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Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns

2019

Was gibt dem Leben einen Sinn? Adolf von Hamack, nicht nur ein großer Theologe des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern zugleich ein bedeu tender Wissenschaftsorganisator, als solcher Begründer der Kaiser-Wil helm-Gesellschaft, der späteren Max-Planck-Gesellschaft, beantwortete am Ende seiner berühmten Vorlesungen über das "Wesen des Christen tums" im Jahre 1900 die Sinnfrage so: Die Religion, nämlich die Gottes-und Nächstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn giebt, die Wissenschaft vermag das nicht [ ... ]. Es ist eine herrliche Sache um die reine Wissenschaft, und wehe dem, der sie ge ring schätzt oder den Sinn für die Erkenntnis in sich abstumpft! Aber auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu giebt sie heute so wenig eine Antwort wie vor zwei-oder dreitausend Jahren. 1 Dieses energische Votum des liberalen Theologen Adolf von Hamack hätte auch als Motto zu Volker Gerhardts Versuch über das Göttliche die nen können. Denn die drei Aspekte, die dem Buch Gerhardts seine philo sophische Stoßrichtung, seine sachbezogene Systematik wie seine lebens praktische Zielsetzung einschreiben, sind in diesem Harnack-Zitat zusam menfassend ausgedrückt. Erstens hebt Harnack wie dann auch Gerhardt darauf ab, dass es die Frage nach dem Sinn des Lebens ist, die die Religionsthematik für eine dem Leben verpflichtete Philosophie zur Aufgabe macht. Die im humanen Lebensvollzug unweigerlich aufbrechende Sinnfrage zeigt die anthropolo gische Notwendigkeit des religiösen Glaubens. Denn dieser greift, indem er eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott bzw. zum göttlichen Sinngrund der Welt herstellt, auf die Ganzheitsdimension von Sinn aus. Nur, wenn unserem Dasein in dieser Welt als Ganzem ein Sinn zukommt, so Ger hardts Argument, kann den Dingen dieser Welt überhaupt eine Sinnbedeu tung zuwachsen. Vgl. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. und kommentiert von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, S. 261 f. Wilhelm Gräb Zweitens besteht Hamack darauf, dass der religiöse Glaube mit dem Wissen und der Wissenschaft widerspruchsfrei zusammengeht. Hamack argumentiert dabei, wie Gerhardt, mit den Grenzen, die dem Wissen gera de dort gesetzt sind, wo es um die Frage nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Leben geht. Die Sinnfrage beantwortet die Wissenschaft nicht, sehr wohl aber der religiöse Glaube, indem er uns unsere eigentümliche Weltstellung verstehbar macht und unserem individuellen Leben eine im Ganzen verankerte Bedeutung gibt. Der religiöse Glaube produziert kein Sachwissen von dem, was in und mit der Welt der Fall ist, sehr wohl aber ein sinnproduktives Deutungswissen. Dieses lässt uns, sofern wir nach dem Sinn unseres Lebens fragen, unsere eigentümliche, kontingenzantälli ge Weltstellung verstehen, sowie vor allem eine Auffassung vom Grund, dem Von-Woher und dem Zweck, dem Woraufhin unseres endlichen Welt daseins gewinnen. Wie Harnack weist auch Gerhardt der Religion die Bearbeitung der Le benssinnfrage zu, ohne dabei dem Wissen und der Wissenschaft seine Le bensbedeutsamkeit in irgendeiner Weise abzusprechen. Stärker noch als Harnack plädiert Gerhardt sogar dafür, die Sinnproduktion des religiösen Glaubens als Ressource für den Fortschritt im Gewinn lebensdienlichen wissenschaftlichen Wissens wertzuschätzen. So plädiert Gerhardt nicht nur für die Freiheit der Wissenschaft, sondern dafür, dass die Wissenschaft auf den religiösen Glauben geradezu angewiesen ist und bleibt. Die Wis senschaft ist ja auch, in Verbindung mit der sie in Weltgestaltung umset zenden Technik, anders als noch zu Harnacks Zeiten, längst in eine zwar nicht unangefochtene, aber doch als alternativlos geltende gesellschaftli che Führungsrolle eingetreten. Die Religion wird demgegenüber, auch in Hauptströmungen zeitgenössischer Philosophie, als in eine vergangene Denk-und Lebensgestalt gehörig betrachtet. Sie gilt jedenfalls nicht als ein ernst zu nehmendes philosophisches Thema. Die Säkularisten unter den Philosophen sind daher die Adressaten von Gerhardts Verteidigung der Religion. Ihnen gegenüber zeigt er die Verträglichkeit des Glaubens mit dem Wissen auf, ja, mehr noch, er wirbt für die Einsicht, dass das Wissen durchweg Veranlassung hat, sich auf den Glauben angewiesen zu sehen. Die Behauptung eines konstitutiven Zusammenhanges von Wissen und Glauben kann gewissermaßen als Leitthese seiner Religionsphiloso phie gelten. Drittens verweist Hamack in seiner Jahrhundertvorlesung über das ,,Wesen des Christentums" auf die lebensdienlichen Folgen eines die Sinn gewissheit menschlichen Lebens grundierenden und so zu einem gestei

Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns Wilhelm Gräb Was gibt dem Leben einen Sinn? Adolf von Hamack, nicht nur ein großer Theologe des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern zugleich ein bedeu­ tender Wissenschaftsorganisator, als solcher Begründer der Kaiser-Wil­ helm-Gesellschaft, der späteren Max-Planck-Gesellschaft, beantwortete am Ende seiner berühmten Vorlesungen über das „Wesen des Christen­ tums" im Jahre 1900 die Sinnfrage so: Die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn giebt, die Wissenschaft vermag das nicht [ ... ]. Es ist eine herrliche Sache um die reine Wissenschaft, und wehe dem, der sie ge­ ring schätzt oder den Sinn für die Erkenntnis in sich abstumpft! Aber auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu giebt sie heute so wenig eine Antwort wie vor zwei- oder dreitausend Jahren. 1 Dieses energische Votum des liberalen Theologen Adolf von Hamack hätte auch als Motto zu Volker Gerhardts Versuch über das Göttliche die­ nen können. Denn die drei Aspekte, die dem Buch Gerhardts seine philo­ sophische Stoßrichtung, seine sachbezogene Systematik wie seine lebens­ praktische Zielsetzung einschreiben, sind in diesem Harnack-Zitat zusam­ menfassend ausgedrückt. Erstens hebt Harnack wie dann auch Gerhardt darauf ab, dass es die Frage nach dem Sinn des Lebens ist, die die Religionsthematik für eine dem Leben verpflichtete Philosophie zur Aufgabe macht. Die im humanen Lebensvollzug unweigerlich aufbrechende Sinnfrage zeigt die anthropolo­ gische Notwendigkeit des religiösen Glaubens. Denn dieser greift, indem er eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott bzw. zum göttlichen Sinngrund der Welt herstellt, auf die Ganzheitsdimension von Sinn aus. Nur, wenn unserem Dasein in dieser Welt als Ganzem ein Sinn zukommt, so Ger­ hardts Argument, kann den Dingen dieser Welt überhaupt eine Sinnbedeu­ tung zuwachsen. Vgl. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. und kommentiert von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, S. 261 f. 66 Wilhelm Gräb Zweitens besteht Hamack darauf, dass der religiöse Glaube mit dem Wissen und der Wissenschaft widerspruchsfrei zusammengeht. Hamack argumentiert dabei, wie Gerhardt, mit den Grenzen, die dem Wissen gera­ de dort gesetzt sind, wo es um die Frage nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Leben geht. Die Sinnfrage beantwortet die Wissenschaft nicht, sehr wohl aber der religiöse Glaube, indem er uns unsere eigentümliche Weltstellung verstehbar macht und unserem individuellen Leben eine im Ganzen verankerte Bedeutung gibt. Der religiöse Glaube produziert kein Sachwissen von dem, was in und mit der Welt der Fall ist, sehr wohl aber ein sinnproduktives Deutungswissen. Dieses lässt uns, sofern wir nach dem Sinn unseres Lebens fragen, unsere eigentümliche, kontingenzantälli­ ge Weltstellung verstehen, sowie vor allem eine Auffassung vom Grund, dem Von-Woher und dem Zweck, dem Woraufhin unseres endlichen Welt­ daseins gewinnen. Wie Harnack weist auch Gerhardt der Religion die Bearbeitung der Le­ benssinnfrage zu, ohne dabei dem Wissen und der Wissenschaft seine Le­ bensbedeutsamkeit in irgendeiner Weise abzusprechen. Stärker noch als Harnack plädiert Gerhardt sogar dafür, die Sinnproduktion des religiösen Glaubens als Ressource für den Fortschritt im Gewinn lebensdienlichen wissenschaftlichen Wissens wertzuschätzen. So plädiert Gerhardt nicht nur für die Freiheit der Wissenschaft, sondern dafür, dass die Wissenschaft auf den religiösen Glauben geradezu angewiesen ist und bleibt. Die Wis­ senschaft ist ja auch, in Verbindung mit der sie in Weltgestaltung umset­ zenden Technik, anders als noch zu Harnacks Zeiten, längst in eine zwar nicht unangefochtene, aber doch als alternativlos geltende gesellschaftli­ che Führungsrolle eingetreten. Die Religion wird demgegenüber, auch in Hauptströmungen zeitgenössischer Philosophie, als in eine vergangene Denk- und Lebensgestalt gehörig betrachtet. Sie gilt jedenfalls nicht als ein ernst zu nehmendes philosophisches Thema. Die Säkularisten unter den Philosophen sind daher die Adressaten von Gerhardts Verteidigung der Religion. Ihnen gegenüber zeigt er die Verträglichkeit des Glaubens mit dem Wissen auf, ja, mehr noch, er wirbt für die Einsicht, dass das Wissen durchweg Veranlassung hat, sich auf den Glauben angewiesen zu sehen. Die Behauptung eines konstitutiven Zusammenhanges von Wissen und Glauben kann gewissermaßen als Leitthese seiner Religionsphiloso­ phie gelten. Drittens verweist Hamack in seiner Jahrhundertvorlesung über das ,,Wesen des Christentums" auf die lebensdienlichen Folgen eines die Sinn­ gewissheit menschlichen Lebens grundierenden und so zu einem gestei- Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns 67 gerten Wissen-Wollen antreibenden Glaubens. Im religiösen Glauben ver­ bindet sich für ihn die Gottesliebe mit der Nächstenliebe, damit die Verge­ wisserung im Sinn des Ganzen mit einem ernsthaften Bemühen um eine Politik, die für möglichst viele Menschen die gesellschaftlichen Bedingun­ gen eines sinnerfüllten Lebens herzustellen versucht. Harnack war schließlich nicht nur der zu seiner Zeit herausragende Wissenschaftsorga­ nisator, er setzte sich auch für die öffentliche Rolle der Theologie durch die Gründung des „Evangelisch-Sozialen Kongresses" ein.2 Es ging ihm dabei um die gesellschaftliche Verantwortung der Religion und der Kir­ che, angesichts der mit dem Industriezeitalter bedrängend aufkommenden ,,sozialen Frage" - womit man im Umkreis des politisch konservativen, sozialreformerischen Protestantismus die entscheidende gesellschaftspoli­ tische Herausforderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meinte. Volker Gerhardt ist es ebenfalls enorm wichtig, dass es bei Religion nicht um eine Privatangelegenheit geht, sie vielmehr von öffentlicher Re­ levanz ist und gewissermaßen in die Konstitutionsbedingungen der politi­ schen Form des Bewusstseins gehört. Da die Religion das menschliche Leben in einem unbedingten Sinn gründet, ermöglicht sie eine Lebenshal­ tung, die ebenso demütig und gelassen macht, wie sie zugleich mit einem unversieglichen Lebensmut begabt. Der religiöse Glaube ist es, der die Hoffnung auf einen guten Ausgang aller Dinge, selbst angesichts der fort­ dauernden physischen und moralischen Übel in dieser Welt aufrecht erhält und zugleich zu einer alles verfügbare Wissen und alle technischen Mög­ lichkeiten nutzenden Arbeit an einer verbesserlichen Welt anhält. Im Lich­ te der göttlichen Segensverheißung beflihigt der Glaube zu einem Han­ deln, das seine Antriebskräfte aus der Liebe zum Leben empfllngt und das sogar noch in den Erfahrungen des Scheiterns, in der Konfrontation mit dem Bösen und angesichts des Schrecklichen und Absurden, das über ein Leben hereinbrechen kann, am Sinn des Ganzen, also an der Hoffnung auf Erlösung, festhält. I Philosophie und Theologie: Eine freundliche Übernahme Volker Gerhardt betont, dass er seinen Versuch über das Göttliche als Phi­ losoph unternimmt. Als solcher beansprucht er, eine ,,rationale Theologie" 2 Vgl. Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890-1930: Eine biographische Studie zum Verhdltnis von Protestantismus, W'tssenschafi und Po­ litik, Tübingen 22015. 68 Wilhelm Gräb vorzutragen. Wie ich mit meinem hier angeführten und auf Gerhardts Un­ ternehmen bezogenen Harnack-Zitat zeigen wollte, befindet sich Gerhardt mit seiner Philosophie jedoch zugleich in der besten Gesellschaft liberaler Theologie wie sie von Schleiennacher, Harnack und Troeltsch, um nur de­ ren wichtigste Vertreter zu nennen, betrieben wurde. Deren Intention war es, die theologischen Konsequenzen aus Kants Erkenntniskritik und seiner Rechtfertigung des religiösen Glaubens auf der Basis der in den prakti­ schen Lebensvollzug eingelassenen Sinnbedingungen zu ziehen. Die libe­ rale Theologie nach Kant unternahm es, Kants Erkenntnis- und Theologie­ kritik dadurch Rechnung zu tragen, dass sie von Gott auf die Religion als ihren Ausgangspunkt umstellte, Sie wollten auf der Basis von Kants prak­ tischem, die Sinngewissheit moralischen Handelns begründenden Gott­ Denkens theologisch weiterarbeiten. Einem sich von den menschlichen Daseinsherausforderungen lösenden, spekulativ ausgreifenden Gottesge­ danken, gar einem supranaturalistischen Offenbarungspositivismus gegen­ über zeigten sie sich demgegenüber zurückhaltend bzw. ablehnend. Die liberale Theologie kann als eine von anthropologischen Bedingun­ gen des Glaubens ausgehende Religionstheologie aufgefasst werden. Ger­ hards „rationale Theologie" steht zu ihr, wie ich finde, in großer Nähe. Gerhardt nimmt, wie diese Religionstheologie, seinen Ausgang vom Auf­ weis des anthropologischen Orts der Religion. Er findet ihn eben dort, wo wir in unserem bewussten Leben dessen ansichtig werden, dass wir in un­ serer Weltgestaltung von Sinnbedingungen abhängig bleiben, die wir in unser Wissen nie vollständig einzuholen im Stande sind. In unserem Wis­ sen-Wollen und Handeln-Können verlassen wir uns auf dessen Sinn, ohne dass uns dieser als Gegenstand unseres Wissens gegeben wäre. Wir glau­ ben vertrauensvoll an ihn. Diese Beobachtung führt zur Einsicht in den vernünftigen Grund des religiösen Glaubens. Der Glaube steht gewisser­ maßen für die Einsicht, dass wir in unserer von unserem Wissen geleite­ ten, sich technisch perfektionierenden Weltgestaltung von Voraussetzun­ gen leben, die sich weder unserem Wissen verdanken noch sich je zum Gegenstand unseres Wissen werden machen Jassen. Diese Einsicht des Glaubens kann somit als eine solche verstanden werden, die dort, wo sie aufkommt, ein „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" (Schleiennacher) zu erzeugen in der Lage ist, selbst wenn es dabei um die höchsten menschlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik geht. Schon aufgrund der ungeheuren Nähe, die ich in Gerhardt Religions­ philosophie zu dem von Schleiennacher entwickelten und von Harnack und Troeltsch in die wissenschaftlich-technische Weltgesellschaft weiter- Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns 69 geführten Konzept liberaler Theologie wahrnehme, sehe ich mich zu dem Eingeständnis veranlasst, dass ich so gut wie keine gravierenden Einwän­ de gegen diese vorzubringen habe. Seinem Bemühen um eine „rationale Theologie", die darauf aus ist, das Wissen zu begrenzen, um einem Glau­ ben aus freier Einsicht Platz zu verschaffen, kann ich nur aus ganzem Her­ zen zustimmen. Wenn ich hier dennoch in eine kritische Auseinander­ setzung mit ihm eintrete, so will ich diese nutzen, um zu zeigen, wie ich mir eine Übernahme der Religionsphilosophie Gerhardts in eine ebenfalls von anthropologischen Voraussetzungen und damit von der Sinnfrage aus­ gehende Theologie vorstelle. Ich werde dabei, stärker als ich dies bei Ger­ hardt sehe, für die anthropologische Selbstständigkeit der Religion eintre­ ten. Denn die Religion ist es, die für die Unbedingtheitsdimension von Sinn einsteht, während das Wissen auf den die Ganzheitsdimension von Sinn ansprechenden Weltbegriff verwiesen bleibt. Religion realisiert als Beziehung zum Göttlichen das Vertrauen in einen unbedingten Sinngrund, während das auf die Erkenntnis der Weltdinge ausgerichtete Wissen sich in unendlicher Annäherung an das im Weltbezug immer schon in An­ spruch genommene Sinnganze bewegt. II Vom Sinn ausgehen: Auf gemeinsamem Weg, aber mit unterschiedlicher Blickrichtung Ich nehme als liberaler Theologe meinen Ausgangspunkt, ebenso wie Ger­ hardt, nicht beim „Gott denken", schon gar nicht beim „Auf Gottes Wort hören", sondern bei dem aus den Sinnerfahrungen des Lebens entsprin­ genden religiösen Bewusstsein. Dabei ist es mir aber wichtig, dem Glau­ ben in der Gestalt des religiösen Bewusstseins einen eigenständigen Er­ fahrungsgehalt zumessen zu können. Denn bei Gerhardt kann der Glaube stellenweise den Verdacht auf sich ziehen, letztlich doch nur ein defizitä­ rer Modus des Wissens zu sein. Gerhardt ist zwar keineswegs der Mei­ nung, dass wir, je mehr wir wissen, umso weniger glauben müssten. Im Gegenteil, die Anreicherung dessen, was wir wissen, lässt uns gesteigert bewusst werden, dass wir das Ganze, zu dem wir selbst als Wissende ge­ hören, nie in unser Wissen werden einholen können. Indem Gerhardt je­ doch an dieser defizitären Erfahrung, die das Wissen mit sich selbst macht, die Notwendigkeit des Glaubens einleuchtend werden lässt, kommt Glauben doch als eine abgeschwächte Form des Wissens zu stehen. Glau­ ben wird zudem als „Glauben an" verstanden. Dem von Gerhardt verwen­ deten Begriff des Glaubens eignet eine intentionale Struktur. Glauben ist 70 Wilhelm Gräb auf Glaubensinhalte ausgerichtet, die, wie Gerhardt sagt, von den Religio­ nen zu Recht in Form von Lehren und mit wissensfürmigem Wahrheitsan­ spruch vertreten werden. Wird Glauben so verstanden, dass es dem Wis­ sen strukturell analog ist, dann, so scheint mir, wiederholt sich im Glauben mit der intentionalen Struktur des Wissens aber auch der konstitutive Ge­ gensatz, der das Wissen durchzieht. Dann wieder plädiert Gerhardt jedoch für einen Glauben, den er als ein Vertrauen in den Sinn des Ganzen verstanden wissen will. Der religiöse Glaube, um den es Gerhardt geht, ist recht eigentlich ein transzendentaler Glaube. Er geht auf den Grund aus, der alles Wissen allererst ermöglicht, der in allem Wissen insofern aber auch immer schon als gegeben in An­ spruch genommen werden muss. Mir scheint, diese Form des Glaubens ist nicht nach Analogie des Wissens als ein „Glauben an", sondern, wie Ger­ hardt ja auch sagen kann, als „Vertrauen auf' zu beschreiben. Im An­ schluss an den Religionspsychologen Erik H. Erikson ließe es sich, um eben die Selbstbezüglichkeit dieses religiösen Vertrauens zum Ausdruck zu bringen, auch als ein „Grundvertrauen" auffassen. Glauben, verstanden als Grundvertrauen, hat keine intentionale Struktur. Es ist kein Glauben an etwas, auch nicht an einen Gott oder ein Göttliches. Der religiöse Glau­ ben, verstanden als Grundvertrauen, ist vielmehr ein bedingungsloses Sich-Verlassen-Können. Im religiösen Glauben, dadurch, dass ein Mensch sein Grundvertrauen ausdrücklich macht, verhält er sich explizit dazu, dass er immer schon von Voraussetzungen lebt, die er wissend nicht vor sich zu bringen vermag, auf die er sich aber gleichwohl in all seinem Wis­ sen und Handeln vertrauensvoll muss verlassen können. Man kann und sollte dann dieses vertrauensvolle Sich-Verlassen, da es nicht auf die vom Wissen intendierte und in ihm erschlossene Welt gerich­ tet ist, ein Sich-Verlassen auf die Tragfähigkeit des mit allem Weltwissen immer schon in Anspruch genommenen, universalen Sinnzusammenhangs nennen. Das wäre ein Glauben, der sich als Glauben an die Präsenz des Göttlichen in der Welt ausdrückt, möglicherweise sogar in einem sich an religiöse Traditionen anschließenden Bekenntnis des Glaubens artikuliert. Diese Ausdrücklichkeit des Glaubens, die unweigerlich die intentionale Struktur in den Glauben hineinzieht, muss m.E. jedoch unterschieden blei­ ben von der individuellen Erfahrung, in der sich dieser Glaube einstellt und aus der er seine alle sinnintentionalen Vernunftleistungen motivieren­ de und begleitende Kraft empflingt. Als individueller Erfahrung des Glau­ bens kommt ihr nicht die intentionale Struktur des Wissens zu. Sie hat kei­ ne Weltinhalte, sondern sie kommt, sofern mit ihr dieses Grundvertrauen Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns 71 gemeint ist, als unmittelbare Sich-Zugänglichkeit der Subjektivität oder, so könnte man auch sagen, als vorprädikative Selbstvertrautheit am Ort des in seinen Wissensvollzügen tätigen Subjekts vor. Schleiermacher hat dieses Grundvertrauen deshalb ein „Gefühl schlechthinniger Abhängig­ keit" genannt, eben weil es am Ort des individuellen Subjekts passiv auf­ kommt und dabei, gewissermaßen mit einem Schlag, diesem sein Einge­ lassensein in unbedingte Sinnbedingungen evident werden lässt. Diese subjektivitätstheoretische Blickrichtung verfolge ich stärker, weil zum einen der Gefühlsbegriff für die Auffassung steht, dass das alles Wissen grundierende Grundvertrauen nicht selbst ein Wissen sein kann, und zum anderen in Schleiermachers Rede vom „Gefühl schlechthinniger Abhän­ gigkeit" eine vorprädikative und vorreflexive Erfahrung aufgerufen wird, die mit Bezug auf die Rede vom Göttlichen und seiner Präsenz in der Welt als sekundäre Symbolisierung der primär an die individuelle Erfahrungs­ subjektivität gebundenen Evidenz verständlich werden kann. III Gott und die Welt: Eine notwendige Unterscheidung, die aber nicht in die Trennung führt ,Gott' ist ein Wort unserer Sprache. ,Gott' ist, so kann ich im Anschluss an Volker Gerhardt sagen, das Wort unserer Sprache, mit dem wir benen­ nen, was uns ins Passungsverhältnis zu uns selbst wie zu der von uns er­ kannten und zu gestaltenden Welt bringt. Dieser Gott ist kein Gegenstand in der Welt, den wir wissen könnten, denn dann wäre er nicht der Grund des uns in unserer Lebenszuversicht tragenden Sinns. Dieser Gott ist aber auch kein Gegenstand des Glaubens, auf den sich unser Vertrauen richtet, worauf Gerhardt eigentlich ebenfalls insistiert. Mit dem Wort ,Gott' bezeichnen wir vielmehr den Grund, bzw. das „Von­ Woher" (Schleiermacher) des Gefühls eines unbedingten Getragenseins, das uns an uns selbst in unserer sinnorientierten Weltstellung aufgeht. So sehr ich dem somit zustimme, gehe ich im Folgenden dennoch wieder et­ was anders vor, um die Bedeutung des Wortes Gott bzw. des Göttlichen als Bezeichnung für den uns in unserem Selbst- und Weltverhältnis tragen­ den Sinngrund zu beschreiben. Ich meine, dass wir Veranlassung haben, den universalen Sinngrund, den wir mit dem Wort ,Gott' bezeichnen, von dem Sinnganzen, das die Welt für uns ist, zu unterscheiden. Ist es nachvollziehbar, im Weltbegriff das Ganze des uns in jedem sinnbestimmten Selbst- und Weltverhältnis tragenden Sinns zu sehen, so erscheint es mir befremdlich, die Bedeutung 72 Wilhelm Gräb des Wortes Gott darin sehen zu wollen, dass mit Gott bzw. dem Göttlichen ebenfalls die Welt als Ganze gemeint ist, insofern, als sie für uns eine Be­ deutung hat, die wir verstehen können. Wenn Religion uns den Sinn der Welt und unseres eigenen Daseins in ihr erschließt, dann liegt es doch nä­ her, das Göttliche nicht in der Welt, sondern am Grunde unserer je indivi­ duellen Offenheit für sie zu sehen. Die Rede von Gott bzw. dem Göttli­ chen wäre damit die religiöse Deutung nicht nur des Sinnganzen einer Welt, die für uns da ist, sondern die religiöse Deutung des der Welt tran­ szendenten Sinngrundes. Der religiöse Glaube ist dann, indem er mit dem Göttlichen einen unbedingten, die Welt transzendierenden Sinngrund ver­ bindet und auf ihn sein unbedingtes Vertrauen setzt, diejenige Lebenskraft, die Menschen auch noch in den riskanten Grenzerfahrungen jene Leistun­ gen im Wissen und Handeln freisetzen lässt, die Zukunft eröffnen und zur Hoffnung auf einen guten Ausgang anstiften kann. Es wäre dann nicht schon unser Weltverhältnis, sondern das in unserem Weltverhältnis immer mitlaufende Selbstverhältnis, an dem uns unsere Beziehung zu dem uns tragenden, unbedingten Sinngrund aufgeht und dem damit die religiöse Deutung, als Ort der Realisierung der Beziehung zum Göttlichen, zu gel­ ten hätte. Die Rede von Gott bzw. dem Göttlichen vollzieht dann die explizite Deutung des Grundes der Erfahrung unmittelbarer, vorreflexiver Selbst­ vertrautheit. Wer diese Deutung vollzieht, mobilisiert den religiösen Glau­ ben als vertrauensvolle Zuversicht darauf, dass sich die Wissens- und Ge­ staltungsanforderungen, vor die die Welt uns stellt, mutig annehmen und zur Durchführung bringen lassen - selbst noch in den Erfahrungen des Nicht-Sinns. Die subjektivitätstheoretische Sicht Schleiermachers führt, durchaus ähnlich wie das bei Gerhardt zu sehen ist, in eine Religionsauf­ fassung, zu der eine explizite Weltfrömmigkeit gehört. Aber bei Schleier­ macher wäre, anders als bei Gerhardt, Gott bzw. das Göttliche nicht im Sinnganzen einer Welt, zu der sich das Wissen in unendlicher Annäherung befindet, aufzufinden, sondern auf dem Grunde und am Abgrunde der (Grenz-)erfahrungen von Menschen, die diese in den existentiellen He­ rausforderungen ihrer sinnbewussten Lebensführung machen und machen müssen. Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns 73 IV Der existentielle Vollzug des Glaubens: Verständigung über eine kontingenzsensible Lebensform Die existentielle Bedeutung des Glaubens ist es, auf die Gerhardt mit sei­ nem Versuch über das Göttliche ausgeht. Religion ist für ihn, worin ich ihm nur zustimmen kann, eine auch noch contra-faktisch am Sinn des Ganzen festhaltende Endlichkeitsverarbeitung. Das zeigt sich schon im Ausgang von der Sinnfrage. Es tritt zuletzt darin hervor, dass der religiöse Glaube mit einer Lebensführung zusammengesehen wird, die sich die Lie­ be zu allem Lebendigen bewahrt und an der Hoffnung auf einen guten Ausgang aller Dinge festzuhalten vermag. Wer Religion hat, der sieht sich selbst mit der ihm zugänglichen Welt zu einem unendlich Sinn-Ganzen gehörig, obwohl dieses Ganze an sich selbst unfassbar ist und letztlich un­ verfügbar bleibt. Religion betreibt in Gerhardts Verständnis - ihm darin zu folgen hat die Theologie allen Anlass - keine Verehrung heiliger Dinge, sie überhöht nicht endliche Erfahrungen und Gegenstände ins Göttliche. Sie stellt viel­ mehr eine von unbedingtem Sinnvertrauen getragene Haltung maximaler Offenheit der Welt gegenüber her.3 Der religiöse Glaube resultiert, wie es im Grunde schon Schleiermacher in der zweiten seiner „Reden über die Religion" ausgeführt hat, aus einer durch die Anschauung des Univer­ sums, d.h. die Aufmerksamkeit auf die Unendlichkeit der Welt verursach­ ten Rückbetroffenheit des humanen Gefühlsbewusstseins. Im Anblick der Unendlichkeit und Unfassbarkeit der Welt wird der einzelne Mensch ge­ steigert seiner Endlichkeit bewusst.4 Er wird seiner ebenso natürlichen wie geschichtlich-gesellschaftlichen Grenzen und Kontingenzen ansichtig. Er sieht, dass die Erfahrungen des Geborenwerdens und Sterbens, die Erfah­ rungen des Glücks wie der Not, des Gelingens wie des Scheiterns, des Schönen wie des Schrecklichen und Absurden ihn unweigerlich mit einer letzten Unverfügbarkeit der eigenen endlichen Existenz konfrontieren. 5 Die Welt, wie zugleich das eigene begrenzte Dasein in ihr, entziehen sich 3 Vgl. Friedrich Schleiennacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In ihrer ursprlJnglichen Gestalt, neu hg. von Rudolf Otto, Göttin­ gen 6 1 967. 4 Ebd., S. 67-69. 5 „Geborenwerden und sterben sind solche Punkte, bei deren Wahrnehmung es uns nicht entgehen kann, wie unser eigenes Ich überall vom Unendlichen umgeben ist, und die allemal eine stille Sehnsucht und eine heilige Ehrfurcht erregen." (Ebd., 154) s. 74 Wilhelm Gräb dem Sinn, der verstanden werden könnte. Dennoch, obwohl jeder von uns nur einer unter unendlich vielen ist, und ihm auf das Ganze gesehen keine besondere Bedeutung zukommt, beziehen wir das Ganze doch auf uns, wird uns die Welt zu dem, was für uns Bedeutung hat. Ebenso glauben wir, dass wir der Welt keineswegs gleichgültig sein dürften. Wenn wir von uns selbst ausgehen und unser eigenes Einbezogensein in dieses unendli­ che Ganze einer Welt wahrnehmen, die uns in ihrer Unbegreiflichkeit doch zugänglich wird, nehmen wir sie somit auf religiös sinninvestive Weise wahr. Man kommt mit dieser Religion nicht zu einer universalen Welterklä­ rung oder Geschichtsdeutung, Nicht einmal in allem Endlichen erblickt wird sie des Einbezogenseins des Endlichen in das Ganze seines Sinns ge­ wahr. Sie lebt vielmehr von der gefühlsbewussten Rückbetroffenheit, die mit der eigenen, endlichen Weltstellung konfrontiert, dabei aber gerade die Chancen und Möglichkeit, die im Wissen und Handeln entstehtm, be­ wusst werden lässt. Religion führt nicht zum Pantheismus, wie Gerhardt hervorhebt. Denn dieser wäre die alles vergleichgültigende religiöse Überhöhung des Endli­ chen. Religion produziert auch kein absolutes Wissen, erlaubt keine Welt­ und keine Geschichtsfonnel. Sie ist keine Ideologie, keine in einer Lehre fonnulierbare Weltanschauung. Das religiöse Bewusstsein ist dadurch qualifiziert, dass es den Menschen vertrauensvoll und liebevoll, von muti­ ger Daseinszuversicht und unversieglicher Hoffnung getragen, auf die dem menschlichen Wissen und Handeln offen stehende Welt zugehen lässt. Sie erlaubt ihm, die Welt und das eigene Dasein in dieser in ihrer Unendlichkeit, Unverfllgbarkeit und Kontingenz anzuerkennen, sich auch noch dem Leiden und Schmerz zu stellen, die Augen vor der Ungerechtig­ keit und Grausamkeit, die fortwährend geschehen, nicht zu verschließen und dennoch am Sinn des Ganzen festzuhalten, auf dessen Durchsetzung zu hoffen und in den Grenzen der eigenen, endlichen Möglichkeiten fUr sie zu arbeiten. Wer die Welt religiös, also begleitet von dem Gefühl eines letztlich unzerstörbaren Sinnvertrauens, ansieht, dem verliert sie nichts von ihrer Unbegreiflichkeit und Unverfllgbarkeit und dennoch weiß er sich in ihr aufgehoben und kann in der Gewissheit auf sie zu- und mit ihr umgehen, dass sie sich seinem Wissen und Handeln öffnet. Das religiöse Gefühl kommt somit dem tröstlichen Vertrauen darauf gleich, dass wir in dieser Welt, ihrer Unendlichkeit und Unbegreitbarkeit zum Trotz, auf kei­ nen Fall verlorengehen. Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns 75 V Die Individualität des Glaubens: Warum der Glaube, der von universaler Bedeutung ist, individuell vollzogen werden muss Gerhardt arbeitet die universale Bedeutung des religiösen Glaubens he­ raus. Ohne den Glauben, der das Sinnvertrauen in die von uns zu erken­ nende und zu gestaltende Welt schafft, so seine These, ist weder ein täti­ ges und erfolgsorientiertes Leben möglich, noch könnte es uns gelingen, uns so zu uns selbst und zur Welt zu verhalten, dass wir auch noch in den Erfahrungen von Leid und Tod bei der Liebe bleiben und die Hoffnung auf Erlösung nicht aufgeben. Dieser universalen Bedeutung des religiösen Glaubens unbeschadet, in­ sistiert Gerhardt zu Recht darauf, dass der religiöse Glauben individuell vollzogen werden muss. Er wehrt sich gegen die Einweisung der Religion in den Raum des Privaten, dem Glauben eine bloß subjektive Relevanz zuzuerkennen. Dennoch ist es ihm zu Recht wichtig, zu zeigen, dass er seine universale, öffentliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung nur erfüllen kann, wenn er von den einzelnen Menschen als ihr unvertret­ bar je eigener Glaube auch vollzogen und aus freier Einsicht nach und mit ihm gelebt wird. Religion funktioniert für Gerhardt nicht als Fremdzu­ schreibung. Denn im Bekenntnis des Glaubens spricht sich eine letztlich tief persönliche, auf ein allgemeines Wissen gerade nicht abgestützte Überzeugungsgewissheit aus. Das hat aber zur Folge, dass der religiöse Glaube in einer unendlichen Vielfalt individueller Überzeugungen gelebt wird. Jedes Individuum, so könnte man auch sagen, das sich, zusammen mit der Welt, auf je eigene Weise in das unendliche Ganze einbezogen und in seinem Gefühlsbewusstsein bestimmt findet, entwickelt auch seinen ei­ genen Glauben. Dieser erst macht mit der Bestimmung, die er ins indivi­ duelle Gefühlsbewusstsein einbringt, einen Menschen dann auch seiner je eigenen Daseinsbestimmung gewiss. Zum Schluss folge ich Gerhardt noch einmal mit Freuden: Für ihn ist der religiöse Glaube immer individuell, erfahrungsbezogen, perspekti­ visch. Das heißt aber gerade nicht, dass er nicht mit dem Anspruch auf all­ gemeine Wahrheit aufzutreten berechtigt wäre. Im Gegenteil, gerade weil sich im religiösen Glauben die persönlichsten Überzeugungen artikulie­ ren, kann ein Mensch ihn nicht für sich allein haben und behalten wollen. Der Glaube drängt immer ins Gespräch. Er sucht die Gemeinschaft. Er will mitgeteilt und in einem gemeinschaftlich vollzogenen Ritus auch dar­ gestellt und auf allgemein verständliche Weise zur Auslegung gebracht werden. Dahin drängt die Religion der Individuen selbst. Sie weiß sich auf 76 Wilhelm Gräb die Ergänzung durch die ihrerseits perspektivisch auf den Sinn des Ganzen ausgreifenden Überzeugungen anderer angewiesen. Mit der Individualität des religiösen Bewusstseins geht dann zudem seine pluralistische Verfasstheit einher - ein Aspekt, den ich bei Gerhardt nicht so sehr betont gefunden habe, der aber in der globalen religionspoli­ tischen Gegenwartslage nicht minder bedeutsam ist. Mit der Individualität der Religion gehört zusammen, dass die Religion, von sich selbst ausge­ hend, keine Unduldsamkeit anderen religiösen Positionen gegenüber aus­ bilden kann. Eine sich ihrer Individualität bewusste Religion behauptet nie, die Wahrheit allein auf der eigenen Seite zu haben. Sie erhebt keine Absolutheitsansprüche. Die Wahrheit liegt dem religiösen Bewusstsein vielmehr im Vorgang der Mitteilung und des Gesprächs und damit einer unendlichen Ergänzung und fortgesetzten Anschlussfähigkeit je individu­ ell bestimmter, religiöser Überzeugungen, durch und an andere. Nur die sich selbst dem unendlichen Ganzen sich überlassende Religiol) ist die wahre Religion. Wahr ist sie nur in der unendlichen Anreicherung indivi­ dueller Ausbildungen der aufs Ganze gehenden Sinngewissheiten. Die Wahrheit der Religion versteht sich somit als eine Wahrheit im Werden, die auf dem Wege der Mitteilung und des kommunikativen Austauschs nicht über die Lehren der Religion, sondern über die diesen zu Grunde lie­ genden Daseinssinnüberzeugungen geschieht. Auf der Basis dieses Gedankens kann der weitere Weg aufgezeigt wer­ den, wie von der unendlichen Vielfalt der Formen gelebter Religion zu den auf geschichtlichen Überlieferungen aufbauenden und sie weitertra­ genden Religionsgemeinschaften zu finden ist. So kommt auch Gerhardt am Ende seines Buches auf eine Religion, das Christentum, zu sprechen. Unschwer wären von dort auch die Linien auszuziehen zu denjenigen Konstellationen religiösen Glaubens, die sich anderen Religionsüberliefe­ rungen verdanken. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass Gerhardt, ob­ wohl eine „rationale Theologie" entfaltend, zu Recht weit davon entfernt bleibt, etwa im Stile der rationalistischen Aufklärungstheologie, auf der Basis eines allgemeinen Begriffs der Religion die Existenz einer allgemei­ nen, natürlichen Religion schlussfolgern zu wollen.6 Religion, so schärft Gerhardt ein, lebt immer nur in individuellen und pluralen Formen eines kontingent geschichtlich vorkommenden Gefühls- und Erfahrungsbe­ wusstsein. Das Moment der Pluralität historischer Religionsgemeinschaf6 Ebd., S. 242-250. Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns 77 ten bleibt der wirklich gelebten Religion ebenso zugehörig wie ihre Indi­ vidualität. Im Blick auf die Praxis der gelebten Religion wird von daher die reli­ giöse Toleranzbereitschaft wichtig. Die Forderung nach einem toleranten Umgang der Religionen untereinander, ist der individuell gelebten Religi­ on geradezu inhärent. Wer wahrhaft religiös ist und eine eigene religiöse Identität ausgebildet hat, der erkennt in den religiösen Überzeugungen an­ derer die Ergänzung der eigenen religiösen Individualität. Das gilt dann ebenso für das Verhältnis der großen geschichtlichen Religionen zueinan­ der. Wie sehr auch immer eine bestimmte Religionsform gemeinschaftlich verfasst und aus langen Überlieferungen gewachsen sein mag, so stellt sie doch nur positionell und perspektivisch eine individuelle Überzeugungs­ gemeinschaft dar. Jede besondere Form religiösen Lebens, die ihre eigene Symbolsprache und Ritualpraxis entwickelt, praktiziert diese Individuali­ tät und ist insofern darauf angewiesen, mit möglichst vielen anderen indi­ viduellen Formen des Religiösen bekannt zu werden. Das tut ihrem An­ spruch auf universale Geltung und allgemeine Wahrheit gerade keinen Abbruch. Im Gegenteil, diesen Anspruch, den eine jede Religion notwen­ digerweise erheben muss, kann sie nur in offenen und herrschaftsfreien Kommunikationsverhältnissen einlösen. Eine Theologie, die als Religionstheologie der gelebten Religion zu ihrer Gesprächsfllhigkeit verhelfen will, kann sich nichts besseres wün­ schen, als eine die Religion so tief verstehende Religionsphilosophie, wie sie Volker Gerhardt entwickelt hat, an ihrer Seite zu haben.