Silke Martin / Anke Steinborn
Ab-Orte
De-Lokalisierungen zwischen Ver- und Entortung
«So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet
ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als
relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.»
(Marc Augé)
Ähnlich wie Marc Augé beschreibt auch Michel Foucault seine Heterotopien als
Orte außerhalb aller Orte, als Gegenplätze der Gesellschaft. Doch was ist mit den
Orten, die sich gleichwohl innerhalb wie außerhalb der Gesellschaft befinden,
die sich von der statischen Schwere des Ortes lösen und den dynamischen Raum
durchdringen? Orte, die zwischen Identität, Relation und Geschichte einerseits
und Raum- und Zeitlosigkeit andererseits schwanken? Orte in und abseits der
Öffentlichkeit, öffentliche Orte des Rückzugs, der temporären Absenz, der Entsorgung – Ab-Orte?
Der vorliegende Sammelband ist in Folge einer Tagung entstanden, die im
Sommer 2014 mit den Autoren dieses Buches im Stasi-Museum Berlin veranstaltet
wurde. Ziel der Veranstaltung war es, eben jene Ab-Orte interdisziplinär und diskursiv aufzuspüren und sie sowohl sozialanthropologisch als auch medienphilosophisch zu verorten. Dabei sollten unterschiedliche Perspektiven in den Blick gerückt
werden, die den Begriff des Ab-Ortes räumlich aber auch zeitlich beleuchten und
theoretisch fundieren. Als zentral erwiesen sich insbesondere Fragestellungen wie:
Sind Ab-Orte zwangsläufig immanent oder erfassen sie gleichermaßen den Bereich
der Transzendenz? Gibt es gedankliche Ab-Orte und wie ist ein Ab-Ort in der Zeit
verankert? Bewegt er sich zwischen Geschichte und Nicht-Geschichte, zwischen
normalen und anderen Zeiten und wo genau ist er dort zu verorten? Lassen sich
entsprechend der Foucault‘schen anderszeitigen Heterochronien und andersräumigen Heterotopien auch Ab-Zeiten zu den Ab-Orten denken? Sollte oder müsste ein
Ab-Ort demzufolge konzeptuell nicht immer raum-zeitlich gefasst werden?
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Silke Martin / Anke Steinborn
Während dem Ort etwas Statisches und Sesshaftes zu Eigen ist, changiert der
Ab-Ort – ausgehend von der Vorsilbe ‹ab-›, die eine Bewegung von etwas weg impliziert – zwischen dem Durablen und dem Flüchtigen. Damit bewegt sich der AbOrt in einem unkonkreten Sowohl-als-auch und konstituiert sich nur vage über ein
Weder-noch. Nicht nur in dieser Hinsicht wird die Nähe zu dem von Julia Kristeva
geprägten Begriff der Abjektion, der Reaktion auf die Konfrontation mit Ekel oder
Phobien auslösenden Abjekten deutlich. Die als Abjekte bezeichneten Ausscheidungen wie Kot, Urin, Blut usw. sind gleichermaßen weder bzw. nicht mehr länger Teil
des Subjektes, aber auch noch keine eigenständigen Objekte. Und sie werden in der
Regel auf dem klassischsten aller Ab-Orte, dem Abort, ausgeschieden und somit auf
dem locus necessitatis de-lokalisiert. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu einem
anderen Abort (lateinisch aboriri, abortus = entschwinden, entschwunden), der Fehlgeburt und dem Schwangerschaftsabbruch, wobei die kindliche Frucht frühzeitig aus
dem Leib der Mutter ‹entschwindet›. In dieser engen Verknüpfung der verschiedensten Ab-Orte kreuzen sich die Diskurse zu Raum, Zeit, (Ab-)Ort, Objekt und Subjekt.
Gemeinsam ist ihnen der Moment der Öffnung im Raum, als Ausfließen – ebenso
physisch wie metaphysisch – als Ausgangspunkt eines Erkenntnisprozesses.
Dementsprechend beginnt der vorliegende Sammelband mit den Überlegungen Jörg Dünnes, der ausgehend von Julia Kristevas Verständnis des Abjekten AbOrte als ‹verworfene Orte› beschreibt. Im Vordergrund steht hier die Räumlichkeit
des Abjekten, die anhand einiger Texte von Louis-Ferdinand Céline herausgearbeitet wird, wobei die «Konstitution eines vorgestellten Zeige-Raums» von tragender
Bedeutung ist. Die Vorsilbe ab- wird von Dünne sowohl als Bewegung «von oben
herab» als auch «von innen heraus» gefasst, wobei die Bedeutung auch als Minderung und Entfernung verstanden werden kann. Wie diese Bedeutung des Ab-Orts
in den Texten von Céline – insbesondere in Die Jauchegrube vom Zornhof – hervortritt, zeigt der Autor in einer genauen und profunden Analyse, die die Begriffsarbeit am Material selbst wahrnehmbar macht.
Im Anschluss an diese Analyse literarischer Ab-Orte widmet sich Lena Eckert
dem Abort im wörtlichen Sinne, der öffentlichen Toilette als Politikum in Bezug
auf Gender und andere Aspekte des öffentlichen Raumes. Dabei ist es genau die
«Gestaltung, Häufigkeit und Benutzung von öffentlichen Toiletten», die ausschlaggebend für die «sozio-kulturelle, politische und räumliche Konstruktion von Gender» ist. So sind öffentliche Toiletten gerade für inter* und transgeschlechtliche
Personen ein problematischer Ort, da diese oftmals eine Identität zwischen den
Geschlechtern wählen und nicht einfach als Mann oder Frau zu identifizieren sind.
Zugleich stellen öffentliche Toiletten auch Orte des Rückzugs dar, etwa für sexuelle
Begegnungen oder – aus feministischer Perspektive – um in einem geschützten
homogenen Raum für bzw. unter sich zu sein. Insofern bilden sie, wie die Autorin
mit Foucault argumentiert, kompensatorische Heterotopien aus.
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Ab-Orte
Einen ähnlich (ab-)geschlossenen Raum im öffentlichen Raum diskutiert Steffen Krämer, der das Projekt des Bergungsortes der Bundesrepublik Deutschland
zum Anlass nimmt, um drei topologische Figuren zu entfalten: den Bunker, das
Archiv und die Exterritorialität. Im Fokus seines Artikels steht die topologische
Semantik der jeweiligen Figuren, die er aus «Texten des Rechts, der Literatur, der
Literaturwissenschaft, der Architekturgeschichte und –philosophie» herausarbeitet. Laut Krämer kann der konkrete Bergungsort heute «nur noch als virtuelle
Möglichkeit» beschrieben werden, «in der sich alle drei Typologien gleichzeitig
und an einem geografischen Ort überschneiden». In diesem Sinne wird der Bergungsort beispielsweise in Texten des Völkerrechts als Anachronie und Allotopie
im Sinne einer alternativen Zeit und eines alternativen Raums beschrieben.
An den Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland schließt der Beitrag von
Christian Halbrock an, der sich dem Areal des ehemaligen DDR-Staatssicherheitsdienstes in Berlin-Lichtenberg widmet. Ein Stadtteil, der – wie der Autor einleitend festhält – in der Vergangenheit als «forbidden place – verborgener Ort – StasiStadt – geheimnisvoller Ort – non-place / Nicht-Ort» bezeichnet wurde. Im Fokus
der Betrachtung stehen vor allem der städtebaulich-topographische Aspekt des
Areals und die Frage, wie die Anwohner_innen diesem verbotenen Platz begegneten und «welche Bilder sich in ihren Köpfen festsetzten». Heute offenbart sich
der damalige Hochsicherheitsbereich Berlin-Lichtenberg als Changieren zwischen
Identität auf der einen und «Koordinatenlosigkeit» auf der anderen Seite, was dieses Areal zum Ab-Ort im besten Sinne macht.
Einen gleichfalls zeitlich begrenzten Ab-Ort untersucht Matthias Schwartz in
seinen Ausführungen zur Raumkapsel. Wenngleich es sich dabei nicht um einen
verbotenen oder tabuisierten Ort wie Berlin-Lichtenberg zur Zeit der DDR handelt,
so ist die Raumkapsel dennoch nicht öffentlich zugänglich. Zu einem «magischen,
unheimlichen, utopischen, phantasmatischen Ort» wird die ortsungebundene
Raumkapsel erst in der Bewegung, im Weltall. In diesem Sinne beschreibt Schwartz
die Raumkapsel als temporären Ort, der nur dem Irdischen enthoben, also in der
Schwerelosigkeit, im Nirgendwo der unendlichen Weite von Bedeutung ist. Als Bote
zwischen bekannter und fremder Welt fungiert die Phantasmagorie der Figur des
Kosmonauten, der in der Raumkapsel reisend, diese erst zu einem Ab-Ort macht.
Um den Ab-Ort als mythischen Raum geht es auch in den Ausführungen
von Marcus Stiglegger. Diese stellen im Film – so der Autor – einen Transitraum
oder Durchgangsort dar, «der durchschritten und wieder verlassen wird» und der
«sich klaren topographischen Relationen entzieht». Gleichzeitig ist er «kulturell,
anthropologisch und historisch codiert». Insofern schwankt der mythische Raum
im Film, wie es Stiglegger an zahlreichen Filmszenen aufzeigt, zwischen Ort und
Nicht-Ort, zwischen topographischer Nicht-Relation einerseits und kulturellem,
anthropologischem und historischem Selbst-Bezug auf der anderen Seite. «Mythi-
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sche Räume können im Sinne Augés daher als Hybride bezeichnet werden, die sich
in permanenter Transformation befinden oder nur temporär Form annehmen».
Dennoch sind sie, wie der Autor schließt, niemals «beliebig, sondern stets symbolisch aufgeladen und haben eine spezifische Funktion als Vorstellungsräume».
Aus einer anderen Perspektive beleuchtet Kathrin Rothemund den filmischen
Ab-Ort. Mit dem Begriff des Floating diskutiert sie die «Konstituierung von Orten
des Abseitigen, der Aussteiger_innen und Gegenwelten» und beschreibt Ab-Orte
als Gegenbild «zu den Foucault’schen Hetereotopien der Gefängnisse, Friedhöfe
und Gärten». In den Filmen Beasts of the Southern Wild (USA 2012, Benh
Zeitlin) und Empire Me – Der Staat bin ich! (A, LUX, D 2011, Paul Poet) entdeckt Rothemund Bilder der Unschärfe, die sie als «medialen Gegenentwurf gesellschaftlicher Ortskonzepte» liest. Diese werden von «gesellschaftlichen Zwischenund Abseitsräumen zu Identitätsräumen ihrer Protagonist_innen». Die filmischen
Ab-Orte der Unschärfe eröffnen, so die Autorin weiter, «fluide Räume eines kosmopolitischen Radikanten im Sinne Bourriauds», die jenseits von festgeschriebenen Territorien «das Herumschweifen zum Existenzprinzip» machen.
Abschließend untersucht Barbara Filser die Bewegung der fotografischen Verund Ent-Ortung, indem sie am Beispiel von Joel Sternfelds On this Site Ab-Orte
in der Fotografie beschreibt. Laut Filser zeigt sich der Ab-Ort «als etwas, das Qualitäten sowohl des Ortes als auch des Nicht-Ortes auf sich vereint». Im Versuch,
Ab-Orte nicht nur auf einer rein motivlichen Ebene in der Fotografie aufzuspüren,
geht es der Autorin um die Frage, wie der Ort als fotografierter Ort erscheint, wie
er «in der Verflechtung von Motiv und Medium seiner bildlichen Repräsentation
entsteht». Dabei kommen zugleich die zeitlichen Ausprägungen des Ab-Ortes, die
abzeitigen Aspekte der fotografierten Orte zur Sprache.
Die verschiedenen Perspektiven zeigen die Vielfalt der Ab-Orte, die AbseitsBewegungen, die von kategorisierten Orten hin zu kartografischen Variablen führen.
Wie das Abjekt nicht mehr Subjekt und noch nicht Objekt ist, bewegt sich auch der
Ab-Ort im Dazwischen, dem unbestimmten Bereich der Ent-Ortung. Ab-Orte sind
radikant, da sie auf ihre Wurzeln Bezug nehmen, dabei aber zugleich neue Wege
einschlagen und in die Zukunft weisen können. Ab-Orte sind fluide und bleiben im
vagen. Sie sind abseits, sowohl räumlich als auch zeitlich, physisch wie psychisch.
Sie sind Orte der Suche und selbst auf der Suche. Ab-Orte sind Orte, die Identität
stiften und verwerfen, verwerfen und stiften – und das ununterbrochen. Dabei sind
sie selbst Unterbrechungen, im Sinne einer Aus- oder Ab-Zeit von in sich geschlossenen Mustern, Bildern und Kategorisierungen. Das Ab-Ortige und Ab-Zeitige zeigt
sich – wie die Artikel dieses Sammelbandes verdeutlichen – in Filmbildern, Fotografien, Texten, an Bergungs- und Erinnerungsorten, städtebaulichen Arealen, Raumkapseln und öffentlichen Toiletten – kurz überall dort, wo Grenzen überschritten
und Orte – etwa über Unschärfe, Absenz und/oder Bewegung – ent-ortet werden.
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Jörg Dünne
Die Jauchegrube von Zornhof
Zur Deixis des Ab-Orts bei Julia Kristeva
und Louis-Ferdinand Céline
Gegenstand der folgenden Überlegungen sind ‹Ab-Orte›, die sich als verworfene
Orte in Anlehnung an Julia Kristevas Verständnis des Abjekten beschreiben lassen.
Dabei soll vor allem die bei Kristeva implizit bleibende Räumlichkeit des Abjekten
herausgearbeitet werden – dies möchte ich wiederum am Beispiel einiger Texte
von Louis-Ferdinand Céline zeigen, indem ich die Verwerfung auf die literarische
‹Deixis›, das heißt die Konstitution eines vorgestellten Zeige-Raums beziehe. Dabei
wird sich jedoch auch herausstellen, dass die abjekte Deixis zumindest bei Céline
nicht der einzige Modus der literarischen Modellierung eines Kontakts mit dem zu
sein scheint, was der menschlichen Erfahrung normalerweise unzugänglich bleiben muss.
I.
Eine erste Annäherung an die Verwerfung soll zunächst über die Wortgeschichte
erfolgen. ‹Abjektion› bezeichnet aus etymologischer Perspektive eine aktive Bewegung, die einen Körper oder ein Objekt in ein spezifisches ‹Außen› befördert, das
die Konnotation einer besonderen Niedrigkeit oder Erniedrigung in sich trägt.
Die Vorsilbe ‹ab-› verweist dabei in der Regel auf eine Bewegung ‹von oben herab›
bzw., häufig damit verbunden, ‹von innen heraus›. Im klassischen Latein bedeutet abjectio so viel wie seelische Niedergeschlagenheit (TLFi, s. v. «abjection»), die
deutsche Vorsilbe ‹ab› pflegt nach dem Grimm’schen Wörterbuch in Verbindung
mit einem Nomen die «minderung des im nomen enthaltenen begrifs, gleichsam
entfernung aus ihm anzuzeigen» (Grimm 1854–1961, s. v. «ab-», Bd. 1, Sp. 10). Im
Französischen, um das es hier in der Folge vor allem gehen soll, ist das Lexem ‹abjection› 1372 erstmals belegt, es wird in der Frühen Neuzeit häufig zur Bezeichnung
einer besonders devoten Frömmigkeit verwendet, die ihren Ort in der christlichen
Gemeinschaft am Rand bzw. ganz unten hat – so etwa in der Introduction à la vie
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