systems Form (Ausgangsterm). Das
semiologische Schema des Mythos greift auf den Sinn des sprachlichen
Zeichens zu und verwandelt ihn in »eine leere parasitäre Form« (262), die
neu semantisiert werden muß, weil sie als ›leere‹, ›verarmte‹ Form »nach
einer Bedeutung [verlangt], die sie ausfüllt« (263). In gewissem Sinne
lässt sich das mythische Verfahren im theoretischen und terminologi
schen Rahmen der Bartheschen Überlegungen als ein Sinn-Form-Transfer
beschreiben, als eine Entleerung des Sinns, der aus der Semantik des ers
ten, des sprachlichen Systems in das semiologische System des Mythos
herüberreicht, aber nur als eine leere Form überlebt, die neu mit einer
mythischen Semantik aufgefüllt werden kann und muß. Beim »Übergang
vom Sinn zur Form« (264) verdrängt der Signifikant des mythischen
Zeichens zunächst das Wissen, den »Vorrat von Geschichte« (263), den
die alte Semantik des ersten Systems als Sinn bereitgestellt hatte und
der nun nur noch ein ›zurückgedrängter Reichtum‹ ist (vgl. 263), um
das neue Wissen des mythischen Begriffs/Signifikats aufzunehmen (vgl.
264). Der alte Sinn des ersten Systems ›verarmt‹ und wird ›entfernt‹ (vgl.
262 f.), indem er durch den ›mythischen Begriff‹ (vgl. 265) überschrieben
wird. Wir haben es hier also mit einer »anomalen Regression von Sinn
zur Form, vom sprachlichen33 Zeichen zum mythischen Signifikaten zu
tun« (262). Gleichwohl bleibt unter dem neuen mythischen Wissen das
alte sprachliche Wissen gleichsam palimpsestartig erhalten: Die entleerte
Form des mythischen Zeichens löscht den überschriebenen Sinn nicht
wirklich vollständig aus: »sie läßt ihn verarmen, drängt ihn zurück, hält
ihn sich zur Verfügung. Man glaubt, der Sinn werde sterben, aber es ist
ein aufgeschobener Tod; der Sinn verliert seinen Wert, bleibt jedoch am
Leben, und die Form des Mythos wird von ihm zehren.« (263; vgl auch
282). Aus diesem Grund ist er auch der ›semiologischen Demontage‹ des
Mythologen prinzipiell zugänglich. Deshalb kann er ›ideologiekritisch‹
freigelegt, ›entziffert‹ (vgl. 265, 266) werden. Es ist dieses »Versteckspiel
von Sinn und Form«, das für Barthes »den Mythos ausmacht« (263), und
der Mythologe ist es, der es aufdeckt.
33 Der Übersetzer den neuen Ausgabe der Mythen des Alltags übersetzt linguistique durchgängig mit ›linguistisch‹, also auch signe linguistique als ›linguisti
sches Zeichen‹; gemeint ist aber offensichtlich ›sprachliches Zeichen‹. Ich habe
die Übersetzung deshalb hier entsprechend korrigiert.
530
V. TRANS KRIP T IVITÄT ALS PAR AD IG MA D ES S EMI O L O GI S C H EN
Der Kerngedanken der MythosTheorie Barthes’ besteht also, wie sich
bislang gezeigt hat, in der Annahme, dass der Mythos als semiologisches
Schema bei der Entfaltung seiner semantischen Macht als ein Meta
Zeichensystem operiert, das sich eines ›objektsprachlichen‹ ersten Zei
chensystems bedient und dessen Zeichen als Signifikanten seiner eigenen
Bedeutungsproduktion heranzieht. Es ist – so Barthes – »die wichtigste
Eigentümlichkeit« des Mythos, dass seine Signifikanten ›bereits aus
Zeichen der Sprache bestehen‹ (261). Aber gerade hier entsteht auch,
wie sich bereits in Abschnitt III.1 angekündigt hat, ein grundsätzliches
Problem der Bartheschen Bestimmung des Mythos. Denn der Umstand,
dass es die mythischen Semantisierungsprozesse nicht direkt mit prä
semiologischen Dingen und Sachverhalten, sondern immer schon mit
Zeichen zu tun haben, ist keine Eigentümlichkeit des Mythos, sondern
eine der kulturellen Semantik überhaupt – eine Eigentümlichkeit, durch
die bereits das ›erste‹ semiologische System, das der Sprache, bestimmt
ist, das sich auch nur dadurch auf Gegenstände und Sachverhalte einer
transsemiologischen Welt beziehen kann, dass es sich systemintern auf
andere Zeichen zu beziehen vermag. Es gibt in der kulturellen Semantik
keine ›ObjektMetaDifferenz‹ zwischen Zeichensystemen derart, dass
die Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen sich notwendigerweise als
die eines Metasystem auf die Zeichen eines primären Systems vollzöge.
Diese ZeichenZeichenBezugnahme hat ihren Ort nicht erst zwischen
verschiedenen Zeichensystemen, sondern bereits innerhalb desselben Zei
chensystems. Wie auch immer man den Mythos theoretisch bestimmt,
seine Differentia specifica wird nicht darin bestehen können, dass er als
»eine zweite Sprache [operiert], in der man von der ersten spricht« (259),
weil es – wie sich bereits gezeigt hat – eine grundlegenden Eigenschaft
von semiologischen Systemen allgemein ist, dass sie sich, mit oder ohne
Inanspruchnahme einer MetaInstanz, auf sich selber zurückwenden
und ›von sich selber sprechen‹ können. Das Vermögen, sich rekursiv auf
sich selbst (oder auf andere Systeme) zu beziehen, ist eine (transkriptive)
Grundeigenschaft sprachlicher und anderer semiologischer Systeme. Die
Fragilität von Zeichenbedeutungen macht es unabdingbar notwendig,
dass es jederzeit möglich ist, im Zuge der Verwendung von Zeichen diese
aus dem Zeichenfluss herauszugreifen, sie gleichsam stillzustellen und sie
im Hinblick auf ihre Semantik verhandelbar zu machen.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 531
Der von Barthes am Mythos beschriebene Prozess der ›Leerung‹ und
›Wiederauffüllung‹ von Bedeutung kennzeichnet latent jede Prozessie
rung von Zeichen. Jede Verwendung eines (sprachlichen) Zeichens ist
in gewissem Sinne eine Operation der Resemantisierung dieses Zeichens.
Freilich wird das Moment der Resemantisierung – oder, wie man auch
sagen könnte, der Transkription – nicht notwendigerweise sichtbar,
weil es angesiedelt ist auf einer Skala, die von der Iteration im Modus
der Vertrautheit bis zur Fokussierung und Stillstellung des Zeichens im
Modus der Störung 34 und der transkriptiven Nachbearbeitung reicht.35
Solange die Semantik der Zeichen für die Diskursbeteiligten evident
(ungestört) bleibt, wird ihre Fragilität nicht sichtbar und es besteht kein
Anlass für offene transkriptive Bearbeitungen.36 Gleichwohl ist jeder
Zeichengebrauch eine virtuelle semantische Verschiebung. Saussure
spricht insofern zu Recht davon, dass jede Zeichenverwendung eine
Reeditierung darstelle.37 Zeichenverwendungen sind deshalb grundsätzlich
bis zu einem gewissen Grade ›sinnentleerende‹ Passagen von ›Sinn zur
Form‹ (vgl. 262 ff.) sowie Resemantisierungen der Form. Dies ist nicht
zwingenderweise ein Prozess zwischen zwei semiologischen Systemen,
von denen eines die Objekt und das zweite die Metasprache darstellt
(wenn es natürlich auch diese intermediale Variante gibt). Vielmehr
haben wir hier das transkriptive ›Kerngeschäft‹ semiologischer Opera
tivität vor uns, das bereits auf der Stufe der Zeichenverwendung in der
›ersten Sprache‹ die Passage von ›Sinn‹ zu ›Form‹ und wieder zu ›Sinn‹
innerhalb desselben Systems organisiert.
Diese Passage lässt sich als ein Type-Token-Type-Prozess beschreiben,
in dem jede Verwendung eines ZeichenTokens den ZeichenType, den
es realisiert, durch die Realisierung virtuell verändert. Jede Verwendung
eines Zeichenvorkommnisses (Token) läßt sich prinzipiell verstehen als
die Aufhebung und WiederInitialisierung der Identität eines Zeichen
typs, als eine ›Wiederschreibung‹ (Transkription) von Type1 als Type2 im
Zuge seines Gebrauchs als Token, wobei in der Regel Type1 und Type2
nur unmerklich gegeneinander verschoben sind. Die Transkription wird
als Identitätsverschiebung, also etwa als Veränderung der Bedeutung, nur
34 Vgl. Jäger 2004.
35 Vgl. Jäger 2012b.
36 Vgl. Jäger 2015.
37 Für Saussure ist der »Gegenstand, der als Zeichen dient, (…) nie zweimal
›der gleiche‹«; selbst im Zeitraum von 24 Stunden wird »jedes Element […]
Tausende von Malen neu editiert [réédité]« (vgl. Saussure 1997, 303).
532
dann bemerkbar, wenn im Prozeß der Kommunikation eine ›Störung‹
auftritt, die nach transkriptiven Bearbeitungen verlangt.
Saussure hat diesen semiologischen Prozess in seinen zeichentheo
retischen Notes so beschrieben, dass jede Verwendung eines Zeichenvor
kommnisses, eines Aposèmes, als die Überführung eines Parasèmes, dessen
Realisierung es ist, in eine zweite Version dieses Parasèmes verstanden
werden muß. Unter Parasème versteht Saussure dabei das Zeichen (sème),
sofern es »zu einem selben psychologischen Zeichensystem« gehört,38 also
das Zeichen in seiner psychischen Netzwerkeigenschaft im Gedächtnis
eines Sprechers. Das Aposème ist die materiell im Diskurs erscheinende
»Hülle des Zeichens«,39 die vom Verstehenden wieder in eigenen Para
sèmien verortet werden muß. Parasème sind also immer Types, während
Aposème immer Tokens sind.
Das von Barthes als das Spezifische der ›mythischen Rede‹ heraus
gearbeitet Verfahren der semantischen Entleerung eines ersten Systems
durch ein zweites, resemantisierendes System, läßt sich also als ein für
Semiologien generell paradigmatischer Prozess verstehen. Jede Zeichen
verwendung ist durch eine Mikropassage bestimmt, in deren Verlauf ein
Parasème1 als Aposème geäußert und als Parasème2 ›reeditiert‹ wird,
wobei das Aposème dem (zeitlosunausgedehnten psychischen Zeichen,
also dem Sème/Parasème) vor seinem Wiedereintritt in diesen Zustand
durch temporäre Stillstellung40 jenes Moment der Dauer, des materiellen
(akustischen, graphematischen oder sonstigen) Erscheinens verleiht, die
für hermeneutische und autohermeneutische Operationen unabdingbar
ist; zugleich stellen die in diesen Verlauf involvierten Parasème1 und 2
Replikas desselben Parasèmes dar. Jeder Prozess des Verstehens durch
läuft eine solche Mikropassage. Das aposèmische Moment der Dauer, das
in semiologischen Systemen verschiedene (mediale) Formen annehmen
kann (Erwähnung, Zitat, Paraphrase, anaphorische Kette, Schrift, etc.),
das sich aber auch in nichtsemiologischen kulturellen Artefakten (z. B.
Morphomen)41 zeigt, ist eine Bedingung sine qua non für die Prozessierung
und Konstitution kultureller Semantiken. Semantik operiert prinzipiell
38 Saussure 1997, 361.
39 Saussure 1997, 359.
40 Man könnte auch sagen, der Aposemisierung: Saussure definiert nämlich
das Aposème als ein »von einem Zeichen abgeleitetes und abstrahiertes Ding
oder Ding, das seiner Bedeutung oder von Bedeutung entledigt ist« (Saussure
1997, 359).
41 Vgl. zum Morphombegriff Blamberger/Boschung 2011.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 533
rekursiv, durch Rückwendung und Wiederverarbeitung und sie ist inso
fern auf stillgestellte Zeichenfiguren und kulturelle Artefakte angewiesen,
an denen der Wiederverarbeitungsprozess ansetzen kann. Morphome etwa
sind insofern geradezu klassische Stillstellungen dieses Typs, wobei die für
semiologische Systeme charakteristische Mikropassage von Parasemie1
zu Parasemie2 zu einer Makropassage werden kann, die entweder zeitlich
sehr weit auseinandertritt 42 oder so verläuft, das das Morphom/Aposème
für lange Zeit nicht – oder überhaupt nicht – in eine zweite (wiederanei
gende) Parasemie mündet, also etwa in Archiven, Museen oder in Bibliotheken etc. endet und unsichtbar wird (aber prinzipiell jederzeit wieder
herausgegriffen und resemantisiert werden kann). Nicht nur der Mythos
ist also »eine entwendete und zurückgegebene Rede« (273, vgl. 280 ff.),
sondern jede Passage (Äußerung) eines Aposèmes ist in gewissem Sinne
der ›Diebstahl‹ eines Parasèmes1 und seine ›Zurückgabe‹ als Parasème2.
Dass »die zurückgegebene Rede nicht mehr ganz die gestohlene [ist]« (273),
heißt dann nur, dass im Zuge der Zeichenperformanz, der Äußerung eines
Aposèmes, die Passage von Parasème 1 zu Parasème2 stattgefunden hat
als eine Transkription von Parasème1 als Parasème2. Im Zeichengebrauch
wird ein geäußerter ZeichenType 1 als verstandener ZeichenType 2 wie
dergeschrieben, wobei beide Types Replikas voneinander sind. Die Tran
skription kann dabei nahezu unmerklich sein, weil die Identität der beiden
ZeichenTypes erhalten bleibt – in diesem Falle sind Zeichen transparent
– oder sie kann eine Störung durchlaufen und so zu einer semantischen
Verschiebung von des zweiten Types in seinem Verhältnis zum ersten
führen: In Fällen wie diesem haben wir es dann mit einer Readressierungen
oder einem Reframing, kurz mit einer Transkription zu tun.
VI. DAS MY T H ISCH E T EL O S: SEMAN TISC H E EVI D EN Z VERDAUERN
Im Zuge unserer bisherigen Überlegungen hat sich gezeigt, dass für Barthes’
Versuch, die Spezifik der ›mythischen Rede‹ aus dem Umstand abzuleiten,
dass der Mythos »ein sekundäres semiologisches System [ist]«, dass »er
auf einer semiologischen Kette aufbaut, die schon vor ihm existiert« (258),
nicht überzeugend argumentiert werden kann: Dass Zeichen auf Zeichen
Bezug nehmen, dass sie immer wieder auf semiologische Ketten aufbauen,
die schon existieren, muß als ein allgemeines Bestimmungsmoment von
42 Vgl. hierzu etwa Boschung/Jäger 2014.
534
semiologischen Systemen angesehen werden. Es kann nicht den Mythos als
besonderes System auszeichnen. Die für Barthes zentrale Unterscheidung
von (transkriptionsfreier) ›transitiver Objektsprache‹ und (transkriptiver)
mythischer ›Metasprache‹ ist – wie sich gezeigt hat – sowohl in epistemo
logischer, als auch in zeichentheoretischer Hinsicht nicht durchführbar.
Freilich führt Barthes ein zweites, zeichentheoretisch reformulierbares,
theoretisches Moment zur Bestimmung der ›mythischen Rede‹ ins Feld,
das als ein besserer Kandidat ihrer ›Auszeichnung‹ als besonderes semio
logisches System geeignet sein könnte: Der Mythos ist nämlich für Barthes
nicht nur eine Wiederverarbeitungsmaschine, sondern zugleich auch eine
›Naturalisierungsmaschine‹. Es ist für ihn eine zentrale Leistung des Mythos,
dass er Begriffe ›naturalisiert‹ (vgl. 278). Mit diesem Bestimmungsmoment
sind wir, wie Barthes formuliert, »beim eigentlichen Prinzip des Mythos«
angelangt: »Er verwandelt Geschichte in Natur« (278; vgl. ebenso 9, 11, 214,
227, 306), und zwar dadurch, dass er in »der dekorativen Darstellungen des
Selbstverständlichen« »falsche Evidenzen« (11) erzeugt: »Deshalb wird der
Mythos als unschuldige Rede erlebt: nicht weil seine Absichten verborgen
wären […], sondern weil sie zur Natur geworden sind« (280). Wie oben
bereits erörtert wurde, verwandelt sich – folgt man Barthes – das Foto des
in französischer Uniform ›salutierenden Negers‹ für den MythosLeser in
»die Präsenz der französischen Imperialität« (276): »alles geschieht so, als
riefe das Bild ganz natürlich den Begriff hervor, als fundierte der Signifikant
das Signifikat« (278). Die zweite wesentliche Funktion des Mythos besteht
also in seiner »beeindruckenden Kraft« (278), darin, dass er bei dem Leser
›einen sofortigen Effekt‹ auslöst (vgl. 279). Er transformiert ›die Beziehung
von Signifikant und Signifikat in ein natürliches Verhältnis‹ (vgl. 280) und
inszeniert so eine »Naturalisierung des Begriffs« (279).
In der Tat scheint es nun so, als ließe sich mit dieser Bartheschen
Bestimmung ein – wie sich noch zeigen wird – semiologisch rekon
struierbares, für den Mythos konstitutives Moment freilegen. Es ist
die Naturalisierung seine Begriffe, durch die der Mythos Geschichte in
Natur, Arbitrarität in Motiviertheit, Transitivität in Präsenz verwandelt
und so eine ›Mystifikation‹ erzeugt, »die die kleinbürgerliche Kultur in
universelle Natur verwandelt« (9). Sie bewirkt durch die Generierung
›falscher Evidenzen‹ (vgl. 11) das, was man mit einem Terminus Jürgen
Links eine kulturelle ›Normalisierung‹43 der mythischen Verfasstheit des
französischen Alltagslebens nennen könnte: »Ganz Frankreich ist in
43 Vgl. zum Begriff der Normalisierung Link 52013.
J Ä GE R : MYT H O L O GI SCH E ›P O R T R A I T S‹ 535
diese anonyme Ideologie eingetaucht: Unsere Presse, unser Film, unser
Theater, unsere Gebrauchsliteratur, unsere Zeremonien, unsere Justiz,
unsere Diplomatie […] die Hochzeit, die uns bewegt, die Küche, von der
wir träumen, die Kleidung, die wir tragen, alles in unserem Alltagsleben
ist davon abhängig, wie die Bourgeoisie die Beziehung zwischen dem
Menschen und der Welt sich vorstellt und uns darstellt« (292).
Versucht man die Idee der ›Naturalisierung von Begriffen‹ zeichen
und medientheoretisch zu reformulieren, so ließe sie sich verstehen als
Ausdruck eines Telos, das dem Mythos Barthesscher Provenienz inhärent
zu sein scheint, des Telos nämlich, die ständige, für die Medien und Se
miologien der kulturellen Kommunikation charakteristische Oszillation
zwischen ›stillem‹ und ›explizitem Wissen‹, zwischen ›Vertrautheit‹ und
›Relevanz‹, zwischen ›Transparenz‹ und ›Störung‹, stillzustellen und den
Zustand von Implizitheit, habitueller Vertrautheit und Zeichentransparenz
zu verdauern.44 Wenn man die Transparenz (habituelle Vertrautheit) von
Zeichen/Medien als einen Aggregatzustand der Kommunikation versteht,
den das Zeichen/Medium annimmt, wenn die mediatisierte Semantik als
stilles Wissen kommunikativ nicht irritiert ist, wenn sie in ihrer seman
tischen Evidenz problemlose Geltung hat und unter Störung (Relevanz)
einen kommunikativen Aggregatzustand, in dem das Zeichen/Medium als
solches sichtbar und damit resemantisierbar zu werden vermag, so bestün
de der Prozess der Naturalisierung der Begriffe darin, die Semantisierungen
des Mythos kommunikativen Störungen und Resemantisierungen zu
entziehen und Phasen semantischer Evidenz und kultureller Vertrautheit
auf Dauer zu stellen, sie zu arretieren (vgl. 272). Der »Entzug der Ge
schichte« (306) bestünde dann in einem Entzug semantischer Offenheit,
im Verbergen der für kulturelle Semantiken konstitutiven Fragilität. Der
›aufgeschobene Tod‹ des Sinns (vgl. 263) würde eintreten.
Wie bereits oben deutlich geworden ist, bestimmt sich dann auch von
hier die Aufgabe des Mythologen: Sie besteht in der Sichtbarmachung
semantischer Fragilität, in der Irritation der vom mythischen Telos auf
Dauer gestellten Ansprüche semantischer Evidenz und Transparenz, in
der semiologische Demontage und Entzifferung des Mythos. Als ein
solcher Demontageversuch lassen sich Barthes Mythologien lesen. Seine
›Portraits‹ der kleinbürgerlichen Alltagswelt lassen an der Oberfläche der
portraitierten ›Antlitze der Zeit‹ sichtbar werden, was sich hinter ihrer
Natürlichkeit verbergen will.
44 Vgl. hierzu Jäger 2004.
536
LITERATUR VERZEICH NIS
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graphie. Aus dem Französischen von Dietrich Leube. Frankfurt a. M. 1989.
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Menschen des 20. Jahrhunderts. Mit einer Einleitung von Alfred Döblin.
München 1929.
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IV. ANTHROPOLOGIE UND KULTUR
ALAIN S C HNAPP
DIE DARSTELLUNG DER RUINEN
IN DER VORISLAMISCHEN WELT
BEI ADĪ IBN ZAYD: EINE LANDSCHAFT
MIT BEKANNTEN GESICHTERN
Das Nachdenken über die Vergeblichkeit menschlichen Handelns und
die Zerbrechlichkeit seiner Spuren wird in allen Kulturen häufig thema
tisiert. Es ergreift den Dichter, der vor der gähnenden Leere der Ruinen
steht. Dieses dichterische Motiv findet zum ersten Mal in der Überliefe
rung des alten Ägypten zur Ramessidenzeit seinen Ausdruck,1 aber das
Thema ist auch in anderer Form in den sumerischen Klagen über die
Zerstörung von Ur gegenwärtig, und natürlich auch in den Psalmen.2
Das Thema des ubi sunt qui ante nos fuere ist in der griechischrömischen
Welt präsent, und Carl Heinrich Becker hat seine besondere Bedeutung
in der Überlieferung der griechischen Patristik herausgestellt,3 etwa
bei Cyrillus Alexandrinus und im Syrischen bei Ephraem Syrus.4 Das
Wirken der Menschen ist der Zerstörung und dem Vergessen anheim
gegeben und allein der Dichter ist befähigt, die Erinnerung an die Ver
gangenheit zu bewahren. Er ist die herausragende Figur im Nachdenken
über die Leere:
1 Assmann 1991, 173 ff.; bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Aus
schnitt eines Buchs über die Geschichte der Ruinen, das 2018 erscheinen wird.
2 Psalm 74, die Klage nach der Zerstörung des Tempels; zur literarischen Ge
schichte des Themas s. Morreale 1975.
3 Becker 1924–1932, Bd. 1, 501–519; s. auch Sperl 1989, 73, der den Begriff der
Zuhdiyya, der Poesie des Verzichts, kommentiert.
4 Becker 1924–1932, Bd. 1, 506–507.
542
Wo
Wo
Wo
Wo
ist die Welt, wo sind die Güter, wo der Edelmut?
sind die Dynastien und die Tyrannen?
ist denn nur der König, wo der Archont, wo der Führer?
ist die Weisheit der Weisen? 5
Ephraem Syrus geht zweifellos noch weiter, wenn er dichtet:
Gehe und betrachte die Städte oder den Weisen, was befallen hat die
schöne Pracht ihrer Ordnungen.
Wo sind die Könige, welche die ganze Welt besassen und sammelten
und ihre Schatzhäuser mit allen Schätzen füllten? […]
Sprich zur Erde und sie wird dir zeigen, wo sie sind, und frage die
Unterwelt, und sie wird dir offenbarenen, wo sie gesetzt sind.
Siehe, sie sind alle zusammen in die Erde geworfen, und sie sind
Staub, und der Staub der Reichen ist nicht getrennt vom Staub der
Armen.6
DAS VORIS L AMISCH E UBI SUNT
Ein Widerhall dieser Überlieferung ist in zwei in archaischem Arabisch
verfassten Gedichten auf uns gekommen. Im Vorderen Orient des
6. Jh.s n. Chr., an der Schwelle des Übergangs vom byzantinischen zum
sassanidischen Reich, ist das kleine Königreich der Lahmiden im Süden
des heutigen Irak mit ihrer Hauptstadt al-Hīra dem sassanidischen Hof
von Ktesiphon unterworfen, doch ein guter Teil seiner Bevölkerung
ist christlich. Seine geographische Lage macht aus diesem Königreich
einen Knotenpunkt der kulturellen und religiösen Verbindugen, die zur
Entstehung einer vorislamischen arabischen Kultur geführt haben. Das
Werk eines der wichtigsten Dichter dieser Schule, des ῾Adī Ibn Zayd, ist
uns nur in sehr fragmentarischer Form überliefert. Sein Inhalt und sein
Stil haben jedoch ein so gerechtfertigtes Interesse erweckt, dass Mario
Praz, einer der besten Kenner der vergleichenden RuinenWissenschaft,
in ihm einen Vorläufer der modernen Ruinenliteratur sah.7 ῾Adī war ein
Gelehrter, aber in dem kleinen Königreich bekleidete er auch hohe politi
sche Ämter und machte die Erfahrung von Degradierung und Gefängnis.
5 Cyrillus Alexandrinus PG 77, Sp. 1077.
6 Ephraem Syrus, Opera omnia III, 309 (Übers. Becker).
7 Praz 1983, Bd. 2, 178–182.
SCH NA PP: E INE LA ND SCH A FT MIT BE K A N N T E N GE SI CH T E R N 543
Eine seiner qasā῾id (das ist der Plural von quasiīda, die Ode) ist ein
fast wörtliches Zitat der Verse der Kirchenväter:
das ungestüme Schicksal erhebt sich, biete ihm die Stirn: betrachte
es nicht als unausweichlich, frage die Menschen, wo die Gefolgsleute
des Qubays (ein lahmidischer Fürst) geblieben sind; schon vor ihnen
hat das Schicksal Sāpūr (der berühmte sassanidische Kaiser des
3. Jh.s v. Chr.) vernichtet. Er hatte als König und Führer des Heeres
gelebt; die Löwen hatten Furcht vor ihm, wenn er brüllte. Und der
Tod überwältigte ihn, und es starb der, der lange in seinem Königreich
zu leben gehofft hatte.
Manchmal schläft ein Mann gesund ein und stirbt, obwohl er doch
entspannt und freudvoll schlief.
Ich sehe niemanden, der sich dem Lauf des Todes widersetzen kann,
des Todes, der Reich und Arm vernichtet.8
῾Adī greift hier also eine den christlichen Autoren wohlbekannte Thema
tik auf, aber er gibt ihr einen historischen Rahmen, um den Sassaniden
und den Lahmiden einen besonderen Platz einzuräumen. Das Motiv der
Hinfälligkeit des Menschen und der sich daraus ergebenden Rolle des
Dichters bei der Bewahrung der dauerhaften Spur der Fürsten und Heroen,
der Erinnerung, steht im Mittelpunkt dieses poetischen Versuchs der Be
wältigung der Vergangenheit. Das Thema der entglittenen Vergangenheit
ist zwar in der vorislamischen arabischen Dichtung durchaus vorhanden,
doch keiner der Zeitgenossen ῾Adīs hat sich mit derselben Leidenschaft der
Beschreibung der Vergänglichkeit des Lebens der Menschen sowie dem
Verfall ihrer Vohaben und ihrer Bauten gewidmet. Wie Gabrieli zutreffend
erkannt hat, liegt der Vorteil des Dichters in seiner genauen Kenntnis der
Geschichte und der Legenden der arabischiranischen Welt des Irak und
der syrischmesopotamischen Ebene.9 Seine Helden sind Männer, die
bisher ein wenig am Rande der grossen Geschichte gestanden hatten, wie
der berühmte Chosroës oder die Herrscher der Stadt al-Hīra oder gar der
Stadt alHadr (Hatra), die im Jahre 241 n. Chr. von dem sassanidischen
König Sāpūr vollständig zerstört worden war. Das folgende Gedicht ist
AlN῾umān I. (390–418 n. Chr.), dem König von al-Hīra, gewidmet:
8 Ich folge hier der italienischen Übersetzung von Franco Gabrieli, »Adi ibn
Zaid, il poeta di al Hirah«, Rendiconti Accademia dei Lincei, S VIII, fasc. 3–4 III,
1948, S. 90.
9 Ebd., 91.
544
Der du voll Schadenfreude (deinem Nächsten) sein Schicksal vor
wirfst – bist du (vom Schicksal) frei und unerreicht?
Hast du einen festen Vertrag über die Dauer deiner Tage, oder bist
du (nur) ein Unwissender, ein Getäuschter?
Wen kennst du, der ewig gelebt hätte, und wer wäre sicher, dass nicht
sein Beschützer zur Schande würde?
Wo ist Kosra, der Kosra der Könige, Abu Sasan (meist Anuschirwān)
oder wo vor ihm Schaper?
(Und wo sind) die Banū῾lAsfar, die Freigebigen, die Fürsten des
Romäerlandes? Keine Erinnerung ist an sie geblieben.
Und wo ist jetzt der Mann von Hadr, der es doch einst erbaute und
das Land am Tigris und am Chaboras besteuerte?
Er baute ein Marmorschloss, mit Gips überzogen, in dessen Gipfeln
die Vögel nisteten.
Nicht fürchtete er das Unglücksgeschick, und doch ging ihm die
Herrschaft verloren und vereinsamte seine Pforte.
Denke nach über den Herrn des Chawarnaq, wie er einst hinabschau
te – die (göttliche) Leitung öffnet ja den Blick (des Geistes).
Ihn erfreute sein Zustand, die Grösse seiner Herrschaft, das Meer,
welches sich dahinzog und Sadīr (ein Schloss).
Da aber erschrak plötzlich sein Herz, und er sprach: ›Was für eine
Lust hat denn ein Lebender, der doch dem Tode zugeht?‹
Denn nach dem Glück, der Herrschaft und dem Wohlsein haben die
Gräber sie dort verhüllt.
Und sie werden wie trockene Blätter, die im Wind des Ostens und
des Westens verwehen.10
Der Dichter folgt dem klassischen Vorbild der Abfolge des ubi sunt, aber
er siedelt sie in einem historischen und geopolitischen Umfeld an der
Grenze zwischen zwei grossen Reichen an, von denen das der Sassaniden
durch den grossen Herrscher Sāpūr verkörpert wird, der den in dem
Relief von Naqshi Rustam11 verewigten Sieg über den römischen Kaiser
Valerian davongetragn hat, und durch Chosroës, den König der Blütezeit
der sassanidischen Herrschaft. Er stellt diese Erinnerungen an das Sas
sanidenreich den byzantinischen Kaisern gegenüber, an die es keinerlei
greifbare Erinnerung zu geben scheint (das erscheint paradox, wenn man
10 Übers. Becker 1924–1932, Bd. 1, 507–508, dazu der Kommentar von Ribiera
1988, S. 37. Die italienische Übersetzung bei Gabrieli 1948, 91–92.
11 Zu diesem Ort s. Ribiera 1988, 36–37.
SCH NA PP: E INE LA ND SCH A FT MIT BE K A N N T E N GE SI CH T E R N 545
bedenkt, dass ῾Àdī Botschafter der Lahmiden in Byzanz gewesen ist)12. Es
handelt sich dabei indes um eine entfernte Erinnerung, wobei die Namen
der Herrscher oder die Erwähnung ihrer dynastischen Abfolge genügen.
Sobald ῾Adī näher an al-Hīra kommt, wird die Beschreibung monumen
taler. Das ist etwa bei dem »Schloss« von alHadr der Fall, das 110 km
nordwestlich von Mossul liegt. Es handelt sich um eine Stadt der Parther,
die von den Sassaniden zerstört wurde und deren Ruinen beachtlich sind.
Und schliesslich ist alHawarnaq, das »Schloss« der Lahmiden nahe bei
al-Hīra, das zusammen mit dem nahegelegenen Schloss von al-Sadīr
als eines der »Weltwunder« angesehen wird,13 Gegenstand größerer Auf
merksamkeit. Dieser grossartige Palast, der der Legende nach von dem
Architekten Senemmar auf Befehl des Königs alNu῾mān errichtet worden
war, ist eines jener wunderbaren Gebäude, die die Phantasie der Dichter
und Historiker anregten. In verschiedenen Versionen der Geschichte hat
der König den Architekten ermorden lassen, um zu verhindern, dass ein
so herausragendes Bauwerk je durch ein anderes Werk desselben Schöp
fers übertroffen werden könne. AlHawarnaq ist also Kennzeichen einer
Grossartigkeit, mit der nichts konkurrieren kann – es ist ein Monument,
das sein Besitzer bis zur Ausübung eines Verbrechens gegen jede Nach
ahmung verteidigen sollte.
Das literarische Motiv des ubi sunt ist nicht eine ›Ruinendichtung‹ im
eigentlichen Sinn des Wortes, sondern eine Dichtung der Erinnerung. Die
Monumente sind ganz wie die Namen der Könige oder Helden Zeichen,
die sich selbst genügen. Diesem Gedicht haftet ein Anflug der Konti
nuität an, eine Art, den Lesern die Spuren der Macht und der Männer
nahezubringen, die nicht zu weit entfernt und deren Abenteuer ihnen
wohlbekannt sind. Ein zweites Gedicht ῾Adīs zum selben Thema erkundet
kompliziertere Zeiten und Horizonte:
Was kann man nach dem von Sanaa erlittenen Schicksal erwarten,
das von Königen bewohnt wurde, die reiche Geschenke brachten?
Der es erbaute, errichtete es bis auf die Höhe der wandernden Wolken
mit seinen Hallen, die nach Moschus dufteten,
Umgeben von Bergen, vor jedem überraschenden Angriff geschützt,
auf unerreichbaren Gipfeln,
12 Hainthaler 2005, 160; s. auch Shahid 1995, 478–482.
13 Würsch 2013, 143–145 sowie ein Kommentar zum Ansehen des Ortes in
der späteren Überlieferung in Stetkevych 1993, 71.
546
Der Schrei der Eule hallte dort wider, während man zugleich die
Melodie der Flöte vernahm.
Und die Umstände brachten das Heer der Söhne der Edlen dorthin
(die Perser, die im Jahre 570 den Jemen eroberten), deren Ritter in
geordneter Reihe marschierten.
Es wurde von Maultieren erobert, die die Last des Todes trugen,
neben denen ihre Diener liefen,
sodass die Bewohner sie von der Seite des Berghangs in schwarzen
Kohorten sahen
am Tag, an dem sie den Leuten der Berberie und von Aksoum ver
kündeten, ›wer zu fliehen versucht, wird nicht gerettet werden‹.
Und das war ein denkwürdiger Tag und ein Volk von edler Abstam
mung ging unter.
Nach den hochmütigen Banū Tubba (den jemenitischen Königen)
kamen die Marzban (die Repräsentanten des sassanidischen Königs)
(Nach dem Fall Sanaas berichtet das Gedicht von der Eroberung von
al-Hadr durch Sāpūr)
Und über alHadr brach ein unerhörtes Unglück herein.
Aus Liebe kümmerte sich ein junges Mädchen nicht um ihren Vater,
als ihr Wächter sie aus den Augen verlor,
Sie gab ihm einen hellen Wein zu trinken, wer den trinkt, verliert
den Kopf.
Und in der Nacht verriet sie ihr Volk, in der Hoffnung, dass der Herr
sie heiraten würde,
In einer Nacht, in der jemand, der sie hätte verraten können, nichts
sehen konnte außer den Sternen.
Aber als der Morgen nahte, waren blutige Fetzen das Schicksal der
Braut,
Und alHadr wurde zerstört und geplündert, und die Germächer der
Frauen gingen zugrunde.14
Ganz zu Beginn der arabischen Kultur entwirft der Dichter von al-Hīra
eine Erinnerungslandschaft, deren Einzelheiten das universale Thema
des Nachsinnens über die Vergangenheit aufgreifen. Es handelt sich um
einen rückwärts wie vorwärts gerichteten Blick, der zugleich die Kürze
des menschlichen Lebens wie die Unzulänglichkeit der Erinnerung her
vorhebt. ῾Adī sucht seine Beispiele nicht in der Überlieferung des alten
14 ῾Adī Ibn Zayd bei Gabrieli 1948, S. 92–93.
S CH NA PP: E INE LA ND SCH A FT MIT BE K A N N T E N GE SI CH T E R N 547
Ägypten, Israels oder Persiens mit seinen denkwürdigen Erinnerungen,
sondern er konstruiert eine Erzählung zum Ruhm der Fürsten, denen er
gedient hat, sowie der Gelehrten, die im Königreich der Lahmiden seine
Tischgenossen waren. Der Dichter, der sich lange Zeit am persischen Hof
aufgehalten hatte, und der den Hof von Konstantinopel kannte, lässt sich
nicht von den Ereignissen und Taten der grossen Reiche beeindrucken,
sondern er hebt ganz im Gegenteil ihre Flüchtigkeit hervor. Seine Absicht
ist es, die Monumente in eine regionale Erinnerung einzubringen, die
dennoch für äussere Einflüsse offen bleibt: die Beschreibung des Falls
von alHadr ist ein vertrautes Thema der persischen und arabischen
Literatur. Die gewaltige und uneinnehmbare Festung wird dem König
Sāpūr von der Tochter des Königs Sātirūn von al-Hadr ausgeliefert, die
dem Charme des sassanidischen Herrschers erlegen ist. Das tragische
Schicksal der Verräterin, die später zur Geschichte der Prinzessin auf
der Erbse geworden ist, wird zu einem häufigen Thema der Märchen in
Orient und Okzident.15 In der griechischrömischen Überlieferung ist die
grossartige Festung Gegenstand zahlreicher Erwähnungen.16
Die Gedichte des ῾Adī Ibn Zayd nehmen also in der Tradition des Ubi
sunt zwischen Orient und Okzident eine Anfangsstellung ein, indem sie
der auf Arabisch verfassten Dichtung eine Art begründender Dimension
im komplexen Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit ver
leihen, die den Mittelpunkt jeder kulturellen Tradition bildet. Michele
Vallaro hat der transkulturellen Bedeutung des ubi sunt einen originellen
Aufsatz gewidmet. Er entdeckt in den Versen des Dichters von alHira
eine universelle Anregung, die man bei Dichtern der Renaissance wie
Jorge Manrique wiederfindet oder bei modernen Autoren wie Jorge Luis
Borges.17
Doch die beiden Gedichte des ῾Adī Ibn Zayd sind nicht nur eine
metaphysische Überlegung zur Kürze des menschlichen Lebens, sondern
sie sind auch ein Zeugnis einer Empfänglichkeit für die Einzigartigkeit
der Monumente und ihre Existenz in der dichterischen Landschaft. Im
ersten Gedicht sind die Festungen von alHadr und alHawarnaq aus
drücklich erwähnt, auch wenn sie nicht wirklich beschrieben werden.
Ihr Schatten drängt sich jedoch dem Gründer und König alNu῾mān auf,
der sich einem vielleicht noch schlimmeren Schicksal unterwirft, weil
dieses nicht mit einer militärischen Niederlage endet, sondern mit der
15 Christensen 1936, 241–250.
16 Hauser 1998, 493–503.
17 Vallaro 2010, 65–74.
548
Annahme seines Geschicks und seiner Selbstaufgabe. Das zweite Gedicht
räumt dem Ort Sanaa und der Erschütterung des Kampfes breiteren
Raum ein: die Reiche sind einem grausamen Schicksal unterworfen und
selbst die grossartigste aller Festungen wie alHadr kann dem Verrat
nicht standhalten.
Wenn man die Gedichte des ῾Adī Ibn Zayd jedoch mit der Ruine
in Thüringen des fast zeitgenössischen Venantius Fortunatus (um 540–
600/610) vergleicht,18 erkennt man, wie bescheiden die Beschreibung
der Monumente in der Komposition des arabischen Dichters bleibt.
Venantius richtet sich an ein Publikum, das konkrete Erfahrungen mit
Ruinen und der Struktur zerstörter Monumente gemacht hat. Im Westen
besteht zur selben Zeit eine Vertrautheit mit den Spuren der Römer und
der lateinischen Überlieferung, die den Diskurs über die Kontinuität
und die Zurückweisung einer Position des Entferntseins erleichtern, wie
Salvatore Settis unterstrichen hat.19 Selbst die Dichtung der Verzweiflung,
die sich in der angelsächsische Tradition findet und bei der es um die
Ruine und den Umherirrenden Wanderer geht,20 räumt den Spuren der Mo
numente und ihrer Materialität breiteren Raum ein als der Dichter von
al-Hīra. Die Stärke des ῾Adī Ibn Zayd liegt darin, dass er eine Tradition
begründet hat und die Vergangenheit Arabiens und Persiens in einer
gemeinsamen Erinnerungslandschaft verankert hat. Alle Königreiche
sind zerbrechlich, alle Grossreiche können zusammenbrechen, aber
die Kraft des Dichters richtet sich darauf, eine nahe Vergangenheit an
bestimmte Orte und Personen zu binden. Er verankert sein Gedicht in
einem identifizierbaren Raum. Der Horizont beschränkt sich natürlich
auf die Parther und die Sassaniden, denn der Dichter verfügt nicht über
die Mittel, bis auf die mesopotamischen Reiche und die Ägypter zu
rückzugehen, und er kümmert sich auch kaum um die Römer, die über
den Gegner Byzanz ins Blickfeld rückten. Das Thema des ubi sunt behält
seine universelle Dimension, auch wenn es in den Augen der Leser eine
Landschaft mit bekannten Gesichtern ist. Die Ruinen des ῾Adī stehen
im Zeichen einer wohlgeordneten Distanz: diese Festungen, Schlösser
und Städte weisen nicht auf sehr weit zurückliegende Zeiten und Kul
turen zurück, der letzte Zerstörungshorizont ist noch gegenwärtig und
manchmal steigt noch Brandgeruch auf. Das erübrigt es, noch weiter in
der Zeit zurückzugehen.
18 Venantius Fortunatus, De excidio Thuringae, MG H, Auct.ant 4,1, 271.
19 Settis 1986.
20 S. den umherirrenden Wanderer in Vers 74–87 bei Liuzza 2003, 11–13.
S CH NA PP: E INE LA ND SCH A FT MIT BE K A N N T E N GE SI CH T E R N 549
Sāpūr und Chosroës sind Figuren, die alle kennen und die sich nicht
auf eine unendlich kontinuierliche Vergangenheit berufen. Am anderen
Ende der Welt bezeugt die Von Gras überwucherte Stadt Bao Zhaos21 im
China des 5. Jh.s n. Chr. eine ganz andere Vision der Vergangenheit. Die
sehr lange Beschreibung des chinesischen Dichters belegt eine absolute
Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit, und er beschreibt
mit einer fast anatomischen Genauigkeit den Prozess der Zerstörung und
Auflösung der Stadt. Sie kehrt zu ihrer ursprünglichen und natürlichen
Gestalt zurück, wird zum Wohnort der wilden Tiere und der wuchernden
Gräser. Paradox ist dabei, dass die so sorgfältig beschriebene Stadt nicht
mit Namen genannt wird: sie ist eine Art von Idealtyp der Erinnerung
an einen magischen Ort. Das Gedicht ist infolge eines Zusammentreffens
entstanden, eines Dialogs zwischen den Ruinen und dem Dichter, der
das Wort ergreift, um die Trauerarbeit zu vollenden. Nichts von alledem
existiert in den vorislamischen qasā῾id, die Ruinen bleiben stumm. Sie
zeugen von einer anderen Art der Poetik vor dem Hintergrund des ubi sunt
und der Verlassenheit, in einer distanzierteren und mehr allegorischen
Weise, wie der Schrei der Eule über den Trümmern von Sanaa, der statt
der Flötenmelodie erklingt …
Zwischen Orient und Okzident trägt das kleine Königreich der
Lahmiden dennoch dazu bei, die ersten Beispiele einer arabischen Poesie
der Ruinen und der Vergangenheit zu begründen. Als Mittler zwischen
der arabischen und der persischen Welt ist ῾Adī Ibn Zayd auch Mittler
zwischen Stadt und Wüste. Der Gelehrte und erfahrene Politiker ist ein
Mann der Städte, der sowohl das Arabische wie das Persische beherrscht,
was zu dieser Zeit noch ziemlich selten vorkommt; seine Biographen
erinnern uns daran, dass er auch ein Wüstensohn und fähiger Jäger und
Wanderer war.22 Das Wenige, was von seinem Werk erhalten ist, belegt
seine Solidarität mit den Traditionen und Gewohnheiten der Dichter der
Wüste, die seine Zeigenossen oder Nachfolger sind. Sein Werk leitet eine
Sicht der Ruinen und der Vergangenheit ein, die sich deutlich von der
Tradition des Alten Orient und der Klassischen Welt unterscheidet. Er
begründet eine Metaphysik der Ruinen von bisher nicht gekannter Art.
Wir besitzen kein Porträt von ῾Adī Ibn Zayd, und doch ist er uns durch
seine Dichtung vertraut. Indem er die Triebfeder der fortdauernden Er
innerung an die Vergangenheit bei den Menschen verortet, überantwortet
21 Owen 1986, 60–61.
22 Hainthaler 1995, 161.
550
er, wie vor ihm Lukan, dem Dichter die Rolle des Wächters über diese
Erinnerung. Die Worte sind beständiger als die massivsten Steine, und
sie sind das getreueste Abbild, um die Spuren großer Männer auf ewig
zu bewahren.
(Übersetzung aus dem Französischen von Andreas Wittenburg)
LITERATUR VERZEICH N IS
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MARIAN H. FELDM AN
BY THE WATERS OF COLOGNE:
CITIES AND IDENTITY, PAST AND PRESENT
Human landscapes provide the broad physical framework
that shaped communal experience; disturbance or dispossession would strike at memories invested in the places to
which people became attached, in the places where they
dwelled, worked, and worshipped. (Alcock 2002, 31)
People’s bodies occupy spaces.1 Yet they do more than simply displace
empty space with the mass of their corporality. They experience, perceive,
absorb, react to, and incorporate spatialities. It is for this reason that so
much scholarship on identity and memory, especially collective or social
memory, has turned to studying landscape, places, sites and monuments.2
Cities in particular hold a special place in this scholarly imagination.3
Dwelling in an urban landscape completely infuses the human body,
becoming an integral component in one’s individual and, as one moves
through shared spaces, group identities. Through a multisensorial
1 My sincere thanks to Dietrich Boschung for his generous invitation to be
a fellow at Morphomata in summer 2013, and to Thierry Greub and Martin
Roussel for all their assistance while I was in Cologne and for their invitation to
contribute to this volume. I am not an historian of twentiethcentury Germany,
nor an architectural historian of Cologne; I apologize in advance for any errors
I might make in these spheres of knowledge. My thanks to Thierry for suggest
ing the title of this article, which links Cologne to Babylon, and captures the
sense of the integral role that the physical destruction of a place has in shaping
identity, so eloquently expressed in Psalm 137.
2 For the ancient Mediterranean and Near Eastern world, two examples suffice,
though many more could be cited: Alcock 2002 and Harmanşah 2013.
3 Lumsden 2004; Harmanşah 2013.
554
engagement with the urban matrix, the body both consciously and, more
often, unconsciously processes its surroundings. What happens, then,
when this spatial matrix is disturbed, disrupted, inherently changed? As
scholars working within a longue durée of archaeological time, we tend to
focus on moments of destruction, as these are what survive best in the
archaeological record. But we rarely consider the impact such disruptions
must have had on ancient identities, beyond fairly emotionless statements
about the arrival of static and inorganic new populations, invaders, or
conquerors. However, there are moments in our own lived experiences
that open our eyes (and intellectual curiosity) to more personal states of
being in the past. For me, such a “moment” (it spanned several months
and took many more beyond for me to process it as such) occurred in
the context of my fellowship residency at the University of Cologne that
I held during summer term of 2013, when Dietrich Boschung graciously
hosted me at Morphomata. Although I have lived and spent time in many
different cities in the United States, Europe, and the Middle East, Cologne
presented me with something entirely new and viscerally different. This
may seem like an odd statement to make for a wellseasoned traveller;
Cologne would appear to be a bustling, but benign, modern, European city.
C OLOGNE
With the exception of the great cathedral (Kölner Dom, begun in 1248),
albeit an extremely impressive exception, most of Cologne’s downtown
area dates to a few short decades following the Second World War. This
situation is the result of urban destruction of an almost total extent as
the target of Allied bombing during the war. The city was one of the most
heavily bombed in Germany and included “Operation Millennium” on
May 30/31, 1942, when over one thousand British Royal Air Force bombers
attacked the city for around 75 minutes.4 By the time the war was over,
around 95% of the city center (Altstadt) was destroyed, including twelve
Romanesque churches.5 The Kölnische Zeitung, upon resuming publication
4 Fuchs 1991, 243–244; the socalled Thousand Bomber raid alone killed 469,
injured 5027, and made more than 45,000 residents homeless; 12,840 of the
city’s 68,582 houses were damaged and 3300 completely destroyed.
5 During WWII, Cologne experienced 269 bombing raids (Fuchs 1991, 250).
The cathedral suffered 14 direct hits, and though badly damaged, remained
mostly standing.
FE LD MA N: CIT IE S A ND ID E N T I T Y, PA ST A N D P R E SE N T 555
1 The Kölner Dom (Cologne Cathedral) stands seemingly undamaged
(although having been directly hit several times and damaged severely) while
the entire area surrounding it is completely devastated. The Hauptbahnhof
(Cologne Central Station) and Hohenzollern Bridge lie damaged to the north
and east of the cathedral. Germany, 24 April 1945
three days after the Thousand Bomber raid wrote, “Those who survived
were fully aware that they had bade farewell to their Cologne, because
the damage is enormous and because the integral part of the character,
and even the traditions, of the city is gone for ever.” 6 The loss of the
Altstadt was the loss of nearly 2000 years of building and rebuilding, of
imbricated structures and memories, that had shaped Cologne and its
inhabitants (Fig. 1).
Immediately following the war, a master plan for reconstructing the
city was developed under the guidance of the architect Rudolf Schwarz
who served as city planner from 1946 to 1952.7 While the twelve Roman
esque churches were restored according to their original appearance, the
last one – St. Kunibert – not finished until the 1990s, much of the city
6 Cited in Barker 1965: 232.
7 Pehnt 2011, 38–63; Fuchs 1991, 277.
556
center was rebuilt in a midtwentiethcentury modernist manner.8 This
is an architectural style that embraces function over form, trumpets the
pragmatic use of materials such as concrete, and eschews all but the most
simplified decorations in its explicit rejection of tradition and history.
In the urgent haste to rebuild, the prescriptions of Modernism that
had been suppressed by the Nazi and Fascist regimes began to seem
reasonable. Bombs had done in more than people and buildings; an
entire social order had been shattered. In Europe especially, redemp
tion and reconstruction were in the air, along with a new hope to
build the cities right this time around. The belief reigned that a brave
new world must be designed without sentiment, without a single
look backward … Modernism – history denying, fanatically against
memory, and intolerant of traditional institutions and monumental
ity – was the perfect vehicle for the postbellum design of Europe.9
Thus, today, little remains of the two thousand years of continuous habi
tation and building that created the city of Cologne as it existed prior to
World War II.10 Moreover, the newly built city appears even more starkly
“new” in relation to the few recreated “old” buildings, which nonethe
less also reveal the newness of their construction. The amazing (many
say miraculous) survival of the Kölner Dom only serves to heighten the
disjuncture with the surrounding space – the modernist Hauptbahnhof
(Köln Central Station) and Römisch-Germanisches Museum, and the con
crete pedestrian terraces cossetting the Dom (Fig. 2).11
Walking around the pedestrian shopping area downtown, I was not
so much consciously struck by but rather unconsciously responsive to
the heaviness and coldness occasioned by the sameness of the modernist
architecture. It was on a short side trip to Florence and Lucca, Italy, that
I was able to articulate to myself what exactly I found unnerving about
8 Part of the City Hall (Rathaus) with its fifteenth-century tower was reconstructed
to its original appearance, as were some of the houses in the Old City along the
Rhine. Ruined parts of some other important older buildings were incorporated into
their new forms when possible, such as the Gürzenich (Diefendorf 2008, 55–58).
9 Kostof 1995, 721.
10 However, paradoxically, the bombing and destruction of the Old City revealed
ancient ruins that would otherwise have remained invisible below the ground.
11 The Hauptbahnhof opened in 1957, the Römisch-Germanisches Museum in
1962, and the terraces in 1970 (Fuchs 1991, 295, 327, 306).
FE LD MA N: C IT IE S A ND ID E N T I T Y, PA ST A N D P R E SE N T 557
2 Römisch-Germanisches Museum, Domplatte/Roncalliplatz, Cologne,
1967–74. Architect: Heinz Röcke. © Raimond Spekking / CC BYSA 4.0
(via Wikimedia Commons)
these streets of Cologne. Walking through the millennia of urban accre
tion that these Italian cities had accumulated gave me a profound sense
of connection and sensory comfort (despite having no greater familiarity
with them than I did with Cologne). I began to take cognizance of how I
responded in stimulated and engaged ways to the many different textures,
shapes, colors, and spatial irregularities that are the physical memory of
each city’s history. And it made me reflect on how traumatized the return
ing citizens of Cologne must have been upon their resumed inhabitation
of their city at the end of the Second World War.12
THE ANC IEN T N EAR EAST
It is these seemingly rather gloomy thoughts that have since made me think
about the urban matrix of ancient cities as dense constructions of sensory
affect and memory. When disrupted by massive conflagrations or other ex
tensive destructions, how (if at all) did rebuilding take place, and with what
12 The city was mostly evacuated during the bombings. With a population of
770,000 before the war, reportedly only 40,000 remained in the city by the end,
while around 400,000 returned to rebuild (Diefendorf 2008, 49). For photo
graphs of Kölner residents at the end of the war, see Fuchs 1991, 250–251.
558
effect (whether intentional or not)? And how were communities impacted
when entirely new cities were created? In the following brief musings, I con
sider these questions in light of two ancient cities of the ancient Near East.
Tell sites characterize the landscape of the ancient Near East. These
are mounds, sometimes enormous in breadth and height, created over
millennia by building and rebuilding on the foundations of earlier build
ings. They are usually conceptualized as “layer cakes” of stratified levels of
occupation, each level representing a distinct period in the tell’s history.
But more often these tells have been formed by complex, overlapping
histories of construction in which some buildings are replaced, while
others renovated, or new ones constructed in empty spaces – what Ruth
Tringham has characterized as “partial vertical superimposition.” 13 Over
the normal course of a tell’s existence, most stratification derives from
irregular building activity in spotty locations across the site. Tringham
provocatively notes that the builders of later structures at the Neolithic
site of Opovo in the former Yugoslavia “were probably well aware of the
remains of earlier buildings” and cites evidence for “direct observation,
partial knowledge, and hazy memory of old houses on the place where a
new house was built.” 14 Such experiences make up the very fabric of social
and collective memory. It is only the exceptional event that destroys a site
across its entire extent or occasions an extensive rebuilding program – an
event similar to the bombing of Cologne in World War II. Such devasta
tions have been proposed frequently for Near Eastern cities, although
it should be noted that almost no major ancient Near Eastern city has
been excavated in its entirety, nor have large residential areas tended to
be the focus of excavation, and thus we can rarely demonstrate city-wide
destructions. Nonetheless, the archaeology of the Near East is punctu
ated by major destructions and rebuildings. Yet rarely do we consider
the effect of such destructions and rebuildings on the urban inhabitants.
BABYLON
In 689 BCE, the Assyrian king Sennacherib (704–681 BCE) claims to
have besieged the ancient and venerable city of Babylon. In his celebra
tory inscriptions, Sennacherib boasts that he destroyed, devastated and
13 Tringham 2000, 123.
14 Ibid.
FE LD MA N: CIT IE S A ND ID E N T I T Y, PA ST A N D P R E SE N T 559
burned the city, razed the major temples and buildings, and flooded the
entirety in order to make “its destruction surpass that of the Deluge. So
that in the future, the site of that city and (its) temples will be unrecog
nizable, I dissolved it (Babylon) in water and annihilated (it), (making
it) like a meadow.” 15 While there is surely exaggeration and hyperbole in
Sennacherib’s boasting, archaeologists identified a “flood level” 16 that has
been seen as confirmation of the event, and Babylon witnessed extensive
rebuilding over the course of the next 100 years, in particular under the
reign of King Nebuchadnezzar II, who ruled in Babylon from 604 to
562 BCE. It is from this period that archaeology has recovered the most
evidence from the ancient site, supported by a large textual corpus.
As part of the reconstruction, the major temples were rebuilt, several
palaces including a massive primary one were constructed, and at least one
– the principal one – of the city’s famed gates with its double walls were
erected anew.17 The most spectacular of these, recovered by the German
archaeologist Robert Koldewey in his excavations at Babylon from 1899
to 1917, were the stepped ziggurat temple tower (generally considered the
inspiration for the biblical account of the tower of Babel in Genesis), the
Southern Palace, and the Ishtar Gate and Processional Way. Very few
residential areas were excavated, although one quarter known by its mod
ern name Merkes contained residential buildings and was excavated in
select loci down to Old Babylonian levels nearly 1000 years older (c. 1800
BCE). However, it is worth remembering that less than two percent of the
800-hectare city of the sixth century BCE has been excavated.18
With respect to Babylon, in contrast to the modernist rethinking of
Cologne, after Sennacherib’s siege the city rebuilt mainly along traditional
lines.19 That is, not only were the major buildings rebuilt in their previous
location, they followed architectural traditions established over hundreds
of years in southern Mesopotamia. This is best evident in the residential
Merkes quarter where courtyard-style houses of approximately the same
15 Grayson/Novotny 2014, 316–317.
16 AndréSalvini 2008, 133.
17 The literature on the archaeological site of Babylon is enormous. For recent
overviews with bibliography, see AndréSalvini 2008; Finkel/Seymour 2008;
Staatliche Museen zu Berlin 2008; CancikKirschbaum et al. 2011.
18 Pedersén 2011, 11.
19 The written rhetoric regarding construction in the city from this period, of
which there is an enormous amount surviving, emphasizes the long history of
the city even amid boasting about new buildings (Van de Mieroop 2003, 260).
560
size, orientation and layout follow the same streets as in earlier times.20
Nonetheless, the rebuilding of the major buildings assumed greater
monumentality in scale, which certainly would have affected structures in
their immediate surrounds, as well as the general feel of the urbanscape as
a whole. This phenomenon can be seen even over the course of the reign
of Nebuchednezzar II.21 Most notably, the area of the Ishtar Gate and the
main palace areas (the Southern and Northern Palaces) were enlarged,
elaborated, and literally raised higher (Figs. 3 and 4). From the beginning
to the end of Nebuchadnezzar’s 43year reign, the Processional Way that
led out of the Ishtar Gate became enclosed by high walls on either side,
extending 180 meters to the north.22 These walls were then decorated
with a line of striding lions constructed out of glazed relief bricks. The
Ishtar Gate itself was raised 15 to 20 meters above its level at the begin
ning of Nebuchadnezzar’s reign and also decorated with glazed relief
bricks that created images of striding bulls and snakedragon creatures
(the mushhushu dragon of the god Marduk). Such drastic changes to the
urban landscape must have made a sizeable impact on the inhabitants
of the city. The aspect of monumentality especially would have reshaped
the way residents experienced the spaces of their city as they readjusted
to taller walls, higher vantage points, and more looming structures.
DUR S HARRUK IN ( K H O R SAB AD )
But what of an entirely new city such as the founding of Dur Sharrukin
(“Fortress of Sargon”) at Khorsabad in northern Iraq, built de novo by
the Assyrian king Sargon II after he usurped power in 721 BCE. While
a previous Assyrian ruler, Ashurnasirpal II, had also moved the capital
from its traditional location at Ashur to a new one at Nimrud, Nimrud
had previously been a long occupied settlement. Sargon, in contrast, con
structed his city in a location that had almost no prior settled history,23
on a rolling plain in the foothills of the Zagros Mountains. Construction
20 Reuther 1926, pls. 2, 8, 11, 13, 15.
21 Pedersén 2011.
22 For the different phases of rebuilding during Nebuchadnezzar’s reign, see
Pedersén 2011.
23 A preexisting settlement known as Maganuba is thought to have been nearby,
or even under, Dur Sharrukin, although no archaeological evidence for it has
been discovered (McMahon 2013, 164).
FE LD MA N: CIT IE S A ND ID E N T I T Y, PA ST A N D P R E SE N T 561
3 Babylon, center. View from the north, first step of constructions of
Nebuchadnezzar II; Palace and Ishtar Gate still of mud brick
4 Babylon, center. View from the north, last step of constructions of
Nebuchadnezzar II; Expansion of palace area
562
5 Plan of Dur Sharrukin (Khorsabad) after the Oriental Institute excavations
on the new city began in 717 BCE, and it was inaugurated in 706 BCE,
only one year before Sargon was killed in battle and his son and succes
sor Sennacherib abandoned Dur Sharrukin. Thus, Dur Sharrukin offers
an interesting perspective for our purposes since it was both a newly
built cityscape, and due to its quick abandonment, this newly built phase
remains archaeologically well preserved.24
24 It may have continued in use as a minor administrative center through the
seventh century (McMahon 2013, 166).
FE LD MA N: CIT IE S A ND ID E N T I T Y, PA ST A N D P R E SE N T 563
6 Dur Sharrukin (Khorsabad), reconstruction of Nabu Temple with view of
lower city
Augusta McMahon has recently considered this ancient city from the
perspective of “groundlevel phenomenological analysis of movement,” 25
taking into consideration different fields of view, the interplay of light
and shadow, and the effect of sound. While McMahon focuses on the
ideological implications of the building program at Dur Sharrukin, she
notes at one point: “The paradox of vast, enclosed, yet unbuilt space could
potentially have been an unsettling reminder of the unique nature of the
city” 26 (Figs. 5 and 6). It is not clear whether the shortlived city ever
had a large population of permanent residents dwelling within its walls,
apart from the large numbers of workers who would have been needed
to actually build the city, although there is slight evidence for occupation
in the elite structures.27 Nonetheless, that the intention was for the city to
be inhabited and to serve as the new capital is clear. Nineteenthcentury
excavation of a small mound in the center of the city revealed five rooms
that the later Oriental Institute excavators compared to “residences” found
on the citadel (G on the city plan, here, fig. 5).28 The Oriental Institute
25
26
27
28
Ibid., 163.
Ibid., 165.
Ibid., 165, 167.
Loud/Altman 1938, 75.
564
itself partially excavated one such building about 150 meters outside of
citadel gate B and notes in its report that soundings made throughout
the city indicate that it was densely built up (Loud/Altman 1938: 75).
However, they also claim that because practically no portable materials
were found, they decided not to concentrate excavations in areas in the
lower town. In addition to the archaeological evidence, Sargon’s texts also
mention his resettlement of deportees to Dur Shurrukin.29
We might then push further on McMahon’s work to consider the
ways memory, tradition, and community might have been disrupted for
the new inhabitants. If some part of them were deportees from conquered
areas of the Assyrian Empire, the newness, sameness, and lack of material
history may have operated in conjunction with the geographical disloca
tion effected by their deportation. Yet even for Assyrians moving from
Nimrud, a rupture would have been acutely felt. While there are certain
planning elements of Dur Sharrukin that echo those of Nimrud (a major
raised citadel, a minor raised citadel, both set within the perimeter of
the city wall enclosing a vast lower town), the newly regularized straight
lines seen at Dur Sharrukin suggest a kind of “modernist” approach to the
architectural matrix, all of which had to be conceived and designed within
a single moment.30 One could therefore speculate about the effect that vast,
regulated, newly built spaces might have had on the newly transplanted
residents of Dur Sharrukin. If the residents were moving from the prior
capital Nimrud (either in reality or in unfulfilled plans terminated by the
abandonment of the city), they would have been used to, comfortable in, a
more varied and textured urban topography.31 An abrupt dislocation from
29 Parpola 1995, 54–55; McMahon 2013, 164–165, n. 13.
30 The ongoing debate between “organic” vs. “planned” cities in the ancient
Near East (for brief review of the literature see, McMahon 2013, 167) seems to
me to miss the point. The two are usually set in opposition to one another, with
“planned” cities being accorded a higher “cultural value” than “organic” cities.
However, as McMahon (ibid.) notes, most cities in fact include both planned
and organic growth, which contributes directly to the generation of sensory
elements underlying social memories and communal identity.
31 Although also at Nimrud we know little about the architectural space of the
vast, 360 hectare lower town where most people would have lived and spent the
majority of their time (see, Oates/Oates 2001). Certainly on the citadel where
the royal palaces and official temples were located, which was built on top of
the old settlement tell at a height of 15 meters above the plain, steep grades
and blocked or partial views of monumental buildings packed into the irregular
edges would have defined the human experience.
FE LD MA N: C IT IE S A ND ID E N T I T Y, PA ST A N D P R E SE N T 565
Nimrud to Dur Sharrukin would have been accompanied by a potentially
similar sensation of sameness that I encountered in the modernist spaces
of Cologne. While the architectural structures of Dur Sharrukin would
most likely have been built along traditional lines, as were the palaces
and temples excavated there, probably they were sparsely situated and
perhaps arranged orthogonally as suggested by the rectilinear outline of
the city walls. At the very least, the very act of moving to an entirely new
and unfinished city would have produced sensations of unfamiliarity and
disorientation that may have been extremely unsettling to any sense of
community and identity.
C ONC LUS IO N
The situation at Dur Sharrukin is particularly dramatic since the city
was abandoned less than fifteen years after its de novo founding and
only a couple years after the official inauguration in 706 BCE when the
royal court resettled there from Nimrud. Had it continued to be a major
urban settlement,32 it would over time have acquired that texturing and
layering of experiences that constitute history. Of course, these textures
require the accretions of lived and shared lives, that is, of people. People
are, ultimately, the life of the city, filling new spaces with their activities,
generating new memories. Such is already visible in Cologne, now nearly
seventy years after its almost complete destruction by bombing. Busy,
active spaces dotted with outdoor tables fill the main shopping street;
newer buildings in a variety of “postmodern” (that is, postmodern and
post-postmodern) architectural styles intermix with modern rebuilding;
even the restored “older” architecture is acquiring its own “patina of
age.” The modern accretions, moreover, coexist with exposed Roman and
late Antique ruins (for example, the Roman Praetorium and the Jewish
Mikveh), whose remains now lie exposed in various places throughout the
Old City. These cyclical processes of rebuilding and renewal, along with
rediscovery and remembrance of earlier building, all of which nonetheless
move always onward through time, create the textures and matrices that
give a physical sense of history and memory, and that endow the city with
a special role in the constitution of community identity.
32 Secondary occupation is evident at the site (Loud and Altman 1938, 75), but it
never achieves prominence as a major urban settlement after its abandonment.
566
IMAGE C REDITS
1 Source: http://www.archives.gov/research/arc/ ARC Identifier: 531287;
U.S. Defense Visual Information Center photo HDSN9902996; U.S.
Department of Defense. Department of the Army. Office of the Chief Signal
Officer. Downloaded Oct. 20, 2015: https://commons.wikimedia.org/wiki/
File%3AKoeln_1945.jpg.
2 Downloaded Oct. 20, 2015: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:R%
C3%B6mischGermanisches_Museum_K%C3%B6ln_%28251416%29.jpg.
3 From Pedersén 2011: fig. 3; reproduced in accordance with the Code of
Best Practices in Fair Use for the Visual Arts (http://www.collegeart.org/
fairuse/bestpractices).
4 From Pedersén 2011: fig. 6; reproduced in accordance with the Code of
Best Practices in Fair Use for the Visual Arts (http://www.collegeart.org/
fairuse/bestpractices).
5 Loud and Altman 1938: pl. 69. Courtesy of the Oriental Institute of the
University of Chicago.
6 Loud and Altman 1938: pl. 2. Courtesy of the Oriental Institute of the
University of Chicago.
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1 Vitaly Komar / Aleksandr Melamid:
I Saw Stalin Once When I Was a Child (1981/82),
Gemälde, 183 × 138 cm, The Museum of
Modern Art, New York1
1 Zit. nach Fiedl/Rauchenbacher/Wolf 2011, 295.
WOLFGANG BEILE NH O F F
STALINS HERRSCHERBILDNIS
I. POLITIS CH E IK O NO G R AP H IEA1
Es ist Nacht. Wir sehen das erleuchtete Rückfenster eines großräumi
gen Dienstwagens. Das Fenster öffnet die Sicht auf eine Person, einen
freundlichen älteren Herrn. Die Gardine zur Seite schiebend, richtet er
den Blick auf uns (Abb. 1). »Es ist das Bild eines Mannes, der die Hoff
nungen unseres Jahrhunderts prägte […].« Es ist, so Christoph Hein 1989,
»ein Bild meiner Zeit, meines Jahrhunderts«. Ungeachtet der warmen
Farben ist es jedoch, wie Hein gleichzeitig betont, kein Genrebild, kein
Porträt: »Etwas verwirrt uns an diesem Bild. […] Die Freundlichkeit des
Bildes kollidiert mit dem Schrecken, der in uns gespeichert ist«. Indem
das Gemälde eine derartige »Kollision von Bild und […] geschichtlichem
Wissen« in Szene setzt, evoziert es zugleich die »sehr verschiedenen
Stalinbilder in unseren so sehr verschiedenen Köpfen. […] Und langsam
begreifen [wir], dass wir alle einst Stalin so gesehen haben. […] stets sahen
wir nur dieses freundliche Gesicht«.2
Das Gemälde stammt aus dem Jahre 1981. Seine Schöpfer, Vitalij
Komar und Alexander Melamid, waren Exponenten der Soz-Art, einer
postsowjetischen Kunstformation, deren Ziel es war, Bildsymbole und
Icons des sozialistischen Realismus als VorBilder aufzugreifen, um
sie ihrer kanonischen Darstellung zu entreißen und als Ideologeme des
Sozrealismus zu exponieren.3 Sujet dieses Gemäldes ist daher auch nicht
der Mensch Stalin, sondern eine der zahlreichen HerrscherImagines,
hier: die von Hein angesprochene Imago »großväterlicher Güte«.
2 Hein 1990, 139 und passim.
3 Zum Status von Bildern als VorBilder vgl. Macho 2011.
570
Das Gemälde ist somit, wie sich jetzt erweist, ein Metabild. Ein Bild,
das »benutzt wird, um über das Wesen von Bildern zu reflektieren«.4 Im
vorliegenden Fall eine Reflexion über jene medialen Herrscherbildnisse,
die die historische Person Stalin im Laufe der Zeit erfahren hatte. Es
ist, um dies noch einmal zu unterstreichen, ein Gemälde, das nicht nur
ein »Grundmuster der öffentlichen Repräsentation Stalins«, sondern
gleichzeitig, wie Sartorti betont, auch das »Geheimnis seiner Sichtbarkeit
und gleichzeitigen Unsichtbarkeit [verdichtet]«.5 Unsichtbar war Stalin,
sieht man von seinen seltenen öffentlichen Auftritten ab, weitgehend als
reale Person; sichtbar und hörbar hingegen war und wurde er über eine
Vielzahl medialer Herrscherbildnisse. Über Denkmäler, Plakate, Biogra
phien, Panegyrika, Gemälde, Briefmarken oder Fotographien und Filme.
Besonderes Gewicht kam dabei Letzterem zu. Medium der Projektion,
ermöglichte der Film, stalinsche Doppelgänger auftreten zu lassen in
Gestalt von Schauspielern, die Stalin selbst als idealisierte Verkörperung
seiner Person empfand und definierte.6
Damit ist das Gemälde von Komar und Melamid zugleich auch ein
Bild, das, wie Hein abschließend betont, den Betrachter zu eigener Bild
arbeit auffordert: »Wir werden von den Malern genötigt, an diesem Bild
weiterzuarbeiten, an dem Bild Stalins, an dem Bild des uns aus einer
beeindruckenden Staatskarosse freundlich zulächelnden Staatsführers,
an dem Bild von unserem Jahrhundert«. Ein Weiterarbeiten, das darin
bestehen könnte, den Herrscherbildnissen Stalins, die das Gemälde in der
Vorstellung und Erinnerung des Betrachters evoziert, nachzugehen. So in
exemplarischer Weise anhand von Padenie Berlina (Der Fall von Berlin),
einer filmischen Epopöe, die zentrale Topoi des stalinschen Herrscher
bildnisses inszeniert und performiert.
II. DOKUME NT UN D FIK T IO N
Der Fall von Berlin, 1949 unter der Regie des Georgiers Michail Tschiaureli
gedreht, musikalisch unterlegt von Schostakowitsch unter Verwendung
von Motiven seiner 7. Symphonie, besteht aus zwei Teilen, die jeweils
80 Minuten umfassen. Es ist ein Parcours durch die sowjetische Ge
schichte der 1930er/1940er Jahre mit Fokussierung auf den, wie der Titel
4 Mitchell 2009, 325.
5 Sartorti 2007, 172.
6 Vgl. hierzu die systematische Untersuchung von Hüllbusch 2001.
B E ILE NH O FF: STA L I N S H E R R SCH E R B I L D N I S 571
signalisiert, Zweiten Weltkrieg. Als Epizentrum figuriert dabei Stalin, der,
gespielt von dem georgischen Schauspieler Micheil Gelowani, ein Rol
lenspektrum performiert, das ihn gleichermaßen als Lenker und Lehrer,
Gärtner und Stratege, Person und Medium exponiert.
Als Subplot fungiert eine Liebesgeschichte zwischen Rollenfiguren
der damaligen sowjetischen Gesellschaft, zwischen Alexej, einem Stahl
kocher, Exponent des industriellen Sektors, und Natascha, einer Lehrerin,
Exponentin des kulturellen Sektors. Es ist der Subplot zweier Figuren,
die durch den, wie der Zweite Weltkrieg im russischen Kontext genannt
wird, Großen vaterländischen Krieg getrennt werden und sich am Ende des
Films auf einem imaginären Flugfeld wiederfinden. Eigentlicher Plot, do
minantes Narrativ, ist die historische Fakten mit historisierenden Fiktio
nen mischende und in der Eroberung Berlins kulminierende Geschichte
des Zweiten Weltkriegs. Es ist ein Narrativ, das sich als exemplarische
Realisierung des für das sowjetische Kino kennzeichnenden Genres eines
»artistic documentary« (Kenez) erweist, ein Diskurshybrid, das mittels
einer Mischung von Dokument und Fiktion die zeitgenössische sowje
tische Geschichte entwirft und den Zuschauer als medialen Zeitzeugen
positioniert: »The viewer was supposed to see history unfolding in front
of his eyes.« 7
II.1 S TAL IN AL S AD R ESSAT
Der Arbeiter Alexej Iwanow hat vor kurzem einen Weltrekord im Stahl
kochen aufgestellt. Als Repräsentantin der Intelligenz hält Natascha im
Rahmen eines Festakts die obligatorische Laudatio. Hinter ihr, an der
Wand, sehen wir ein großformatiges Porträt Stalins (Abb. 2a und 2b). Die
Rede selbst, einige Male unterbrochen durch Einstellungen auf das Pu
blikum, besteht aus Topoi des etablierten Stalindiskurses. Sie fragt nicht
nur: »Wer hat uns geführt? Wer hat für uns all diese Möglichkeiten ent
deckt?«, sondern souffliert zugleich eine Leerstelle, die frei bleiben muss,
damit der Zuschauer sie füllen kann: »Ihr wisst, an wen ich dabei denke«.
Nach einer kurzen Pause, emotional aufgeladen, fährt Natascha fort:
»Was ich noch sagen wollte« – sie drückt das Redemanuskript an ihre
Brust – »für mich wäre es das größte Glück« – Pause – »ihn zu sehen und
ihm zu sagen« – mit einer plötzlichen Körperdrehung wendet sie sich dem
Gemälde zu, adressiert es mit dem Satzfragment »dass ich … .«, nimmt
sogleich die ursprüngliche, an das Publikum gerichtete Position wieder
7 Kenez 2001, 207.
572
ein, verharrt, nachdenklich, für einen Augenblick und fährt dann fort
mit dem Geständnis – »doch da dies nicht möglich ist, sage ich einfach«
– nun wieder hochgradig emotionalisiert, geradezu rufend – »Es lebe
Stalin« – mit dem Rücken zur Kamera, ans Publikum gewendet – »der
uns geboren hat in dieses große und glückliche Leben«. Es folgt der für
solche panegyrischen Katarakte obligatorische, ins nahezu Hysterische
überspringende anhaltende Applaus. Abb.2a/2b
2a/b Der Fall von Berlin: Stalin als Adressat
Die Szene, der erste visuelle ›Auftritt‹ Stalins, zeigt eine über Stimme
und Blick aufgeladene Inszenierung des Herrscherbildnisses Stalin.
Es ist ein klassisches Herrscherbildnis, das zudem aufgrund seiner
Dimensionierung die zentrale Funktion solcher Bildnisse, ihre Funk
tion als ›Stellvertreter‹, geradezu exponiert.8 Schweigend, ein wenig im
Hintergrund, figuriert das Gemälde zunächst als stumme Referenz der
Rede Nataschas, die, einsetzend mit der phonetisch und semantisch ope
rierenden Synonymisierung von »Stalin« und »stal« (Stahl), desgleichen
durch die Titulierung Stalins als »Führer« und »Gebärer«, sukzessive das
Porträt anreichert. Sind dies jedoch eher kanonische Sätze und Begriffe
des stalinistischen Diskurses, so signalisiert die plötzliche Drehbewegung
hin zu dem Bildnis eine unerwartete Wende. Vorausgegangen ist dieser
Drehbewegung ja der Wunschtraum, Stalin einmal in persona zu sehen.
Ein Wunsch, der unerfüllbar erscheint und daher durch den Blick auf das
Gemälde als ›Stellvertreter‹ sublimiert werden muss. Damit signalisiert
diese Drehbewegung zugleich ein politisches Votum. Wunscherfüllung
8 Warnke 2011, 482.
B E ILE NH O FF: STA L I N S H E R R SCH E R B I L D N I S 573
gibt es allein über die Betrachtung der Bilder. Es sind Bilder, die uns
adressieren und die, Symptom der Macht, uns dazu zwingen, sie zu
betrachten.
II.2 S TAL IN AL S G ÄR TN ER
Eine Baumkrone in vollem Grün. Dazu im Soundtrack schwebende
weibliche Gesangsstimmen und Vogelgezwitscher. Die Kamera setzt an
zu einer kontinuierlichen Abwärtsbewegung. Ein junger Baumstamm
erscheint senkrecht im Bild. Die Kamera schwenkt weiter, als verfolge sie
ein Ziel. Nach einem Schnitt sehen wir Stalin. Sein Blick ist nach oben,
ins Off, auf die weit gespannten, reichen Baumkronen gerichtet (Abb. 3a
und 3b). Gekleidet in Militärstiefel, Militärhose und eine blütenweiße
Jacke befindet er sich, wie die folgende Einstellung demonstriert, inmit
ten aufgereihter junger Bäume, offensichtlich an einem semantisch hoch
aufgeladenen Ort. Einem Paradiesgarten. Oder einer Baumschule. A3a/b
3a/b Der Fall von Berlin: Stalin als Gärtner
Ausgerüstet mit einer Harke, prüft Stalin eine Baumscheibe. Er bückt
sich, hebt etwas auf, offensichtlich Unkraut, und wirft es zur Seite. Es
ist der erste Auftritt des hier von dem Schauspieler Gelowani gespielten
filmischen Stalin. Ein Wächter, auch er paramilitärisch gekleidet, meldet
Stalin, der zu einer ›Audienz‹ geladene Rekord-Stahlarbeiter Alexej sei da.
Als er Stalin begrüßt, adressiert er ihn, Symptom emotionaler Erregung,
mit dem Namen von Stalins Vater als »Wisarion Iwanowitsch«. Worauf
Stalin, Exponent eines paternitären Diskurses, entgegnet: »Wisarion
Iwanowitsch hieß mein Vater. Mein Name ist Josef Wisarionowitsch«.
Das folgende kurze Gespräch dreht sich um Arbeit und Familiäres.
Alexej kommt auf seine Beziehung zu Natascha zu sprechen. Stalin
574
prognostiziert: »Sie wird dich lieben, und wenn nicht, dann gib mir Be
scheid«. Eingelöst wird diese Prognose am Ende des Films. Es ist Stalin,
der, als Fluchtpunkt des Blicks die Liebenden miteinander verschaltet
und zum Auslöser und Autor eines Happy End wird.
Das Herrscherbildnis, das sukzessive in dieser Sequenz entworfen
wird, operiert gleichermaßen ikonographisch, diskursiv und medial.
Unter einem ikonographischen Gesichtspunkt konstruiert der Film
ein Bildnis Stalins, das sich nicht nur durch dessen kommunikativen
Gestus, die jedes einzelne Wort betonende, ruhige Stimme auszeichnet,
sondern gleichermaßen durch die Kleidung, die in ihrer dualen Struktur
einer elementaren Semiotik gehorcht. Stiefel und Hose figurieren dabei
als Zeichen des Militärischen, die weiße Jacke hingegen als Zeichen des
Zivilen – und als optischer Marker.
Ikonographisch ausgewiesen als hybride Figur eines paramilitäri
schen Gärtners, ist Stalin zugleich auch Inkarnation einer Idee. Inkar
nation jener Funktion des Lenkers, Lehrers und Vaters, die Hobsbawm
als eine für die totalitären Systeme der 1930er/1940er Jahre zentrale
Funktion der Kunst bestimmt.9 Besonderes Gewicht kommt in diesem
Zusammenhang dem Set zu, dem Garten, in dem die Szene spielt. Gärten
sind keineswegs ein neutrales Territorium. In Gärten zeigen sich vielmehr
»gesellschaftliche Verhältnisse und Sehnsüchte«.10 Unter diesem Gesichts
punkt erweist sich der über den Schwenk und den nach oben gerichteten
Blick Stalins gewonnene Zusammenhang von ausgewachsenen und jun
gen Bäumen als Inszenierung jenes Diskurses des »Neuen Menschen«,
der, einsetzend in den 1920er Jahren, ein zentrales Mythem der sowjeti
schen Gesellschaft bildete.11 Die in diese Einstellung implantierten, noch
im Wachstum begriffenen jungen Bäume bedürfen allerdings der Pflege,
der, wie das folgende zeitgenössische Zitat propagandistisch unterstreicht,
Supervision Stalins: »J. W. Stalin […] häufelt liebevoll ein frisch gesetztes
Bäumchen ein. Und unwillkürlich drängt sich ein Vergleich auf. So lie
bevoll sich der Führer um das Bäumchen kümmert, so liebevoll zieht er
auch Menschen heran.« 12
9 Hobsbawm 1996, 12.
10 Hoiman 2011, 388.
11 Vgl. Baberowski 2012.
12 Vischnevskij, 1950. Zitat nach Hüllbusch 2001, 669.
B E ILE NH O FF: STA L I N S H E R R SCH E R B I L D N I S 575
II.3 S TAL IN ALS STAR
Es ist das Ende des Films. Die Rote Armee feiert den Fall von Berlin:
mit Kasatschok und einem Defilee kapitulierender deutscher Generale.
Ohne jede narrative Überleitung erscheint plötzlich am Himmel ein von
Kampfjägern flankiertes größeres Flugzeug. Geradezu telepathisch indu
ziert, richtet die feiernde Menge den Blick ins Off. Unter anhaltendem
Jubel macht sie sich auf den Weg und befindet sich – gegen jede Raum
logik – schon in der nächsten Einstellung auf einem leeren Flugfeld, auf
dem, Fluchtpunkt des kollektiven Blicks, das Flugzeug landet.
Gekleidet in die mit einer militärischen Auszeichnung besetzte weiße
Uniform eines Generalissimus erscheint Stalin, die Hand zum Gruß er
hoben, auf der mit einem roten Teppich ausgelegten Gangway. Er dankt
den Generälen für die »bemerkenswert durchgeführte Operation« und
adressiert die jubelnde Menge, in der neben der sowjetischen nun auch die
amerikanische, britische und französische Flagge zu sehen sind. Immer
wieder erstarrend ins Posenhafte, buchstabiert er die vertrauten Parolen
und entwirft eine von »Frieden und Glück« getragene Welt. A4a/b
4a/b Der Fall von Berlin: Stalin als Star
Auf der Ebene des Subplots kommt es zu einem Happy End. Natascha
und Alexej erkennen und finden einander in der Menge. Der folgende
Kuss erscheint aufgrund der Blickdramaturgie wie sanktioniert durch Sta
lin. In unmittelbarem Anschluss an diese private Liebesgeschichte wendet
sich Natascha Stalin zu. Sie dankt ihm »für alles, was Sie für unser Volk
getan haben«, eilt mit ausgebreiteten Armen zu ihm hin und küsst seine
ordenverzierte linke Brustseite. Über die Schulter hinweg sehen wir, wie
sie sich, geradezu hypnotisiert, nicht losreißen kann von dem Gesicht, das
576
sie vor sich hat. Der eingangs als unmöglich geäußerte Wunsch, Stalin
persönlich zu begegnen, ist auf hypertrophe Weise eingelöst.
Inszenierte die Gartensequenz ein Herrscherbildnis, das Stalin als
Erzieher und Pfleger entwarf, so erweist er sich in dieser Schlusssequenz
offenkundig als Star. Und als Star gehorcht auch er nun den Gesetzen des
Startums. Stardom ist, wie Richard Dyer verdeutlicht hat, keineswegs eine
Gegebenheit, sondern ein Konstrukt, ein Image, das in einer konstitutiven
Differenz zur jeweiligen vorfilmischen Person steht. Erst diese Differenz
gibt die Bühne frei für die Generierung jener übermenschlichen Qualität,
die den Star auszeichnet. Die vorfilmische Person Stalin ist ein Name.
Die filmische Figur ›Stalin‹ hingegen ist ein Bild, eine Folge von Bildern,
Tönen und Diskursen. Betrachtet man die Schlusssequenz unter diesem
Gesichtspunkt, so erweisen sich vor allem zwei Operationen als konsti
tutiv: die Herstellung von Sichtbarkeit und der Einsatz der Bildmagie.
Signifikant ist zunächst Stalins Auftritt. Anders, als dies der Film
behauptet, kam er nicht in einem Flugzeug, sondern in seinem persönli
chen Eisenbahnwaggon zur Potsdamer Konferenz. Durch diese histori
sche Falsifikation und die mit ihr verbundene Montage als eine geradezu
himmlische Erscheinung exponiert, betritt er die mit einem roten Teppich
ausgekleidete Bühne und dominiert in seiner blendend weißen Uniform
von Beginn an die Szene, indem er eine optische Schranke zwischen sich
und die in dunklen Farben gehaltene Menge setzt. Weiß ist bekanntlich
jene Farbe, die sich, im Unterschied zu den übrigen Farben, dadurch
auszeichnet, dass das Auge »mit starker Tätigkeit reagiert«.Eine Reaktion,
die im vorliegenden Fall dazu führt, dass die Menge reflexartig, geradezu
hypnotisiert, auf Stalins Erscheinen reagiert und unter anhaltendem Jubel
aus der Tiefe des Raumes auf ihn zu eilt.13 Unter diesem Gesichtspunkt
wäre Sichtbarkeit, jenseits aller narrativen Aufladung, die der Film bis
zu diesem Zeitpunkt angehäuft hat, jene Macht, die Handeln, Geschehen
auslöst, ohne dass man selbst handeln müsste. Eine Sichtbarkeit, die im
vorliegenden Fall sich als Theater der Macht erweist. Als ein öffentliches
Schauspiel mit zahllosen Zuschauern – und einem durch die Farbe Weiß
markierten Star namens ›Stalin‹.
Die Relevanz, die Stalins Startum als Medium der Bildmagie zu
kommt, zeigt sich geradezu paradigmatisch an der paradoxen Kussszene,
mit der der Film endet. Nataschas Wunsch, Stalin als Zeichen des Dankes
13 Zum Status des Jubels als »Imaginärem der Zeit des Terrors« vgl. Ryklin
2003, 52.
B E ILE NH O FF: STA L I N S H E R R SCH E R B I L D N I S 577
küssen zu dürfen, erfährt ja eine signifikant andere Einlösung. Der Kuss
gilt nicht, wie der Zuschauer erwarten könnte, Stalins Lippen und gleicht
somit auch nicht dem gerade gesehenen profanen Kuss zwischen Alexej
und Natascha. Es handelt sich vielmehr um einen ausgelagerten Kuss,
der, wie Nataschas anfängliches, noch Stalins Gesicht avisierendes Zögern
signalisiert, nicht mehr dem Körper des Anderen gilt, sondern einem
Äußeren, einer Uniform.
Nicht zufällig bleibt Stalin daher auch ohne jede Regung und Bewe
gung. Er ähnelt eher einem Fetisch, einem zur Verehrung freigegebenen
Bild seiner selbst. Und indem so nicht mehr die Person, sondern ihr
Bild geküsst wird, entpuppt sich diese Kussszene als Appropriation jenes
Küssens der Ikonen, das alltägliche Praxis der Orthodoxie war und wie
der ist: mit dem massenmedialen Effekt, dass Stalin, »no longer a man
but a god […] had to be venerated in the form of innumerable busts and
pictures, that is icons.« 14
III. PROPAG ANDA
Das Stichwort »Ikone« ist nicht zufällig Fluchtpunkt dieses Zitats. Legt
es doch, was hier nur in groben Zügen angesprochen werden kann, eine
Spur, die den spezifischen medialen Status dieser Herrscherbildnisse
verdeutlicht. Wenn jede Ikone eine Modifikation, eine je andere Ver
bildlichung eines abwesenden, nie erreichbaren Urbilds ist, so zeigt sich
hier, dass dieses Urbild in seiner massenmedialen Artikulation je andere
Transformationen erfährt. Herrscherbildnisse Stalins finden sich, wie ein
leitend angesprochen, nicht nur im Medium Film, sondern gleichermaßen
in den anderen Bildmedien. So, um ein Beispiel zu nennen, in der Collage
Klucis (Abb. 5), einem Plakat, das in hoher Auflage verbreitet wurde und
das, ausgelagert aus jedem narrativen Prozess, in forcierter Form, gleich
sam überdeterminiert jene propagandistische Zielsetzung exponiert, die,
wie die vorgenommenen Schritte verdeutlichen konnten, auch den hier
zugrunde gelegten Film auszeichnet: »Der Propagandist beschränkt sich
nicht darauf, bereits vorhandene Symbole und Embleme zu benutzen,
sondern er betreibt ihre Überdetermination, um ein eindeutiges Regime
der Interpretation durchzusetzen«.15A5
14 Kenez 2001, 209.
15 Mondzain 2006, 54.
578
5 Gustav Klucis: Der Sieg des Sozialismus in unserem Lande ist gesichert, 1932,
Offsetdruck, Russische Staatsbibliothek, Moskau (siehe Taf. 15)
B E ILE NH O FF: STA L I N S H E R R SCH E R B I L D N I S 579
BILDREC HTE
1 Helena Rubinstein Fund.
2a, 2b, 3, 4a, 4b Filmstills aus: Fall of Berlin (Padenie Berlina): The Res
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J AN S ÖFFNER
MASKE UND MÖGLICHKEIT
Zwei Fallstudien zum Potential
einer kulturellen Praxis
Masken haben, im Gegensatz zum bloß bildlichen Porträt, zwei Seiten.
Eine Außenseite, die auf den Blick des Publikums zielt – und eine In
nenseite, die im Maskenspiel selbst unsichtbar bleibt. Richard Weihe 1
betrachtet sie aufgrund dieser Eigenschaft als Form der Einheit des
Unterschiedenen: Masken trennen ein Innen vom Außen, und indem sie
dieses Innen verbergen, verweisen sie auch auf es – und präsentieren es
auf eine besondere Weise. Doch ist ein solches Spiel des Zeigens und Ver
bergens nicht alles. Masken sind nicht nur zum Ansehen, sondern auch
zum Aufsetzen da. Sie wollen nicht nur angesehen werden wollen: Sie
wollen auch, dass man von innen durch sie hindurchsieht. Und wer dies
tut, ist von dem kommunikativen Zwang entbunden, das eigene Gesicht
auf den Blick anderer auszurichten. Wer eine Maske trägt, kann daher
Dinge tun, die er ohne sie niemals täte. Masken zeigen und verbergen
also nicht nur, sie ermöglichen auch.
Dieser Aufsatz besteht aus zwei Fallstudien zu zwei sehr unterschied
lichen Masken – und damit auch zwei sehr unterschiedlichen Ermögli
chungen. Die erste Maske stammt aus der Commedia dell’Arte. Es ist die
Maske des Arlecchino, des Harlekin. Die zweite ist eine GuyFawkes
Maske. Sie stammt aus dem Film V for Vendetta nach dem gleichnamigen
Comic. Meine Studie zu diesem Masken ist insofern ›morphomatisch‹,2
als ich auf spezielle Figurationen abheben möchte, auf Maskenpraktiken
nämlich, die zwar aus verschiedenen kulturellen Kontexten entstammen
1 Vgl. Weihe 2013
2 Vgl. Boschung 2013; Blamberger 2013.
582
und auch für verschiedene Anliegen haben, aber in zumindest einer
wichtigen Hinsicht vergleichbar sind – nämlich der Ermöglichung einer
besonderen Form des Handelns. Zielpunkt ist zu zeigen, dass beides ein
Potential für die kulturelle Arbeit am Möglichen birgt,3 das heißt einer
seits für das Nachdenken über das, was sein könnte, und andererseits für
die faktische Eröffnung von Möglichkeiten.
I. ARLEC C HINO
1 Maske des Arlecchino,
Rekonstruktion
A1
Die erste Maske ist diejenige des Arlecchino. Es handelt sich um ein recht
einfaches Stück Leder, das über eine geschnitzte PositivForm gezogen
3 Vgl. Blamberger/Roussel/Voßkamp 2013.
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 583
wurde und dann ausgehärtet ist. Das ist ein recht einfaches Verfahren –
einst erlaubte es den Schauspielgruppen, verschlissene Masken schnell
zu ersetzen. Man benutzte ausnahmslos Halblarven, Masken also, die nur
die obere Gesichtspartie verdeckten. Aus ikonographischer Sicht gibt die
Maske nicht viel her. Eine Physiognomie lässt sich kaum erkennen. Da
sind zwar die eingefallenen Wangen, die Arlecchinos unbändigen Hunger
vergegenwärtigen sollen – doch der war dem Publikum bereits bekannt
und ließ sich auch aus der Bühnenhandlung leicht ersehen – sonderlich
sprechend ist er also nicht. Etwas mehr gibt der Gesichtsausdruck her.
Markant sind die weit aufgerissenen Augen und die Stirnfalten. Über
raschung und Unverständnis scheinen in dieser eingefrorenen Mimik
zu liegen. Ein solcher Ausdruck sagt allerdings weniger über eine Figur
und ihren Charakter aus als über die Situation, in der sie sich befindet.
Mehr noch: Dass ausgerechnet diese Mimik eingefroren ist, scheint para
dox: Überraschung ist etwas Flüchtiges. Umso wichtiger wird damit das
dynamische Moment dieser Maske – und zwar im Zusammenspiel mit
der jeweiligen Bühnensituation – ja mehr noch: im Zusammenspiel mit
dem restlichen Gesicht, denn schließlich entscheidet bei einer Halblarve
diese untere Gesichtspartie darüber, was das Gesicht ausdrückt; umge
kehrt aber legt die Maske fest, welche Mimik die untere Gesichtspartie
überhaupt annehmen kann, und welche nicht – denn schließlich ergeben
nur wenige mimische Regungen im Zusammenspiel mit der fixierten
Grimasse Sinn. Betrachtet man die Gesichtszüge des Arlecchino also
als ein Porträt, dann geht dieses Porträt nicht in der Logik der Dar
stellung auf – es ist ein PorträtinAktion, ein mit der belebten Mimik
interagierendes Porträt.
Dieses Zusammenspiel lässt eine an Horst Bredekamps Theorie des
Bildakts4 angelehnte Betrachtungsweise zu: Eine Betrachtungsweise also,
die nicht fragt, was ein Bild besagt oder ausdrückt, sondern die fragt,
was ein Bild tut. So gefragt tut die Maske zunächst einmal etwas mit
dem Schauspieler. Sie orientiert sein Gesicht. Auch eine andere Gestik
wird erfordert – so machte Giorgio Strehler bei den Problem zu seiner
berühmten (und bis auf den heutigen Tag nicht abgesetzten) Inszenierung
von Carlo Goldonis Servitore di due padroni am Mailänder Piccolo Teatro
eine besondere Entdeckung: Jede Geste, die das Gesicht berührt hätte,
wirkte falsch und gestellt. Mehr noch: Die Maske gibt ihrem Träger sogar
eine Körperhaltung vor. Ein beeindruckender Schauspieler der Commedia
4 Bredekamp 2010.
584
dell’Arte – Mace Perlman – beschreibt diese Haltung als Doppelbewegung
nach unten und nach oben.5 Der Gesichtsausdruck führt in eine gebückte
Haltung – die Haltung eines Dieners und Lastenträgers, wie Arlecchino
einer ist. Zugleich richtet sich der Blick auf etwas zu herausfordernde
Weise nach oben. Im Zusammenspiel von Bewegungserfordernissen
und Bewegungsanregungen eine Art Hilfestellung für die verkörperte
Interaktion. Schließlich die Maske sogar noch mehr – und zwar mit den
anderen Schauspielern, die mit dem Maskenträger zusammenspielen.
Wer mit einer Maske spricht, dem nimmt sie schließlich einen Teil seines
Gesichtsausdrucks ab. Und so spricht ein Gegenüber nicht nur mit einem
selbst, sondern immer auch mit der Maske – und wird dies auch auf eine
andere Weise tun, als würde es auf die Mimik hinter der Maske reagieren.
Eine Maske verändert damit die Gesamtdynamik auf der Bühne, ist ein
eigener, von den agierenden Körpern beseelter Akteur.
Michele Bottini, eine weitere Größe unter den lebenden commedianti
dell’Arte beschreibt in diesem Zusammenhang ein merkwürdiges Erlebnis
mit einer ArlecchinoMaske, das ihn im Zustand völliger Erschöpfung
auf der Bühne ereilte. Er schreibt:
Ich spielte nur noch auf Autopilot. […] Die Ledermaske war so
schweißdurchtränkt, dass sie sich weich anfühlte; und durch die
kleinen Löcher sah ich die anderen Schauspieler wie Fische in einem
brackigen Aquarium. […] Ich war kurz davor, die Maske abzuneh
men, mich bei dem Publikum zu entschuldigen und die Bühne zu
verlassen. Doch in diesem Moment passierte etwas Merkwürdiges.
Es fühlte sich an, als ob die Maske lebendig würde. Sie schien mein
Gesicht zu ergreifen, und in einer leisen Stimme sagte sie: ›Also gut,
mein Freund, nun folge mir.‹ Plötzlich waren meine Anspannung
und meine Erschöpfung wie verflogen. Ich wurde wieder klar und
wartete. Arlecchino machte nun einen stillen Pakt mit mir, und ich
folgte ihm. Ich tat alles, was er mir sagte. Meine Energie kehrte zu
rück. Ich hörte auf, auf der Bühne interessant und unterhaltsam sein
zu wollen. […] Ich war nicht mehr der Star des Abends. Eine große
Verantwortung viel von meinen Schultern. Der Erfolg war nicht mehr
meine Sache, die des Schauspielers. Ich wurde zum ›Servitore‹ und
begann wörtlich zu nehmen, was die anderen Schauspieler sagten.
5 Perlman 2015.
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 585
[…] durch die kleinen Löcher der Maske begann ich, die Welt mit den
Augen Arlecchinos zu sehen.6
Offenbar hatte er eine andere Maske als diejenige, die ich für die Abbil
dung 1 ausgewählt habe. Eine mit kleinen Augen. Aber das ändert nicht
viel. Es ist klar, dass Bottini hier mit der Teufelstradition der Arlecchino
Maske spielt und sie zu einer Art fröhlichen Form des Satanspakts aus
baut. Was weniger klar ist, ist, an welcher Stelle der MaskenPakt meta
phorisch zu verstehen ist und an welcher Stelle wörtlich. Dass der Geist
Arlecchinos zu eigenständigem Leben erwacht und zu sprechen beginnt,
halte ich einmal für eine Metapher. Dass die Maske eine Art Eigenleben
haben kann, indessen nicht. Wir haben ja gesehen, dass sie handeln, dass
sie etwas tun, genauer: Etwas verändern kann. Dass die Maske Bottinis
Gesicht »ergreift«, ist somit auch ohne allzu viel Schauerromantik zu er
klären. Doch der Punkt, der mir an dieser Stelle am wichtigsten ist, und
noch näherer Betrachtung bedarf, ist folgender: Die Maske half ihm ja vor
allem dabei, nicht mehr für den Blick des Publikums zu handeln, sondern
im Handeln aufzugehen. Und wie die Maske den Weg in einen solchen
Zustand der Präsenz ebnet, scheint ein etwas größeres Rätsel zu sein.
Will man es lösen und diese Funktion der ArlecchinoMaske be
stimmen, so hilft ein Blick auf die gängigen Maskentheorien aus Perfor
manzforschung, Ethnologie und Kulturwissenschaften. Im Großen und
Ganzen unterstellt man Masken dort eine Art apollinischdionysische
Dichotomie: Einerseits ist da ein Spiel der Verkleidung des Gesichts
6 I recited with my autopilot engaged. […] The leather mask was so drenched
in sweat that it felt soft on the face and through the little holes for the eyes
I saw my fellows on stage like fish in an aquarium of murky water. […] I was
tempted to raise the mask, to apologize to the audience and to leave the show.
It was that moment that something strange happened. I felt as if the mask was
becoming animated with life of its own. It seemed to grasp my face and in a
quiet voice, the mask said to me: ›OK, my friend, now follow me …‹ Suddenly
my tension and my exhaustion seemed to vanish. I regained lucidity and I
waited. Arlecchino made a silent pact with me at that moment and I followed.
I did exactly what he told me. At that moment, my energy returned. I ceased
trying to be interesting and entertaining on stage. […] I was no longer the star of
the show. It was the extraordinary experience that a weight had been lifted; the
responsibility for the success was no longer mine as the actor. I was becoming
the servant. I began to take literally what the other characters were saying. […]
Through those little holes of the leather mask I began to see the world with
the eyes of Arlecchino. (Bottini 2015, 60 f.)
586
– ein Spiel also mit Rollen und Identitäten. Komplement dieses Spiels ist
ein GesehenWerden, denn ohne den Blick der anderen könnte es nicht
statthaben. Daher spricht der Dramaturg, Romancier und Kulturwissen
schaftler Richard Weihe in seinem lesenswerten Buch von einer Paradoxie der Maske 7 – einem gleichzeitigen SichZeigen und SichVerbergen.
Alternativ zu diesem kommunikativen Spiel mit dem Blick der Anderen
konstatieren diverse Maskentheorien aber auch eine komplette Ausblen
dung dieses Blicks im Rahmen einer Art ekstatischen Entfesselung, die
u. a. mit dämonischgeisterhaftem Handeln in Verbindung gebracht wird
– so zum Beispiel von der Performanzforscherin Erika FischerLichte,8
die den ekstatischen Effekt beschreibt, wenn das Handeln nicht mehr
dem Maskenträger, sondern der Maske zugeschrieben wird.
Die Dichotomie zwischen apollinischer Selbstinszenierung und
dionysischer Trance ist auf verschiedene Weise beschrieben worden.
Der Archäologe John Picton9 stellt etwa umsichtig der Gewinnung einer
reflexiven ›dramatic distance‹ des Zeigens und Verbergens eine distanz
lose Verkörperung von Geistern mit fremder Handlungsmacht entgegen;
und der ethnologische Anthropologe John Emigh10 unterscheidet para
digmatisch zwei Maskenfunktionen – nämlich einerseits das zeigende
und verbergende »concealment« und andererseits die Heimsuchung oder
»visitation«, bestimmt von einem »Verlust des IchErlebens« und einem
»Rückgang der bewussten Kontrolle«.11
Zur Beschreibung von Bottinis Maskenpakt hilft natürlich der Begriff
der Heimsuchung – zumal er auch der Metapher eines als Geist auftau
chenden Arlecchino gerecht wird. Doch tritt bei näherer Betrachtung
hervor, dass die beschriebene Dichotomie nicht recht zur Beschreibung
seines MaskenPakts taugt, da sowohl Trance als auch Ekstase unpassen
de Begriffe wären. Bottinis Pakt ist etwas anderes als eine Besessenheit
– er »folgt« zwar, aber das tut das auf aktive, kontrollierte Weise. Der
Pakt geht mit keinem Selbstverlust einher; die fremde Handlungsmacht
äußert sich als bewusst erlebte Orientierung des nach wie vor als eigenes
Tun erlebten Handelns.
Tatsächlich scheint mir die besagte Dichotomie auf einer aus phä
nomenologischer Sicht sehr problematischen Gleichsetzung zu beruhen,
7 Weihe 2013.
8 FischerLichte 1982, 102–11.
9 Picton 1990.
10 Emigh 1996.
11 Ebd. 29 (meine Übersetzung).
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 587
nämlich derjenigen von Handlungsaufmerksamkeit und Ichaufmerksam
keit, von einer Konzentration auf das eigene Tun und einer Konzentra
tion auf die eigene Identität oder Rolle. Nur wer Handlungsbewusstsein
und Ichbewusstsein gleichsetzt, kann schließlich der Ansicht sein, dass
jedweder Mangel an einem Bewusstsein für das SichZeigen und Sich
Inszenieren notgedrungen in eine Art Ekstase münde. Dass Handlungs
aufmerksamkeit und Ichaufmerksamkeit aber zwei Paar Schuhe sind, liegt
indes auf der Hand: Ein zu großer Fokus darauf, wie man rüberkommt
(eine zu große Ichaufmerksamkeit), lässt oft die Flüssigkeit der eigenen
Rede ins Stocken geraten. Vergisst man sich im Reden, bedeutet das
umgekehrt nicht, dass man nicht mehr wüsste, was man sagt. Auch gibt
es einige einschlägige Studien zu einer oft extremen Handlungsaufmerk
samkeit unter Ausblendung des reflexiven Ich-Bewusstseins (meist firmiert
sie unter dem Namen ›optimal flow‹, während ihr Gegenteil: das Stocken
des Handlungsfluss qua reflexiver Aufmerksamkeit als ›choking‹ benannt
wird).12 Vor allem aber scheint eine Unzahl von Maskenpraktiken auf ge
nau diesen Zustand gerichtet zu sein. Ich denke zum Beispiel an Masken
in Aggression und fleischlier Leibe: Kriegsbemalungen, Helme, Gesichts
schutz oder erotische Masken. Solche Masken helfen, in eine mehrere
Körper umfassende Dynamik einzugehen, und sie leisten dabei oft auch
eine körperliche Orientierung und befreien von Scham. Sie ersetzen den
oft nur mäßig kontrollierbaren emotionalen Ausdruck durch eine starre
Form, die für eine spezifische, enthemmtere Form der affektiven Dynamik
förderlicher sein kann als spontane Mimik es wäre. Das Ichbewusstsein
wird insofern reduziert, als dem Ich teilweise die Arbeit abgenommen
wird, sich selbst inszenieren zu müssen. Der Maskenträger wird – zu
mindest partiell – dem kommunikativen Zwang enthoben, sich dem Blick
des Anderen zeigen und verbergen zu müssen. Die Funktion ist diejenige
einer Art Tarnkappe: Man kann handeln, ohne sich preiszugeben.
Genau diese Funktion scheint es mir zu sein, die Bottini hervorkehrt:
Er fühlt sich nicht mehr für den Erfolg des Stücks verantwortlich, sein
Bewusstsein dafür, sich den Zuschauern zu präsentieren schwindet, er
handelt unmittelbar und direkt – so sehr, dass Rolle und Selbst ver
schmelzen und er wörtlich nimmt, was die anderen Schauspieler sagen.
Zugleich lässt er seinen handelnden Körper von der Maske orientiert
werden. Die Maske hilft Bottini bei einer Form des Schauspiels, das seine
Bühnenpräsenz dort zu finden sucht, wo er sich gerade nicht in jenem
12 Vgl. Hutto 2014.
588
AlltagsZwiespalt zwischen Rolle und Identität aufhält, wo er stattdessen
einer interaktiven Bühnendynamik folgt und im Handeln aufgeht.13
13 Diese Form der Bühnenpräsenz ist natürlich nicht ›die‹ Bühnenpräsenz
per se, sondern eine spezielle Form davon, auf die es vor allem gegenwärtige
Schauspielschulen – vom Method Acting bis zum akrobatischchoreographi
schen oder »biomechanischen« Avantgardetheater – anlegen. Bis ins frühe
20. Jahrhundert hinein (und in Deutschland teilweise sogar noch bis auf den
Tag) – folgte das Schauspiel einem ganz anderen Paradigma, nämlich der ein
studierten Deklamation, einer bewussten und eingeübten Körperkontrolle und
einer kontrolliert reflektierten Nutzung des umfassend einstudierten Gesten
Repertoires. Diese Tradition ist recht alt. Bereits Denis Diderots Paradoxe sur
le comédien (zwischen 1777 und 1773) behauptet das exakte Gegenteil zu dem,
was Bottini hier zelebriert: Dort findet sich die Ansicht ausformuliert, dass ein
Schauspieler Affekte besser darstellen und evozieren kann, wenn er sie gera
de nicht verspürt und in keinerlei übergreifender Dynamik aufgeht, sondern
seinen Ausdruck bewusstem Kalkül folgen lässt. Auch zur Entstehungszeit
der Commedia dell’Arte dominiert eine Deklamationstheorie des Schauspiels:
Es handelt sich um die Anwendung der antiken Rhetoriklehren auf die – von
Humanisten geschriebenen und ebenfalls humanistisch gebildeten und d. h.
rhetorisch geschulten Laienschauspielern aufgeführten Dramen der Commedia
erudita und der Renaissancetragödie. – Dennoch ist Bottinis Form der Bühnen
präsenz für die Commedia dell’Arte in gewisser Weise adäquat. Das zeigt das
Beispiel des ersten ArlecchinoDarstellers Tristano Martinelli – genauerhin das
Beispiel von dessen dem französischen Königspaar Henry IV und Maria de’
Medici zugeeignete Rhetoriktraktat: einem Buch mit leeren Seiten nämlich, was
sich kaum anders verstehen lässt denn als ein Hinweis darauf, dass Martinellis
Kunst gerade ohne die Rhetoriklehren und damit auch ohne Deklamations
theorie auskam. Dass in ästhetischer Hinsicht deutliche Parallelen zwischen
der Kunst der historischen Commedia dell’Arte und derjenigen Schauspielkunst
bestehen, auf die Bottini es anlegt, legt ein Nachruf auf Vincenza Armani
nahe, die (maskenlose) InnamoratiRollen gespielt hatte. Sie war, wie man dort
lesen kann, berühmt dafür, auf der Bühne passgenau erröten und erbleichen
zu können – also (in Bottinis Worten) »wörtlich zu nehmen«, was die anderen
commedianti sagten und taten. Mehr noch: Erröten und Erbleichen doch un
willkürliche Körperregungen, die sich nicht einstudieren lassen. Nicht zuletzt
aufgrund gerade dieser Fähigkeit, wurde im späten 19. Jahrhundert Eleonora
Duse zur Ikone späterer MethodActors. Zeitgenössische Traktate bestätigen
auch recht klar, dass die Kunst der Commedia dell’Arte gerade keine humanis
tische Deklamationskunst war: So legen Pier Maria Cecchini’s Discorso sopra
l’arte comica, Flaminio Scala’s Prologo zu Il finto marito, und Luigi Ricoboni’s
Dell’arte rappresentativa sowie sein Discorso sulla commedia all’improvisa mehr
als nahe, dass das Schauspiel der Commedia dell’Arte stattdessen – in Kongruenz
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 589
Damit soll nun nicht gesagt sein, dass die ArlecchinoMaske auf
eine moderne Form des Schauspiels hin angelegt gewesen sei. Das war
sie ganz und gar nicht. Ja, man kann sogar sagen, dass sie primär nicht
einmal auf das Schauspiel angelegt war. Das zeigt die Vorgeschichte der in
der Commedia dell’Arte verwendeten Masken. Diese Vorgeschichte hat die
Forschung lange vor größere Probleme gestellt – insofern es sie nämlich
gar nicht recht zu geben schien: Masken waren zwar durchaus im antiken
Theater verwendet worden – nicht aber in der zeitgenössischen commedia
erudita, bei der die Commedia dell’Arte sich ansonsten reich bediente. Pas
sionsspiele und Mysterienspiele kannten zwar Masken. Diese verdeckten
aber das ganze Gesicht des Trägers und waren ikonisch ausgeformt (etwa
um gräuliche Teufelsfratzen zu veranschaulichen) – ganz im Gegenteil zu
den ikonisch dürftigen Masken der Commedia dell’Arte. Die neuere For
schung richtet ihren Blick daher auf eine andere Tradition. Halbmasken
fanden nämlich durchaus im Karneval Verwendung. Hier dienten sie der
Freistellung von dem kommunikativen Zwang sich als ein Selbst darstellen
zu müssen und eröffneten die Möglichkeit eines Handelns ohne Scham.
Wichtiger ist noch der Umstand, dass die ersten commedianti, die um die
Mitte des 16. Jahrhunderts die Gattung der Commedia dell’Arte in Vene
dig entstehen ließen, gar keine Schauspieler, sondern Schausteller waren:
Akrobaten, Bänkelsänger und saltimbanchi. Letztere – eine spezielle Art
von Clowns, die bei Festen auf die Tische sprangen um Chaos zu stiften
– trugen Halbmasken, die anzeigten, dass die Maskenträger Dinge taten
und tun durften, die man im normalen Leben nie getan hätte. Dies ging
mit höchster Konzentration einher, mussten saltimbanchi ja nicht allein
Chaos stiften, sondern mit diesem Chaos auch noch adäquat umgehen
können: Sie hatten kein festgelegtes Skript, ihre Performance stellte viel
mehr parasitär die rituelle Ordnung des jeweiligen Events auf den Kopf
und produzierte Unüberschaubarkeit, in der es dann spontan und impro
visierend zu handeln galt. Im kollektiven Bewusstsein des 16. Jahrhunderts
in Venedig verwiesen Halbmasken also nicht aufs Schauspiel, wohl aber
auf clowneske Improvisation und Karneval. Sie waren dafür da, das Spiel
in die Welt hineinzutragen, anstatt die Welt auf die Bühne zu bringen.14
zur oben umrissenen Maskenfunktion – auf Spontaneität, Situativität und
Bühnendynamik setzte. Das liegt auch bereits insofern auf der Hand, als De
klamation auf niedergeschriebene Texte angewiesen ist, während die Commedia
dell’Arte ein Improvisationstheater war. (Vgl. hierzu Claudio Vicentini 2012.)
14 Das bedeutet aber nicht, dass die commedianti keine literarische Bildung
gehabt hätten. Tatsächlich eigneten sie sich als Autodidakten eine recht
590
So spricht allein schon die Maskentradition dafür, dass die Commedia
dell’Arte keine genuin dramatische Gattung war: Zumindest in ihren An
gängen ließ sie sich nicht als Theater mit Jahrmarktseinlagen beschreiben,
sondern war vielmehr ein Jahrmarktsspektakel, das sich um einen (meist
dieser Theatertradition entlehnten) Plot herum neu organisierte. Histo
risch ist dieses Faktum unbestritten. Doch die ästhetischen Konsequenzen
sind selten genau beschrieben worden. Dabei – und damit komme ich zu
der konkreten Maske des Arlecchino zurück, liegen sie auf der Hand. Als
Figur erfüllt Arlecchino bühnenintern schließlich genau die Funktion der
saltimbanchi: Er drängt sich in den (der literarischen Tradition entlehnten)
Plot hinein, lässt ihn aus dem Ruder laufen, verwandelt stabile soziale
Ordnung in situatives und ephemeres Chaos, stellt alle anderen Figuren
(und auch sich selbst) unter permanenten Handlungsdruck – oder ge
nauer gesagt: Er führt in jenen Improvisationsdruck hinein, der eine gute
Commedia dell’Arte performance ausmacht. Es kommt daher nicht von un
gefähr, dass – um Mace Perlmans Beobachtung wieder aufzugreifen – seine
Maske den Körper nach unten hin beugt und nach oben hin ausrichtet
– und zwar in einem Doppelsinn, der sowohl wörtlich (gebeugt unter der
Traglast und den Schlägen, aufgerichtet insofern er beidem nicht folgt) als
auch metaphorisch für einen transitiven sozialen Status zu verstehen ist.
wildwüchsige literarische Tradition an, aus der sie sich in Sachen Dramenhand
lung, Figurenrepertoire und Sprachstil reichlich bedienten. In vielen Fällen kam
ihre Belesenheit (wie sich zumindest u. a. für die berühmte Gruppe der Gelosi
und auch für die Confidenti belegen lässt) derjenigen der Humanisten gleich.
Doch sprechen viele Zeugnisse dafür, dass sie zugleich ihren schaustellerischen
Stolz beibehielten und ihn auch gegenüber der literarischen – humanistischen
– Bildung geltend machten. Als Beispiel lässt sich etwa der anonyme lacrimoso
lamento che fè Zan Salcizza e Zan Capella invitando tutti i Filosofi, Poeti, e tutti i
Fachì delle valade, a pianzer la morte di Zan Panza de Pegora, alias Simon Comico
Geloso nennen – ein Nachruf, in dem ein Dienerdarsteller auf eine Ebene mit
einer Universalität humanistischer Autoritäten aus Antike und Gegenwart ge
stellt wird. Das allein wäre nichts besonderes – vielmehr bedient dieser Umstand
auch humanistische Formen der Karnevalisierung. Allein: Wenn im geschickten
Wechsel aus komischer Absurdität und echtem Stolz die Autoritäten dazu auf
gefordert werden, Zan Panza de Pegora zu besingen, dann ist die Spitze dabei
diejenige, dass er mit viel mehr Sprachen viel Großartigeres anstellen konnte als
sie selbst. Sprachliche Virtuosität wird in Dienst der Improvisation und nicht
in Dienst der Abfassung von Texten gestellt – und dabei wird ausgespielt, dass
Literaten in ihrer Form der Virtuosität weder die Geschwindigkeit noch die
Bühnenpräsenz an den Tag legen, die für die commedianti selbstverständlich war.
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 591
Das Zusammenspiel mit den anderen – ebenfalls auf Körperhaltung
hin angelegten – Masken ist ebenso sprechend. Neben den Dienern und
den Liebenden – die der literarischen Tradition entlehnte und entspre
chend maskenlos verkörperte Figuren sind – stehen mindestens zwei
Alte auf der Bühne der Commedia dell’Arte. Meist ist dies einerseits der
Kaufmann Pantalone dei Bisognosi mit seinem in den Nacken gereckten
Kopf, ausgeprägtem Riecher, der zudem von einem Spitzbart und einer
Art Dildo an den Lenden phallisch verdoppelt wird – ein begehrender
Mensch also, ein Bisognoso (wörtlich: Bedürftiger) eben, dessen aufwärts
gereckte Gesichtspartie allerdings einen gewissen Buckel als Haltung
einfordert, sodass seine ›natürliche‹ Inklination, über die anderen Figuren
hinwegzublicken, in seiner Gebrechlichkeit ein Gegengewicht findet. Ein
anderes Beispiel ist der Dottore, mit seinem herausgestreckten Bauch
und Doppelkinn – sowie einer breiten, aber stark nach unten weisenden
Nase – was seine Haltung zwischen sanguinischjovialem Hang zum
leiblichen Wohl und melancholischer Neigung zu entfesseltsinnlosem
Diskursgebrauch einpendelt. Auch diese beiden Masken stehen also im
dynamischen Spiel von Aufwärts und Abwärtsorientierung, doch tun sie
dies auf ganz andere Weise als die ArlecchinoMaske. Statt Subjekte oder
auch nur Subjekttypen in Szene zu setzen, darzustellen und auszuformen,
lassen die Masken Haltungs- und Handlungstypen (oder anders gesagt:
den kollektiven emotionalen und körperlichen Habitus gesellschaftlicher
Gruppierungen) zutage treten, indem sie den Habitus spezifischer Sozial
charaktere sich an einer (unterschwellig choreographierten und dennoch
auf spontane Unberechenbarkeit hin angelegten) Umwelt brechen lassen.
Dabei steht nicht die Sichtbarmachung des Unsichtbaren und die Zur
schaustellung des Charakters im Vordergrund, sondern die interaktive
Bühnendynamik. Auch wird der spezifische Moment nicht – wie im
Porträt – fixiert, sondern als dynamisch-ephemeres Ereignis erzeugt.
Eingespielter Habitus und Unvorhersehbarkeit sind dabei die zwei Pole
einer paradoxen Spannung. Der Habitus leistet eine routinierte Hand
lungsorientierung, während die Unvorhersehbarkeit jedwede Routine
immer wieder aufbrechen muss. Bloße Habitualität verlöre schließlich
an Spannung, Spontaneität und Bühnenpräsenz und ließe das virtuose
Handeln der commedianti in ein bloßes Schauspielern übergehen, das
an Bottini »reciting with my autopilot engaged« erinnern kann. Bloße
Brechung indes würde ins Chaos führen, und das böte den Schauspielern
kaum Gelegenheit, ihre Virtuosität in Szene zu setzen.
Die canovacci, also die Skripte in denen der Plot szenenweise zusam
mengefasst notiert ist, und die am Bühneneingang aufgehängt wurden,
592
damit die commedianti selbst sich in der Handlung orientieren konnten,
weisen daher auf, wie umfassend die Commedia dell’Arte eine Kunst des
Hereinplatzens und der Störung pflegte. Es ist recht einfach zu erkennen,
dass nicht auf die Präsentation eines Plots der entscheidende Wert gelegt
wurde. Offenbares Ziel war stattdessen, Situationen zu schaffen, in denen
die commedianti sich gegenseitig stören konnten, ja sollten.15
Ich denke, es ist nun klar geworden, von welchen Anforderungen die
ArlechhinoMaske geformt wurde, in welcher Tradition sie steht, warum
ihre ikonische (sichzeigende) Dimension so zurückgenommen, dafür
aber ihre körperorientierende Funktion so sehr ausgearbeitet ist. Was
es allerdings noch zu verstehen gilt, ist die Frage, warum die von ihr
beförderte Ästhetik des virtuosen Umgangs mit der Unvorhersehbarkeit
gerade in der Renaissance einen so großen Erfolg hatte.
15 Meist finden sich mindestens vier improvisierende Schauspieler auf der
Bühne, die in mindestens zwei gleichzeitig auf der Bühne auszuführende Hand
lungen befangen sind – wobei beide das Potential haben, auf die jeweils andere
Handlung überzugreifen. Der Plot – das also, woraufhin ein literarisches Drama
primär angelegt wäre – bot somit lediglich den Rahmen für die Produktion von
Unberechenbarkeit. Es entstand offenbar ein instabiles Gleichgewicht zwischen
einer kooperativen und einer agonistischen Form wechselseitiger Störung:
Meistens wurden die Mitstreiter vermutlich so behutsam aus der Routine ge
rissen, wie im FreeJazz ein überraschender Akkord die anderen Bandmitglieder
aus der Reserve lockt – oder es kam zu einer latent oder offen ausgetragene
Gegnerschaft, wie man sie aus dem Mannschaftssport kennt, wo die Gegner
radikal aus dem Gleichgewicht zu bringen sind. Überliefert sind entsprechend
nicht nur die Kameradschaft der commedianti, sondern auch Intimfeindschaf
ten, die wohl insofern ausgetragen wurden, dass man sich gegenseitig in nicht
mehr handhabbare Situationen führte und vor dem Publikum scheitern lassen
wollte – was offenbar nicht schädlich, sondern als produktiv erachtet wurde.
Auch überlieferte Dialoge (dieses Mal mit nur zwei commedianti auf der Bühne)
legen Zeugnis von einer agonalen, fast sportlichen Spannung ab. Sie offenbaren
eine weitere, dieses Mal die Intellektualität umfassende Dimension der Impro
visationskunst. Oft handelt es sich um gelehrte contrasti, d. h. in Gegensätzen
geführte Argumentationen. In der literarischen Kultur der Renaissance folgen
solche Dialoge einer inneren Logik der Argumente, die allmählich auf einander
aufbauen. Nicht so in der Commedia dell’Arte. Hier werden dieselben konträren
Argumente in abgewandelter Form wieder und wieder vorgetragen, bis plötzlich
eine unerwartete gedankliche Wendung kommt. Niedergeschrieben ergibt das
keinen großen Sinn, doch die Ästhetik wird klar, wenn man an die Improvisa
tion denkt. Wie in einer Blitzschachpartie macht man zunächst testende Züge,
bis sich eine Lücke ergibt, die das ganze Spiel verkehrt.
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 593
Einen ersten Hinweis verdanke ich einer ganz anderen Disziplin
und auch einem ganz anderen Kontext – nämlich Thomas Alkemeyers
umsichtigen Beschreibungen des heutigen Mannschaftssports,16 was
übrigens schon insofern hellhörig machen kann, als der erste moderne
Mannschaftssport – der calcio fiorentino (eine Art früher Fußball) – genau
zur selben Zeit in Florenz entsteht, der Erfolg einer solchen Ästhetik also
durchaus historische Parallelen hat. Auch im Mannschaftssport zielt der
Rahmen – es sind natürlich Regeln und keine Theaterskripte – auf die
Produktion von Kontingenz durch wechselseitige Störung. Die Ästhetik
ist diejenige des unwahrscheinlichen Gelingens einer Form des vollen
deten Handelns unter der Bedingung der Unvorhersehbarkeit und des
heraufbeschworenen Chaos. Angelegt ist der Mannschaftssport damit
nicht allein auf Agonalität, sondern auch auf die Zurschaustellung von
Virtuosität, mit der das schier Unmögliche in Wirklichkeit verwandelt
wird (wovon auch der Sprachgebrauch des ›Verwandelns‹ einer Chance
zeugt). In einer solchen Ästhetik, schließt Alkemeyer, reflektiert sich eine
Gesellschaft, die (mit Ulrich Beck gesprochen) aufgrund ihrer Komple
xität und ihres Innovationszwangs notorisch Kontingenz produziert:
Eine Gesellschaft, die daher ihren eigenen überbordenden Möglichkeiten
mit rationalen Mitteln nicht mehr beikommt, sich aber zugleich unter
Handlungsdruck weiß. Indem man Sportler unter konstanten Entschei
dungsnotstand setzt, feiert man – so Alkemeyers Schlussfolgerung – in
ihren Siegen die Fähigkeit, sich dort zu bewähren, wo eine Vernunftent
scheidung nicht hinreicht.
Hinzu kommt eine andere Dimension des Sports, die wiederum mehr
an Hans Ulrich Gumbrecht 17 erinnert als an Alkemeyer. Denn diese Be
währung der Virtuosität gelingt nur insofern, als sie nicht bloß aufgeführt
ist, sondern ausagiert wird: Ein Mittelfeldspieler führt einen guten Pass
ja nicht auf sondern aus. Seine Aufmerksamkeit liegt im Handlungsbe
wusstsein und das heißt: gerade nicht im kontemplativen Umgang mit
der Unvorhersehbarkeit. Auch den Zuschauern verlangt die Ästhetik des
Sports keinen Blick auf die Inszenierung ab, sondern einen Blick auf das
Handlungsgeschehen – und wird dieser Blick etwa durch theatralische
Gesten oder selbstinszenierende Frisuren der Sportler gestört, stößt das
den Zuschauern meist übel auf. Handlung, nicht Aufführung, Präsenz,
nicht Darstellung ist das Paradigma. Es geht in der Virtuosität des Sports
16 Alkemeyer 2012.
17 Gumbrecht 2006.
594
um etwas ganz anderes als es in theatralen Inszenierungen geht. Dort wird
die Unüberschaubarkeit der Welt aufgeführt, indem man sie modellhaft
auf die Bühne holt (oder umgekehrt die Bühne zum Modell der Welt
macht und etwa von einem theatrum mundi spricht). Auf diese Weise wird
Kontingenz hermeneutisch gebändigt: Die Aufführung von Kontingenz ist
selbst nicht mehr kontingent, und so ermöglicht sie einen Abstand vom
Handlungsdruck und einen Freiraum der Kontemplation: Kontingenz
kann in der strukturierten Form des Bühnengeschehens beobachtet und
kontempliert werden. Im Sport hingegen wird die Unüberschaubarkeit
erzeugt statt aufgeführt – und so liegt die Antwort auf das Problem auch
nicht in der Kontemplation, sondern im Tun (bzw. nicht in der ästheti
schen Distanz, sondern in der Präsenz).
Die Ausgangssituation der Renaissance zeigt nun in beiden Hin
sichten Parallelen zu Alkemeyers und Gumbrechts Befunden. Es war
eine Zeit der politischen Instabilität gepaart mit einer epistemologischen
Begründungslosigkeit des politischen Handels. Der Verdacht setzte sich
durch, die Welt könnte entweder von nicht verstehbaren Prinzipien regiert
werden, oder gar dem unbeschränkten Wüten des Zufalls – der Fortuna
– ausgesetzt sein. Novellistik, Roman und Philosophie stellten sich die
sem Problem qua Darstellung hermeneutisch, indem sie das Wüten der
Fortuna immer wieder neu als Handlung strukturierten. Sie verschärften
es aber auch gemäß der These einer sich selbst verkomplizierenden Wis
sensordnung einer Risikogesellschaft: Schließlich produzierten sie eine
diskrepante Pluralität der Wissensordnungen und das ließen Spiel der
Perspektiven, der Fiktionen und der Sprachen ausufern.18
Damit trifft die Commedia dell’Arte tatsächlich auf ähnliche Voraus
setzungen wie Alkemeyers Mannschaftssport. Allerdings ist die Commedia
dell’Arte trotz aller Improvisation und Kontingenzproduktion eine Büh
nenform, und muss daher auch vor dem Hintergrund der dramatischen
Tradition beschrieben werden, in die sie sich qua dramatischer Neu
organisierung der saltimbanchi-Kunst einschrieb, und in die sie letztlich
ja auch einging. Diese Tradition ist gerade in der benannten Hinsicht
extrem sprechend, denn die Commedia dell’Arte entstand kurz nach
Lorenzo Vallas Übersetzung der aristotelischen Poetik, deren damaliger
Einfluss kaum überschätzt werden kann. Als Kerngedanke dieses Tex
tes galt in der Renaissance eine besondere Legitimierung dichterischer
Erfindungskraft. Dichter, so lehrte Aristoteles, erfinden nicht einfach
18 Hempfer 1992.
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 595
irgendwelche Geschichten – sie setzen vielmehr Prinzipien ans Werk,
die auch in der Welt anzutreffen sind. Damit geben sie den Dramen ihre
Wahrscheinlichkeit: Solange sie im Rahmen dieses Wahrscheinlichen
bleibt, kann Dichtung ausloten, was nicht ist oder war, aber sein könnte.
Theater ist damit eine auf die Bühne verlängerte Form des Denkens
des Zufalls im Aggregatzustand seiner Bändigung durch Prinzipien des
Wahrscheinlichen. Modellbildende Darstellung überträgt Kontingenz in
den Zustand des Denkens in Möglichkeiten.
Diese Theorie widerspricht natürlich den zuvor beschriebenen
Voraussetzungen der Renaissance als einer Epoche, die sich der Kon
tingenz ausgeliefert sah. Denn wo der unberechenbare Zufall regiert, da
wird Wahrscheinlichkeit nur allzu leicht zur Makulatur. Sie steht dann
unter einer Beweislast, der sie gemessen an der Unüberschaubarkeit der
Wissensordnungen und der durch sie generierten Weltsichten kaum
gerecht werden kann. Frühneuzeitliche Novellistik und Roman – die der
aristotelischen Poetik weniger ausgesetzt waren – sind maßgeblich dem
Thema der Kontingenz verschrieben. Im Theater der commedia erudita
scheint man es mit dem Postulat der Wahrscheinlichkeit ebenfalls nicht
ganz so genau zu nehmen und achtet eher auf die Einheit der Handlung.
Selbst die der aristotelischen Poetik verschriebene Tragödie des französi
schen théâtre classique bindet das Prinzip der Wahrscheinlichkeit an die
höfische Etikette und nicht so sehr an den Lauf der Welt. Und vieleicht
lässt sich das Renaissancetheater unter anderem entlang des Konstituti
onsproblems beschreiben, dass es seine Poetik an einer Theorie bemaß,
die in ihre eigene Krise hinein übersetzt worden war.
Die Commedia dell’Arte stellt sich diesem Problem auf die beschrie
bene wahrscheinlichkeitsindifferente Weise. Ob sie dies in jedem Fall
auch bewusst tat, ist vielleicht nicht die entscheidende Frage – schließlich
gründet auch die Plausibilität von Alkemeyers Befunden nicht auf dem
Umstand, dass jedem Fußballspieler oder fan Becks Risikogesellschaft
ein Begriff wäre. Ebenso deutlich wie im heutigen Mannschaftssport
erkennt man in der Commedia dell’Arte das Problem einer sich als einer
Kontingenz unterworfen verstehenden Kultur. Sie zielte nicht auf die
Erfindung und Aufführung von Möglichkeitsmodellen, sondern lotete –
ganz im Rahmen ihrer artistischschaustellerischen Herkunft – die Gren
zen des Menschenmöglichen aus. Sie setzte nicht auf ein dichterisches
Möglichkeitsdenken, sondern auf ein schauspielerisches Möglichkeitshandeln. Gerade in diesem Sinne wird der Plot (also der Austragungsort des
aristotelischen Möglichkeitsdenkens) zum bloßen Ermöglichungsrahmen
zur Produktion des Unerwarteten und kaum Handhabbaren degradiert, an
596
dem die commedianti sich immer neu zu bewähren hatten. Die Ästhetik
des Unwahrscheinlichen und des Überbordens von Unvorhersehbarem
und potentiell Unverbundenem rahmt das Wunder des Menschenmögli
chen, das sich im Auftauchen einer Form des Handelns aus dem Chaos
der Situation ereignet.
So dient die besprochene Maske dem Möglichkeitshandeln gerade,
indem sie die sowohl das Möglichkeitsdenken als auch die faktischen
Möglichkeiten der Selbstinszenierung weitgehend unterbindet. Und
gerade insofern ist auch ihre ikonische Funktion so wenig akzentuiert,
eine Charakterdarstellung kaum an ihr abzulesen – während sie ande
rerseits auf körperliche Handlungsorientierung angelegt ist. Die Masken
der Commedia dell’arte halten damit vor der Bildwerdung inne, bleiben
im Handeln und also vor der Kontemplation stehen; doch gerade auf
diese Weise können sie als Schatten jener PorträtTradition gelten, die –
vertraut man Hans Belting19 – seit der Renaissance das Gesicht in Form
des Porträts und der Verbildlichung zu einem Hauptaustragungsort der
visuellen Kultur zu machen begann.
II. GUY FAW K ES
A2
Die zweite Maske steht am Ende der von Belting beschriebenen Ent
wicklung. Sie ist keine Halblarve, sondern verdeckt das ganze Gesicht.
Sie ist aus Plastik. Ein Massenprodukt, das keine 5 Euro kostet. Lizen
siert ist sie bei Time Warner; ca. 100.000 dieser Masken werden allein
bei Amazon pro Jahr vertrieben. Zunächst war sie nur als Gadget für
Kinopremieren gedacht. Doch angefangen mit einer kleinen Gruppe von
Libertarians, die gegen eine Zensur des Films demonstrierten, wurde
das GuyFakesKonterfei von »hacking as leaking«Hacktivists, von
der AntiACTABewegung, von der OccupyBewegung von Friedens
demonstranten und Umweltaktivisten verwendet, sie spielte eine Rolle
im Arabischen Frühling und dem mexikanischen Drogenkrieg und
wurde, wie Lewis Call 20 argumentiert, zu einer Art frei flottierendem
Signifikanten. Am engsten verwoben ist sie mit der Anonymous oder
AnonBewegung, wo sie erstmals bei einer Demonstration gegen die
Internetpolitik der Scientology Church eingesetzt wurde. Fortan stand
19 Belting 2013.
20 Cal 2007.
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 597
2 GuyFawkesMaske
598
sie einem InternetMeme Pate, das von jedem User anonym benutzt
werden kann.
Die Maske ist fast weiß, womit sie an eine Porzellan oder auch eine
Totenmaske erinnert – an das Bild einer Maske sozusagen, oder an die
Maske als bildliches Porträt. Auch das Rot der Wangen und der Bart
wirken wie gemalt. Die ikonische Dimension ist hier geradezu überbe
tont. Das gilt sowohl für die karikaturenhaft überspitzten Gesichtszüge
als auch für den ebenso überspannten Gesichtsausdruck. Damit scheint
die Funktion der GuyFawkesMaske tatsächlich eine Art Gegenstück zu
derjenigen des Arlecchino zu sein. Wo dort die Maske um ihre ikonische
Funktion verkürzt wurde, ist hier das Verhältnis von Maske und Porträt
Austragungsort der Maskenpraxis: Wo dort eine körperlich-performative
Kehrseite der Porträttradition zu beobachten war, geht es hier durchaus
um die Maske als Porträt und das Porträt als Maske.
In einem einfachen Sinne stellt diese Maske den GunpowderAtten
täter Guy Fawkes dar, der 1605 beinahe die Houses of Parliament in die
Luft gesprengt hätte. Genauer gesagt schreibt sich diese Maske in das
Wuchern seine Porträts ein. Fawkes Gesichtszüge lassen sich zwar kaum
aus zeitgenössischen Stichen rekonstruieren – doch richtet man ihn jedes
Jahr am 5. November, dem Tag des geplanten Anschlags, erneut in effigie
hin, verbrennt ihn als Puppe. Das Gesicht steht damit unter Reproduk
tionszwang. Im 19. Jahrhundert verselbständigte sich dieses Ritual zur
fröhlichen Bonfire Night, immer größer und grotesker werdende Puppen
wurden verbrannt, Kinder mit grotesken GuyFawkesMasken gingen von
Haus zu Haus. Das GuyFawkesKonterfei wurde zum Kollektivgesicht.
Das englische Wort »guy« leitet sich aus dieser Tradition her.
Im 1981 erschienenen Comic V for Vendetta (geschrieben von Alan
Moore und gezeichnet von David Lloyd; erstmals 1981 im Warrior ver
öffentlicht) entstanden die heute maßgeblichen Gesichtszüge. Der post
moderne Anarchist V trägt dort eine GuyFawkesMaske. V ist selbst
gesichtslos. Halb verbrannt und entstellt hat er die Flucht aus einer
Art KZ überlebt. Als er stirbt, tritt seine Nachfolgerin Eve das Erbe an,
ohne jemals sein verborgenes Gesicht gesehen zu haben. Sie schickt
seinen maskierten Leichnam mit Plastiksprengstoff und Lilien in einem
UBahnwagon unter die Downing Street. Damit erfüllt sie sein Werk
und bringt den dystopisch gezeichneten faschistischen Staat eines post
nuklearen England zu Fall.
Die Verfilmung des Comics (Warner Brothers, 2006) geht hier noch
stärker auf die kollektivierende Funktion der »Guy«Maske ein. Sehr
bewusst scheint die Maske hier einen umgekehrten Weg zu gehen zu
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 599
demjenigen, den Hans Belting in seinem kürzlich erschienenen Buch
Faces beschrieben hat: Für Belting wird die vom lebendigen Träger be
seelte Ritualmaske über das erstarrte persönliche Gesicht der Totenmaske
zum individuellen Gesichtsausdruck im Porträt, das gerade in seiner
Individualität Spiegelbild der Gesellschaft sei. Hier hingegen wird dem
individuellen Konterfei von Guy Fawkes jede Individualität genommen,
indem es zur Totenmaske des V wird. Gerade deshalb kann die Maske
auf ein sich in ihr anonymisierendes Ritualkollektiv von Allerweltsmen
schen – ›guys‹ eben – übergehe, das gleichzeitig auf der Straße den Staat
in einem revolutionären Sturm auf die Houses of Parliament überrennt,
unter denen nunmehr Vs U-Bahn.Waggon explodiert. Auf die Frage, wer
V gewesen sei, antwortet Eve nun: »Er war mein Vater und meine Mutter,
mein Bruder, meine Freunde. Er war Du und ich. Er war wir alle.«
Zusammenfasst scheint die GuyFawkesMaske damit fast schon das
Gegenteil zur ArlecchinoMaske zu sein. Ging es bei Arlecchino um das
Eingehen der Maske in die Körperlichkeit, spielt die GuyFawkesMaske
mit einem Porträt, das den Ausdruck des Gesichts vom Körper löst und
ihn auf eine symbolische Fläche überträgt.21 Die endlose Reproduktion
Gesichts hat die Maske sogar weitestgehend vom historischen Guy
Fawkes getrennt. Mehr als dessen Gesicht stellt diese Maske ihrerseits
eine weitere Maske dar – nämlich diejenige des fiktiven Anarchisten
V. Und ermöglichte die ArlecchinoMaske ein vom Inszenierungsbe
wusstsein losgesagtes Handeln, so steht hier die Dichotomie von Sich
Zeigen und SichVerbergen im Zentrum – und zwar im Rahmen einer
Massenproduktion der Porträts. Die überbordende Reproduktion eines
Gesichts macht es zur, wie Belting es nennt, »totalen Maske«, die nichts
mehr repräsentiert und hinter der auch kein Porträtierter mehr steckt.22
Für diese Bewegung ist das Verschwinden des historischen Guy Fawkes
hinter den Masken der »guys« geradezu paradigmatisch.
Allerdings legen schon die Eingangsszenen des Films nahe, dass die
oben beschriebene Maskenfunktion – die Maske als Handlungsermög
lichung und Tarnkappe der Identität im entfesselten Tun – nicht völlig
aus dem Blickfeld geraten ist: Im Wechsel zwischen zwei Schauplätzen
sieht man Eve und V dabei, sich zu maskieren: Er legt sein GuyFawkes
Gesicht an, um auf einen nächtlichen Rachefeldzug zu gehen, sie schminkt
sich, um sich als Prostituierte zu verdingen. In beiden Fällen ermöglicht
21 Belting 2013, 120.
22 Moore und Lloyd 1988, 298.
600
die Maske ein Handeln, für das es nötig ist, sein Ich zu verbergen. Einmal
mehr kommt es auf das Handlungsbewusstsein an.
Tatsächlich ist die Tradition der GuyFawkesMaske nicht nur die
jenige des Porträts. Sie ist auch diejenige eines Rituals – und diejenige
eines Comics. Die von Belting – man fürchtet schon fast: absichtlich –
übersehene Proliferation von Superheldenmasken (von Fantomas bis zu
Zorro, von Spiderman bis zu Darth Vader) widerspricht manifest seiner
These, dass die westliche Kultur keine Maskenpraktiken mehr kenne,
und dass die Exuberanz der Porträt-Tradition an die Stelle der Masken
getreten sei. In solchen Comics ermöglichen Masken in aller Regel den
Übergang von einer Alltagsidentität ins Superheldendasein. Sie sind mar
kante Beispiele für die oben beschriebene Maskenfunktion und führen
dabei in eine Form des Handelns, die einen ActionFilm erst zu einem
solchen werden lässt. ›Action‹ ist gewissermaßen das genrespezifische
Wort für ein Handeln, das nicht in der Logik des Plots, sondern der
Spezialeffekte seinen Austragungsort hat. Die charakterliche Dimension
tritt zurück und das Handeln selbst wird zum Akteur.
Die GuyFawkesMaske, die ihren Weg vom Superheldencomic in
die Rituale politischer Öffentlichkeit gefunden hat, ist hier sprechend.
Der fiktive Anarchist V ist ja selbst ein Superheld mit sechs Wurf- und
Fechtschwertern. Allerdings ist V auch ein Sonderfall, ein Hybrid, da
seine Maske – eben – auch als Porträt funktioniert. Das verleiht ihm
einen Gesichtsausdruck, der zu seiner Action quer steht und ihr eine
fast unheimliche Ironie abgewinnt. Zudem wird der Übergang vom
Alltag in die Action nun auch dem Kollektiv der ›guys‹ zugetraut. Die
Superheldenfunktion überträgt sich auf die maskierte Menschenmasse,
die in einem gemeinsamen Handeln verschmilzt und das faschistische
Regime überrennt. Die Maske bewirkt die Vereinigung eines Kollektivs
zu einem gemeinsamen Körper. Es entsteht, um es etwas hochtrabender
zu sagen, eine Art anarchistisches corpus mysticum. Damit scheint auch
der GuyFawkesMaske ein insHandelnhineinführendes, ein Hand
lungsmöglichkeiten freisetzendes Moment zu eignen. Doch bleibt noch
zu beschreiben, wie sich diese Funktion – anders als bei Arlecchino – mit
dem Porträthaften vereinigen kann.
Zumindest der politische Gebrauch der Maske kann die Superhelden
action allerhöchstens metaphorisch ernst nehmen. Wenn dieser Maske
ein spezifisches Möglichkeitshandeln eignet, dann liegt sein Austragungs
ort schon an einer ganz anderen, wesentlich symbolischeren Stelle als dies
bei der ArlecchinoMaske der Fall war. Zunächst ist hierzu festzuhalten,
dass in einem grundsätzlich gewandelten Kontext steht. In einer – wie
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 601
Thomas Macho23 es nennt – »facialen« Gesellschaft ist das Gesicht zum
maßgeblichen Schauplatz der Kultur geworden. Sowohl die Porträttradi
tion als auch Comic und Film machen deutlich, dass die GuyFawkes
Maske an dieser Stelle ansetzt. Entsprechend ist sie auch im politischen
Handeln keine bloße Vermummung, sondern sie benutzt ihrerseits ein
Gesicht, um ein Gesicht zum Verschwinden zu bringen (bzw. von der
biometrischen Identifizierung zu entbinden).24 Ganz offenkundig steht
bei der GuyFawkesMaske also jene Frage nach subjektiver Identität und
Rolle im Vordergrund, die von der ArlecchinoMaske eher ausgeblendet
war. Allerdings geht das Porträt, wie gesehen, paradoxer Weise mit einer
EntGesichtung, einer Kollektivierung und Anonymisierung einher. Das
SichZeigen und SichVerbergen wird nur auf eine sehr primitive und
auch sehr standardisierte, kaum an postmoderne Identitätsspiele oder
phantasievolle Maskeraden erinnernde Weise durchexerziert. Ausgefeilt
und als Kulturtechnik ausgearbeitet ist die Funktion der GuyFawkes
Maske nur in Hinblick auf das Handeln, das sie ermöglicht.
Anders als die Masken der Commedia dell’Arte zielt die Anonymus
Maske aber nur im Comic – nicht in den Aktionen der Hackingas
LeakingActivists auf eine virtuose Körperlichkeit; vielmehr setzt sie ein
ikonisches Abzeichen, ein Meme an die Stelle des Leiblichen. Bereits im
Film wird diese Entkörperlichung thematisch, als – während die Kamera
die Maske zeigt – Eves entkörperlichte (aus dem Off sprechende) Stimme
eingangs formuliert: »[…] you cannot kiss an idea. You cannot touch it,
or hold it.« Als sie V am Ende dennoch küsst, küsst sie nur seine Maske:
Ein Bild das nicht einmal sein Porträt ist. Während die die GuyFawkes
Maske die individuelle Identität also zum Verschwinden bringt und ein
anderes Handeln ermöglicht, wird dabei keine Körperlichkeit freigesetzt,
sondern der kollektiven Haltung ein »guy«Gesicht verliehen, in der an
dere Spielarten der Identität aufgehen können. Die Möglichkeiten, die die
Maske freisetzt, sind damit ganz andere. Handeln ist hier ausdrücklich
auf ein kommunizierendes SichZeigen und SichVerbergen hin angelegt.
Diese Ausrichtung der GuyFawkesMaske ist gerade insofern
sprechend, als – im Vergleich zum Kontext der Arlecchino-Maske – im
Hintergrund der Maskenpraxis auch ein gänzlich anderes Verhältnis von
Möglichkeit und Kontingenz anzutreffen ist. Grundlage hierfür scheint
23 Macho 1996.
24 Die hier maßgebliche AnonRegel #17 besagt ZITAT »Cover your face. This
will prevent your identification from videos taken by hostiles, other protesters,
or security.«
602
mir ein gewandeltes Verhältnis zum Zufall und zum Möglichkeitshan
deln zu sein. In einer digital mediatisierten Welt tritt die Simulation
von Kontingenz in vielen Lebensbereichen an die Stelle der Fiktionalität
und der Entwürfe. Zufall wird nicht mehr so sehr durch fiktionale Wahr
scheinlichkeit gebändigt, sondern vornehmlich im Rahmen virtueller
Berechnungen. Von der Effizienz dieser neuen Form der Modelle zeugt
die Präzision von Big DataErhebungen für ansonsten so ungreifbare
Phänomene wie Kollektivstimmungen oder Zukunftsszenarien – und
dies gilt umso mehr, als diese Modelle sich zunehmend unabhängig
vom menschlichen Verstand produzieren und somit das menschliche
Möglichkeitsdenken über das Maß hinaus steigern und zugleich hinter
sich lassen. Virtuelle Modelle sind so komplex und so vielfältig, dass sie
ihrerseits von Menschen kaum noch zu kontrollieren sind. Wichtiger ist
noch der Umstand, dass im Rahmen dieses technischen Umgangs mit
dem Möglichen Realität nicht nur entworfen, sondern auch produziert
wird: Anders als die Modell und sinnliche Welt noch trennende, auf
Imagination und Aufführung angewiesene Fiktionalität binden diese
den handelnden Menschen in das sich selbst durchspielende Weltmodell
mit ein.
Ein einfacher Gedanke aus Frank Schirrmachers letztem Buch Ego25
hilft zu veranschaulichen, wo der Unterschied zur diskursiven Modell
bildung liegt (sei diese nun fiktional oder theoretisch). Schirrmacher
bespricht das Modell des rational und egoistisch handelnden Homo
Oeconomicus. Dieser ökonomische Mensch ist Schirrmacher zufolge
nicht qua theoretischer und literarischer Diskursmacht im 18. Und 19.
Jahrhundert verwirklicht worden (wie etwa Josef Vogl vermutet): 26 Damals
entstanden zwar die Modelle und entfalteten auch durchaus ihre Macht
aufs politischökonomische Leben, doch wurde der Homo Oeconomics
damit noch nicht zum ökonomischen Faktum. Verwirklicht wurde er
stattdessen erst mit virtuellen Mitteln: Dadurch dass die ökonomischen
Transaktionen zunehmend mit einer Software durchgeführt werden,
die (paradigmatisch zu beobachten etwa bei ebayAuktionen) dem öko
nomischen Modell des rational und egoistisch handelnden Menschen
folgt, wurde den Modellen Wirklichkeit verliehen. War die ökonomische
Theorie zuvor dem Problem ausgesetzt, dass – mit Rodney Brooks ge
sprochen – »die Welt selbst ihr bestes Modell« war (d. h. dass alle Modelle
25 Schirrmacher 2013.
26 Vogl 2010.
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 603
letztlich an der Welt scheiterten), so macht die Virtualität der Gegenwart
das Modell zu seiner eigenen besten Welt. Tatsächlich beschreibt schon
der Comic V for Vendetta das Weltwerden der Modelle.27
Was nun in der fiktionalen Kultur die Masken waren, sind in der
virtuellen Kultur die Avatare. Zum einen ermöglichen sie das Spiel mit
den Identitäten und Rollen, wie das z. B. im altbackenen Second Life
geschieht. Zum anderen gibt es die Möglichkeit der – teilweise sehr
immersiven – Interaktion unter Ausschluss der Blicke anderer auf das
physische Dasein. Avatare übertreffen Masken in der Hinsicht, dass sie in
der Interaktion mit anderen Usern die Sichtbarkeit des eigenen Körpers
viel besser zurücknehmen. Man kann sich viel freier neu erfinden und
kostümieren, und man kann in viel mehr Modellwelten eintauchen. Vor
allem aber ermöglichen Avatare im immersiven Computerspiel eine Äs
thetik des Ausagierens. Denn im Gegensatz zu fiktionalen Welten eröffnet
die Virtualität einen direkten und unmittelbaren Kurschluss zwischen
Modell und sinnlicher Gegenwart, zwischen der Welt, die man entwirft
und der Welt, in der man handelt. Während Fiktionalität das imaginäre
oder aufgeführte Erstehenlassen einer möglichen Welt in einem Raum
der (bloßen) Vorstellung und Darstellung eröffnet, ermöglicht Virtualität
eine Verwirklichung der möglichen Welt bis an den Punkt, an dem man
im Raum des vermeintlich bloß Möglichen die Optionen sinnlich aus
agieren und teilweise auch ›faktisch‹ (mit Rückkopplungseffekten und
Konsequenzen auf die Außenwelt) handeln kann: Die Grenzen zwischen
Entwerfen und Ausagieren, zwischen Möglichkeitsdenken und Möglich
keitshandeln verschwimmen.
Die oben umrissene Ästhetik der Fiktionalität zielte auf Vorstellungs
kraft und theatrale Aufführung und so konnte die Commedia dell’Arte
dieser Ordnung das improvisierende Ausagieren als ein nicht bloß
dargestelltes Handeln noch entgegenstellen. Die produktive Spannung
dieser Bühnenform ergab sich entlang der Brechung von rahmender
Dramenhandlung am improvisierten Handeln. Hier lag auch ihr anti
aristotelisches Moment, denn definiert Aristoteles das Drama als Mi
mesis (d. h. Aufführung) von Handlungen, so erfordert die Ästhetik des
27 Dort sagt der Protagonist V z. B. (Moore und Lloyd 1988, 218): »In a bureau
cracy, the file cards are reality. Punching new holes we recreate the world.« Der
Fokus auf die Bürokratie wirkt hier inzwischen genauso steinzeitlich wie die
Lochkarten: Es ist sehr klar, dass die Modelle inzwischen viel umfassender zu
ihrer eigenen Wirklichkeit geworden sind, als diese noch recht unschuldigen
Sätze vermuten lassen.
604
unglaublichen Gelingens improvisierter Form nicht aufgeführte, sondern
ausgeführte Handlungen. Gerade insofern konnte die Commedia dell’Arte
ihr (in der Bühnendynamik statthabendes) Möglichkeitshandeln gegen
das (einen entwerfenden Dichter und einen hermeneutischen Zuschauer
voraussetzenden) Möglichkeitsdenken ausspielen. Die Fiktionalität des Vi
deospiels ist indes auf der Produktionsseite auf kein dichterisches Erfinden
beschränkt, sondern schließt den maschinell eröffneten Möglichkeitsraum
mit der Erfindungskraft professioneller ›creatives‹ kurz: Möglichkeiten
werden nicht als Fiktion entworfen, sondern ergeben sich im Kurzschluss
von menschlicher und maschineller kognitiver Prozesse. Auf der Rezepti
onsseite wird das improvisierende Ausagieren somit zum Teil der Modell
Welt; es wird Teil der zu ihrer eigenen Welt werdenden Simulation und
verliert darüber seine dem fiktionalen Modell widerstrebende Weltlichkeit.
Die Rahmung des Handels durch eine von virtuellen Modellen
produzierte Umwelt ist natürlich nicht nur auf Avatare in Videospielen
beschränkt. Die Macht des Virtuellen schlägt sich auch in der avatarähn
lichen digitalen Existenz unserer Zeit nieder: Paradigmatisch am Beispiel
des Navigationssystems zu beobachten verschmelzen immer mehr die (im
Rahmen eines Denkens der Fiktionalität noch voneinander getrennten)
Ebenen von Modell und Wirklichkeit – und folglich auch diejenigen des
Entwerfens und des Handelns. Bloß ist – und hier liegt die Kehrseite
dieser Entwicklung – Handeln im Raum des Virtuellen nur insofern
möglich, als es im Modell potentiell schon vorgesehen ist. Somit ergibt
sich auch ein – wesentlich verändertes – Problem mit der Kontingenz,
das darin besteht, dass Unvorhersehbares weiterhin möglich ist, ja, dass
die Inkompatibilität der weltgewordenen Modelle untereinander folglich
auch in bis dato unbekanntem Maß Parallel und Partialwelten ausbilden,
deren kontingentes Zusammentreffen neue Unberechenbarkeit schafft.
Der Umgang mit diesen Welten kann die Kontingenz des dieser fraktalen
Welt ausgesetzten Menschen teilweise durchaus befördern – jedenfalls ist
menschliche Unberechenbarkeit nicht aus der Welt. Aus dem (jeweiligen)
Modell indes ist sie schon. Um mit Donald Rumsfeld zu sprechen, produ
zieren weltgewordene Modelle damit strukturell »unknown unknowns«,
Dinge, von denen das jeweilige Modell nicht wissen kann, dass es sie
nicht weiß.
Hier setzt die AnonymousBewegung an. Sprechend für diesen Um
stand ist, dass die GuyFawkesMaske gerade nicht als Avatar eingesetzt
wird, also kein Teil der virtuellen Hyperästhetik ist: Sogar ›stand alone
versions‹ für die Gesichter selbst zusammengestellter Avatare sind an
gesichts der Popularität der Maske, extrem selten (einzige Ausnahme ist
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 605
das Videospiel Call of Duty, wo man sie für die zu erschießenden Gegner
benutzen kann). Die Faszinationskraft der GuyFawkesMaske speist sich
offenbar gerade aus der archaischen Verwendung einer physischen Maske
bzw. aus der ebenso steinzeitlich wirkenden Verwendung eines memes in
der Zeit der Gesichterflut auf Facebook und Instagram. Umso deutlicher
schlägt sich dieser Umstand im Bereich der durch die Maske ermöglichten
Handlungen nieder. Die blinden Flecke der virtuellen Modelle sind das ei
gentliche Element dieser Maske. Das gilt für die Versuche der Hacktivists,
das Funktionieren der Virtualisierung der Menschen blockieren; es gilt für
die Anons, die dem virtuellen SelfFashioning eine Entgesichtung entge
genstellen; und es gilt für die BlockupyBewegung, die dem virtualisierten
Finanzmarkt mit der archaischen Macht physischer Körper begegnet.
Die merkwürdige Einheit von Handlungs und Porträtfunktion der
GuyFawkesMaske erklärt sich vor diesem Hintergrund. Denn jeweils
bekommt das Handeln aus dem unvorhergesehenen Nirgendwo ein
Gesicht verliehen, das die persönliche Physiognomie anonymisiert und
kollektiviert. Die GuyFawkesMaske setzt das Handeln auf Distanz
zum SichZeigen. Und diesen Umstand stellt sie sogar ikonisch dar: Das
eingefrorene Grinsen gewinnt in der AnonymousBewegung eine Mo
tivation im expliziten »I did it for the lulz« (also für die Chat-Variante
des Lachens). Man stellt also den Modellen des Möglichen das entgegen,
was ihre Ordnung unterläuft. Im Lachen und in der Logik des Hinein
platzens sowie der Transformation sozialer Wirklichkeitskonstruktion
in ein überforderndes Chaos kommen die Masken des Arlecchino und
des Guy Fawkes also durchaus zusammen – bloß die Art, wie sie das tun
ist grundverschieden. Nicht mehr auf spontane Improvisation richtet
sich die Maske der Anons, sondern auf den geplanten Anschlag, nicht
auf die Handlungsvirtuosität des vom Plot, von der Dramenhandlung
überforderten Arlecchino, sondern auf die Absurdität eines scheinbar
sinnlosen Plots, einer absurden Verschwörung, die geplant und gezielt auf
das Einbrechen des Blinden Flecks in die Ordnung der Systeme gerichtet
ist und die menschliche Erfindungskraft als Motor der Kontingenz feiert.
III. FAZIT
Mein Vorschlag zur Bestimmung von Masken war es – neben die heu
ristischen Konzeptionen einer dionysischekstatischen Kultmaske und
einer apollinischen, auf die Frage nach dem inszenierten Selbst bezogenen
Rollenspielmaske – einen dritten, ebenso heuristischen Typ zu setzen,
606
der sich weder im SichZeigen und SichVerbergen erschöpft, noch in
eine ekstatische Zwischen oder Nebenwelt führt, sondern vor allem die
Ausblendung des Blicks der Anderen betreibt.
Die Verbindung von Maske und Möglichkeit, um die es mir ging, ist
dabei nicht neu. In Hinblick auf die apollinische Maskenfunktion hat die
Maskentheorie schon oft darauf hingewiesen, dass Masken ihrer Träger
auf Distanz zu ihrer Identität setzen. Dass der gewonnene Abstand vom
eigenen Ich das spielerische Selbsterfinderisch-Werden und die Fiktion
anderer Identitäten befördern kann, liegt auf der Hand. Das Ausblenden
des eigenen Gesichts und sein Ersatz durch eine bildliche Maske kann
eine Suspension des Zwangs führen, man selbst sein zu müssen. Die
Selbstdarstellung wird entfesselt und einem Denken in Möglichkeiten
überantwortet. Mögliche Formen des Handelns werden im Konjunktiv
des durchgespielten Modells erschlossen. Auch die dionysische Maske
geht mit einer Ermöglichung einher – der Ermöglichung trancehaften,
von keinem Selbstbewusstsein behinderten (Kult)Handeln.
Die in diesem Aufsatz hervorgehobene weitere Funktion der Maske
– die gewissermaßen im Dreieck sowohl zwischen den beiden bekannten
Funktionen als auch in einer zweiten Dimension oberhalb von ihnen
anzusiedeln ist – ist indes nicht auf Fragen des mit sich identischen
(oder unidentischen) Selbst, sondern auf Fragen des handelnden Selbst
ausgerichtet. Und in dieser Hinsicht befreit die Maske nicht die Selbst
Inszenierung von den Zwängen, denen sie unterliegt, sondern eröffnet
eine Suspension vom Zwang, sich überhaupt darstellen zu müssen.
Handeln wird damit vom kommunikativen Imperativ freigesprochen,
für den Blick Anderer unternommen zu werden, man kann (teilweise
sogar physisch präsent) handeln, ohne dabei als identifizierbares Selbst
präsent zu werden. Aus dem damit verbundenen größeren Abstand zur
eigenen Identität ergibt sich ein Verlust des Abstands vom eigenen Tun.
Mögliches erschließt sich hier im indikativischen Modus seiner soforti
gen und oft überraschenden Verwirklichung. Dies kann (wie im Fall der
ersten Maske) einer besonderen Virtuosität dienen – oder auch (wie im
Fall der zweiten Maske) der Verwirklichung politischer Aktionen. Statt
auf Fragen der SelbstInszenierung oder des SelbstVerlusts zielt diese
Maskenfunktion auf eine Art ›reines‹, vor der Frage nach der Identität
und der Rolle geschütztes transpersonales Handeln, das, wie gesehen, in
einer zwischenleiblich geteilten Bühnendynamik, aber auch im digitalen
Nirgendwo einer Kollektividentität liegen kann. Statt auf dionysische
Entfesselung oder rituelle Besessenheit zielt diese Maskenfunktion ande
rerseits auf eine konzentrierte Virtuosität des Handelns. Im Rahmen der
S Ö FFNE R : M A SK E U N D M Ö GL I CH K E I T 607
Commedia dell’Arte setzte die Maske eine geradezu athletische Arbeit an
den Grenzen des für möglich Gehaltenen in Kraft und zielt auf die Eröff
nung des Möglichen im Raum scheinbarer Unmöglichkeit. Im Rahmen
politischen Handelns unter den Vorzeichen einer virtuell bestimmten
Welt eröffnete diese Maskenfunktion stattdessen einen reflexiv genutzten
Spielraum für die Verwirklichung des Unvorhergesehenen und Unvor
hersehbaren – eine Art Enklave der Fiktion innerhalb einer virtuellen
Welt und den damit einhergehenden Bruch mit einem ›spieltheoretisch‹
erschlossenen digitalen Dasein.
Entsprechend verschieden können sich die Praktiken ausgestalten,
die auf diese Maskenfunktion setzen. Sie können den Blick der Anderen
vergessen machen, wie im Fall Arlecchinos. Sie können kann aber auch
mit einem extremen Bewusstsein für diesen Blick einhergehen – ja ihn
sogar zum Austragungsort des Handelns machen, wie im Fall von Guy
Fawkes. Sie können ihre Ermöglichungsfunktion bei einem bildlosen
Körper aber auch bei einem entkörperlichen Bild (sogar einem Meme)
entfalten. Masken können damit – phänomenologisch gesprochen –
körperlichimmersiv sein, können aber auch ironische Distanz schaffen.
Mehr Fallstudien würden vermutlich auch mehr Ausformungen zutage
treten lassen – doch sind die beiden besprochenen Ausformungen – gera
de in ihrem Kontrast – bereits insofern sprechend genug, als die Ermög
lichungsfunktion von Masken offenbar in engem Bezug zur kulturellen
Arbeit am jeweiligen Möglichen steht – und zwar nicht, indem dieses
Mögliche modellhaftkontemplativ entworfen und durchdacht würde,
sondern indem Masken hier eingesetzt werden, um an die Grenzen des
kulturell Möglichen zu gehen und Handlungsformen auszuagieren die
ansonsten unmöglich wären. Gerade insofern diese Maskenfunktion auf
Handlungsermöglichung und nicht auf Handlungsdarstellung gerichtet ist,
schafft sie Möglichkeiten jenseits der durchspielenden Modellbildung.
Möglichkeiten, die nicht im das Handeln betrachtenden Denken, son
dern im Handeln selbst ihren Austragungsort haben. Masken scheinen
mir damit auf zwei wesentliche Formen der kulturellen Produktion von
Möglichkeit angelegt zu sein – eine fiktions- und spielaffine konjunkti
vische, und eine auf faktische Handlungsmöglichkeiten angelegte indi
kativische. Erst in der produktiven Spannung beider Seiten – so scheint
mir – erschließt sich das ganze Potential der Masken für das Mögliche
einer Kultur.
608
BILDREC HTE
1 Privatbesitz Jan Söffner.
2 © Time Warner 2006. Foto: Jan Söffner.
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MARTIN S C HULZ
BILD UND MASKE
Zur Anthropologie
der Bildgesichter
I. EINLEITUN G
Im Folgenden werden einige Phänomene einer historisch, kulturell wie
medial übergreifenden Bildgeschichte miteinander verknüpft, welche
das enge Verhältnis von Bild, Gesicht und Maske veranschaulichen. Ein
Anliegen ist es dabei, ein solches Unterfangen vom gängigen Zäsuren
denken der Diskurs und Technikanalysen zu distanzieren, um zumindest
zu verdeutlichen, dass es in den historischen Brüchen auch eine nach
haltige und transkulturelle Bildgeschichte gibt, mit der jede Gegenwart
in Berührung steht, bei allen grundsätzlichen technischen, politischen
und sozialen Veränderungen, die hierfür ohne Frage maßgeblich sind.
Diesen Entwicklungsgeschichten soll eine komplementäre Geschichte
an die Seite gestellt werden, die eben nicht allein in den Geschichten
der Technik, Macht, des Stils, oder der Diskurse aufgeht, sondern einen
bleibenden Anachronismus in sich trägt. Dies ist zugleich eine begriffli
che Anlehnung an einer der zentralen Thesen des Kunsthistorikers Aby
Warburg (1866–1929), der sich eher als ein Bildhistoriker verstand und
früh schon maßgeblich daran beteiligt war, die Kunstgeschichte zu einer
Kulturwissenschaft der Bilder zu erweitern.1 Insbesondere sein unvoll
endet gebliebenes Projekt des MnemosyneAtlas aus den 1920er Jahren
1 Siehe hierzu vor allem Aby Warburgs MnemosyneAtlas aus den 1920er
Jahren: Warburg 2003. Weiterführend Huistede 1995; DidiHuberman 2002;
Zumbusch 2004; Weigel 2004.
612
zeigt sein grundlegendes Interesse für die kulturellen Wanderungen,
Übersetzungen und Vermischungen der Bilder – und zwar über die
Grenzen verschiedener Zeiten, verschiedener Kulturen wie auch über
die Grenzen verschiedener Bildmedien hinweg. Hier ist nicht zuletzt der
Begriff der GeSchichte wörtlich aufgefasst, eben als Ansammlung und
Überlagerung von Schichten, wobei, im Sinne Warburgs, gerade auch die
älteren und achronen Schichten immer aktiv bleiben. Ein solcher Blick
soll in freier Weise auf die folgenden BildGesichter geworfen werden: ein
Blick, der bestimmte historischanthropologische und mediale Schich
tungen in den Fokus rückt. Sie zeigen an, dass zumindest in bestimmten,
stark ritualisierten Bildern der neuen Massenmedien Voraussetzungen
und Darstellungsmodi bestehen, die eben ältere, aber dennoch aktive
Schichten der Geschichte in sich tragen und den engen Zusammenhang
zwischen Gesicht, Maske, Bild und Medium zeigen.
II. VIS UELLE K ULTUR
Die Selbstverständlichkeit, mit welcher die Bilderströme auf allen TVKa
nälen täglich eingeschaltet und wahrgenommen werden, lässt ihre Kon
sumenten leicht vergessen, dass sie es im Spektakel der ferngesteuerten,
Raum und Zeit mühelos durchdringenden Bilder eben ›nur‹ mit Bildern
zu tun haben. Um auf die Beispiele hinzusteuern, die stellvertretend für
viele andere stehen: Es ist so leicht und ritualisiert, sich mit Druck auf
einer Taste das vertraute Gesicht einer Nachrichtensprecherin auf den
häuslichen Bildschirm zu holen, es in intimer Nähe, aber aus sicherer
Distanz anzublicken, sprechen zu hören und von ihm angeblickt und
angesprochen, ohne dabei selbst gesehen und gehört zu werden (Abb. 1).
Obgleich man sich gerne täuschen lässt, weiß jeder es doch ganz genau:
Das telepräsente Gesicht ist stets ein inszeniertes, zeichenhaftes, von Me
dien nur animiertes und übertragenes BildGesicht, das lebendig scheint,
aber nicht lebendig ist. Mehr noch: Es zeigt sich insofern als Bild in einem
Bild, als das übertragene BildGesicht bereits von einem geschminkten
und frisierten Gesicht vorgegeben ist, dessen Mimik wiederum kulturellen
Konventionen unterliegt und im Blick der Betrachter ohnehin schon als
Oberfläche eines möglichen Bildes erfahren wird. Jedes TV-Gesicht ist
daher in eine lange Verkettung von Vorbildern und Nachbildern, Vorstel
lungsbildern und Wahrnehmungsbildern eingebunden.A1
Viele Phänomene der so genannten ›Visuellen Kultur‹ können im
weitesten Sinn als bildhaft aufgefasst werden, so etwa die mit Schminke
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 613
1 Marietta Slomka im ZDF, heute journal am 3. Juli 2014
und Frisuren, Kleidern und Schmuck sich zeigenden Körper, das Design
eines Autos, eine schöne Landschaft oder die ausgedehnten Architek
turräume, in denen sich bestimmte Blickordnungen manifestieren und
vieles mehr.2 Hieran knüpfen die im angloamerikanischen Sprachraum
längst etablierten Visual Studies in ihrer ganzen heterogenen Breite an.
Nach wie vor wird heftig darüber diskutiert, was unter dem Visuellen
und der Visualität genau zu verstehen ist; darüber, was, wenn alles Vi
suelle gemeint ist, überhaupt Bilder und was der Gegenstand sowie die
verbindliche Methodik sind; und darüber schließlich, ob in dieser aus
ufernden Gesamtschau nicht alle historischen, kulturellen, medialen und
qualitativen Unterschiede der Bilder miteinander vermengt und nivelliert
werden.3 In der schier endlosen Vielfalt der möglichen Themen kann man
dennoch einen ungefähren Nenner ausmachen, welcher vor allem in der
ikonoklastischen Kritik an den machtpolitisch kalkulierten Strategien
der Bilder, ihrer Medien und skopischen Regime besteht.4 Billiarden
an Bildern stehen hierfür heute zur Verfügung, und an jedem für sich
lässt sich, mit allen Unterscheidungen, etwas genuin Bildhaftes zeigen.
Entgegenkommend sind stets solche Bilder, die an sich selbst und daher
2 Der bereits gebräuchliche Begriff der ›visuellen Kultur‹ ist die wörtliche
Übersetzung von ›visual culture‹ und ist unmittelbar an die Idee der ›visual
studies‹ angelehnt; vgl. hierzu etwa Holert 2000.
3 Vgl. hierzu insbesondere die Kritik in der Ausgabe der Zeitschrift October
77 (1999); ferner Mitchell 2005; zuletzt: von Falkenhausen 2015.
4 Vgl. hierzu Schulz 22005, 85 ff.
614
in metabildlicher Weise ihre historischen, medialen oder politischen
Bedingungen als Bilder deutlich machen. Das können, wie gewohnt, Bil
der der selbstreflexiven und autonomen Kunst sein; das können jedoch
auch, bei aller qualitativen Differenz, die trivialsten, aber eigentlichen
machtvollsten Bilder der Massenmedien sein: die televisionären Bilder,
die täglich von größter Ferne in die intimsten Räume strahlen. Diese
gehören ohne Zweifel zu den einflussreichsten Bildern und sind mit
größtem Sendungspotential ausgestattet; mit einem Potential, das kaum
eine andere Institution früher und besser erkannte als die katholische
Kirche, die bis heute ihre Bildmacht und Bildkompetenz eindrucksvoll
unter Beweis stellt. Marshall McLuhan, der Ahnvater für die Theorie der
neuen elektronischen Medien und selbst konvertierter und tiefgläubiger
Katholik mit sicherem Sendungsbewusstsein, besaß nicht von ungefähr
eine hohe Sensibilität hierfür; und nicht zufällig ernannte ihn der Vatikan
1973 zu seinem offiziellen Medienberater.
Noch einflussreicher bedient sich längst die politische Macht der
›magischen Kanäle‹ (McLuhan). Ihre offiziellen TV-Bilder sind nicht
weniger kalkuliert und inszeniert, doch, wie es scheint, durchlässiger
und ergiebiger für demaskierende Aktionen, die zu erkennen geben, was
es, eben nicht nur im politischen, sondern auch in einem anthropologi
schen Sinn, mit den Bildern auf sich hat. Als Fallbeispiel sei hierfür eine
Montage aus einem populärem Film ausgewählt, die in größtem Umlauf
war: der Vorspann aus dem Film Fahrenheit 9/11, den der amerikanische
Regisseur Michael Moore 2004 in offenkundig polemischer wie tenden
ziöser Absicht zusammengestellt hat. Im Folgenden werden allein und
abstrahiert die im Vorspann montierten BildGesichter im Vordergrund
stehen, um zum eigentlichen Thema dieser Untersuchung zu kommen:
zur Maskenhaftigkeit der BildGesichter.
III. DIE MACH T IN D ER MASK E: FAHRENHEIT 9/11
A2/3nebenein.
Werden die bewegten Bilder aus ihren filmischen Abfolge still gestellt,
ausgeschnitten und nebeneinander gereiht, wirken sie wie Bilder einer
etwas eigentümlichen Porträtgalerie (Abb. 2–6; 12; 14; 16; 17). Zeigen sie
aber nun individuelle Gesichter oder eher die normierten und daher aus
tauschbaren Masken und Amtskörper der heutigen politischen Macht?
Zu sehen sind jedenfalls die weltweit bekannten und längst nicht mehr
aktuellen TVGesichter von Politikern der immer noch mächtigsten Na
tion dieser Erde: die BildGesichter von George W. Bush, Condoleezza
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 615
2 George W. Bush, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
3 George W. Bush, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
Rice, Donald Rumsfeld, Colin Powell, John Ashcroft, Tom Ridge und
nicht zuletzt von Paul Wolfowitz, dem ehemaligen Chef der Weltbank;
Bild-Gesichter, die, unfreiwillig komisch und unfiltriert, ihre Maskerade
und Doppelgesichtigkeit just in den Medien offenbaren, die ihre Gesich
ter erst produzieren, einsetzen und verbreiten; Gesichter, die mit vielen
anderen Fernsehgesichtern das Privileg, die Kompetenz, aber auch das
Risiko teilen, im grellen Licht der Öffentlichkeit eine Allpräsenz als
616
Bilder zu haben, an die Erfolg und Niederlage gebunden sind; Bilder der
Vorbereitung von BildGesichtern und ihrer VorBilder im wörtlichen
Sinn, welche die Mächtigen puppenhaft, passiv und entmachtet zeigen;
Vorgänge, die in der Regel später nicht mehr sichtbar sein werden und
nicht mehr sichtbar sein sollen, wenn sie als perfekt inszenierte Bilder
mit allen Insignien der Macht öffentlich und live zu sehen sind; Bilder
daher nicht zuletzt, die sich bereits als Bilder zeigen, bevor sie eigentlich
Bilder werden, und damit die Paradoxie jeglicher Maskierung offen legen,
nämlich etwas hervorzuheben und zu zeigen und zugleich etwas anderes
damit zu ersetzen und zu verbergen. In der rhetorischen Absicht dieses
Films, die hier nicht das Thema ist, bieten sich solche in den Archiven
der Fernsehanstalten vorgefundenen, dort herausgenommenen und neu
montierten filmischen ready-mades freilich sehr gut als Sinnbilder an
für die Janusköpfigkeit dieser sprechenden, geschminkten und frisierten
Gesichter; dieser talking heads, hinter deren Gesichter immer andere
Gesichter stecken, hinter deren Reden, so die provozierte Aussage, sich
immer andere Absichten einer eigennützigen und längst katastrophalen
Kriegspolitik verbergen.
Das auch in diesem Film simpel funktionierende Verfahren der
ikonoklastischen Demontage, das viele Vorbilder der Vorführung, Entlar
vung und Zerstörung politischer Idole oder Feindbilder hat, blieb nicht
unumstritten. Die hohe Auszeichnung mit dem Filmpreis von Cannes
2004 sowie die anfängliche Schaulust gerade an solchen Bildern ist in
viel Kritik an den suggestiven Absichten dieses Films umgeschlagen, mit
denen – erfolglos und längst überflüssig – vor allem die Wiederwahl von
Bush verhindert werden sollte; in Kritik ferner an dieser polemischen und
in vielem fragwürdigen Dokumentation wie insbesondere an der Manipu
lation dieser vorgefundenen Fertigbilder, die aus sehr unterschiedlichen
Zusammenhängen ausgeschnitten, neu montiert, gezoomt, verlangsamt
wurden und die teils aus undeutlichen, auch im Nachspann undeutlich
bleibenden Quellen stammen.5 Eindeutig identifizierbar und zuzuord
nen sind allein die Aufnahmen des amerikanischen Präsidenten George
W. Bush (Abb. 2; 3; 17). Sie sind den Minuten und Sekunden vor seiner
Fernsehrede an die Nation entnommen, in der er am 20. März 2003 den
Beginn des kriegerischen Angriffs auf den Irak verkündete.A4/5nebenein.
5 Zur Kritik siehe, mit vielen Verknüpfungen, folgende Internetseite: www.
moviemaze.de/filme/988/fahrenheit9–11 (14. Sept. 2015).
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 617
4 Paul Wolfowitz, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
5 Colin Powell, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
Dieser Vorspann ist jedoch, von Michael Moore wohl eher ungewollt,
auch für allgemeinere bildtheoretische, bildhistorische und nicht zuletzt
bildanthropologische Fragen ergiebig; für Fragen, welche die besonde
ren Beziehungen zwischen Gesicht, Maske, Bild und seinen jeweiligen
Medien in den Blickpunkt rücken. So banal, selbstverständlich und
vertraut alles scheint, so aufschlussreich ist das zu sehende Procedere
der bildwerdenden und bildgewordenen Gesichter, die, nicht nur in der
Gegenwart der Fernsehkultur, einen großen, wenn nicht den größten Teil
618
aller Bilder ausmachen. Deutlich wird der Prozess einer Bildwerdung mit
ihren verschiedenen Schichten: von natürlichen Gesichtern, die bereits
als dynamische Masken eines sichtbarunsichtbaren Inneren aufgefasst
werden können, über ihre künstliche Maskierung hin zu kalkulierten
TV-Gesichtern, die von Apparaten konfiguriert, fokussiert, eingerahmt,
aufgenommen, gespeichert, übertragen, vervielfältigt und vom Rest des
Körpers isoliert werden.A6
6 Tom Ridge, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore, 2004
In der neueren Medienkunst wurde dieses Verhältnis von Körper, Mas
kierung, Übertragung und medialer Re-Präsenz etwa in der filmischen
Installation Art Make Up von Bruce Nauman aus dem Jahr 1968 reflektiert
(Abb. 7). A7
Man stelle sich diese Bilder farbig vor, einzeln projiziert als jeweils
10minütiger 16mmFilm auf die vier Wände eines quadratischen Raumes.
Zu sehen ist der Künstler selbst, seinen nackten Oberkörper vor einem
ockerfarbenen Hintergrund frontal den Betrachtern zugewandt und seinen
Blick auf einen unsichtbaren Spiegel gerichtet, wie er sich zunächst mit
weißer, dann darüber mit roter, darüber wieder mit grüner und schließlich
darüber mit schwarzer Schminke bemalt, so dass am Ende der mit vier
einander vermischenden Farbschichten überdeckte schwärzliche Körper
eine eigentümliche Flächigkeit erhält. Der ›natürliche‹ Körper verschwindet
jeweils zunehmend hinter einer Farbschicht und wird in dieser Transforma
tion zugleich in einer neuen und anderen Weise präsent. Was ursprünglich
sukzessive und zeitlich linear stattfand, erscheint in der Installation auf
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 619
7 Bruce Nauman: Art Make Up (1967/68),
Filminstallation, Art Institute Chicago
(© Bruce Nauman)
synchroner Weise, in der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges
in einer Endlosschleife kollabieren. Der ›natürliche‹ Körper verschwindet
dabei zunehmend hinter einer Farbschicht und wird zugleich in einer
neuen Weise präsent. Präsent ist ein Körper als ein sich selbst bemalendes
Subjekt, das sich zugleich in ein Objekt, in ein BildObjekt verwandelt, so
dass sich hier mehrere Bildschichten überlagern: des ›natürlichen‹ Körpers,
des geschminkten Körpers, des technisch aufgenommenen, verwandelten
und wieder übertragenden Körpers und schließlich der als Sequenz von
Filmbildern wahrgenommene Körper. Die Bildwerdung des Körpers durch
Übermalung findet hier seine Entsprechung in der Bildwerdung des Kör
pers durch Übertragung in filmische Bilder, die wiederum einen Körper
verschwinden lassen, indem sie ihn in neuer Weise präsent machen.
IV. VORGESCH ICH TEN
Deutlich wird bei diesen konventionellen Fernsehbildern insbesondere
auch, dass hier die alte Geschichte, Tradition und die geradewegs trans
kulturelle Konvention des halbfigurigen Bildnisses so scheinbar selbstver
ständlich in den neuen Formaten der aktuellen Medien zu sehen ist. Fast
jedes Porträt, das man in einem Museum, fast jede Ikone, die man in einer
Kirche, fast jedes Werbeplakat, das man an der Straße sieht, macht uns
620
8 Geformter Totenschädel, Jericho (um 7000 v. Chr.),
Damaskus, Archäologisches Museum
diese überlieferte Konvention deutlich. Die Millionen von Bildgesichtern,
die uns täglich von Plakatwänden, in Zeitschriften, auf allen TVKanälen
umgeben, uns anblicken, anziehen oder abstoßen, überreden oder tyran
nisieren, haben, mit allen signifikanten Unterschieden, eine lange Vor
geschichte; daher ebenso die Tatsache, dass die Karriere eines Politikers
wenig Aussichten hat, wenn er nicht über medientaugliche Maskierungen
verfügt, und wir in einer Politik der televisionären BildGesichter leben,
mit denen Wahlen entschieden werden. Thomas Macho hat die histo
rischen Tiefendimensionen der dominierenden »facialen Botschaften«
und ihres »spätindustriellen Animismus« wie schließlich »die Geburt
des Gesichtes aus dem Geiste der Maskierung« bis zum Neolithikum
zurückverfolgt.6 Und noch weiter kann man die Geschichte denken, wenn
6 Macho 1996, 87–108.
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 621
man, mit Peter Sloterdijk, die Menschwerdung als eine Gesichtwerdung
im interfazialen Raum begreift, als »Protraktion« des Gesichtes, das eben
nicht mehr allein zum Fressen und Fauchen da ist, sondern dessen Sinne
frei, kultiviert und offen werden.7 Anzuführen ist hier insbesondere auch
das Buch Faces. Eine Geschichte des Gesichts von Hans Belting (2013). Es
spannt in vielen Schlaglichtern ebenfalls einen großen Bogen von der
Frühzeit bis zur Gegenwart, in dem die Maskenthematik prominent ist.
Eine kurze wie vorsichtige Rückblende in die Frühgeschichte der
Bilder, in den Totenkult im vorderen Orient vor gut 9000 Jahren, macht
deutlich, wie sehr von Anfang an Gesicht, Maske und Bild auf einander
bezogen sind. Eindrücklich veranschaulichen dies neolithischen Schä
del, die Jericho gefunden wurde (Abb. 8)8: vom Rest des Körpers gelöste
Totenschädel, deren verlorene Gesichter durch Lehm, Kalk und Farben
wiederhergestellt, deren verlorene Augen durch Muscheln ersetzt wurden,
um ihnen den Anschein von vertrautem Leben wiederzugeben; mithin
der Abwesenheit den Schein von Anwesenheit. Man gibt dabei, in die
ser Verbindung von Index und Icon, dem gesichtslosen Schädel wieder
die Maske eines Gesichtes zurück. Dies macht zum einen den engen
Zusammenhang von Bild und Gesicht deutlich; zum anderen auch das
kulturelle Bedürfnis, das Gesicht als pars pro toto eines Menschen wieder
künstlich herzustellen und erinnerbar zu machen, das als intimer Teil
einer Gemeinschaft verschwunden ist. A8
V. GES IC H T UN D MASK E
Nicht unerwähnt dürfen in diesem Zusammenhang die prominenten und
vielfach aufgegriffenen Thesen von Gilles Deleuze und Felix Guattari
bleiben.9 In ihren Mille Plateaux interpretieren sie das moderne Gesicht
– und dies ist für sie das europäische weiße, männliche Gesicht, das
vom Körper amputiert und als ›starke Organisation‹ und ›politisches
Gesicht‹ zur optischen Projektionsfläche gemacht wurde: paradigmatisch
im Christusporträt präfiguriert – dieses Gesicht interpretieren sie als ma
schinisierte Maske des despotisch von Pastoralmacht und Kapitalismus
kontrollierten Subjekts. Doch soll es im Weiteren nicht um machtpoli
tisch genutzte Konstruktionen und Verbreitungen von Gesichtern gehen,
7 Peter Sloterdijk: Sphären I. Blasen. Frankfurt a. M. 1998, S. 141 ff.
8 Siehe hierzu: Salje 2004, insbesondere 31 ff.
9 Deleuze/Guattari 1997.
622
nicht um fremdbestimmte Einschreibungen und Maskeraden; nicht um
die Möglichkeiten fiktiver Rollenspiele, um Schauspiel, Ausdruck eines
Subjektes oder um Seele und Physiognomie; nicht daher auch um das Ge
sicht als Leinwand von inneren und äußeren Einschreibungen, wie es, als
Großaufnahme, gerade in der Filmtheorie ein entscheidendes Thema ist.10
Die diktierte Semantisierung, Chiffrierung und damit die Lesbarkeit des
Gesichts als »starke Organisation« sind in ihren vielfach interpretierten
medien und diskursgeschichtlichen Zäsuren hier nicht das eigentliche
Thema – obgleich die angeführten BildGesichter selbstredend damit
auf das Engste verknüpft sind.11 Stattdessen werden diese Bilder in der
anthropologischen Perspektive einer Kontinuität von Darstellungsmodi
und ihren Bedingungen gesehen. Sie erhellen Vorgaben, die, mit allen
historischen Unterschieden, nur in einem größeren bildgeschichtlichen
Zusammenhang einen Sinn ergeben.
Hinzukommt entscheidend: Die meist negative Bewertung und
Unterscheidung von Gesicht und Maske als ein Verhältnis von wahrem
und falschem, natürlichem und künstlichem, von freiem und unfreiem
Gesicht – diese Unterscheidung ist eine moderne! Ein kurzer Exkurs zur
europäischen Begriffsgeschichte der Maske ist daher angebracht.12 Das
ursprünglich griechische Wort hierfür ist prósopon, das zunächst, seit den
homerischen Epen, Gesicht und zugleich aber auch, spätestens seit dem 4.
vorchristlichen Jahrhundert Maske heißen kann und damit gerade keinen
Widerspruch meint. Übersetzt heißt prósopon: Das, was gegenüber den
Augen sich befindet; etwas mithin, das sich nicht von innen, sondern
von außen, vom Gesehenen ableitet und das im Deutschen mit dem
›Gesicht‹ oder mehr noch mit dem ›Angesicht‹ korrespondiert. In diesem
Sinne ist das ›natürliche‹ Gesicht bereits eine Maske, die wesentlich von
einem anderen gesehen wird. Und man darf jetzt nicht sagen, dass die
Griechen, die heute die Sündenböcke Europas sind, auch dafür unfähig
waren, dies zu unterscheiden, sondern sie waren eher noch in der Lage,
dies zusammenzudenken.
10 Vgl. Aumont 1992; Koch 1995, 272–291; vgl. aber auch Gombrich 1977.
11 Das Gesicht als Bild und die ›faciale Gesellschaft‹ hat in vielen Diskussi
onen, gerade mit Blick auf die medialen Umbrüche und Krisen, eine besondere
Konjunktur erfahren. Siehe insbesondere die Beiträge in Löffler/Scholz 2004;
ferner: TreuschDieter / Macho 1996; Gläser u. a. 2001; Blümlinger/Sierek 2002;
Scheel 2004.
12 Zum Folgenden siehe: Rheinfelder 1928; Fuhrmann 1979; Weihe 2004,
41 ff.; 97 ff.; 179 ff.; Brasser 2008; Konersmann 199.
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 623
Die lateinische Übersetzung von prósopon ist persona, die eigentlich
nur mehr die Maske meint, die Theatermaske insbesondere wie aber auch,
spätestens seit Ciceros normativer Rollentheorie und im übertragenen
Sinn, die soziale, öffentliche, juristische Rolle und Aufgabe bis hin zum
Charakter und Wesen eines Menschen; in manchen Fällen auch die
Heuchelei und Falschheit und nicht zuletzt: einen grammatikalischen
terminus technicus – wohingegen der moderne, abstrakte wie idealistische
Begriff des Menschen als Person, d. h. als selbstbewusstes und freies We
sen, wie sie u. a. Kant definiert, geradezu in einer Bedeutungsverkehrung
nichts mehr mit dem antiken Rollenbegriff zu tun hat, sondern von außen
ganz ins Innere, ja ins Unsichtbare und Transzendente gekehrt wurde.
Daran war insbesondere die christliche Umdeutung der persona beteiligt.
Eine Art, wenn auch schon inhaltsleere Schnittstelle zeigt sich bereits in
der christlichen Spätantike: Der rätselhafte und paradoxe Körper Jesu
Christi wurde, nach vielem griechischlateinischem Wortstreit über seine
Doppelnatur innerhalb des komplizierten Konzepts der Trinität, von den
Lateinern als persona bezeichnet; allerdings in deutlicher Abgrenzung
zum ›Teufelswerk‹ des römischen Maskentheaters: Sein Gesicht ist gerade
nicht die verdeckend bloße Oberfläche und teilende Differenz zu dem,
was sich eigentlich dahinter befindet; es zeigt vielmehr die unteilbare
Einheit zweier Naturen in einer Person: sowohl die menschliche, sicht
bare wie sterbliche, die Christus auch hatte, und zugleich seine göttliche,
unsichtbare wie unsterbliche Natur. Gemeinsam indessen bleibt, dass
persona im antiken wie im christlichen Verständnis in der Regel nicht
negativ besetzt ist.
Immer wieder wurde übrigens, schon seit der Antike, die These
vertreten, dass das Wort persona vom Verb personare abstammen wür
de, also vom ›Durchklingen‹, mit der Annahme, dass dies sich von
der trichterförmigen Schallöffnung der Theatermaske herleite, durch
die eine persona durchtöne. Diese Etymologie hat sich längst als falsch
erwiesen. Wahrscheinlich ist eher, dass hinter persona ein etruskischer
Unterweltsgott oder dämon namens Phersu steckt, der bei Leichenspie
len für gewöhnlich als bärtiger Mann mit einem karierten Flickenhemd
und eben einer Maske auftritt, wie dies ein Wandgemälde aus der Tomba
degli Auguri in Tarquinia aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert zeigt.
Persona wäre dann das, was dem Phersu zugehörig ist, also seine komplette
individuelle Verkleidung innerhalb eines Kollektivs – daran sollte man
sich wenigstens erinnern, wenn man in seinen Personalausweis schaut.
Das heute gebräuchliche Wort Maske ist indessen wahrscheinlich dem
arabischen Wort maschara, dem Spaßmacher und Maskierten, entlehnt,
624
das wohl im 13. Jahrhundert über Sizilien in die italienische Sprache ge
langte und sich seit dem 17. Jahrhundert im Deutschen nachweisen lässt,
während die antike Bedeutung von persona eigentlich schon vergessen
war. Entscheidend ist jedenfalls, dass ›Maske‹ von Beginn an eher negativ
besetzt ist, in dem Sinn, dass sie immer ein falsches Gesicht zeige und
ein wahres Gesicht dahinter verberge.
9 Gesichtsbemalung einer CaduveoIndianerin,
aufgenommen von LéviStrauss 1930
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 625
10 Vorlage für eine Gesichtsbemalung eines
MaoriHäuptlings, Neuseeland, 19. Jahrhundert
VI. DAS G ESICH T ALS B ILD T R ÄG ER
Entscheidender Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist daher das enge
Verhältnis von Körper und Bild, das sich nirgends deutlicher als in der
Kultur der Masken zeigt; insbesondere das Verhältnis von Bild und
Gesicht, das Claude LéviStrauss als den ersten und ursprünglichen
Bildträger erkennt: als Bildträger par excellence (Abb. 9; 10).13 Das Gesicht
war Träger von Bildern, von Bemalungen und Tätowierungen, bevor sich
das künstliche Gesicht von ihm löste, auf externe Medien übertragen
wurde und es sich nicht mehr allein als soziales, religiöses, magisches
und überhaupt als kulturelles Gesicht bestätigte und auszeichnete, son
dern es darstellte. Die Beispiele, die der »Strukturalen Anthropologie«
von LéviStrauss entnommen sind, zeigen zum einen eine Frau mit
Gesichtsbemalungen des brasilianischen Indianerstamms der Caduveo,
aufgenommen 1935; zum anderen die in der Struktur zumindest ähnlichen
13 LéviStrauss 1977; ders. 202012.
626
Gesichtszeichnungen für einen MaoriHäuptling Neuseelands aus dem
19. Jahrhundert. Die zu vergleichenden Abbildungen bezeichnen für
LéviStrauss gerade kein genealogisches Indiz, das auch unmöglich wäre,
sondern ein rein strukturelles, das in beiden Fällen die formale Ähnlich
keit der Bemalung allein durch das Gesicht als Bildträger bestätigt.A9/10
Von der Anthropologik der Maske lässt sich wiederum großzügig ein
Bogen zum spezifischen Phänomen des europäischen Porträts aufzeigen:
zur ungemein verfestigten Form des halbfigurigen Bildnisses, das stark
auf das Gesicht fokussiert ist und das man sich, wie es entsprechende
Beispiele nahe legen, als eine vom Gesicht abgezogene Maske vorstellen
kann; als eine Maske, die bleibt, wenn ihr Träger bereits verstorben ist und
nichts mehr als einen nackten und hohlen Schädel zurückgelassen hat.A11
Als ein prägnantes Beispiel sei auf das Bild eines Schiebedeckels
verwiesen, das um 1520 in Florenz von einem anonymen Künstler gemalt
wurde. Dieser verdeckte und umschloss einmal ein Porträt, das selbst
heute – wahrscheinlich – verschollen ist (Abb. 11).14 Solche Bildtypen,
welche auf die Performanz von Enthüllen und Verbergen angelegt waren,
gab es vor allem im privaten Kontext. So besonders die humanistische
Begrifflichkeit dieses Beispiels auch sein mag, gibt es dennoch Aufschluss
über eine prinzipielle Dialektik der bildgewordenen Gesichter, die im
antiken Begriff der persona angelegt ist. Im Zentrum des Deckels, um
geben von grotesken Delphinen und Chimären, ist eine fleischfarbene,
symmetrisch wohlgeformte und geschlechtlich unbestimmbare Maske
zu sehen, mit großen Augenhöhlen, schöner Nase und einem mimisch
indifferenten Mund. Darüber ist, auf einer fingierten Mamortafel in rö
mischer Capitalis geschrieben, die Inschrift zu lesen: Sua cuique Persona.
In dieser eliptischen Form kann das heißen: »Jedem seine Maske« oder
auch: »Jeder besitzt eine Maske«.
Auf den mehrschichtigen Begriff der persona, der, wie angedeutet, im
klassischen gerade auch die soziale und moralische Rolle innerhalb eines
streng gegliederten Ständesystems meint, kann hier nicht näher einge
gangen werden. Nur so viel: Man würde diese Inschrift zusammen mit
der anonymen Maske missverstehen, würde man sie allein als Antithese
zum gemalten individuellen Porträt begreifen, das dahinter verborgen
war, und damit letztlich zum natürlichen Gesicht derjenigen Person,
von der einmal dieses Bild gemalt worden ist. Vielmehr wird auf den
engen Bezug zum natürlichen Gesicht als Träger einer persona angespielt
14 Hierzu: Baader 1999; Weihe 2004, 179 ff.; Belting 2013, 121 ff.
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 627
11 Sua cuique persona, Schiebedeckel zu einem verschollenen
Porträt, Ridolfo del Ghirlandaio zugewiesen, um 1500, Uffizien,
Florenz (© Scala Group Florenz)
und damit auf eine Einheit von möglichen Differenzen (und eben nicht
auf ihren Widerspruch): zwischen natürlich und künstlich, privat und
öffentlich, eigen und anders, bewegt und nicht bewegt; konkreter dann
auch: zwischen dem natürlichen Gesicht, als Träger einer Maske, dem
gemalten Gesicht, das als medialer Übersetzung jenem gegenüber bereits
eine Maske darstellt, und der künstlichen Maske selbst, mit der man je
weils, im wörtlichen wie metaphorischen Sinn, eine bestimmte (gute wie
angemessene) Rolle in der Gesellschaft einnehmen muss.
628
VII. TV-MAS K EN UND TO D
Der Anachronismus, der hier nur als stills vorgestellten TVBilder, die
zudem abstrahiert von ihrem filmischen wie politischen Zusammenhang
betrachtet werden, soll allerdings nicht die technisch fundamental andere
und neue Weise ihrer medialen Herstellung und Verbreitung überblenden.
Sie zeigen im Zeitalter der elektronischen Massenmedien eine extrem
multiplizierte Zerschichtung, Fragmentierung, Vervielfachung, Beliebig
keit und Entkörperlichung dieses Verhältnisses von Gesicht und Bild,
während im Unterschied zur starren Maske die mimische Aktivität der
animierten TVBilder den lebendigen Gesichtern entspricht. Die Über
tragung von natürlichen Gesichtern in künstliche BildGesichter lassen
sich dennoch als Prozesse der Maskierung und als solche der zunehmend
vom Körper sich loslösenden Maskierungen erkennen.A12
12 Richard Cheney, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
Abschließend sei daher noch auf eine weitere historischanthropologische
Dimension der TVMasken verwiesen, die bereits implizit angespro
chen war: Die Maskierung erfordert zunächst eine passive, schlaf und
totenähnliche Haltung, aus der man, wie es insbesondere die Bilder von
Cheyne suggerieren, noch etwas benommen und befremdet mit einem
neuen Maskengesicht erwacht; mit einem neuen Gesicht, mit dem man
ins Ritual der eigentlichen Bildwerdung eintritt (Abb. 12). Dazu gehören
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 629
auch die Pose und Mimik, die man in Erwartung der bildlichen Auf
nahme und im Angesicht der Regisseure einzunehmen hat; sodann die
Lockerung der Gesichtsmuskel, welche der Vorbereitung des mimischen
Auftritts dienen; ferner die Arbeit der Visagisten, Hairstylisten und
Bild- und Tontechniker. Diese filmischen Voraufnahmen zeigen jedoch
nur die Momente der Präparation und gleichsam das Vorspiel der medi
alen Verwandlung in ein weiteres wörtliches Interface, das sich zwischen
die lebendigen Gesichter und ihre Betrachter schiebt; Momente der
Übertragung von Gesichtern, die im Vorstadium als natürliche Körper
noch berührt und angesprochen werden können, bevor sie gänzlich eine
mediale, entkörperlichte und entrückte Distanz einnehmen, nur bewegte
Oberfläche und ganz und gar visuell werden: bevor sie von der realen
Präsenz an einem festen Ort in die beliebige RePräsenz zahlloser Orte
überführt werden.
Diese zweite Verwandlung in ein dauerhaftes Bild oder, genauer, in
die Sequenz von bewegten dauerhaften und doch nur temporär erschei
nenden Bildern wird an ein externes Medium delegiert, das wiederum
in seinen technischen, aber auch symbolisch genutzten Eigenschaften
die Masken vom Körper löst, sie neu formt, speichert und überträgt. In
diesen Fällen nicht in das gemalte Porträt eines Tafelbildes, sondern in
elektronische Fernsehbilder, die an zahllose Orte und in zahllosen Re
produktionen verstreut werden; in Reproduktionen, die über Millionen
von Monitoren wandern, beliebig formatierbar und zu bearbeiten sind,
die längst digitalisiert, ausgeschnitten, auf DVD übertragen wurden und
nun von allen aufgenommen und gekauft werden können.13a/b
In beiden Richtungen der Transformierung von einem natürlichen
Gesicht in ein mediales Maskengesicht lauert indessen weiterhin der
Tod: hinter dem lebendigen Gesicht, das mit Haut und Muskeln die
hardware des Knochen überspannt, der gesichtslose und daher anony
me tote Schädel, das Sinnbild von Vergänglichkeit und Tod sowie das
Bild der Bildlosigkeit schlechthin, wie es auf den Rückseiten mancher
neuzeitlichen Porträts an den eigentlichen Zustand dessen gemahnt,
der auf der Vorderseite als scheinbar Lebender zu sehen ist (Abb. 13a u.
b).15 Auf der Rückseite eines Gemäldes von Giovanni Antonio Boltraffio
um 1510 ist ein nackter Totenschädel in einer dunklen Wandnische zu
sehen, der sich bereits selbst im Zustand fortgeschrittener Verwitterung
mit fehlenden Zähnen und ohne Unterkiefer zeigt. Eine Inschrift ist zu
15 Vgl. Belting 2002.
630
13a Giovanni Antonio Boltraffio:
Porträt des Hieronymus Casius
(um 1510), Rückseite, Sammlung
Chatsworth
13b Giovanni Antonio Boltraffio:
Porträt des Hieronymus Casius
(um 1510), Vorderseite, Sammlung
Chatsworth
lesen, mit welcher der hohle Schädel den Betrachter in der ersten Person
anspricht, die eigentlich keine singuläre Person mehr sein kann. Der alle
Individuen gleich machende Tod scheint daher selbst zu sprechen: Insigne
sum Hieronimi Casii – »Ich bin das eigentliche Wappen des Hieronymus
Casius«. Der tote Schädel, so die makaber wie nüchtern pointierte Aus
sage, ist der wahre Träger, der Fluchtpunkt und die Matrix jedes indivi
duellen, lebendigen und also vergänglichen Gesichts, ganz unabhängig
von Stand, Rang und dem Besitz seiner Person. Er ist die Kehrseite
dessen, was auf der Vorderseite des Gemäldes als lebendes Gesicht des
jugendlich schönen Poeten Hieronymus Casius erscheint, der in Florenz
ein Hans Dampf in allen Gassen war. Doch ist das, was wir hier sehen,
nicht das lebendige Gesicht des Dichters, der längst gestorben ist, son
dern nur mehr sein mit toter Materie gemaltes Gesicht, das im Sinne
der Mimesis lebendig scheinen soll. Doch vor dem lebendigen Gesicht
wartet wiederum der vorzeitige Tod (Abb. 14): die mediale Enthauptung
einer ein und ausgrenzenden Rahmung, welche den Kopf vom Rest des
Körpers isoliert; die Mumifizierung in ein künstliches Gesicht und eine
fortan zu animierende Totenmaske; eine Übertragung, welche der alten
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 631
platonischen Kritik an allen artifiziellen Medien zufolge vom Lebendigen
trennt und daher nur mehr verstümmelt, amputiert, verfälscht, leblos und
vor allem nicht mehr dialogfähig ist.A14
14 Condoleezza Rice, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
VIII. GES ICH T. MASK E. B ILD. MED IUM. KULT UR
Daraus leitet sich eine Kardinalfrage für die historisch anthropologisch
orientierte Bildwissenschaft ab: Markieren diese TechnikFernsehbilder
eine ganz andere und neue Etappe der BildGeschichte als die Geschichte
der analogen, mit Farbe, Pinsel, Leinwand, Holz, mit Auge und Hand
hergestellten Bilder? Verbindet das eine nichts mit dem anderen und
wenn, dann nur etwas Äußerliches? Im rein technischen Sinne und mit
Blick auf die enormen Veränderungen der raumzeitlichen Organisation
sowie der grenzenlosen Multiplizierung, Manipulierbarkeit, Zirkulation
und Verfügbarkeit der Bilder muss man diese Frage mit einem unein
geschränkten Ja beantworten. Zugleich sind jedoch bei den angeführten
Beispielen Rahmenbedingungen und Übertragungsriten erfüllt, die nur
innerhalb einer bestimmten Kultur einen selbstverständlichen Sinn erge
ben; und die in einer anderen Bildkultur oder in einer zumindest teilwei
sen NichtBildKultur, wie sie der Islam ist, unverständlich, befremdend,
ja obszön, blasphemisch und verboten sind. Dies zeigte nicht zuletzt der
sehr kontrovers diskutierte Fernsehauftritt am 28. Dezember 2005 der im
632
Irak entführten Susanne Osthoff, der deutschen Archäologin, die nach
vielen diplomatischen Bemühungen und großem Medienrummel wieder
für viel Geld freigekauft werden konnte (Abb. 15). A15
15 Marietta Slomka interviewt Susanne Osthoff im ZDF
heute journal am 28. Dezember 2005
Von Susanne Osthoff erwartete eigentlich jeder deutsche Bürger bei
ihrem ersten öffentlichen, von den Medien eiligst herbeigeführten In
terview, das via Satellit zwischen dem ZDFStudio in Mainz und Al
Jazeera in Katar stattfand, ein müdes, leidendes, aber auch glückliches
Gesicht darüber, wieder in den Schoß der aufgeklärten und bilder
freundlichen europäischen Zivilisation zurückgeholt zu sein. Aber sie
zeigte sich ausgerechnet mit einem Kopfschleier, der gerade ihr Gesicht
verdeckte, lediglich die Augenpartie offen ließ und im Westen als das
Sinnbild männlicher Unterdrückung gilt; und sie hatte zudem, in einer
medienungeübten, dabei sprunghaften, teils rätselhaften und psychisch
gehetzt wirkenden Argumentation, die für Ausstrahlung im heute journal
radikal zusammengeschnitten wurde, nur wenig Dank für die deutsche
Hilfe und noch weniger für die Medien übrig. Entsprechend war die
Kollision mit dem professionell maskierten TVGesicht der deutschen
Nachrichtenikone Marietta Slomka, die auf das sensationelle Interview
zum Jahresabschluss spekulierte; eine Kollision, die nachhaltig verwirrte,
als Provokation einer geistig verwirrten Frau, als Undank und gar als
Verrat empfunden wurde; eine Kollision, die aber nicht zuletzt auch die
medial tauglichen Masken der westlichen TVGesichter verweigerte und
zugleich entblößte. Offensichtlich historisch und kulturell determiniert
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 633
ist daher der Porträtcharakter dieser Bilder, in denen – scheinbar selbst
verständlich – das mimisch kontrollierte, geschminkte und gut frisierte
Gesicht der zentrale und isolierte Ausdrucksträger ist. A16/17nebenein.
16 John Ashcroft, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
17 George W. Bush, Still aus Fahrenheit 9/11, R: Michael Moore,
USA 2004
Die hier angeführten Beispiele aus dem Film von Michael Moore zeigen
in ihrem unfertig vorgefundenen und nicht für die Öffentlichkeit be
stimmten Zustand freilich eher Karikaturen von Porträts. Unfreiwillig
und unbewusst verdeutlichen sie die enge Analogie von Gesicht, Maske,
634
Bild und Medium. Diese BildGesichter entlarven sich selbst in einem
wörtlichen Sinn, indem sie die verschiedenen MaskenSchichten ihrer
Bildwerdung sichtbar machen. Michael Moore verwertete diese Bilder für
eine politische Karikatur und Demaskierung innerhalb der rhetorischen
Struktur eines montierten Films, dessen Anspruch eines wahrheitsge
treuen Dokuments, bei aller Suggestion, an vielen Stellen anzuzweifeln
ist. In der hier vorgeschlagenen Sichtweise haben diese Bilder eher dazu
motiviert, das wörtlich räumliche wie zeitliche Davor und Dahinter der
Maskierungen herauszustellen. Damit soll nicht einer unendlichen und
hyperrealen Verkettung der Bilder das Wort geredet werden; auch nicht,
wie schon häufig analysiert, einer Krise des natürlichen Gesichts, das,
trotz allen heute möglichen chirurgischen Eingriffen und digitalen Kon
struktionen, nie über ein stabiles, unmaskiertes und natürliches Schema
verfügt hat. Die Frage bleibt dennoch grundlegend für die Bildwissen
schaft: Wo beginnen und enden Bilder und wie definieren wir sie? Sind
sie bereits ins Gesicht geschrieben, das den nackten Schädel überspannt?
Beginnen sie mit der Maskierung? Entstehen sie während der Aufnahme?
Existieren sie nur in gespeicherter Form auf einem Datenträger? Finden
sie im Moment ihrer Übertragung oder schließlich doch allein im Kopf
ihrer Betrachter statt? Die abschließende These: Bilder formieren sich ge
rade in der Interaktion all dieser Schichten und ihren Transformationen,
die zudem in der Phase ihrer größten Ausdehnung und Multiplizierung
sind. Die neuen technischen Bilder lassen indessen etwas Anachrones
durchschimmern, das nicht allein in den Möglichkeiten der jeweiligen
Medientechnik zu verorten ist; etwas, das sich nicht nur als eine kulturelle,
lokale, längst globale Konvention herausgebildet hat, sondern zudem als
etwas, das berechtigt, von einer längeren Kulturgeschichte der Bilder und
ihrer nachhaltigen Morphome zu sprechen, mit der jede Gegenwart von
Medienkultur in Berührung steht.
BILDREC HTE
7 © Bruce Nauman.
11 © Scala Group Florenz.
SCH U L Z : B I L D U N D M A SK E 635
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LARIS S A FÖRS TER
THE LONG WAY HOME
Zur Biografie rückgeführter
Objekte/Subjekte
DER BEGRIFF D ER »O B JEK T B IO G R AFIE«
Der folgende Beitrag stellt eine Reflexion über den Begriff der »Objektbio
grafie« dar. Für das Programm von Morphomata ist dieser Begriff doppelt
attraktiv: Er befasst sich nicht nur – wie das Kolleg ganz grundsätzlich
– mit Dingen, sinnlich wahrnehmbaren Formen und Stoffen. Vielmehr
bedient er sich dabei auch einer lebensgeschichtlichen Perspektivierung,
wie sie in der aktuellen Ausrichtung des Kollegs auf die Forschungsfelder
Biografie / life writing und Portrait / life imaging zum Ausdruck kommt.
Objektbiografien schlagen gewissermaßen die Brücke zwischen Menschen
und Dingen bzw. zwischen der Forschung/Reflexion über Menschen
und der Forschung/Reflexion über Dinge. Dabei plädiert die Methode
der »Objektbiografie« im Kern für eine historische Perspektivierung von
Artefakten, die andernorts formalästhetisch, ikonografisch, semiotisch
etc. gedeutet und verortet werden. Durch die einschlägigen Publikationen
von Arjun Appadurai und Igor Kopytoff,1 die meist als Begründer des
objektbiografischen Ansatzes genannt werden, spielen »Objektbiografien«
vor allem in der ethnologischen Forschung zu materieller Kultur bis heute
eine wichtige Rolle – auch wenn der Begriff nicht unumstritten ist, wie
Hans Peter Hahns dezidierte Kritik zeigt.2
1 Appadurai 1986, Kopytoff 1986.
2 Hahn 2015.
638
S AMMLUNGSG ESCH ICH TE( N )
Ein zentraler Anwendungsbereich objektbiografischer Methoden ist die
historische Aufarbeitung musealer Sammlungen. In diesem Feld haben
objektbiografische Forschungen wichtige Impulse gesetzt: Erstens haben
sie die Idee eines ›ursprünglichen Gebrauchskontexts‹ aufgeweicht, indem
sie sichtbar machten, dass Objekte oft schon durch viele Hände, Her
stellungs- und Gebrauchskontexte gegangen waren, bevor sie von einem
europäischen Sammler aufgelesen oder angeeignet wurden.3 Zweitens
haben sie denjenigen ›Lebensabschnitt‹ von Artefakten, der nach ihrem
Erwerb durch ein Museum liegt, in sein Recht gesetzt. So beschäftigen
sich sammlungshistorische Arbeiten zunehmend mit der ›musealen
Taphonomie‹ von Objekten, wie Fowler/Fowler sie genannt haben: 4 Sie
erforschen, wie Dinge im Laufe ihres Museumsdaseins klassifiziert,
interpretiert, bewegt, bearbeitet, ausgestellt, publiziert und konserviert,
manchmal aber auch vergessen, verloren oder zerstört werden. Eine
historisch-biografische Perspektivierung zeigt, dass die Musealisierung
von Dingen nicht nur eine Dekontextualisierung, sondern ebenso eine
Neukontextualisierung bedeutet.
Dies mag inzwischen nur mehr wenig überraschend klingen. Dass
objektbiografische Forschung aber noch immer innovativ sein kann, zeigt
sich, wenn man einmal den umgekehrten Weg der Objekte betrachtet,
wenn man also nicht danach fragt, wie Objekte ins Museum gelangen, son
dern wie, warum und unter welchen Umständen einige von ihnen das Mu
seum wieder verlassen. Hier bietet sich Restitutionen und Rückgaben von
Musealien in ihre Herkunftsländer, als Untersuchungsfeld an.5 Denn die
Biografie eines Objekts nach Verlassen der Institution weiterzuverfolgen
heißt auch, die museale Sicht zu überwinden, die die Objekte einer Ideo
logie des Bewahrens unterwirft und Rückgaben als unwiederbringlichen
Verlust von Sammlungsgut bewertet. Mithilfe von objektbiografischen An
sätzen lässt sich nach den oft verschlungenen Wegen der Objekte jenseits
des Museums fragen. Objektbiografien bewahren auch davor, Rückgabe als
3 Vgl. Himmelheber 2004.
4 Fowler/Fowler 1996, 132–133. Zit. n. Hoffmann 2012, 31.
5 Weitere Untersuchungsfelder sind denkbar, denn selbstverständlich
können Objekte das Museum auch auf dem Wege des Tausch, Verkaufs, der
Versteigerung oder der Entsorgung verlassen.
FÖ R S T E R : T H E L O N G W AY H O M E 639
eine simple Wiedereinsetzung des Objekts in einen sog. Ursprungskontext
zu begreifen: Denn das Objekt, das zurückkommt, ist ein anderes als das,
das weggegeben oder davongetragen wurde, wenn auch nicht unbedingt
materiell, so doch von seiner Bedeutung und Bewertung her. Genauso ist
es ja auch mit dem so genannten Herkunftskontext: Restituierte Objekte
werden nicht etwa in ›alte Traditionen‹ zurückverpflanzt, so wie sie auch
nicht wirklich in dieselbe source community zurückkehren,6 sondern werden
in neue, veränderte Diskurse und Praktiken eingebunden. Durch solche
perspektivischen Erweiterungen kann ein objektbiografischer Ansatz
zunächst die Polaritäten, die die kulturpolitisch aufgeladene Restitutions
debatte prägen, abbauen. Vor allem aber ist er methodisch hilfreich, um
neue Fragen zu entwickeln.
TRANS NAT IO NAL E R EPATR IIER UN G SVERF AH REN
Das Beispiel, an dem ich meine Überlegungen weiter ausführen will,
handelt von einer speziellen Gattung von ›Objekten‹, die in der jüngsten
Debatte um Rückgabe eine besondere Rolle spielen: und zwar mensch
liche Gebeine. ›Sammlungen‹ menschlicher Gebeine bzw. Überreste
sind in vielen Museen und Museumsgattungen zu finden, die um 1900
entstanden sind bzw. in dieser Hochphase europäischer Sammelwut ihre
weltweiten Erwerbungen zusammengetragen haben: in ethnografischen,
naturkundlichen, medizinischen, anatomischen und anthropologischen
Museen und/oder Universitätssammlungen. Der wissenschaftshistorische
Kontext kann hier nur angedeutet werden: Vor dem Hintergrund evo
lutionistischer und sozialdarwinistischer Theorien suchten europäische
Wissenschaftler die Körperdaten verschiedener ›Menschenrassen‹ zu
erheben und damit das Konstrukt der ›Rasse‹ selbst zu plausibilisieren.
Von besonderem Interesse erschienen Gesellschaften und Menschen
nichteuropäischer Herkunft, die sich nach damaliger Lesart auf einer
früheren evolutionären Entwicklungsstufe befanden, insbesondere afrika
nische, indianische und australische indigene, d. h. zu diesem Zeitpunkt
größtenteils kolonisierte Bevölkerungsgruppen. Wo Vermessungen
an Lebenden nicht möglich waren, beschafften sich Wissenschaftler
Leichenteile und Gebeine aus Gräbern, Gefängnissen, Militärlazaretten
und von Exekutionen. Der Historiker Andrew Zimmerman hat auf den
6 Zur Kritik am Begriff source community vgl. Förster et al. 2015.
640
Zusammenhang zwischen der kolonialen Expansion um 1900 und der
parallelen Entstehung der Disziplin der (physischen oder Bio)Anthro
pologie hingewiesen: »The routes by which the bodies of nonEuropeans
were made accessible to anthropological knowledge in Germany show the
practical interdependence of physical anthropology and colonial rule. […]
The discipline thus depended upon, and gave meaning to, the institutions
of colonial violence (…).«7 Die Musealisierung geraubter menschlicher
Überreste für das ›höhere‹ Ziel der Wissenschaft ist eines der eingängigs
ten Beispiele für das, was die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak
als die »epistemische Gewalt« kolonialer Herrschaft bezeichnet hat.8
Menschliche Gebeine aus dem genannten Kontext sind seit den
1960er Jahren Gegenstand von Rückgabeforderungen. Die sog. Repat
riierungsbewegung9 steht im Kontext von postkolonialen Kämpfen um
gesellschaftliche Partizipation und die Anerkennung indigener Rechte,
am erfolgreichsten ist sie bisher in den ehemaligen Siedlerkolonien, also
USA, Kanada, Australien und Neuseeland.10 Australien beispielsweise hat
nach eigenen Angaben zwischen 1990 und 2009 weltweit die Gebeine von
1190 Individuen aus Museen und Sammlungen rückgeführt und soweit
möglich wiederbestattet.11 Mittlerweile wird nicht mehr nur im »ICOM
Code of Ethics« von 1986 von der Verpflichtung der Museen gesprochen,
Rückgabeforderungen zu bearbeiten, sondern die »UN Declaration for
the Rights of Indigenous People« (2007) spricht in Artikel 12 sogar von
einem Recht indigener Gemeinschaften auf die Repatriierung ihrer
menschlichen Überreste (und Ritualgegenstände).12
In meiner Forschung untersuche ich die unterschiedlichen politischen
und sozialen, institutionellen und individuellen, materiellen und spirituel
len Kontexte, die die zurückkehrenden ›Objekte‹ durchlaufen: vom Muse
umsdepot zurück in ihr Herkunftsland, manchmal in ein neu errichtetes
postkoloniales Nationalmuseum, manchmal an den Ort zurück, wo sie z. B.
aus Gräbern entwendet wurden. Im Sinne von George Marcus’ multi-sited
7 Zimmerman 2003, 156–157.
8 Spivak 1988.
9 Zur besseren Unterscheidung verwende ich den Begriff Repatriierung für
die Rückführung menschlicher Überreste und den Begriff Restitution für die
Rückgabe von Objekten allgemein.
10 Fründt 2011, 22–44
11 Parke 2015.
12 Http://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/Declaration%28German
%29.pdf
FÖ R S T E R : T H E L O N G W AY H O M E 641
ethnography ›folge‹ ich den Gebeinen und frage nach den Bedeutungen,
die sie in verschiedenen Kontexten annehmen. Denn auf dem »langen
Weg nach Hause«, wie ihn die beiden australischen Wissenschaftler Paul
Turnbull und Michael Pickering genannt haben, geschieht etwas höchst
Bemerkenswertes: die ›Musealien‹ verändern ihren Status, sie werden von
Objekten der Wissenschaft (Knochen, menschlichen Überreste, Schädeln)
wieder zu Subjekten (ancestors, heroes, martyrs) der lokalen, nationalen oder
transnationalen Geschichte. Wie dieser Bedeutungswandel inszeniert wird,
möchte ich am Beispiel eines transnationalen Repatriierungsverfahrens
zwischen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und
der Republik Südafrika im Jahr 2012 zeigen.
FALLBEIS P IEL : R EPATR IIER UN G VO N Ö S T ERREI C H
NAC H S ÜDAF R IK A ( 201 2)
Gegenstand der betreffenden Rückgabe waren zwei Skelette südafrika
nischer Herkunft, die seit 1909 in Wiener Institutionen gelagert hatten,
zuletzt im Naturhistorischen Museum in Wien. Schon seit langem war
bekannt gewesen, dass sie von dem österreichischen Arzt und Ethnologen
Rudolf Pöch, der als Begründer der Anthropologie in Österreich gilt, auf
seinen Forschungsreisen im südlichen Afrika zwischen 1907 und 1909
beschafft worden waren. Doch erst 2008 konnte von den südafrikanischen
Historikern Martin Legassick und Ciraj Rassool gezeigt werden, dass die
Skelette Überreste der Leichname des KhoisanEhepaars Klaas und Trooi
Pienaar waren, die ein Mitarbeiter Pöchs kurz nach ihrem krankheitsbe
dingtem Tod aus ihren Gräbern im Norden Südafrikas geraubt hatte.13
Die vergleichsweise unstrittige Rückgabe wurde von den Verantwort
lichen aus dem Naturhistorischen Museum zunächst in Anlehnung an
bisherige Verfahren, vor allem eine Rückgabe von ebenfalls durch Pöch
erworbenen menschlichen Überreste nach Australien im Jahr 2009,14 vor
bereitet. So sollten auch die südafrikanischen Gebeine als Museumsgut,
verpackt in hölzerne Kisten, nach einschlägigen konservatorischen und
versicherungstechnischen Standards zurückgeschickt werden. Gegen die
ses Verfahren erhob die südafrikanische Delegation in den Verhandlungen
Einspruch: Sie bestand darauf, die Skelette nicht als ›Artefakte‹, sondern
13 Rassool 2015a, S. 152–154
14 WeissKrejci 2013, S. 457–463
642
1 Übergabezeremonie mit den aufgebahrten Särgen für Klaas und Trooi
Pienaar, Österreichische Akademie der Wissenschaften (17.04.2012)
2 Trauerfeier für Klaas und Trooi Pienaar, Südafrikanische Botschaft
Wien (19.04.2012). Der traditional healer Petrus Vaalbooi gestaltete den
rituellen Teil der Feier vor den Fotografien der bereits zum Flughafen
transportierten Särge von Klaas und Trooi Pienaar (siehe Taf. 16a)
FÖ R S T E R : T H E L O N G W AY H O M E 643
wie Leichname entgegenzunehmen.15 Rückgabe und Rückführung wurden
daraufhin so geplant und gestaltet, als seien zwei prominente südafri
kanische Staatsbürger auf österreichischem Boden verstorben. Zunächst
stellte die südafrikanische Botschaft Identitätsdokumente aus, womit die
Pienaars für die österreichische Bürokratie als Personen aktenkundig wur
den. Von den bereitgestellten Kisten wurden die Skelette in veritable Särge
umgebettet, die ihrerseits mit Namensschildern versehen waren. Nach
der offiziellen Übergabe an ranghohe Vertreter der Republik Südafrika
wurden die Särge im Leichenwagen an ein Bestattungsinstitut und später
in die südafrikanische Botschaft verbracht (Abb. 1). Mit einer Rauch
zeremonie, die ein traditional healer der Khoisan durchführte, wurde den
Pienaars in einem kleinen Kreis letzte Ehre erwiesen. Blumensträuße und
eine musikalische Rahmung verliehen dem Ereignis die Anmutung einer
privaten Trauerfeier. Nachdem die Särge zu Quarantänezwecken an den
Wiener Flughafen gebracht worden waren, folgte eine ähnlich gestaltete
offizielle Trauerfeierfeier mit geladenen Gästen und Redebeiträgen von
RepräsentantInnen südafrikanischer und österreichischer (Regierungs)
Institutionen – ebenfalls begleitet von Petrus Vaalbooi (Abb. 2; Taf. 16a).
Nach der Rückführung wurden Trooi und Klaas Pienaar in zwei schwarze
Prunksärge umgebettet und am 12.8.2012 auf dem Friedhof der Gemeinde
Kuruman, in deren Nähe sie gelebt hatten, in einer Art Staatsbegräbnis
beigesetzt. Staatspräsident Jacob Zuma betonte in seiner Ansprache: »We
are here to correct a historic injustice, and restore the human dignity and
citizenship to Mr and Mrs Klaas and Trooi Pienaar«.16
Schritt für Schritt wurden die Skelette also aus der Ordnung
des Museums herausgelöst und von rassekundlichen Studien und
Museums objekten in menschliche Individuen, historische Subjekte
und vor allem südafrikanische Staatsbürger zurückverwandelt. Von der
südafrikanischen Delegation wurde dieser Prozess programmatisch als
»rehumanisation«17 bezeichnet. Rassekundliche Studien und Museums
15 Rassool 2015b, S. 665–666
16 Siehe die Publikation der Rede auf der Homepage des südafrikanischen
Präsidialbüros: http://www.thepresidency.gov.za/speeches/speechpresident
jacobzumaoccasionreburialmrandmrsklaasandtrooipienaarkuruman,
(Letzter Zugriff: 10.3.2017).
17 Gemeinsame Presseerklärung vom 13.4.2012: »Österreich gibt sterbliche
Überreste südafrikanischer Ureinwohner aus öffentlichen Sammlungen an
Südafrika zurück«. Nachzulesen unter: http://www.einjahr.org/index.php/
klaasundtrooipienaar (Letzter Zugriff: 10.2.2017).
644
objekte wurden (zurück)verwandelt in menschliche Individuen und in
südafrikanische Staatsbürger. Gerade der letztgenannte Vorgang verweist
auf die Bedeutung, die Repatriierungen für Prozesse des nation-building
und für erinnerungskulturelle Dynamiken in ehemaligen Siedlerkolonien
und postkolonialen Nationalstaaten haben können.
REBIOGRAFI SIER UN G O D ER
OBJEKTBIOG R AF IE VS. SUB JEK T B IO G R AFIE
Das ›Programm‹ der Rehumanisierung der Skelette von Klass und Trooi
Pienaar konnte deshalb so konsequent und überzeugend in materielle
und performative Formen übersetzt werden, weil die Gebeine identifiziert
und damit rebiografisiert werden konnten: Aus Archivalien in Südafrika
und Österreich konnten Namen, Wohn und Arbeitsort, familiäre und
ethnische Zugehörigkeit, Todesdatum und ursache sowie der Ort der
Bestattung rekonstruiert werden. Es ist ein zentrales Anliegen von
Repatriierungsverhandlungen allgemein, nach der Rekonstruktion der
Erwerbskontexte und Erwerbswege möglichst auch die genaue Herkunft
und Identität der rückzuführenden Gebeine zu bestimmen. Um solche
biografischen Merkmale zu eruieren, werden nicht nur Methoden der
historischen Provenienzforschung wie etwa die Analyse von Beschriftun
gen und begleitenden Archivalien, sondern auch forensische Methoden
angewandt. So können durch morphologische, biochemische und mole
kularbiologische Untersuchungen – z. B. anthropometrische Vermessung,
Isotopen und DNAAnalyse – unter Umständen Angaben über Alter,
Geschlecht, geographische Herkunft, Ernährung, Gesundheit, Migration
und Verwandtschaft, d. h. bio- wie demografische Daten aus den Kno
chen extrahiert werden. Die Knochen selbst dienen gewissermaßen als
›BioArchive‹18 und ermöglichen die Erstellung einer ›Subjektbiografie‹
aus dem Objekt selbst.
Bei der Rückgabe menschlicher Überreste haben die beteiligten Ak
teure folglich mit Musealien zu tun, die sowohl als Objekte wie auch als
Subjekte wahrgenommen werden können. Je nach Kontext, Situation und
Betrachter nehmen sie entweder eher eine Objekt oder eher eine Subjek
trolle ein, manchmal changieren sie zwischen beidem und erscheinen als
Kippfigur. Ihr Status ist nicht eindeutig, sondern wird erst durch spezifische
18 Vgl. hierzu auch Krüger/Sommer 2011.
FÖ R S T E R : T H E L O N G W AY H O M E 645
Rahmungen und Kontextualisierungen, durch Ge- und Verbote zwischen
den beteiligten Akteuren und Akteursgruppen, d. h. Wissenschaftlern,
Sammlungskustoden, Nachfahren und Herkunftgesellschaften, aber auch
politischen Repräsentanten und Aktivistengruppen ausgehandelt und ver
eindeutigt. Ge und Verbote kommen dabei bereits früh zum Tragen, etwa
wenn invasive Untersuchungsmethoden wie Gen oder Isotopenanalyse
erwogen werden und damit Fragen der Einwilligung im Sinne des sog.
informed consent aufgeworfen werden. Ebenso spielen sie eine Rolle für
die Politiken des Zugangs und der Sichtbarkeit während des Prozesses
der Identifizierung, der Rückgabe und der (Wieder-)Bestattung menschli
cher Überreste. Diskutiert und verhandelt werden Fragen wie: Dürfen die
Gebeine bei der Übergabe sichtbar sein und für wen? Dürfen Fotografien
gemacht, zirkuliert und reproduziert werden oder verbietet dies das Recht
der Person am eigenen Bild bzw. ein eventuelles Recht der Nachkommen
am Bild der Person? Wessen ethische Konzepte und kulturelle Protokolle
gelten ab welchem Zeitpunkt auf dem »langen Weg nach Hause«?
Der Vergleich transnationaler Repatriierungsverfahren zeigt, dass
oftmals sehr unterschiedliche Wahrnehmungen, Konzepte und Interes
sen in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Bei einer Rückgabe
menschlicher Überreste von Berlin nach Windhoek (Namibia) im Jahr
2011 wurden die Gebeine auf Initiative der namibischen Verhand
lungspartner sowohl in Berlin wie auch in Windhoek ausgestellt, nicht
zuletzt um das öffentliche Interesse auf den historischen Kontext der
wissenschaftlichen Ausbeutung der ehemaligen deutschen Kolonie zu
lenken (Abb. 3; 4, vgl. Taf. 16b). Mit einem offiziellen Staatsakt auf dem
so genannten Heroes Acre (Heldenfriedhof) unter dem Motto »Requiem
of the Martyrs« wurden die Opfer des Kolonialkriegs symbolisch in das
Pantheon der Helden des namibischen Unabhängigkeitskampfes aufge
nommen. Abbildungen der 20 repatriierten Schädel wurden anschließend
in regionalen und internationalen Zeitungs und Fernsehberichten gezeigt
und in den sozialen Medien in Deutschland und Namibia zirkuliert.
Dagegen waren die Gebeine australischer Aborigines, die in den Jahren
2013 und 2014 aus derselben Institution, der Berliner Charité, restituiert
wurden, den Blicken entzogen, Film und Fotoaufnahmen während der
Übergabezeremonie waren nicht erlaubt.
Die Frage, welche subjektbiografischen Daten im Zuge einer Repat
riierung überhaupt und in welcher Detailgenauigkeit gewonnen werden
können, beeinflusst die Art und Weise, wie über die menschlichen Über
reste nachgedacht und verhandelt wird, von Anfang an. So ergibt sich
aus der Provenienz von Überresten, welche Akteure in eine Rückführung
646
3 Feierliche Übergabe von 20 menschlichen Schädeln aus der Sammlung der
Charité Berlin an eine namibische Delegation (30.9.2011)
4 ›Aufbahrung‹ der rückgeführten Schädel im Windhoeker Parlamentsgarten
(4.10.2011; siehe Taf. 16b)
FÖ R ST E R : T H E L O N G W AY H O M E 647
involviert werden, etwa politische Repräsentanten und/oder biologische
Nachkommen. Genauso bestimmt die Provenienz mit, welche Inszenie
rungen – in Abhängigkeiten von politischen, ethnischen, sprachlichen
und religiösen Zugehörigkeiten – möglich oder erforderlich sind. Kann
die Identität der Verstorbenen rekonstruiert und können ihre sterblichen
Überreste dadurch individuell wiederbestattet werden, so wird die Objekt
biografie der Gebeine mit der Subjektbiografie der verstorbenen Person
überschrieben. Eine solche Resubjektivierung findet zwar grundsätzlich
bei jeder Repatriierung statt, aber selten gerät sie so anschaulich und
wirkmächtig wie im Fall der österreichischsüdafrikanischen Repat
riierung – die übrigens im internationalen Kontext bisher beispiellos
ist.19 Doch selbst wenn keine individuellen Daten rekonstruiert werden
können, finden Überblendungen statt: Die Rückkehr menschlicher Über
reste wird in den meisten Fällen gerahmt durch Rituale, wie sie sonst
nur besonderen verstorbenen Persönlichkeiten zuteil werden wie etwa
Aufbahrungen, öffentliche Defilees, feierliche Ansprachen, tänzerische
und musikalische Einrahmungen. Bei der zweiten deutschnamibischen
Repatriierung menschlicher Überreste im Jahr 2014 wurden solche Über
blendungen hergestellt, indem bekannte historische Schicksale in Erinne
rung gerufen und auf die großenteils unidentifizierten Knochen projiziert
wurden: 20 Anlässlich des Empfangs der Überreste im Parlamentsgarten
in Windhoek präsentierten teilnehmende Tänzerinnen und Sängerinnen
die fotografischen Porträits der antikolonialen Helden Chief Xamseb
sowie =| Aitabeb und | Haihab || Guruseb (Abb. 5).21 Der mündlichen Über
19 In einem vergleichbaren Fall, der Rückgabe der menschlichen Überreste
des AchéMädchens Damiana Kryygi von Berlin nach Paraguay, konnten histo
rische Fotografien eingesetzt werden, um die individuelle Identität der Gebeine
sichtbar zu machen – rückgeführt wurden die Gebeine jedoch im Rahmen der
für Museumsobjekte üblichen Verfahrensweisen. Vgl. hierzu u. a.: https://www.
youtube.com/watch?v=WJo_5UFYM6o (Letzter Zugriff: 10.3.2017).
20 Vgl. Gesine Krügers Überlegung, Sarah Baartman, deren menschliche
Überreste 1994 von Paris nach Südafrika repartiiert wurden, als »empty sign«
[sic!] zu verstehen, das mit verschiedensten Bedeutungen gefüllt werden kann
(Krüger 2010, 35).
21 Ich danke dem namibischen Historiker Hans =| Eichab, Windhoek, für die
Identifizierung und Erläuterung der drei Portraits. Die Sonderzeichen markie
ren Klicklaute in der Sprache der Nama und Damara, dem Khoekhoegowab.
Ebenso bedanke ich mich bei meinen zahlreichen namibischen Gesprächspart
nerinnen und partnern, mit deren Unterstützung ich die Rückgabeverhand
lungen und zeremonien verstehen, dokumentieren und diskutieren konnte.
648
5 Tanz und Gesangsgruppe mit historischen Fotografien der antikolonialen
Helden =| Aitabeb || Guruseb (links), Chief Xamseb (Mitte) und Prinz
| Haihab || Guruseb (alias Blouberg/Blauberg; Bruder von =| Aitabeb); anlässlich
des Empfangs für rückgeführte Gebeine im Windhoeker Parlamentsgarten
(7.03.2014)
lieferung von DamaraSprechern in Namibia zufolge waren diese vom
deutschen Kolonialmilitär enthauptet worden – eine Strafmaßnahme, die
in vielen kolonialen Kontexten, wenn auch nicht nachweislich in diesem,
die Verschleppung von Leichenteilen der Getöteten zur Folge hatte.22 In
ähnlicher Weise wurden auch im Pariser Musée du Quai Branly bei einer
Rückgabe von neuseeländischen toi mokoi23 im Jahr 2012 großformatige
Portraitfotos von MaoriPersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts promi
22 Vgl. Harrison 2008.
23 Toi moko sind mumifizierte, tätowierte Köpfe neuseeländischer Maori,
wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von zahlreichen europäischen
Reisenden, Forschern und Kolonialakteuren im Zuge der Musketenkriege in
Neuseeland erworben und an europäische Museen weitergegeben wurden. Vgl.
Fründt 2011, 28.
FÖ R S T E R : T H E L O N G W AY H O M E 649
6a/b Übergabezeremonie für toi moko aus 10 französischen Museen,
Musée du Quai Branly (23.01.2012)
650
nent auf der Bühne platziert, auf der die Übergabe der toi moko von der
französischen an die neuseeländische Delegation stattfand (Abb. 6a–b).
Während die Fotografien von den neuseeländischen Partnern aufgestellt
worden waren, um an die Vorfahrengeneration allgemein zu erinnern, ihr
Respekt zu zollen und den zu repatriierenden toi moko Ahnen und/oder
Zeitgenossen an die Seite zu stellen, schien es aus Sicht des Publikums
geradezu, als repräsentierten die Portraits die Verstorbenen, von deren
Körpern die toi moko stammten. Auf diese Weise werden Fotografien in
Repatriierungsverfahren verwandt, um Gebeinen und Präparaten, insbe
sondere Schädeln, ein menschliches Antlitz zurückzugeben.
VON DER OBJEK T B IO G R AFIE ZUR T R AJEK TO RI E:
BEGRIFFLICH - MET H O D ISCH E ÜB ER LEG UN GEN
Die vorangegangenen Beobachtungen werfen letztendlich abermals die
Frage nach geeigneten Begriffen auf. Im Zuge eines objektbiografischen An
satzes können die geschilderten Etappen transnationaler Repatriierungsver
fahrens zwar durchaus als biografische Stationen der restituierten Objekte
verstanden werden. Doch erscheint der Begriff Objektbiografie seltsam blass
im Vergleich zu der Wirkmacht, die eine rekonstruierte, manchmal auch
nur imaginierte ›Subjektbiografie‹, entfalten kann. Insbesondere vermag
der Begriff die enorme Recherche, Verhandlungs und Inszenierungsarbeit
nicht zu fassen, die vonnöten ist, um stillgestellte Objekte wieder aus dem
Museum herauszuholen und in Subjekte zu transformieren. Damit zeigen
die hier angeführten Fallbeispiele nicht nur das Potential, sondern auch die
Grenzen des Begriffs und der Methode der Objektbiografie auf. In der jüngs
ten Literatur wird deshalb auch nach alternativen Begriffen gesucht, die
problematische Dimensionen oder blinde Flecken im objektbiografischen
Ansatz zu umgehen suchen. Mit »Itinerar« etwa schlägt Hans Peter Hahn
einen weniger aufgeladenen bzw. weniger metaphorischen Begriff für die
Erstellung von Objektgeschichten vor. In der Tat braucht für die Erstellung
eines Itinerar – anders als für eine Biografie – die für Objekte schwerer zu
klärende Frage von Anfang und Ende, von Intentionalität und agency keine
Rolle zu spielen. Dieser Verzicht bedeutet aber auch einen Verlust: Allzu
leicht bleibt das Itinerar im Gestus des blossen Kartierens verhaftet.24
24 Hahn 2015, 27. Hahns Kritik scheint allerdings an den Stärken und Schwä
chen des Begriffs ›Objektbiografie‹ vorbeizugehen. Gerade der Vorwurf, die Bio
grafie entlehne biologische Konzepte, zielt ins Leere, sind es doch in der Regel
FÖ R S T E R : T H E L O N G W AY H O M E 651
In Anlehnung an den Historiker Ricardo Roque möchte ich daher im
Kontext der Restitutions- und Repatriierungsforschung den Begriff der
»Trajektorie« vorschlagen. In seinem Buch Anthropology and the Circulation
of Human Skulls in the Portuguese Empire, 1870–1930 untersucht Roque das
Schicksal einer Sammlung von Schädeln aus Osttimor, die 1877 an die
Universität Coimbra in Portugal verbracht und dort in anthropologische
Forschungen verwandt wurden. Den Begriff Trajektorie übernimmt Roque
von dem Medizinsoziologen Anselm Strauss, der den Verlauf einer Krank
heit als illness trajectory begreift – jedoch nicht im Sinne einer vorherseh
baren Kurve wie etwa in der Ballistik oder im Sinne eines standardisierten
Phasenmodells, sondern als die spezifische Entwicklung eines individuellen
Falles, wie sie von den beteiligten professionellen und nichtprofessionellen
Akteuren, also Patient und Ärzten, Betreuern, Verwandten und Freunden
gemeinsam hergestellt wird.25 Die Trajektorie restituierter Musealien zu un
tersuchen heißt dann, in den Blick zu nehmen, wie und warum diese durch
die verschiedenen Akteure und Kräfte, durch formale Maßnahmen wie
informelle Begebenheiten erst in Bewegung versetzt oder manchmal auch
an ihrer Fortbewegung gehindert werden, wie dies etwa bei der Stagnation
von Rückgabeverhandlungen oder bei der terminlichen Verschiebung von
Rückgaben der Fall ist. Die Trajektorie im Roqueschen Sinne unterscheidet
vom Itinerar, dass sie die Verhandlungsarbeit thematisiert, die in diesem
hochpolitischen, von postkolonialen Machtbeziehungen vorstrukturierten
Feld der Repatriierung geleistet werden muss.
Eingeräumt werden mag dabei, dass in dem hier behandelten Feld
(Grabraub im Zuge kolonialer Rasseforschung und postkoloniale museale
Repatriierungsverfahren), das ja nur eine spezielle Ausprägungen der
transnationalen Verbringung von Objekten – neben Handel, (Geschen
ke)Tausch und Kauf – darstellt, die Verhandlungsarbeit besonders
entscheidend ist. Auch sind staatliche Akteure prominenter involviert
keineswegs Stoffe, Pflanzen und Tiere, denen eine Biografie zugeschrieben wird,
sondern Menschen. Genauso wenig setzt sich Hahns Kritik mit den Stärken der
Metapher bzw. Methode auseinander: etwa dem Potenzial diachronen Erzäh
lens; dem Experiment einer ›emischen‹ Perspektivierung; der Möglichkeit, auch
Dinge ›in Beziehung stehend‹ zu begreifen; dem Einräumen von 0 jenseits aller
Funktionalität; oder der Berücksichtigung materieller und modebedingter Alte
rungsprozesse bzw. deren Zuschreibung. Tatsächlich also wäre eher zu fragen,
was die Objektbiografie von der ›Objektgeschichte‹ oder der ›Objektkarriere‹
sinnvoll unterscheidet.
25 Roque 2012, 122–123
652
als in anderen Fällen, und schließlich ist die Bewegungsrichtung der
›Objekte‹ natürlich nur begrenzt verhandelbar. Doch zeigt die Priori
sierung verschiedener Begriffe in den unterschiedlichen Abschnitten
der vorliegenden Analyse letztlich auch, dass sich die einzelnen Phasen
einer umfassend gedachten Objektbiografie in ihrer Spezifik am besten
mit unterschiedlichen Begriffen wie Subjektbiografie, Erwerbsgeschichte,
musealer Taphonomie und RückgabeTrajektorie fassen lassen.
RES ÜMEE: KÖ N NEN W IR MEN SCH LICH E G EBEI N E AL S AKTAN T EN
IM LATOURS CH EN SIN NE VER ST EH EN ?
Menschliche Gebeine müssen als Sonderfall im Feld der Museum bzw.
Material Culture Studies gelten. Ohne die theoretischmethodische
Diskussion um die Handlungsmacht von Dingen an dieser Stelle zu ver
tiefen, sei angemerkt, dass menschliche Gebeine auf einer historischen
Makroebene betrachtet in den letzten Jahrzehnten eine atemberaubende
agency entwickelt haben: Sie haben nicht nur KustodInnen und Proveni
enzforscherInnen auf den Plan gerufen und in Schach gehalten, sondern
auch Nachkommen und Herkunftsgesellschaften sowie Botschaften, Kul
tur und Außenministerien in überaus schwierige Situationen verwickelt
und vor zahlreiche, oft ambivalente und umstrittene Entscheidungen
gestellt. Erinnert sei hier etwa an die krisenartige Situation, die entstand,
als die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt Cornelia Pieper im Jahr
2011 anlässlich der Rückgabe der namibischen menschlichen Überreste
in der Berliner Charité eine aus Sicht der namibischen Delegation höchst
enttäuschende Rede hielt bzw. an den weniger Tage später stattfindenden
Empfang der Überreste auf dem Windhoeker Flughafen (Abb. 7), bei
der mehrere tausend auf das Rollfeld stürmende Namibier, Fluglotsen,
Sicherheitsbeamte, Militär und Grenzschutz in Hektik versetzten.26 Mit
Alfred Gell könnten menschliche Überreste auch als Mediatoren von
sozialer agency betrachtet werden: 27 Gerade in den Nachfolgestaaten ehe
maliger Siedlerkolonien sind Rückgabeforderungen in Bezug auf mensch
liche Gebeine zu einem Ort der Auseinandersetzung um die Stellung
indigener Minderheiten in postkolonialen Nationalstaaten und um die
Anerkennung und Wiedergutmachung von kolonialem Unrecht geworden.
26 Vgl. hierzu ausführlicher Förster 2013a, b.
27 Gell 1998.
FÖ R S T E R : T H E L O N G W AY H O M E 653
7 Empfang für rückgeführte Gebeine auf dem Windhoeker Flughafen,
4.10.2011
Der Ethnologe Joost Fontein, der über das unerwartete Auftauchen von
menschlichen Knochen aus den kolonialen und postkolonialen Kriegen
und Konflikten in Simbabwe gearbeitet hat, betont, dass menschliche
Gebeine durch ihre »affektive Präsenz« und ihre »emotionsgeladene
Materialität« eine besondere agency entfalten: Ihr Wiederauftauchen
wühlt Verschwiegenes auf und stört den normalisierenden Prozess der
Vergangenheitsbewältigung.28 Auch hierfür liefert die deutschnamibische
Übergabe im Jahr 2011 in Berlin ein eindrückliches Beispiel: Die appella
tive, reliquienhafte Aufstellung zweier Schädel im Kirchenschiff von St.
Matthäus bildete einen der zeremoniellen, vor allem aber emotionalen
Höhepunkte der mehrtätigen Übergabefeierlichkeiten (Abb. 8).29
Wenn man schließlich, um den ontologischen turn der Kulturwissen
schaften aufzugreifen, eine Latoursche Perspektive einnimmt, dann sind
menschliche Überreste zwar zunächst einmal nichtmenschliche Aktanten
in komplexen Mensch-Ding-Netzwerken30 – aber solche, mit denen die
Menschen teils wie mit menschlichen Aktanten interagieren. Vielleicht
sind menschliche Gebeine daher die nichtmenschlichen Aktanten par
28 Fontein 2012.
29 Vgl. hierzu ausführlicher Förster 2013a, b.
30 Latour 2005.
654
8 Berlin, St. Matthäus, Gedenkfeier anlässlich der Rückführung menschlicher
Gebeine nach Namibia (29.09.2011)
excellence, oder sie zählen zu den Latourschen Hybriden und sind we
der nur Objekt noch nur Subjekt. Als Belege (specimens, Naturfakte) für
naturwissenschaftliche und naturkundliche Theorien und Typologien
und als Datenreservoirs für sich fortentwickelnde Technologien wie die
Genanalyse wurden sie ja tatsächlich erst durch die wissenschaftliche
Moderne hervorgebracht. Ist also am Ende der Ausgangspunkt Muse
um falsch angesetzt und die ›Objektkarriere‹ menschlicher Gebeine nur
ein Intermezzo, eine illegitime Aneignung, eine Illusion? Und könnten
Knochen sprechen, würden sie den Wissenschaftlern und Museologen,
die sie isoliert, seziert, präpariert und klassifiziert haben, nicht vielleicht
mit Latour entgegnen: »In Wirklichkeit sind wir nie Objekte gewesen!«? 31
31 Vgl. Latour 1993.
FÖ R ST E R : T H E L O N G W AY H O M E 655
BILDREC HTE
1–2, Taf. 16a Foto: Südafrikanische Botschaft, Wien.
3 Foto: Charité Human Remains Project.
4–6, 8, Taf. 16b Foto: Larissa Förster.
7 Foto: Matukutura Hoffmann.
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VERZEICHNIS DER AUTOREN
WOLFGANG BEILENHOFF Prof. Dr. (em.), Medien und Filmwissenschaft
ler, BauhausUniversität Weimar, IKKM, Cranachstraße 47, 99423
Weimar – wolfgang.beilenhoff@uniweimar.de
GÜNTER BLAMBERGER Prof. Dr., Germanist, Direktor, Internationales
Kolleg Morphomata, Universität zu Köln, AlbertusMagnusPlatz, 50923
Köln – guenter.blamberger@unikoeln.de
ADRIANA BONTEA Dr., Lecturer in French, Pembroke College, Pembroke
Square Oxford OX1 1DW Großbritannien –
[email protected]
JAN BREMMER Prof. Dr. (em.), Religionswissenschaftler, Faculty of Theol
ogy and Religious Studies, University of Groningen, Oude Boteringestraat
38, 9712 GK Groningen, Niederlande –
[email protected]
BORIS BURANDT Dr., Klassischer Archäologe, Wissenschaftlicher Mit
arbeiter, Graduiertenkolleg »Wert und Äquivalent«, Johann Wolfgang
GoetheUniversität Frankfurt, Campus Westend, NorbertWollheimPlatz
1, Fach 50, 60629 Frankfurt a. M. –
[email protected]frankfurt.de
PETR CHAR VÁT Prof. Dr., Assyriologe/Altorientalist, Fakulta filozofická,
Západočeská univerzita v Plzni (Westböhmische Universität Pilsen),
Univerzitní ul., č. orientační 8, č. p. 2732, 301 00 Plzeň, Tschechien –
[email protected]
M A R I A N H . F E L D M A N Prof. Dr., Vorderasiatische Archäologin, Zanvyl
Krieger School of Arts & Sciences, Departments of History of Art and
Near Eastern Studies, Johns Hopkins University, 181 Gilman Hall, 3400
N. Charles Street, Baltimore, MD 21218, USA –
[email protected]
LARISSA FÖRSTER Dr., Ethnologin, Centre for Anthropological Research on
Museums and Heritage, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt
Universität zu Berlin, Mohrenstraße 40/41, 10117 Berlin – larissa.foerster@
huberlin.de
658
THIERRY GREUB PD Dr., Kunsthistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbei
ter, Internationales Kolleg Morphomata, Universität zu Köln, Albertus
MagnusPlatz, 50923 Köln – tgreub@unikoeln.de
LUDWIG JÄGER Prof. Dr. (em.), Sprach und Medienwissenschaftler, Senior
Advisor, Internationales Kolleg Morphomata, AlbertusMagnusPlatz,
Universität zu Köln, 50923 Köln – l.jaeger@unikoeln.de
GEORGI KAPRIEV Prof. Dr., Philosoph/Byzantinist, Institut für die Ge
schichte der Philosophie, St. Kliment Ochrisdksi Universität, 15 Tsar
Osvoboditel Blvd., Sofia 1504, Bulgarien –
[email protected]
JEANETTE KOHL Prof. Dr. (Associate Professor), Kunsthistorikerin, De
partment of the History of Art, University of California, Riverside, 900
University Avenue, Arts Building 232, Riverside, CA 925210319, USA
–
[email protected]
JÖRN LANG Dr., Klassischer Archäologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter,
Institut für Klassische Archäologie und Antikenmuseum, Universität
Leipzig, Ritterstraße 14, 04109 Leipzig – joern.lang@unileipzig.de
ASUMAN LÄTZER-LASAR Dr., Provinzialrömische Archäologin, Wissen
schaftliche Mitarbeiterin, Universität Erfurt, Max-Weber-Kolleg für
kultur und sozialwissenschaftliche Studien, Nordhäuser Str. 63, 99089
Erfurt – asuman.laetzerlasar@unierfurt.de
PA O L O L I V E R A N I Prof. Dr., Klassischer Archäologe, Dipartimento di
Storia, Archeologia, Geografia, Arte e Spettacolo (SAGAS), Università di
Firenze, Via San Gallo 10, 50129 Florenz, Italien –
[email protected]
SEMRA MÄGELE Dr., Klassische Archäologin, Geschäftsführerin, Inter
nationales Kolleg Morphomata, Universität zu Köln, AlbertusMagnus
Platz, 50923 Köln – smaegele@unikoeln.de
FRANÇOIS QUEYREL Prof. Dr., Klassischer Archäologe, Directeur d’études,
Section des Sciences Historiques et Philologiques, UMR 8546 Archéologie
et philologie d’Orient et d’Occident (AOrOc), École Pratique des Hautes
Études, Paris Sciences et Lettres, 2, rue Vivienne, 75002 Paris, Frankreich
–
[email protected]
V E R Z E I CH N I S D E R A U TO R E N 659
MARTIN ROUSSEL Dr., Germanist, Wissenschaftlicher Geschäftsführer,
Internationales Kolleg Morphomata, Universität zu Köln, Albertus
MagnusPlatz, 50923 Köln – martin.roussel@unikoeln.de
ALAIN SCHNAPP Prof. Dr. (em.), Klassischer Archäologe, INHA2, rue
Vivienne, 75002 Paris, Frankreich –
[email protected]
MARTIN SCHULZ Prof. Dr., Kunsthistoriker, Professur für Kunstwissen
schaft, Theorie und Geschichte ästhetischer Praxis, Hochschule für Küns
te Bremen, Am Speicher XI 8, 28217 Bremen –
[email protected]
H. ALAN SHAPIRO Prof. Dr. (em.), Klassischer Archäologe, W. H. Collins
Vickers Professor of Archaeology, Johns Hopkins Krieger School of Arts
& Sciences, Department of Classics, 113 Gilman Hall, 3400 North Charles
Street, Baltimore, MD 21218 –
[email protected]
STEFFEN SIEGEL Prof. Dr., Kunsthistoriker, Professur für Theorie und
Geschichte der Fotografie, Folkwang Universität der Künste, Essen, Fach
bereich Gestaltung, Campus Welterbe Zollverein, Quartier Nord, Martin
KremmerStraße 21, 45327 Essen – steffen.siegel@folkwanguni.de
JAN SÖFFNER Prof. Dr., Romanist/Komparatist, Lehrstuhl für Kultur
theorie und Kulturanalyse, Zeppelin Universität, Friedrichshafen, Am
Seemooser Horn 20, 88045 Friedrichshafen –
[email protected]
MICHAEL SQUIRE Dr., Klassischer Archäologe / Klassischer Philologe,
Reader in Classical Art, King’s College London, Department of Classics,
King’s College London, Strand, London WC2R 2LS, Großbritannien –
[email protected]
AGNES THOMAS Klassische Archäologin, Koordinatorin des Forschungs
verbunds Coping Practices, Institut für Archäologische Wissenschaften,
GoetheUniversität Frankfurt am Main, NorbertWollheimPlatz 1, 60629
Frankfurt am Main –
[email protected]frankfurt.de
CHRISTIANE VORSTER Prof. Dr., Klassische Archäologin, Honorarpro
fessorin, Institut für Archäologie und Kulturanthropologie, Rheinische
FriedrichWilhelmsUniversität Bonn, Abteilung Klassische Archäologie,
Am Hofgarten 21, 53113 Bonn – chr.vorster@unibonn.de
660
Bislang in der MorphomataReihe erschienen:
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keitsdenken. Utopie und Dystopie
in der Gegenwart, 2013. ISBN 978
3770555543.
2 Martin Roussel (Hrsg.), Kreativität des 10 Dietrich Boschung, Sebastian Dohe
Findens. Figurationen des Zitats,
(Hrsg.), Meisterwerk als Autorität.
Zur Wirkmacht kultureller Figu
2012. ISBN 9783770553051.
rationen, 2013. ISBN 97837705
55284.
3 Jan Broch, Jörn Lang (Hrsg.), Literatur
der Archäologie. Materialität
und Rhetorik im 18. und 19. Jahr 11 Stefan Niklas, Martin Roussel (Hrsg.),
Formen der Artikulation. Philoso
hundert, 2012. ISBN 97837705
phische Beiträge zu einem kultur
53471.
wissenschaftlichen Grundbegriff,
2013. ISBN 9783770556083.
4 Dietrich Boschung, Corinna WesselsMevissen (Eds.), Figurations of
12 Ryōsuke Ōhashi, Martin Roussel (Hrsg.),
Time in Asia, 2012. ISBN 9783
Buchstaben der Welt – Welt der
770554478.
Buchstaben, 2014. ISBN 9783
770556090.
5 Dietrich Boschung, Thierry Greub, Jürgen
Hammerstaedt (Hrsg.), Geographische
13 Thierry Greub (Hrsg.), Cy Twombly.
Kenntnisse und ihre konkreten
Bild, Text, Paratext, 2014. ISBN 978
Ausformungen, 2012. ISBN 9783
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770554485.
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6 Dietrich Boschung, Julian Jachmann
(Hrsg.) , Ökonomie des Opfers.
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tur, 2013. ISBN 9783770555208.
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der Jahreszeiten im Wandel
Björn Moll, Klaus Bergdolt (Hrsg.), Auf
der Kulturen und Zeiten, 2013.
schwankendem Grund. Schwindel,
ISBN 9783770555277.
Dekadenz und Tod im Venedig
der Moderne, 2014. ISBN 9783
8 Guo Yi, Sasa Josifovic, Asuman Lätzer770556120.
Lasar (Eds.), Metaphysical Founda
tion of Knowledge and Ethics in
Chinese and European Philosophy, 16 Larissa Förster (Ed.), Transforming
Knowledge Orders: Museums,
2014. ISBN 9783770555376.
Collections and Exhibitions, 2014.
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Media and Arts, 2014. ISBN 978
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Tanja Klemm, Jan Söffner (Hrsg.), Sind
alle Denker traurig? Fallstudien
zum melancholischen Grund des
Schöpferischen in Asien und
Europa, 2015. ISBN 97837705
57240.
26 Dietrich Boschung, Marcel Danner,
Christine Radtki (Hrsg.), Politische
Fragmentierung und kulturelle
Kohärenz der Spätantike, 2015.
ISBN 9783770558117.
19
20
21
22
23
24
27 Ingo Breuer, Sebastian Goth, Björn Moll,
Martin Roussel (Hrsg.), Die Sieben
Todsünden, 2015. ISBN 97837705
Dietrich Boschung, Ludwig Jäger (Hrsg.),
58162.
Formkonstanz und Bedeutungs
wandel, 2014. ISBN 97837705
28 Eva Youkhana, Larissa Förster, (Eds.),
57103.
GraffiCity. Visual practices and
contestations in urban space, 2015.
Dietrich Boschung, Jan N. Bremmer
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2015. ISBN 9783770557257.
29 Dietrich Boschung, Jürgen Hammer staedt
Georgi Kapriev, Martin Roussel, Ivan
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Dietrich Boschung, Christiane Vorster
Miguel John Versluys (Eds.), Reinvent
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und kulturelle Identität, 2015.
Indigenous Pasts and the Roman
ISBN 9783770558094.
Present, 2015. ISBN 97837705
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Lettered Art of Optatian. Figuring
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Verwendung in der antiken Welt, 39 Michael Squire, Paul Kottman (Eds.),
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Hegelian Philosophy and the
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ISBN 9783770562855.
Reflexionen zu archäologischen
Fallstudien, 2017. ISBN 9783
770562824.
TAFELN
TA F E L N
1 Mädchenkopf aus Kyzikos, Porträt der Kleopatra I., Dresden,
SKD Skulpturensammlung Inv. Hm 136
1
2
2 Statue à renfort en forme de cuirasse
(Mithridate VI ?). Délos, Musée, inv. A 5998
TA F E L N
3a
3b
3c
3d
Innenseite Medaillonschale mit Büste des Dionysos (Aufsicht)
Innenseite Medaillonschale mit Dionysoskopf (Aufsicht)
Henkelattasche mit Büste einer weiblichen Figur
Innenseite Medaillonschale mit Silenskopf (Aufsicht)
3
4
4a Karneol. Berlin, Staatliche Museen, Antikensammlung Inv. FG 6537.
1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
4b Karneol. Florenz, Museo Archeologico Inv. 14998. 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
4c Sard. Berlin, Staatliche Museen, Antikensammlung Inv. FG 6538.
1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.
4d Sard in Goldring des 17. Jhs. Antikensammlung der Universität Bern
Inv. DL 288. Mitte 1. Jh. v. Chr.
TA F E L N
5 Detailaufnahme der weiblichen Büste an der Stirnpartie des
Kavalleriehelms aus Hallaton
5
6
6a Obere Agora von Sagalassos, 1 Ehrenbogen für Germanicus, Säulenmonu
ment für Krateros; 2 Bouleuterion, davor Stufenaufgang und Westportikus;
3 Tempel des Zeus (?); 4 NordWestHeroon; 5 antoninisches Nymphäum;
6 Säulenmonument an der Nord-Ost-Ecke und Exedra
6b Obere Agora von Sagalassos, Ehrenbogen des Germanicus
an der SüdwestEcke, davor das Säulenmonument des Krateros
TA F E L N
7 Unknown artist: Portrait bust of a boy named Martial, Roman,
circa 98–117, marble, J. Paul Getty Museum, Malibu
7
8
8 Attic red-figure bell-krater attributed to the Eupolis Painter. Private collection
TA F E L N
9 Tondo di con ritratto dei Severi, Musei di Berlino
9
10
10 Louis Michel Van Loo : Denis Diderot, écrivain, 1767, huile sur toile,
81 × 65 cm, Paris, Musée du Louvre
TA F E L N
11
11 Kurt Schwitters: Merzbild 9b. Das Grosse Ichbild, 1919. Bild, Tafelmalerei,
verschiedene Materialien, Höhe: 96,8 cm, Breite: 70 cm. Köln, Museum
Ludwig, Inv.Nr. ML 01437, Leihgabe seit 1985
12
12a Cy Twombly: Autoritratto, Rom, 24. November 1963, Wachskreide, Acryl,
Bleistift, 69,2 × 50,2 cm, Verbleib unbekannt
12b Cy Twombly: Autoritratto, Rom, November 1963, Wachskreide, Acryl,
Bleistift, 70 × 50 cm, Privatsammlung, Deutschland
12c Cy Twombly: Untitled (Ritratto d’Artista), Rom, 24. November 1963, Wachs
kreide, Bleistift, Acryl, 68,5 × 48,2 cm, Von der HeydtMuseum, Wuppertal
12d Cy Twombly: Untitled, Rom, 24. November 1963, Farbstift,
Ölfarbe, 70 × 50 cm, Verbleib unbekannt
TA F E L N 13
13 Drawing of an Attic red-figure stamnos signed by Smikros, c. 510 BC. Brussels, Musées royaux d’art
et d’histoire, inv. A717 (= ARV 2 20, no. 1 / BAPD 200102). Drawing by E. Leroux in the early twentieth
century
14
14 Thomas Sully: Porträt von Frances Keeling Valentine Allan, ca. 1810,
The Valentine, Richmond, VA
TA F E L N 15
15 Gustav Klucis: Der Sieg des Sozialismus in unserem Lande ist gesichert, 1932,
Offsetdruck, Russische Staatsbibliothek, Moskau
16
16a Trauerfeier für Klaas und Trooi Pienaar, Südafrikanische Botschaft
Wien (19.04.2012). Der traditional healer Petrus Vaalbooi gestaltete
den rituellen Teil der Feier vor den Fotografien der bereits zum Flughafen
transportierten Särge von Klaas und Trooi Pienaar
16b ›Aufbahrung‹ der rückgeführten Schädel im Windhoeker Parlaments
garten (4.10.2011)
Die MorphomataReihe wird herausgegeben von Günter
Blamberger und Dietrich Boschung.
Das Internationale Kolleg Morphomata: Genese, Dynamik
und Medialität kultureller Figurationen wird vom Bundes
ministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der
Initiative ›Freiraum für die Geisteswissenschaften‹ als
eines der Käte Hamburger Kollegs gefördert. Jährlich bis
zu 10 Fellows aus aller Welt forschen gemeinsam mit
Kölner Wissenschaftlern zu Fragen kulturellen Wandels.
Im Dialog mit internationalen Wissenschaftlern gibt
das Kolleg geisteswissenschaft licher Forschung einen
neuen Ort – ein Denklabor, in dem unterschiedliche
disziplinäre und kulturelle Perspektiven verhandelt
werden.
www.morphomata.unikoeln.de
Thierry Greub Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Inter
nationalen Kolleg Morphomata. Lehrt am Kunsthistori
schen Institut der Universität zu Köln. 2001 Promotion
mit einer Arbeit über Johannes Vermeer, 2017 Habi
litation zu Cy Twomblys Notaten und literarischen
Einschreibungen. Veröffentlichungen u. a. zur Kunst
des Spätmittelalters, des Barock und der Gegenwart
sowie zu Peter Zumthor.
Martin Roussel Wissenschaftlicher Geschäftsführer des
Internationalen Kollegs Morphomata. Lehrt am Institut
für deutsche Sprache und Literatur I der Universität
zu Köln. 2007 Promotion mit einer Arbeit über Robert
Walsers Mikrographie. Veröffentlichungen zur Literatur
vom 18. bis 21. Jahrhundert (u. a. Kleist, Karl May,
R. Walser) und zur Grammatologie der Literatur.
WILHELM FINK
ISBN 978-3-7705- 6223-7