LANDSCHAFTSMALEREI
Wanderer durch viele Landschaften.
Das Profil eines Multitalents
Johann Christian Reinhart.
Ein deutscher Landschaftsmaler
in Rom. Katalogbuch zur Ausstellung
Hamburger Kunsthalle, 26.10.2012–
27.1.2013; München,
Neue Pinakothek, 21.2.–26.5.2013.
Hg. v. Herbert W. Rott/
Andreas Stolzenburg, in Zs.arbeit mit
F. Carlo Schmid. München, Hirmer
Verlag 2012. 399 S., zahlr. Abb.
ISBN 978-3-77748-021-3. € 39,90
W
as unserer Kunst fehlt, ist dieses Rückgrat von Monumentalität. Die Landschaft muss jetzt
wieder auf große Wände“ (7). Diesen Wunsch Alfred Lichtwarks, der sich 1911 auf den Einzug der
Gemälde Johann Christian Reinharts (Hof 1761–
Rom 1847) in die Hamburger Kunsthalle bezog,
hat dort im weiteren Sinne die monumentale Gesamtschau von Reinharts Werk erfüllt, die die
Hamburger Ausstellungsreihe „Landschaft um
1800“ fortsetzte, um anschließend in leicht modifizierter Form in der Neuen Pinakothek in München Station zu machen. In der Ausstellung wurde
die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Aspekten der Kunst Reinharts greifbar, die im Jahr
2002 nach der späten Akquise von Reinharts Tiberlandschaft (1808) in der Hamburger Kunsthalle
begonnen hatte. Die Münchner Schau lenkte ihrerseits die Aufmerksamkeit auf die Geschichte
der Sammlung der Neuen Pinakothek, die mit
Reinhart als Berater und Hofmaler Ludwigs I. eng
verbunden ist. Mit acht ausgestellten Gemälden
ist die Münchner Sammlung außerdem eine der
wenigen, die einen Querschnitt durch Reinharts
malerisches Schaffen und damit die Möglichkeit
der vergleichenden Beurteilung bietet.
Die Liste der Leihgeber für die Doppelausstellung ist beeindruckend, dazu zählen zahlreiche
deutsche und internationale Museen sowie private
Sammlungen. Mit 35 Gemälden – dem nahezu gesamten malerischen Werk Reinharts –, 90 Zeichnungen, 30 Aquarellen und 75 Radierungen, darunter auch bisher unbekannte, erst kürzlich entdeckte Werke, wurde eine neue Perspektive auf
die Vielfalt von Reinharts Kompetenzen und Aktivitäten eröffnet. Entsprechend monumental tritt
das aus Anlass der Ausstellung erschienene Buch
auf, das die Kuratoren der beiden Standorte herausgegeben haben (in Hamburg Andreas Stolzenburg mit dem Reinhart-Experten F. Carlo Schmid,
in München Herbert W. Rott). Der gewichtige
Band bietet mehr als einen Katalog der ausgestellten Werke: Er ist nichts weniger als ein ausführliches Werkverzeichnis, begleitet von einer Neubewertung und Neupositionierung Reinharts in der
Kunst- und Kulturgeschichte der Landschaftsmalerei um 1800. Damit wurde eine Forschungslücke
geschlossen, die sich seit der einzigen, bereits 1975
verfassten Reinhart-Monographie mit Werkverzeichnis aufgetan hat (Inge Feuchtmayr, Johann
Christian Reinhart 1761–1847, München 1975).
AUTONOMISIERUNG DER
LANDSCHAFTSMALEREI
Der Katalogteil des Buches beginnt mit einer
Übersicht der überlieferten Bildnisse des Künstlers, an die sich die Behandlung seiner verschiedenen Lebens- und Kunststationen anschließt. Zwei
Kapitel dokumentieren chronologisch verschiedene Aspekte von Reinharts deutschen Jahren, während die 58 Jahre seines Lebens in Rom anhand
der zahlreichen verschiedenen Gattungen seines
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Abb. 1 Johann Christian Reinhart,
Entlaubte Bäume im Winter, um 1785.
Federzeichnung, 129 x 259 mm. Hamburg, Privatbesitz (Kat.nr. 17)
Œuvres nachgezeichnet werden. Der Abschnitt
über die Zeit in Deutschland vor der Auswanderung 1789 bietet aber nicht nur einen chronologisch-dokumentarischen Abriss von Lehrjahren,
sondern kommentiert und arbeitet mit Reinharts
Position auch den Umbruchcharakter einer Zeit
heraus, in der sich in der Landschaftsmalerei zunehmend autonome Wirkabsichten und Vorgehensweisen abzeichnen, die die Entstehung eines
eigenständigen Gattungsbewußtseins aufzeigen.
Reinharts Tätigkeit in Deutschland, so wird hier
deutlich, ist keine Vorstufe seiner späteren, in Rom
als arrivierter Künstler verwirklichten ästhetischen Position mit ihren Spezifika, sondern eine
unabhängige Phase seines Schaffens. In der Tat
entfaltet sich in diesen deutschen Jahren aus sowohl praktisch als auch kulturell neuen Bedingungen heraus Reinharts Form der visuellen und bildnerischen Naturaneignung. Sein künstlerischer
Habitus, wie er sich in Deutschland ausformt, artikuliert die Bemühungen der Landschaftsmalerei,
sich durch die Entwicklung komplexer Strategien
vom Verdacht der mechanischen Reproduktion zu
befreien.
Als Schüler von Adam Friedrich Oeser in Leipzig und später von Johann Christian Klengel in
Dresden, wo Reinhart über Adrian Zingg mit den
Ideen Johann Georg Willes in Berührung kam, war
er mit neuen Bekenntnissen zum Zeichnen nach
und in der Natur vertraut. Das Zeichnen vor Ort
wurde nicht mehr als bloße instrumentelle Vorstufe zur Erstellung von Gemälden im Atelier, sondern zunehmend und in verschiedenen Varianten
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als Selbstzweck angesehen (Abb.
1). Obwohl viele seiner Fels- und
Baumstudien später in Jagdszenen (Kat.nr. 170–172), in biblischen (Kat.nr. 179–183) und in
heroischen (Kat.nr. 173–178) Landschaften wieder eingesetzt werden, verwendet Reinhart seine
Aufnahmen aus der Natur eher selten als Vorlagen
und Versatzstücke für Landschaftsgemälde. Die
Gegenstände sind in diesen Naturaufnahmen in
der Tat so durchgezeichnet, dass die Zeichnungen
einen autonomen Charakter aufweisen, also „nicht
flüchtige Umrisse, sondern vollendete Gemälde,
oder ausgeführte Zeichnungen“ sind, wie Carl
Ludwig Fernow anmerkte (in: Sitten- und Kulturgemälde von Rom, Gotha 1802, 260f.). Insbesondere in den nahsichtigen Zeichnungen, etwa jenen
von geologischen Formationen mit Pflanzen
(Kat.nr. 51–52), wird eine eigenständige Strategie
der Verbildlichung von Beobachtungen greifbar,
die die neuen künstlerischen Erwartungen in einem eigenständigen Bildtypus weiterführt, der als
ein solcher wahrgenommen wurde, auch wenn die
Zeit noch kein Vokabular dafür hatte, wie Fernows
paraphrasierende Beschreibungen von Reinharts
Blättern belegen.
ERINNERUNGSKONSERVIERUNG DES
CHARAKTERISTISCHEN
Reinharts Naturzeichnungen der deutschen Jahre
sind Ausdruck einer Neujustierung der Naturaneignung in der Landschaftsmalerei dieser Zeit.
Dementsprechend ist dem Maler – mehr als die
mimetische Wiedergabe des Details – die Erfassung des Naturzusammenhangs wichtig, was sich
zum Beispiel in seiner stetigen Beschäftigung mit
Gesamtensembles von Pflanzen und Felsen oder
Baumgruppen (Kat.nr. 84–85 und 94–96) statt mit
Abb. 2 Reinhart, Klassische Landschaft, 1825. Federzeichnung, 715 x 1010 mm. Frankfurt a.M., Städel Museum (Kat.nr. 210)
einzelnen Bäumen zeigt. Dies deckt sich wiederum mit Fernows Auffassung vom neuen Landschaftsmaler („Er studiert diese Gegenstände der
Natur; er ahmt sie nach, aber kopiert sie nicht“, in:
Römische Studien, Zürich 1806, Bd. 2, 13), welcher
der in dieser Zeit intensiv diskutierten ästhetischen Kategorie des „Charakteristischen“ gerecht
werden soll (ebda., Bd. 1, 394).
Während Reinharts Leipziger und Dresdner
Jahre kristallisiert sich zudem das festgehaltene,
wiedererkennbare Erlebnis als eine zentrale Komponente seiner Praxis der Beobachtung und Zeichnung in der Natur heraus, ähnlich wie bei seinem
Weggenossen Christoph Nathe (vgl. Fiorentini, in:
N. Michels/M. Winzeler [Hgg.], „Mit der Natur innig vertraut“. Christoph Nathe – Landschaftszeichner der Vorromantik, Ausst.kat. Görlitz/Dessau
2007, 21–31). Das vor Ort aufgenommene Bild
wird bei Reinhart wie bei Nathe zum ‚objektiven’
Träger von Erinnerungen. Reinharts Aquarelle der
Rheinfahrt mit Herzog Georg I. von Sachsen-Meiningen im Jahr 1787 (Kat.nr. 62–70) entstehen,
wie auch Nathes Portfolios mit den Ansichten vom
Riesengebirge für die Königin Luise von Preußen,
nicht allein aus künstlerischem Interesse (vgl. Michels/Winzeler, 31). Sie bedienen vielmehr beim
Künstler wie beim Auftraggeber einen in dieser
Zeit neu aufkommenden Wunsch nach Wiedererkennbarkeit des Ortserlebnisses im Bild.
I
n den deutschen Jahren wird somit die programmatische Basis gelegt für Reinharts späteres
Konzept der Rekonstruktion von Erinnerungen,
wie es dann in Rom bei den Ansichten aus der Torre Malta (Kat.nr. 236–239) zutagetritt. „Prospekte“
nach der Natur, auf die sich Reinhart in seiner römischen Periode spezialisierte (Kat.nr. 125–149),
sind dementsprechend nicht ‚topographisch’ im
konventionellen Sinne – also auf die physische Erscheinung des jeweiligen Ortes hin – angelegt, sondern als eine im Hinblick auf die Möglichkeit von
Erinnerung umgestaltete Naturaufnahme zu verstehen. Diese Bemühungen um die bildliche Erfassung von Naturerkenntnis und Naturerlebnis,
die auch die Tierwelt mit einschloss (Kat.nr. 99–
115), verlaufen in den römischen Jahren parallel
zu Reinharts Auseinandersetzung mit der Ideal-
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LANDSCHAFTSMALEREI
Abb. 3 Reinhart, Zweites
Thüringer Skizzenbuch, fol.
8r: In Hergitz, um 1787.
Aquarellierte Federzeichnung, 318 x 400 mm. Staatl.
Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett (Kat.nr. 61)
landschaft (Kat.nr. 190–218; Abb. 2) und den pathosreichen „Sturmlandschaften“ (Kat.nr. 219–
235). Reinharts stets suchende und situativ abwägende Beschäftigung mit einer zugleich beobachtenden und erfindenden Naturaneignung im Bild
wird hier sichtbar.
MONUMENTALES KATALOGBUCH
Im Werkverzeichnis werden die einzelnen Werke
bzw. die verschiedenen Gattungen durch vorangestellte Übersichten in Reinharts Schaffen und dessen Kontext verortet. Dem folgt eine Auflistung
sämtlicher in der Ausstellung gezeigter Werke mit
technischen Daten, Aufbewahrungsorten und ergänzender Bibliographie, so dass der stärker historisch ausgerichtete und die Spezifika von Reinharts Stil erklärende Katalog entlastet wird. Der
Aufsatzteil entspricht in seinem Aufbau den Stationen im Werkverzeichnis, was einen direkten
Rückgriff von den Werken auf den jeweiligen Entstehungskontext ermöglicht. In den Aufsätzen wie
auch im Œuvrekatalog lernen wir zuerst den
Künstler, seine Techniken, Gattungen und Entwicklungen kennen, beginnend mit der Zeichenund Radierkunst bis hin zur Malerei und Buch-
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kunst. Dann wird der
Leser ins künstlerischsoziale Umfeld eingeführt, in welchem
sich Reinhart in Rom
bewegte; seine Rolle
in diesem komplexen
Netzwerk wird auch in
dem Katalogteil lebendig, der den Karikaturen gewidmet ist.
Schließlich lassen uns
die Porträts zusammen mit der zwischen Aufsatzteil und Katalog eingeschobenen, ausführlichen
Biographie den Menschen Reinhart – wie schon in
der Ausstellung – näher kennenlernen.
Die in den Aufsätzen präsentierten Forschungsergebnisse verdanken sich in hohem Maße
der Analyse des in der Ausstellung erstmalig in
dieser Breite zusammengeführten Materials.
Hierzu gehört auch eine Vielzahl an Neuentdeckungen, etwa eines der seltenen Skizzenbücher
des Künstlers (Kat.nr. 61; Abb. 3). Zunächst werden die verschiedenen Facetten von Reinharts
Produktion als Zeichner und Radierer behandelt.
Für F. Carlo Schmid dokumentiert die einmalige
Melange aus Zeichnung in der Natur, Naturprospekt und gemalter Ideallandschaft Reinharts
„modifizierte Naturansicht“ (9), in der sich Naturwiedergabe wesentlich als Zeichen individueller
künstlerischer Auseinandersetzung und weniger
als Streben nach einer idealistischen Allgemeingültigkeit präsentiert.
David Klemm gibt einen Überblick über die
Rezeption und das Schicksal des zeichnerischen
Nachlasses Reinharts. Aus der Analyse der Zugehörigkeit der Zeichnungen zu bestimmten Schaf-
fensperioden leitet Klemm eine statistische Verteilung der entsprechenden Aktivitäten des
Künstlers ab, die Aufschluss gibt über die jeweiligen Funktionen der Zeichnung und damit auch
über die variierenden Schwerpunkte in Reinharts
ästhetischem Konzept. Hermann Mildenberger
beleuchtet Reinharts Verhältnis zu Friedrich
Schiller und die damit verbundene Auseinandersetzung des Malers mit der Dichtkunst. Zwar haben Reinharts „dichterische Versuche [...] keinen
dauerhaften Platz in der Literaturgeschichte gefunden“ (36). Sie zeigen aber, dass er auch in den
eigenen Dichtungen wie in der Zeichnung und der
Malerei bemüht war, Wege zu finden, um das Naturerlebnis zu vermitteln. Herbert W. Rott beschäftigt sich mit dem Wirken Reinharts als Maler,
und damit mit einem Phänomen, das erst in dessen
zweiter Lebenshälfte an Bedeutung gewinnt. Bezeichnend für das Gesamtbild der künstlerischen
Entwicklung Reinharts ist es, dass auch seine Gemälde in der Verarbeitung von Naturerfahrungen
ihren Ausgang nehmen, nämlich von sehr frühen
Kampagnen des Pleinair-Studiums gemeinsam
mit Konrad Gessner in der Sächsischen Schweiz
(vgl. Salomon Gessners Briefwechsel mit seinem Sohne. Während des Aufenthaltes dessen in Dresden
und Rom, in den Jahren 1784–85 und 1787–88,
Bern/Zürich 1801, 150f.). Diese Überlegungen
sind eingebettet in einen ausführlichen Überblick
über Carl Ludwig Fernows Theorie der Landschaft und über seine Beziehung zu Reinhart.
Der Aufsatz von Markus Bertsch untersucht
schließlich Reinharts Ideallandschaften auf Entsprechungen mit Fernows Staffagebegriff. Andreas Stolzenburg reflektiert dessen Position innerhalb der internationalen Künstlerschaft in Rom,
bevor er die Bildnisse und die visuelle Selbststilisierung Reinharts diskutiert. Nach Personen geordnet, zeichnet dieser Text ein facettenreiches
Bild vom Austausch Reinharts mit Künstlern, Kritikern sowie Theoretikern und von dessen Auswirkungen auf die Ausprägungen seines Stils in den
unterschiedlichen Gattungen seiner künstlerischen Produktion. Hier wird die Rolle Reinharts
als zentrale Persönlichkeit der römischen Künstlerschaft um 1800 deutlich.
D
ie gelungene Kombination von Kontextualisierung und wissenschaftlichem Apparat
macht diesen Band zu einem wertvollen Studienbuch und Standardwerk zu Johann Christian
Reinhart, das den Künstler als innovatives, unkonventionelles, engagiertes Multitalent konturiert. In
den deutschen Jahren ein Pionier einer sich neu
konfigurierenden Landschaftsmalerei, wurde
Reinhart in Rom eine wichtige Referenzfigur für
die deutsche Malerei; seine Wirkung blieb dort
über ein halbes Jahrhundert lang spürbar. Nicht
nur der Traditionsbezug, sondern auch die ständige Auseinandersetzung mit der Kunst seiner Zeit,
deren ästhetische Prämissen er immer aufs Neue
kritisch in die Ausgestaltung und Befragung der eigenen Position mit einbezog, charakterisieren
Reinharts künstlerischen Parcours. Die Veränderungen in der Sicht auf die Natur und in den ästhetischen wie epistemischen Erwartungen an das
Naturbild prägten seinen jeweiligen Stil, der sich
immer wieder entsprechend wandelte (8) und
doch in jeder Phase für sich Bestand hatte. Reinharts aktive Beteiligung an den kunsttheoretischen
Diskussionen seiner Zeit, der intellektuelle Anspruch, der all seinen Aktivitäten zugrundelag, ist
ein zentrales Thema des Buches. Hier wird ein
pictor doctus (147) lebendig, der durch viele Landschaften wanderte – natürliche, künstlerische, soziale und wissenshistorische.
PD DR. DR. ERNA FIORENTINI
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