KARIN PETERS
Einleitung: Pourquoi j’aime Barthes, oder: Philologie als Liebe
I.
Auf die sich selbst gestellte Frage „Pourquoi j’aime Barthes“ antwortet dessen
Freund Alain Robbe-Grillet: Er liebe Barthes, weil sich in den Texten dieses ‚Romanciers‘ eine spezifische Gewalt, eine Gewalt der Differenz ausspricht, die man
nur zu genießen vermag, wenn man seine Texte – wohlgemerkt als literarischen
Text – laut rezitiere1. Insofern ist es bezeichnend, dass Barthes le romancier nicht
nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland dreißig Jahre nach seinem Tod
erneut ins Gespräch gekommen ist, zu einem Zeitpunkt, als sowohl Vorlesungen
als auch private Dokumente aus dem Nachlass neu veröffentlicht werden. Barthes
hatte sich bekanntermaßen dem „Effekt des Realen“ (effet de réel ) bereits frühzeitig
verschrieben und ihn zur bzw. in die Sprache gebracht – allerdings ohne dieses
‚Jenseits der Zeichen‘ auch immer theoretisch zu entschlüsseln, vielmehr bezeichnet sich Barthes in diesem Zusammenhang als ‚liebender Amateur‘. Jenseits der
strukturalistischen und semiotischen Pionierarbeiten Roland Barthes’ tritt in der
neuen Auseinandersetzung daher nicht nur die sprachliche Qualität seiner Texte,
sondern auch die Frage nach jener ‚gespenstischen‘ Insistenz des Realen, die ihn im
Laufe seiner Arbeiten immer häufiger beschäftigte, in das Zentrum der Betrachtung.
Robbe-Grillets frühes, bereits 1978 geäußertes Urteil über die Literarizität und
unmittelbar wirksame, fast körperliche Sprengkraft seiner Texte hat sich dabei insofern bewahrheitet, als die aktuelle Literaturwissenschaft weitaus weniger ausschließlich den frühen, streng strukturalistischen Barthes in den Blick nimmt,
denn seine späten Schriften2. Die (Anti-)Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes3, die Fragments d’un discours amoureux, das Japan-Buch L’empire des
1 „Quand je disais ›pourquoi j’aime Barthes‹ […], je voulais signaler, dans ses textes, une violence
qui me parle directement, quelque chose où les différences entre sa prudence et ma caracole
s’amenuisent de façon considérable. Là aussi, pourquoi est-ce que j’aime me réciter un texte, c’est
parce que c’est en me le récitant que je me restitue toute sa violence. C’est au moment de son
jaillissement comme texte que sa violence apparaît.“ Alain Robbe-Grillet, Pourquoi j’aime Barthes
[1978], Paris: Christian Bourgois Éd., 2009, S. 49.
2 Vgl. insb. Angela Oster, Ästhetik der Atopie. Roland Barthes und Pier Paolo Pasolini, Heidelberg:
Winter, 2006.
3 Vgl. dazu einschlägig Gabriele Schabacher, Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die
Funktion ‚Gattung‘ und Roland Barthes’ Über mich selbst, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, sowie zuvor Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und
Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, München: Fink, 2005.
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signes4 oder der Text über Trauer und Fotografie, La chambre claire 5, gelten als
romaneske Experimente6, in denen der Semiologe seine eigene Methode ständig
reflektiert und dekonstruiert.7 Seit den Veröffentlichungen und Übersetzungen der
Vorlesungen Barthes’ am Collège de France schließlich, die dessen „Vorbereitung
des Romans“8 oder die Soziabilität des Menschen9 hinterfragen, hat das Interesse
an seinen eigenen transgressiven Textexperimenten weiter stark zugenommen. So
kann man den streckenweise in Deutschland vergessenen Barthes wieder als lebendigen Referenz- oder Reibungspunkt der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung begreifen10.
4 Aus Sicht der Kulturwissenschaften mehrfach kommentiert, u.a. bei Antje Landmann, Zeichenleere. Roland Barthes’ interkultureller Dialog in Japan, München: Iudicium, 2003. S. dazu ebenfalls den Beitrag von Ottmar Ette in diesem Band.
5 Vgl. Judith Kasper, Sprachen des Vergessens, München: Fink, 2003.
6 „Was er schrieb, war bereits Fiktion, die allerdings den Akt ihrer Hervorbringung [énonciation]
selbst betraf. Barthes war weniger der authentische Romancier einer fiktiven Geschichte als der
nicht-authentische Vermittler [énonciateur] wahrer Geschichten.“ Tzvetan Todorov, »Der letzte
Barthes«, in: Hans-Horst Henschen (Hg.), Roland Barthes, München: Boer, 1988, S. 129-137.
Hier S. 130 f. Zuerst in: Poétique 47 (1981).
7 Reda Bensmaïa beschreibt das Verfahren Barthes’ als Beseitigung der Metasprache, ein „ausschweifendes Delirieren“: „[D]er Barthes’sche Essay verweist stets auf das Verfahren als Operator,
der einen Text ermöglicht“, „immer entsteht ein natürlicher Überschuß der Signifikanten-Serie
und ein natürlicher Mangel der Signifikat-Serie“. Reda Bensmaïa, »Vom Fragment zum Detail«,
in: Henschen (Hg.), Roland Barthes (Anm. 6), S. 181-208. Hier S. 188 u. S. 191.
8 Roland Barthes, La préparation du roman I et II. Cours et séminaires au Collège de France (19781979 et 1979-1980), Paris: Seuil, 2003. In deutscher Übersetzung erschienen 2008 bei Suhrkamp unter dem Titel Die Vorbereitung des Romans.
9 Vgl. Roland Barthes, Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens. Cours et séminaires au Collège de France (1976-1977), hg. v. Claude Coste, Paris: Seuil,
2002. In deutscher Übersetzung erschienen 2007 bei Suhrkamp unter dem Titel Wie zusammen
leben.
10 Die hierzulande vielleicht lebendigste philologische Debatte der letzten Jahre wurde von Ottmar
Ette u.a. im Namen Roland Barthes’ angestoßen, als er in seiner Programmschrift »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft« und im Konzept der Literatur als „sich wandelndes interaktives
Speichermedium von Lebenswissen“ sich immer wieder auf den französischen Semiologen des
„Lebenswissens“ bzw. „Zusammenlebenswissens“ beruft; Ottmar Ette, »Literaturwissenschaft als
Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften«, in: Lendemains
XXXII, 125 (2007), S. 7-32. Insb. S. 13, S. 18 u. S. 27 ff. S. dazu gleichfalls die Beiträge und Diskussionen in Wolfgang Asholt (Hg.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm –
Projekte – Perspektiven, Tübingen: Narr, 2009 sowie kürzlich Jörg Dünne, »Von Listen und Lasten der Philologie für das Leben. Nicht mehr ganz zeitgemäße Betrachtungen zu der von Ottmar
Ette initiierten Debatte um Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft«, in: PhiN 57 (2011),
S. 73-84. Ottmar Ette ist darüber hinaus seit seiner Intellektuellen Biographie eine gelungene Rehabilitation des literarischen Barthes zu verdanken (Ottmar Ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1999). Barthes’ Textlust wird in der von Ette kommentierten Neuausgabe des Plaisir du texte wieder ins Gespräch gebracht (Roland Barthes, Die
Lust am Text. Kommentar von Ottmar Ette, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2010), die herausragende Stellung von Roland Barthes in der Literaturwissenschaft des 20. Jhds. schließlich im Rahmen
der jüngsten Einführung in dessen Werk besprochen (Ottmar Ette, Roland Barthes zur Einführung, Hamburg: Junius, 2011). Für den deutschsprachigen Bereich nicht minder hilfreich bzgl.
der Vermittlung Barthes’scher Ideen – und wohl Zeichen seiner endgültigen ‚kanonischen‘ Insti-
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Deshalb haben die Herausgeberinnen des vorliegenden Sammelbandes das Jahr
2010, in dem sich der Todestag Barthes’ zum dreißigsten Mal jährt, zum Anlass
genommen, nach dessen Aktualität und Produktivität im gegenwärtigen Diskurs
zu fragen. Nicht zuletzt berührt die Auseinandersetzung mit Barthes – dem Barthes
der ideologiekritischen Mythologies, dem bildbegeisterten Hermeneut Cy Twomblys oder dem (trans-)kulturellen Wanderer in China, Japan und Marokko – das
Selbstverständnis eines sich interdisziplinär orientierenden Faches: Thematisch
und methodisch angereichert durch den strukturalistischen Textbegriff ist die
Literaturwissenschaft wie Barthes selbst über diesen hinausgewachsen, ohne dabei
einem schlichten cultural turn anheimzufallen. Schon 1972 deutet Fredric Jameson
in The Prison-House of Language die Besonderheit des Barthes’schen Strukturalismus als die nahezu obsessive Auseinandersetzung mit „a kind of density and resistance beneath the transparency of the signs“11. Sie mündet in den Versuch, der
vertikalen Opazität der Zeichen12 eine (Meta-)Sprache entgegenzusetzen, welche
der realen Widerständigkeit des Zeichens thematisch in zahlreichen Diskursen
über das Reale und selbst stilistisch – als Textur – gerecht zu werden sucht. So gibt
sich das Denken des Roland Barthes als dis-cursus im Sinne des „Hin- und
Herlaufens“13 und nicht als selbstsicherer wissenschaftlicher Diskurs:
Yet it is this vertical depth of the signified, which seems grounded in the worldless
and the physical itself, in complexion and organic humor, that accounts for the peculiar density of Barthes’ own language as well: for his style is an attempt to lend a second voice to the signified, to articulate its organization before it finds its final and
official version in the primary signifier itself, in the text.14
Aus der Beschäftigung mit Barthes erwächst somit die Möglichkeit, Scylla und
Charybdis der Literaturwissenschaften wenn nicht zu bannen, so doch zumindest
kritisch ins Auge zu fassen: die Gefahr eines naiven Realismus auf der einen und die
manieristischer Signifikantenästhetik auf der anderen Seite. Mit Barthes zu lesen
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tutionalisierung – ist die von Claude Coste herausgegebene Anthologie maßgeblicher Texte; Barthes. Textes choisis et présentés par Claude Coste, Paris: Points, 2010.
Fredric Jameson, The Prison-House of Language. A Critical Account of Structuralism and Russian
Formalism, Princeton: Princeton UP, 21974, S. 147.
„The very notion of a signified as such would seem to presuppose that it had already been articulated into a system of signifiers in its own right, that is to say, dissolved qua signified and reorganized or assimilated into a sign-system of its own. […] To speak of it any way at all, even to isolate the signified as such for purposes of description, would seem to imply that it had already found
some determinate type of organization, or in other words that what we had taken to be a signified, […] turned out […] to be itself a signifying system with respect to some lower level of the
signified, in a kind of infinite regression.“ Ebd., S. 145.
Barthes expliziert in den Fragments d’un discours amoureux den discours als „action de courir çà et
là“; Roland Barthes, »Fragments d’un discours amoureux« [1977], in: R. B., Œuvres Complètes.
Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Bd. V, Paris: Seuil, 2002, S. 25-296.
Hier S. 29. Vgl. hierzu ebenfalls den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band. Im Folgenden
zitiere ich unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl aus dieser fünfbändigen Werkausgabe mit
der Sigel OC.
Jameson, Prison-House (Anm. 11), S. 152 f.
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heißt, Text bzw. Signifikant und das ‚Jenseits der Zeichen‘ zugleich in den Blick zu
nehmen. Diesen Spagat und seine theoretisch-methodologischen Untiefen bringt
Barthes selbst an anderer Stelle in der utopischen Vorstellung einer „Idiorrhythmie“ ‚auf den Begriff‘. In diesen Neologismus fasst er in Comment vivre ensemble
anhand einer anschaulichen Anekdote jene stets aporetische Bewegung, die zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu vermitteln sucht:
De ma fenêtre (1er décembre 1976), je vois une mère tenant son gosse par la main et
poussant la poussette vide devant elle. Elle allait imperturbablement à son pas, le
gosse était tiré, cahoté, contraint à courir tout le temps, comme un animal ou une
victime sadienne qu’on fouette. Elle va à son rythme, sans savoir que le rythme du
gosse est autre. Et pourtant, c’est sa mère !15
Wie der stolpernde Junge sieht sich auch Barthes im Schreiben immer zwischen
einer vom Klischee und der Doxa bedrohten Ebene des ‚mythischen‘ Sinns (der
Ebene der Anderen oder des Wissens) und einem ‚buchstäblichen‘ Wahnsinn (der
Ebene des Ich oder der Erfahrung) hin- und hergerissen. In der daraus resultierenden, suchenden Bewegung erfährt sich das denkende – und lesende – Subjekt bei
Barthes neu, wenn es vor dem Realen kurzfristig ‚stehen bleibt‘. Gerade die Lektüre wird im Zuge dessen von ihm zu einem Moment epiphanischer Erfahrung,
einer schockartigen, momenthaften Erfahrung der Evidenz des bloßen, sinnfreien
Objekts stilisiert.
II.
Ottmar Ette hat bereits in seiner folgenreichen Programmschrift zur »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft«16 2007 die Widerspenstigkeit des Realen – nicht
zuletzt mithilfe Barthes’ – als neuen Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft perspektiviert. Mit Wolfgang Asholt spricht er von der Rückkehr des
Realen17 als neuer „Epochensignatur“18. Die spezifische „Widerständigkeit des
Ästhetischen“19 ist ihm zufolge im Lebenswissen, ÜberLebenswissen und ErLebenswissen der Literatur zu suchen, das mithilfe des interaktiven Speichermediums Text
innergesellschaftlich – aber auch über die Grenzen der Zeiten, der Kulturen und
Orte hinweg – zirkulieren kann. Der heutigen Philologie komme daher die Aufgabe zu, der naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem „Leben“ eine kontrastive, komplementäre und experimentelle Beziehung zu den Diskursen vom Leben an
15 Barthes, Comment vivre ensemble (Anm. 9), S. 40.
16 Ette, »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft« (Anm. 10).
17 S. ebenso aus Sicht der Kunstwissenschaften Hal Foster, The Return of the Real. The Avant-garde
at the End of the Century, Cambridge, Mass.: MIT Press, 1996.
18 Wolfgang Asholt/Ottmar Ette, »Einleitung«, in: Asholt (Hg.), Lebenswissenschaft (Anm. 10),
S. 9-10. Hier S. 9.
19 Ebd., S. 10.
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die Seite zu stellen, wie sie (nur20) im künstlerischen Lebenswissen ihren Ausdruck
finde.
Die Literaturwissenschaft strictu sensu konzentrierte sich bisher dagegen vornehmlich auf das Problem, ob und wie künstlerische Zeichen auf ‚Wirklichkeit‘
referieren, oder auf die Frage: „How does literature make us believe that it refers to
the real?“21 Das sicherlich einschlägigste hermeneutische Modell, das jenes delikate
Verhältnis von Wirklichkeit und Zeichen bespricht, ist Hans Blumenbergs Konzept der historisch – und funktionell – differentiellen Wirklichkeitsbegriffe, wie er
sie von der Antike bis zur Gegenwart untersucht.22 Ausgehend vom antiken Urschisma – dem Platonischen Vorwurf an die Dichter, immer schon Lügner zu sein
– breitet Blumenberg so ein Panorama historisch gewordener Wirklichkeit(en) aus,
wie sie für die Ästhetik des Romans und insofern für den Menschen der Moderne
prägend wurden. Die Realität der „momentanen Evidenz“ der Antike23 wird Blumenberg zufolge im Mittelalter durch die „garantierte Realität“24 abgelöst, in der
„Gott als der verantwortliche Bürge für die Zuverlässigkeit der menschlichen
Erkenntnis“25 fungiert. Erst in der Neuzeit wandelt sich diese garantierte Realität
zur „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“26, die Realität als Resultat
einer Realisierung tendenziell unabschließbar werden lässt. Deren Verlaufscharakter verleiht der Realisierung die ihr eigene „‚epische‘ Struktur“27. Schließlich kann
Wirklichkeit „das ganz und gar Unverfügbare“28 werden, das dem Subjekt Wider-
20 S. zur Kritik an Ettes emphatischem Lebensbegriff die Bemerkungen von Jörg Dünne, der sich
u.a. auch auf die „individualisierende[n] Distinktionsformen“ in Barthes’ Vorlesung Comment
vivre ensemble konzentriert, und mithin weniger das Zusammenleben als die asketische Distanznahme betont; vgl. Dünne, »Von Listen und Lasten der Philologie für das Leben« (Anm. 10),
S. 77. Dünne spricht sich gegen Ettes Forderung aus, die Philologie müsse als Disziplin vom
„Lebenswissen“ automatisch „moralisch Bedeutsameres“ wissen und hervorbringen als andere,
z.B. naturwissenschaftliche life sciences; ebd., S. 78. Letztlich entzieht sich ja gerade auch bei Roland Barthes der Begriff der „vie“ oder des Realen eher einer kategorialen Bestimmbarkeit, die sie
als methodisches Rüstzeug einer ganzen Disziplin bereit stellen könnte. Barthes’ Versuche, das
„Rauschen des Sinns“ in die (Meta-)Sprache zu bringen, basieren wohl eher auf der Grundannahme einer elementaren „Exteriorität des Lebens“ (ebd., S. 81), die verhandelt und nicht ohne weiteres in einen unschuldig-kommunikativen „Speicher“ von Wissen umgewandelt wird.
21 Philippe Hamon, »The Naturalist Text and the Problem of Reference«, in: Brian Nelson (Hg.),
Naturalism in the European Novel. New Critical Perspectives, New York: Berg, 1992, S. 27-45.
Hier S. 35.
22 Vgl. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: Hans Robert
Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, München: Fink, 21969, S. 9-27.
23 „Der antike Wirklichkeitsbegriff […] setzt voraus, daß das Wirkliche sich als solches von sich
selbst her präsentiert und im Augenblick der Präsenz in seiner Überzeugungskraft unwidersprechlich da ist.“ Ebd., S. 10 f.
24 Ebd., S. 11.
25 Ebd., S. 12.
26 Ebd.
27 „Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext ist ein der immer idealen Gesamtheit der Subjekte
zugeordneter Grenzbegriff, ein Bestätigungswert der in der Intersubjektivität sich vollziehenden
Erfahrung und Weltbildung.“ Ebd., S. 13.
28 Ebd., S. 14.
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stand leistet (und somit schlussendlich wieder an das Lacanianische „Reale“ erinnert):
In diesem Wirklichkeitsbegriff wird die Illusion als das Wunschkind des Subjekts
vorausverstanden, das Unwirkliche als die Bedrohung und Verführung des Subjekts
durch die Projektion seiner eigenen Wünsche, und demzufolge antithetisch die Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende […].29
Im Reich der literarischen Nachahmung kristallisiert sich – vornehmlich im Roman – die Arbeit an der Widerständigkeit des Realen in Form der Ironie aus. Die
Moderne spricht Blumenberg zufolge also immer (im weiteren Sinne) ironisch
vom Realen und macht die Unmöglichkeit des Erzählens zu dessen vornehmlichen
Gegenstand:
Eine Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.30
Aber [die] Unmöglichkeit [des Erzählens] wird ihrerseits als Index eines unüberwindlichen Widerstandes der imaginären Wirklichkeit gegen ihre Deskription empfunden, und insofern führt das dem Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz
zugehörende ästhetische Prinzip an einem bestimmten Punkt des Umschlages in einen anderen Wirklichkeitsbegriff hinein.31
Aus Sicht des französischen Strukturalismus hat sich Philippe Hamon am Beispiel
der exhaustiven Beschreibungshypertrophie Émile Zolas mit dieser prekären literarischen Referenz auseinandergesetzt. „And so the question will no longer be: How
does writing cite the real? but rather: How does the real solicit writing?“32 Hamon
bringt dabei die Rolle der Pragmatik ins Spiel, wenn er den „effect of reference“ als
„program of manipulation“ und „persuasive discourse“ beschreibt, ähnlich einem
Verführungs- oder Versuchungsdiskurs des „make-believe“33. Der literarische Text
wird so zum Kontrakt oder Pakt34, in dem sich Text und Leser verbünden gegen
das, was bei aller Beschreibungslust jedweder Beschreibung entzogen bleibt und
29
30
31
32
33
Ebd., S. 13 f. Hervorhebung im Original.
Ebd., S. 19.
Ebd., S. 24.
Hamon, »The Naturalist Text and the Problem of Reference« (Anm. 21), S. 32.
„The question is therefore no longer so much that of the real inciting reference, nor that of reference to, but that of the effect of reference (of the act of referring) on. The realist-naturalist text
may then be considered as a program of manipulation (without giving this term any pejorative
sense), as a make-believe, and consequently as a particular case of persuasive discourse similar to
other types of discourse: discourse of seduction, discourse of intimidation, discourse of temptation, pedagogical discourse, etc., all discourses that make-know or make-desire and that try to make someone do something (make-do). The project of this discourse could be paraphrased in this
way: to make believe that the referred exists (or has existed, or will exist, or could exist) and that guarantees can be given to the reader as to the subject of the enunciation (‚sujet de l’énonciation‘) on the
one hand, and to the subject of the statement (‚sujet de l’énoncé‘) on the other.“ Ebd., S. 36. Hervorhebung im Original.
34 Vgl. ebd., S. 37.
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doch absolut ‚sicher‘ ist: „the only thing in which we cannot believe, our death“35.
Hamon bezeichnet den Tod schließlich als absoluten Referenten, der im détail
atroce aus der funktionalisierten Beschreibung heraus sticht und über eine reine
Mimesis der ‚Wirklichkeit‘ hinausgeht:
The real in a work does not come therefore so much from mimesis of what is external
to it, as from the crushing of the very conditions of taking hold and enunciation of
the real (time, space; distinction: past/present/future, here/elsewhere): the real of the
text and the reality of all realist literature consists in „seeing people’s future memories“ (Nabokov) or „voir le passé regarder la mort au future“ […] (Roland Barthes).36
Barthes seinerseits schließt an die strukturalistische Beschäftigung mit realistischen
Beschreibungsmodi an, um dann 1968 den literarisch-semiotischen »Effet de réel«
im gleich lautenden Aufsatz theoretisch zu entfalten. Dort entwickelt er anhand
der Erzähltechniken des 19. Jahrhunderts die Wunschvorstellung eines reinen Denotats, das die Ebene des Bedeutens aus dem Zeichen herauskürze und mit einer
direkten Referenz auf das Wirkliche weise („ces détails sont réputés dénoter directement le réel“)37. Dieses an sich ‚leere‘ Zeichen steht für Barthes’ lebenslange
Sehnsucht nach dem Realen ein. Dennoch sind ihm die Abgründe desselben bewusst: In S/Z zeigt er nur zwei Jahre später am Beispiel einer Erzählung Balzacs,
dass der Bezugspunkt realistischen Schreibens nicht die Wirklichkeit an und für
sich, sondern die durch Kodes vermittelte – pragmatisch-kontraktuelle – Vorstellung von Wirklichkeit sein muss38. Real ist, was ‚wirklich‘ wirkt – zumindest im
Bereich der Literatur. Bettina Lindorfer hat bereits 1998 diese „mythenhafte
‚Welt‘-Konstruktion“39 als beständige Reibungsfläche Barthes’ hervorgehoben;
35 Ebd., S. 39.
36 Ebd., S. 40. Das Barthes-Zitat entstammt La chambre claire.
37 „Sémiotiquement, le ›détail concret‹ est constitué par la collusion directe d’un référent et d’un signifiant ; le signifié est expulsé du signe, et, avec lui, bien entendu, la possibilité de développer une
forme du signifié, c’est-à-dire, en fait, la structure narrative elle-même […]. C’est là ce que l’on
pourrait appeler l’illusion référentielle. La vérité de cette illusion est celle-ci : supprimé de
l’énonciation réaliste à titre de signifié de dénotation, le ›réel‹ y revient à titre de signifié de connotation ; car, dans le moment même où ces détails sont réputés dénoter directement le réel, ils ne
font rien d’autre, sans le dire, que le signifier ; le baromètre de Flaubert, la petite porte de Michelet ne disent finalement rien d’autre que ceci : nous sommes le réel […].“ »L’effet de réel« [1968];
OC III, 31 f. Hervorhebungen im Original.
38 „[L]a séquence [im jeweiligen Kode zusammengeführte Isotopie, von Barthes ‚definiert‘ als „les
différents termes (formels), au gré desquels une énigme se centre, se pose, se formule, puis se retarde et enfin se dévoile“] n’existe qu’au moment où et parce qu’on peut la nommer, elle se développe au rythme de la nomination qui se cherche ou se confirme ; elle a donc un fondement plus
empirique que logique, et il est inutile de la faire rentrer de force dans un ordre légal de relations
[…]. Il s’agit en effet, non de manifester une structure, mais autant que possible de produire une
structuration.“ »S/Z« [1970]; OC III, 134 f. Barthes legt hier wie andernorts auch den Schwerpunkt auf die Prozessualität der hermeneutischen Tätigkeit und damit auf die interpretative Offenheit des literarischen Textes. Im Begriff der Strukturation und der verlaufsorientierten „nomination“ löst er sich so vom klassischen Strukturalismus und weist auf die dekonstruktivistische
Arbeit am und im Text voraus.
39 Bettina Lindorfer, Roland Barthes. Zeichen und Psychoanalyse, München: Fink, 1998, S. 184.
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Barthes war es letztlich immer um eine Entmythifizierung unseres Verhältnisses
zum Wirklichen zu tun.40 Dabei bleibt die Frage: Gibt es das ‚Wirkliche‘ (nur) als
ein Objekt außerhalb der Sprache, als ein Objekt, das anderweitig als sprachlich
gegeben ist?41 Und wie soll mittels der Sprache Wissen über dieses angenommene
Objekt hergestellt und vermittelt werden, wenn Sprache immer schon Sinn erzeugt, der Realitätseffekt hingegen dem Sinn ausweicht?
Eine nahezu epistemologische Verschiebung, die sich hier vage andeutet und
sich von moderner Selbstreferentialität einerseits und schlichter, unmittelbarer
Weltreferenz andererseits verabschiedet, kann anhand der problematischen Evidenz des ‚Realen‘ in den Blick kommen. Schenkt man Ottmar Ette und Hal Foster
Glauben, so ist es ein wesentliches Merkmal gerade jener ‚Epoche‘ der neuen
Avantgarden am Ende des 20. Jahrhunderts, die Rückkehr des Realen in unterschiedlichen (künstlerischen und theoretischen) Disziplinen zu beschwören. Foster
sieht das theoretische Feld, in dem sich schließlich auch Roland Barthes bewegt, als
„secret continuation of the avant-garde by other means“, und betrachtet es insofern
nicht als Methodologie, sondern analysiert es vielmehr als „symptomatic form“42.
Daher zieht er argumentativ etwa die auf ‚das Reale‘ fixierte Trauma-Theorie Lacans mit Barthes’ punctum-Begriff und der Kunst Andy Warhols oder Gerhard
Richters zusammen: „These pops, such as a slipping of register or a washing in
color, serve as visual equivalents of our missed encounters with the real.“43 An die
Stelle der Repräsentation im Zeichen tritt in diesen ‚Ästhetiken‘ des Realen die
Wiederholung der Zeichen, die traumatisch – oder gespenstisch – das Reich der
Zeichen punktiert:
The real, Lacan puns, is troumatic […]. Through these pokes or pops we seem almost
to touch the real, which the repetition of the images at once distances and rushes towards us […]: repetitions that fix on the traumatic real, that screen it, that produce
it.44
40 Vgl. dazu Roland Barthes: „Le sens, ou si l’on préfère le but, de cette recherche est de substituer à
l’instance de la réalité (ou instance du référent), alibi mythique qui a dominé et domine encore
l’idée de littérature, l’instance même du discours : le champ de l’écrivain n’est que l’écriture ellemême, non comme ›forme‹ pure, telle qu’a pu la concevoir une esthétique de l’art pour l’art, mais
d’une façon beaucoup plus radicale comme seul espace possible de celui qui écrit.“ »Écrire, verbe
intransitif ?«; OC III, 625.
41 „Das Wirkliche, mit dem ‚Systeme‘ operieren, hat nicht nur auch außerhalb von Sprache Bestand, sondern es wird gerade als das definiert, was sich außerhalb von Sprache befindet.“ Lindorfer, Roland Barthes (Anm. 39), S. 179. S. zur Problematisierung der Metasprache im Kontext der
Mythologies ebd., S. 177. Zur Naturalisierung des Kulturellen und zur ironischen Rahmung im
Sinne der Mythenkritik des frühen Barthes vgl. ebenfalls Christoph Leitgeb, Barthes’ Mythos im
Rahmen konkreter Ironie. Literarische Konstruktionen des Eigenen und des Fremden, München:
Fink, 2008.
42 Foster, Return of the Real (Anm. 17), S. xiv. Aus Sicht der Theaterwissenschaft lässt sich hier zeitlich sicherlich der Avantgarde der bildenden Kunst auch der performative turn des Theaters im
20. Jhd. zur Seite stellen, den Erika Fischer-Lichte besprochen hat; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik
des Performativen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004.
43 Foster, Return of the Real (Anm. 17), S. 133 f.
44 Ebd., S. 136.
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In Frankreich setzt tatsächlich gerade nach dem Tode Barthes’ in den achtziger
Jahren der Versuch ein, den Cartesianismus im kritisch-philosophischen „néomatérialisme“ und im Kontext einer neuen ästhetischen Körperlichkeit zu überwinden. So besinnt sich François Dagognet 1985 unter diesem Banner auf „les plis
du somatique“45 und damit auf die „Rematerialisierung“ des Denkens. Zeitgleich
unterstreicht auch Michel Serres: „Le corps sait dire je tout seul.“46 Theoretisch
wiederum schlägt sich dies, wie von Foster gezeigt, in der psychoanalytischen
Kategorie des „Realen“ nieder, die Jacques Lacan (wenn auch notwendigerweise
vage oder ex negativo) formuliert und Slavoj Žižek seinerseits mit Blick auf die
Populärkultur wieder aufgegriffen hat.47 Das Reale der Psychoanalyse ist jedoch
nicht mit der materiellen Wirklichkeit kongruent, sondern steht neben dem Symbolischen und Imaginären für eine der drei ‚Systemstellen‘ des psychischen Apparates und ist bei Lacan mit dem Trauma, der Psychose oder dem Phantasma assoziiert48. Es ist genau das, was aus der ‚Realität‘ ausgeschlossen wurde, durch das
Wort verdrängt ist49 und dennoch insistierend in das Subjekt zurückdrängt. Barthes ist nicht zuletzt deshalb zu einer unhintergehbaren Referenz im Kontext der
theoretischen Revisionen der Geisteswissenschaften geworden, weil er die Entzugsfiguren der Liebe oder Trauer, die (Un-)Beschreibbarkeit des Begehrens, die psychotisch-halluzinatorische Erlebbarkeit des Todes im Schreiben über die Fotografie, und die Spektren und Unheimlichkeiten des Subjekts50 in den Ordnungen,
aber auch Un-Ordnungen des Wissens zu fassen versucht.
Das ‚Reale‘ als Heimsuchung oder „Rauschen“ des Sinns51 wird dabei von
Barthes selbst vorzugsweise aus der Perspektive der Toten oder des Körpers im
45 François Dagognet, Rématérialiser, Paris: Vrin, 1985, S. 12.
46 Michel Serres, Les cinq sens, Paris: Grasset, 1985, S. 16.
47 Vgl. zu dessen Hegelianischer Relektüre Lacans exemplarisch Slavoj Žižek, Interrogating the Real
[2005], hg. v. Rex Butler u. Scott Stephens, London: Continuum, 2010.
48 Vgl. Jacques Lacan, »Le symbolique, l’imaginaire et le réel«, in: Bulletin de l’Association Freudienne 1 (1982), S. 4-13.
49 „Das Denken beginnt stets ausgehend von unserer Position innerhalb der symbolischen Ordnung;
mit anderen Worten, wir können nicht anders, als die mutmaßliche ‚Zeit vor dem Wort‘ von unserer symbolischen Ordnung aus zu betrachten und die Kategorien und Filter zu verwenden, die
sie bereitstellt. Wir können versuchen, uns in eine Zeit vor den Wörtern zurückzuversetzen, einen
vorsymbolischen oder vorsprachlichen Zeitpunkt in der Entwicklung des Homo sapiens oder in
unserer eigenen individuellen Entwicklung, aber solange wir denken, bleibt die Sprache unentbehrlich. Um uns diese Zeit vorzustellen, geben wir ihr einen Namen: das Reale. Lacan sagt, dass
‚der Buchstabe tötet‘: Er tötet das Reale, das vor dem Buchstaben war, vor den Wörtern, vor der
Sprache.“ Bruce Fink, Das Lacansche Subjekt. Zwischen Sprache und jouissance, Wien: Turia+Kant,
2006, S. 46.
50 „Die Barthes’sche Abweichung ist das genaue Äquivalent des cartesianischen cogito, sein Umkehrbild oder seine Absenz: da wo ich schreibe, bin ich nicht. Der genaue Ort, an dem das
Barthes’sche Subjekt der Schreibweise zu finden ist, liegt also da, wo es sich verliert.“ Serge Doubrovsky, »Eine tragische Schreibweise«, in: Henschen (Hg.), Roland Barthes (Anm. 6), S. 139180. Hier S. 145. Zuerst in: Poétique 47 (1981).
51 Der Gedanke einer Friktion des Zeichens am Reich des Realen bzw. am mythischen Zwang zur
Bedeutung wird von Barthes immer wieder zum zentralen transsemiologischen Komplex stilisiert
und u.a. formuliert als „utopie“ einer „musique du sens“, sei es in Form des plaisir du texte, des
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wahrsten Sinne ‚ausgelotet‘. Der im Reich des Realen blind gewordene Semiotiker
muss die Untiefen und Abgründe des Wirklichen auf neue Art vermessen. Barthes
wählt dazu diejenigen Phänomene des Realen – den Tod, die Lust, die Liebe, die
Trauer –, deren momentane Evidenz52 jede Zeichenhaftigkeit aufsprengt und deren Unmittelbarkeit vom Subjekt nicht beherrscht werden kann – dieses wird vielmehr schockartig oder epiphanisch von der Evidenz des Realen ergriffen. Oder,
um ein vielzitiertes, vermeintliches Zitat Lacans (oder vielmehr der Lacan-Exegeten) in Hinblick auf das Reale Barthes’ aufzugreifen: „Das Reale ist das, wovor das
Imaginäre stockt und über das das Symbolische stolpert“53.
Barthes selbst hat die Wider-Spenstigkeit des Realen als „plaisir du texte“ kultiviert, eine Lust am Text, die durch die neue Übersetzung und den Kommentar Ottmar Ettes, die erst vor kurzem erschienen sind54, wieder neu ins Gespräch kommen
dürfte. Einige in früheren Diskussionen vernachlässigte Pointen des Schreibens Barthes’ werden im vorliegenden Band deshalb nicht als ein generalistisches „Back to
Barthes“ (so der Titel einer Tagung der Yale University 2001) verhandelt, sondern
als ein konkretes „Zurück zum Text“. Fasst doch Barthes selbst 1971 seinen eigenen
Textbegriff – TEXT – in Bezug zum Lacanianischen „réel“: „L’opposition pourrait
rappeler (mais nullement reproduire terme à terme) la distinction proposée par
Lacan : la ›réalité‹ se montre, le ›réel‹ se démontre […].“55 Das Reale stellt sich aus,
und der TEXT, der nicht ŒUVRE sein will, wird zur Schrift, die notiert, zur Schau
stellt und momenthaft enthüllt. Für Barthes sind die Literatur als eine nie erfüllbare,
orphische Liebe zum Realen sowie das Reale in deren Rücken als atmende, lebende
Eurydice ‚wirklich‘ geblieben:
On pourrait dire, je crois, que la littérature, c’est Orphée remontant des enfers ; tant
qu’elle va devant soi, sachant cependant qu’elle conduit quelqu’un, le réel qui est derrière elle et qu’elle tire peu à peu de l’innommé, respire, marche, vit, se dirige vers la
clarté d’un sens ; mais sitôt qu’elle se retourne sur ce qu’elle aime, il ne reste plus entre
ses mains qu’un sens nommé, c’est-à-dire un sens mort.56
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punctum des Bildes oder eben des bruissement de la langue; vgl. dazu »Le bruissement de la langue«
[1975]; OC IV, 801.
Vgl. neben Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans« (Anm. 22) zur ästhetischen „Plötzlichkeit“ in der europäischen Moderne Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum
Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981 und ders., Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994.
„The Real, therefore, is that before which the Imaginary falters, and over which the Symbolic
stumbles“; Ragland-Sullivan (1986), zitiert nach Lindorfer, Roland Barthes (Anm. 39), S. 197.
Dort findet sich auch eine gewissenhafte Auflistung des ‚Überlieferungsweges‘ dieses vermeintlichen, im Séminaire I von Lacan jedoch nicht auffindbaren Zitats.
Vgl. Roland Barthes, Die Lust am Text. Kommentar von Ottmar Ette, Frankfurt/Main: Suhrkamp,
2010.
»De l’œuvre au texte« [1971]; OC III, 909. An gleichem Ort benennt Barthes die Tätigkeit des
(hermeneutischen) Amateurs als die desjenigen, „qui écoute de la musique sans savoir en jouer“;
ebd., S. 914.
»Littérature et signification« [1963]; OC II, 514.
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III.
Die hier versammelten Beiträge zeigen, dass die Titel gebende „Widerspenstigkeit“
in drei Variationen für die Auseinandersetzung mit Barthes greift und darüber
hinaus für Methoden der Interpretation fruchtbar gemacht werden kann. Während Barthes auf der einen Seite Widerspruch einlegt gegen das zur Doxa geronnene
Wissen, so ist sein Schreiben auf der anderen Seite geprägt von der Aporie, die
Widerspenstigkeit des Realen semiologisch oder semiotisch fassbar zu machen. Dies
mündet in den Versuch, in der Widerständigkeit der Zeichen, in beinahe körperlichen Signifikanten die Widerspenstigkeit des Realen im eigenen, literarisch gewordenen Text buchstäblich zu ‚realisieren‘ und das Reale am Signifikanten zu ‚kristallisieren‘. Diese Problematisierung von Evidenz- und Realitätseffekten in der
Literatur kann schließlich zum Anlass genommen werden, um ausgehend von Barthes einzelne Lektüren des widerspenstigen Realen in anderen Texten und Medien zu
erproben.
Einführungen
Ottmar ETTE (Potsdam) spürt in seinem Beitrag »Auf der Suche nach dem (sich
verlierenden) Leben. Wissenschaft und Schreiben bei Roland Barthes« der Permanenz des „Lebens“ im Denken Barthes’ nach. Wie bisher wenig bedacht wurde,
verkoppelt Barthes Leben und Sinn mit Betonung auf die „vie vivante“. In drei
Phasen der schrittweisen Autofiktionalisierung gibt er dabei mehr und mehr „Leben“ in den eigenen Text ab: Von émerveillement über science zu texte wandeln sich
seine Texte zu persönlichen Sammlungen beweglicher Mikrotexte, und Theorie
partizipiert schließlich an der Literatur. So ‚realisiert‘ Barthes die Darstellung der
Insel Japan in L’empire des signes in Form insularer Ikonotexte. Japanische Schriftzeichen werden im Gesamttext zu archipelisch und vektoriell angeordneten Inseln
des Realen in der Repräsentation und zu Inseln der Repräsentation. Sie vermitteln
nicht zuletzt mithilfe der fremden, rätselhaft gewordenen Sprache die Unzugänglichkeit des Realen über den (Um)Weg des Zeichens. Besonders anschaulich ist die
Verbindung von Leben und Wissen in der vektoriell empfundenen Beziehung Barthes’ zur eigenen Mutter: Während die erste Vorlesung am Collège de France sich
noch realiter an die anwesende Mutter adressiert, geht nach dem Tod der Mutter
diese Achse des Bedeutens verloren – die Bewegung des Bezugs jedoch bleibt virtuell als Vektor des Wissens im Denken Barthes’ bestehen. Das Wissen Barthes’ ist
also nicht nur „ErLebensWissen“, es ist Ette zufolge auch und gerade ein „ZusammenLebensWissen“, das sich als soziale Konstellation und plurale Echokammer
versteht.
Éric MARTY (Paris) widmet sich in »Roland Barthes, le réel photographique« im
Besonderen dem Unterschied zwischen einem „réel intérieurement mystifié“ oder
„réel aliéné“, das Barthes einer Ideologie entlarvenden Mythenkritik unterzieht,
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und dem „réel finalement irréductible“ oder „réel inaliénable“, dessen ambige Phänomenologie in die „poétisation“ der Texte Barthes’ führt. Gerade das „réel photographique“ dient Barthes zufolge dazu, die gewaltsame Konfrontation zwischen
Subjekt und ‚Wirklichkeit‘ zu offenbaren. Aus einer selbstbewussten Phänomenologie der Objekte wird in Barthes’ Chambre claire eine selbstzweifelnde Phänomenologie der Präsenz, des deiktischen „là“ des Bildes. Der ‚wahnsinnige‘ Blick der
Fotografie verwandelt sich, so Marty, nur dann in einen Mythos, wenn man die
Fotografie als Mimesis versteht. Ihre „réalité inaliénable“ hingegen lässt im punctum den Wahn-Sinn ‚sehen‘ und zieht die Wahrnehmung vom wahrgenommenen
Bild ab bzw. führt sie einem imaginären Bild zu, dem mentalen Bild des photographischen Aktes.
Claude COSTE (Grenoble) führt in »Actualité française de Barthes (1980-2011)«
in die französische Auseinandersetzung mit Barthes ein und verweist im Zuge dessen auf den prominenten, ja ‚monumentalen‘ Status, den Barthes in seinem Heimatland genießt. Neben der instrumentalisierenden Aneignung strukturalistischer
und poststrukturalistischer Stichworte der Literaturanalyse beschäftigt sich die
französische Forschung aber immer stärker vor allem mit den „écrits intimes“. Die
„Rolandistes“ innerhalb der neueren Barthes-Forschung wenden sich in ihren Arbeiten der intellektuellen Biographie Barthes’ zu; die Theorie hingegen nimmt seine Schriften als „Ursuppe“ für die Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen
von Repräsentation und Kontext, für einen „retour de l’histoire“ und der „Funktion“ des Autors. Spätestens seit 2002 und der Herausgabe der fünfbändigen Œuvres
complètes durch Éric Marty gilt das Werk Barthes’ als mithin wichtigster Stichwortgeber „pour commenter le monde“.
Widerspruch gegen die Mythologie des Wissens
Von seiner Vorlesung sagte Barthes, sie sei „un damier de cases, une topique. Je
commence par poser les cases, et à les remplir plus ou moins. Mais il va de soi que
les cases peuvent être remplies par d’autres.“57 Diese Beweglichkeit des Wissens,
seine Enthierarchisierung und Verräumlichung wurde in mehreren Vorträgen immer wieder auf den Gegensatz des intelligible und des vécu zurückgeführt58: Barthes
lässt sich vom Gegenstand des Wissens affizieren und versucht, ihn in eine Praxis
zu überführen – das beste Wissen von der Musik etwa könne man ihm zufolge über
die eigenen Fingerspitzen im Klavierspiel und somit im eigenen Klangraum des
Körpers ‚erfahren‘. In der Lektüre literarischer Texte führt dies zu gleichermaßen
obsessiven wie kontingenten Lektüren permanenter, haftender Lexeme. Das Le57 Barthes, Comment vivre ensemble (Anm. 9), S. 57.
58 Barthes selbst führt die Unterscheidung ein: „La ›représentation‹ pure et simple du ›réel‹, la relation nue de ›ce qui est‹ (ou a été) apparaît ainsi comme une résistance au sens ; cette résistance
conforme la grande opposition mythique du vécu (du vivant) et de l’intelligible […]“; »L’effet de
réel« [1968]; OC III, 30.
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xem „vie“ schließlich bleibt seinerseits beim Lesen der Texte Barthes’ haften, wie
Ottmar Ette betont hat. Bisher wurde dieser Form des „ErLebenswissens“ bei Barthes und ihrer Konsequenz für das literaturwissenschaftliche Wissen jedoch nicht
ausreichend Beachtung geschenkt. In den Vorträgen, die sich Barthes’ Widerspruch gegen das mythisch gewordene Wissen und seine Metasprachen widmeten,
zeigte es sich dagegen als permanenter roter Faden.
In Rückgriff auf Barthes’ Eisenstein-Aufsatz zum „sens obvie“ und „sens obtus“,
erweitert durch die Anagramm-Studien Saussures, verortet Anselm HAVERKAMP
(New York) in »Die vergessene Pointe. Barthes’ Anagrammatik des Obtusen« das
Denken Barthes’ im Denken der Latenz. Schon die Etymologie des „obtus“ fasziniert Barthes, weil dessen begriffliche Unschärfe seinen eigenen Zweifel an der
Bedeutung paradigmatisch pointiert. So ‚kristallisiert‘ sich am Signifikanten obtus,
an seiner Struktur, die ungerichtete Latenz. Die Emphase des Elliptischen, Supplementären wird quasi erotisch ‚spürbar‘ in der „Genähtheit der Naht“, der strukturellen Überdeterminiertheit. Der Begriff des Obtusen übernimmt für die „Ordnungen des Wissens“ Barthes’ eine vergleichbare Funktion wie das punctum in
seiner Theorie der Fotografie: beide stehen für eine Ahnung der Epiphanie ein, für
eine momenthafte Offenbarung des ‚Wirklichen‘. Statt im Namen eines anatomischen, interpretierenden Zergliederns liest dieser Barthes des Obtusen nach Haverkamp deshalb im Zeichen einer „Philologie als Liebe“, die das Hören und ‚Spüren‘
des Signifikanten im literarischen Text lustvoll erlebt, und welche jeder Leser ausgehend von der Appellqualität der Texte selbst praktizieren kann.
Andreas MAHLER (Berlin) zeigt in »Vom Kode zum Zeichen zur Zeichnung.
Barthes’ Ordnungen des Wissens (am Beispiel der Liebe)« exemplarisch anhand
der problematischen Semiotik der Liebe, wie sich Barthes’ Verhältnis zum Wissen
und wissen Können wandelt. Denn die Liebe als Kontingenz, als das dem Subjekt
nicht Gefügige, stellt den Ordnungen des Wissens eine schier unlösbare Aufgabe.
Ausgehend von der Balzac-Lektüre Barthes’ in S/Z über die Fragments d’un discours
amoureux und der »Préface« zu Renaud Camus folgert Mahler, dass Barthes sich
vom Analysierenden zum Partizipierenden der Effekte der Liebe entwickelt. Die
Liebe als „Krankheit im referentiellen Kode“ zeigt sich im Text als eine Spur des
Unaussprechlichen. Statt dieses in eine Ordnung zu zwingen und somit deren
Wahrheit zu restituieren, verlegt sich Barthes auf das Sammeln von Wissen, wie
aus den alphabetisch geordneten Fragments d’un discours amoureux bekannt ist. Im
Alphabet rätselhafter Phänomene horizontalisiert sich das Wissen um die Liebe.
Die Metasprache wird dabei von der Macht der énonciation abgelöst und der Diskurs zum dis-cursus, zum Hin- und Herlaufen zwischen den Topoi der Liebe. Die
„semantische Ent-Ladung des Zeichens“ ist in den Körperlektüren und der notierenden Körperzeichnung der praktischen Liebe im Vorwort zu Renaud Camus
schließlich radikalisiert. Dort stellt schlussendlich die literarisch gewordene Sprache Barthes’ das her, was sich nicht darstellen lässt: die „Einfachheit des Sagens“
der subjektiven Liebe ersetzt das objektive Sprechen über die Liebe.
Der Bedrohlichkeit des diskursivierten, statischen Wissens auf der einen Seite
steht Barthes zufolge die nicht minder große Bedrohung durch die Dummheit, das
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Klischee (idée reçue) oder den ideologischen Mythos auf der anderen gegenüber.
Ausgehend von Barthes’ lebenslanger Beschäftigung mit Flauberts Bouvard et Pécuchet untersucht Jörg DÜNNE (Erfurt) in »Roland Barthes und die Dummheit. Eine
Buchstabensuppe« die Fluchtversuche Barthes’ vor der bürgerlichen Dummheit,
die jener als Mythos zweiten Grades oder „Bouvard-et-Pécuchéité“ beschrieben
hatte. Dabei greift Dünne selbst auf die „euphorisierende Schreibhilfe“ des abécédaire zurück und steckt zwischen „abîme“, „cuisine du sens“, „ironie“, „loquèle“,
„vérité“ etc. das Feld der idées reçues ab. Das besondere Remedium gegen die
Dummheit nimmt bei Barthes schließlich kulinarische Qualität an: Um das „Anbrennen“ oder „Dickwerden“ des Sinns zu verhindern, gilt es, durch Verflüchtigung und ständiges, atopisches bzw. asketisches Weiterschreiben nicht zuletzt im
Autobiographischen, der Versuchung des „s’écrire“ und anderen romantischen
Dummheiten zu entgehen: So entledigt sich Barthes in Roland Barthes par Roland
Barthes mittels seiner grotesken Rippe – die einstmals aus medizinischen Gründen
entfernt worden war und dann zu einer Art Reliquie Barthes’ mutierte – schwungvoll im gleichen Zug vom Klischee der obsolet gewordenen Semantik des romantischen Todeskultes. Das Zitat – nicht zuletzt der Intertext Werther in den Fragments
d’un discours amoureux – wird dabei als prekäre Geste zwischen Ironie und Klischee
entlarvt; der Diskurs über die Dummheit schließlich ist bei Barthes als ein Deckdiskurs über das eigentliche Thema einer prekären Subjektivität zu fassen.
Widerspenstigkeit des Realen
Die Unsagbarkeit oder Unaussprechlichkeit des Realen durch das Zeichen liegt
unmittelbar im Zentrum der Auseinandersetzung Barthes’ mit dem ‚Wirklichen‘
und übersetzt sich bei ihm in Sprachen des Affekts: der Trauer, der Liebe, des ‚erlebten‘ oder sich ankündigenden Todes, der Angst. Éric Marty, der Herausgeber
der gesammelten Werke Barthes’, hat bereits Anfang 2010 dessen Trauertagebuch
in seinem Vortrag Roland Barthes, la littérature et le droit à la mort ein Denkmal
gesetzt59. Mit dem posthum veröffentlichten Text gerät der Leser unweigerlich in
die Schmerzzone des Schreibenden: Angesichts der Trauer um die tote Mutter tritt
jedoch weniger die affektische Produktivität für die Sprache als die Unmöglichkeit
des Schreibens zutage. Als „interlocuteur du mort“60 wird der Schreibende auf die
traumatische Epiphanie der eigenen Sterblichkeit zurückgeworfen und gleitet immer mehr in kindliche, stammelnde Sprachgesten ab. Das Reale wird auch hier
nicht ‚bewältigt‘, es überwältigt. Nach Barthes zeigt sich darüber hinaus die Evidenz des Realen zumindest punktuell an der Dekontextualisierung des Zeichens,
in der fast kindlichen Form eines deiktischen „Da/c’est ça“, das an die Stelle der
diskursiven Bewältigung der Welt tritt. Latenter oder insistierend lexematischer
59 Vgl. Éric Marty, Roland Barthes, la littérature et le droit à la mort, Paris: Seuil, 2010.
60 Ebd., S. 27.
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Wider-Sinn spekuliert dabei immer mit der Annahme eines „Präsenzeffektes“. Das
Reale zeigt sich also nur als Rest und epiphanisch an der Oberfläche der Zeichen.
Eine Gattung, die mit besonders hohen Wirklichkeitserwartungen konfrontiert
ist, war seit ihren Anfängen die Autobiographie. Gabriele SCHABACHER (Siegen)
geht daher in »Das ‚Projekt RB‘. Praxen des Autobiographischen und die Medien
des Realen bei Roland Barthes« der bewusst eingesetzten Rhetorik der Evidenz in
Barthes’ (Anti-)Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes nach, um den
Wirklichkeitseffekt hier als Gattungseffekt zu spezifizieren. Dabei zeigt sich wiederum die Bedeutung der medial gebrochenen und reflektierten Form des „Realen“.
Die bei Barthes über handschriftliche und bildliche Rahmen gestärkte Kategorie
des Paratextes reicht damit zum einen aus der faktualen Gattung ‚Lebensbeichte‘
hinein in deren Fiktionalisierung als „roman“; zum anderen entblößt sie die immer
schon prekäre Relation von „fact“ und „fiction“ in der autobiographischen Form.
Gerade durch das Zitat gängiger Topoi wird hier eine (scheinbare) Evidenz der
Person mittels rhetorischer Figurationen erzeugt. Darüber hinaus gereichen die
ikonotextuellen und textuellen Verfahren des Textes zum Beweis des Konstruktionscharakters des autobiographischen Selbst. Die Chronologie des „Lebens“ wird
dekonstruiert, und das Ich verschwindet hinter unzähligen, auch pronominalen
Masken, den fragmentierenden „Spektren des Selbst“.
Die intertextuellen Bezüge der Chambre claire zu Prousts Recherche waren bereits Gegenstand einiger Auseinandersetzungen61. Die Beschäftigung Barthes’ mit
Freuds Aufsatz über »Das Unheimliche« hingegen blieb bisher unbeachtet. Daher
kann Christoph LEITGEB (Wien) in »Die Unheimlichkeit des Roland Barthes«
einen neuen Blick auf die daran anknüpfende Frage der unheimlichen Verdoppelung werfen und Barthes in eine interessante Linie stellen mit den Freud-Exegeten
Todorov, Kristeva, Cixous, Weber und Derrida. Die Unzugänglichkeit des Unheimlichen mündet bei Barthes in ein metonymisches Verfahren der Inszenierung,
welches das Unbehagen an der Sprache, das Unbehagen am im überlebenden Zeichen lebendigen Tod oder an den belebten Puppen, die Kastrationsangst oder die
Erfahrung des Labyrinths in den labyrinthischen Schreibverfahren Barthes’ widerspiegelt. Das Unheimliche nimmt dabei gerade keine fixe Bedeutung an, sondern
scheint an der Schnittstelle des ‚Gespenstigen‘ wie ein „spectre“ jenseits der Zeichen auf. Die ‚psychische Realität‘ offenbart sich ein um das andere Mal als Problem der Darstellung.
Gesine HINDEMITH (Erfurt) schließlich zeigt in »Roland Barthes’ musicologie,
oder: der Stoff, aus dem die Klänge sind« am Beispiel der Musik, wie das eigene
Körpererleben das Scheitern der Semiotisierung des Realen und das Scheitern eines
wissenschaftlichen Diskurses über das Reale ablöst. In seinen Texten zu Schumann, Panzéra und Fischer-Dieskau – mithin zur Rauheit in der Stimme – fasst
Barthes die menschliche Stimme in Analogie zur Musik und entwirft die ‚Untersuchung‘ der Musik als die Praxis eines liebenden Amateurs: des Klavierspielers, dem
sich die Musik durch die Fingerspitzen ‚mitteilt‘. Das Lied und seine unterschied61 Vgl. dazu den Beitrag von Judith Kasper in diesem Band.
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liche Realisierung im Phänogesang (Fischer-Dieskau) und Genogesang (Panzéra)
gereicht Barthes zu einer prägnanten, wenn auch bisher wenig untersuchten, Pointe innerhalb seiner Semiologie des Körpers: Hindemith zeigt daher anhand der
Bedeutung des körperlichen Klangraums und der Sonorität des Körpers die von
Barthes liebend umkreiste „Sinnlichkeit des Sinns“, die gegen die Bedeutsamkeit
des Sinns operiert. „Der Körper kann nicht unter Ideologieverdacht gestellt werden“, daher entgeht das Subjekt, das sich vom Gegenstand affizieren lässt, den
schwerfälligen Verdickungen der Diskurse. Dennoch bewegt sich die euphorisch
als Gegen-Sinn beschworene Musik ihrerseits am Rande des Wahn-Sinns und bedroht nicht nur den von Barthes so geschätzten Schumann, sondern auch die Vorstellung einer physiologischen écriture.
Widerständigkeit der Zeichen
Die literarische Textur oder Webart der Texte Barthes’ steht für ein ‚Realisieren des
Widerspenstigen des Realen‘ ein. In dieser „Philologie als Liebe“ ist das Objekt des
Begehrens nicht etwa der Sinn, sondern das Reale selbst. Im Sinne Stendhals, der
die Liebe als Kristallisationsprozess versteht62, wird dem Objekt des Begehrens in
der Liebe immer noch schöpferisch etwas hinzugefügt. Die Epiphanie des widerspenstigen Realen kann also einerseits als affektive Praxis des Erlebens, andererseits
aber auch als ein Prozess der momenthaften Kristallisation am Signifikanten verstanden werden. Kristallisiert sich das Reale an der Oberfläche des Zeichens aus,
statt ‚sinnvoll‘ als Mythos ‚anzubrennen‘, wird es multidimensional, schillernd,
polylogisch und phantasmatisch, und es ‚verdickt‘ die Textur des Textes. In den
analytischen Schriften, aber auch in den écritures de soi Barthes’ wird dieser Effekt
verschiedentlich zum Einsatz gebracht. In den textuellen Experimenten63 des
‚Amateurs‘ Barthes treten dabei sowohl das Vermögen der Imagination, welche das
62 „Aux mines de sel de Salzbourg, on jette, dans les profondeurs abandonnées de la mine, un rameau d’arbre effeuillé par l’hiver ; deux ou trois mois après on le retire couvert de cristallisations
brillantes ; les plus petites branches, celles qui ne sont pas plus grosses que la patte d’une mésange,
sont garnies d’une infinité de diamants, mobiles et éblouissants ; on ne peut plus reconnaître le
rameau primitif. Ce que j’appelle cristallisation, c’est l’opération de l’esprit, qui tire de tout ce qui
se présente la découverte que l’objet aimé a de nouvelles perfections.“ Stendhal, De l’amour
[1822], Paris: Flammarion, 2009, S. 34 f.
63 Der „homme structural“ kommt Barthes zufolge nicht umhin, bereits in der Interpretation, Analyse, ja schlichtweg dem Akt der Benennung eine Struktur zu ‚erschaffen‘; vgl. »L’activité structuraliste« [1964]; OC II, 467. Insofern ist der Semiologe immer schon Schriftsteller: „Le prolongement logique du structuralisme ne peut être que de rejoindre la littérature non plus comme ›objet‹ d’analyse, mais comme activité d’écriture, d’abolir la distinction, issue de la logique, qui fait
de l’œuvre un langage-objet et de la science un métalangage, et de risquer ainsi le privilège illusoire attaché par la science à la propriété d’un langage esclave. Il reste donc au structuraliste à se
transformer en ›écrivain‹, non point pour professer ou pratiquer le ›beau style‹, mais pour retrouver les problèmes brûlants de toute énonciation, dès lors qu’elle ne s’enveloppe plus dans le nuage
bienfaisant des illusions proprement réalistes, qui font du langage le simple médium de la pensée.“ »De la science à la littérature« [1967]; OC II, 1266 f.
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Reale sich an den Zeichen auskristallisieren lässt, als auch die lustvolle Selbstreferenz im Lieben zu Tage. Barthes nennt das ‚Weiterschreiben‘ des Gegenstands der
Untersuchung „écriture intégrale“64 und die autoreferentielle Geste des ‚Gemachtsein‘ das „larvatus prodeo“65 seiner Texte.
In Rückgriff auf Blumenbergs Realitätsbegriff und insbesondere auf den dort
verhandelten Zusammenhang von „Realität als momentaner Evidenz“ und dem
Subjekt nicht gefügiger Kontingenz, die das Erleben von Evidenz erst ermöglicht,
nähert sich Bettina LINDORFER (Berlin) in »Un troisième tour d’écrou: Die Leitfunktion des Realen für das Schreiben beim späten Barthes« diesem „Verdicken“ des
Realen, das sich seinem „Verdunsten“ im Zeichen oder ideologischen Mythos
(„évaporation du réel“) entgegenstellt. Dabei erhellt Lindorfer am Beispiel der
deiktischen Zeichen die Illusion scheinbarer Referenz, die in den späteren Texten
Barthes’ bewusst erzeugt wird. Barthes’ frühere Thematisierung des „effet de réel“
hatte beim sogenannten „détail inutile“ das hier suggerierte kratylische Zeichenverständnis als Illusion entlarvt und gezeigt, dass der „détail inutile“ z.B. des realistischen Romans zwar wie ein Name funktioniert und direkt auf das Reale zu zeigen
scheint. In Wirklichkeit aber ist es auch nur ein Zeichen, nämlich eines, das „Realität“ bedeutet. Nur scheinbar fallen spätere Texte wie L’empire des signes oder
La chambre claire hinter diese „ideologiekritischen“ Analysen der sechziger Jahre
zurück, wenn sie das Zeigen und andere illusionsstiftende Beglaubigungsstratageme nun selbst einsetzen. In ihrer Verklammerung von ‚bloßem‘ Notieren, ‚nur‘
Nennen und ‚reinem‘ Zeigen erzeugen sie allerdings Realitätseffekte auf einer höheren Ebene (au second degré). Gerade die jüngst publizierte Vorlesung La préparation du roman belegt, dass für Barthes dieser reflektierte Einsatz von Realitätseffekten im Zeichen einer „Realitätsgewissheit“ steht, die allerdings dadurch ungewisse
Züge erhält, dass die Zeichen „leer“ sind und ihre Realitätsmarker ohne Kontext.
Die Kategorie des Romanesken hat Barthes selbst oft zur Beschreibung seiner
Texte herangezogen. Marie BAUDRY (Paris) revidiert ihrerseits in »Le Romanesque
chez Barthes : l’épreuve du réel« das Verhältnis dieser ‚Bastardkategorie‘ zum Roman und beleuchtete die semiotische Webart des „effet de réel“ und seiner Zeichen. Als „séconde voix du réalisme“ sind die Realitätseffekte für Barthes eine Antithese zur detaillierten Integralität des Sinns im Roman. An die Stelle einer
lesbaren Struktur tritt im „effet de réel“ die prozesshafte „structuration“. Als irreduzibler Rest des scheinbar Unbrauchbaren sind die Realitätseffekte im strengen
Sinne – Barthes zitiert das berühmte Barometer Flauberts in Un cœur simple – Zeichen eines enigmatischen Überschusses: Während der Realismus erster Ordnung
dechiffriert werden kann, muss dem Detail des Realismus zweiter Ordnung die
‚phantasmatische Realität‘ im Lesen hinzugefügt werden. Sie verweist auf die Alterität und Dissemination des Sinns in der Literatur.
64 »De la science à la littérature« [1967]; OC II, 1269.
65 Barthes nennt die Textualität „un masque qui se montre du doigt“; »Littérature et méta-langage«
[1959]; OC II, 365. S. ebenfalls »Le degré zéro de l’écriture« [1953]; OC I, 195. Siehe dazu den
Beitrag von Angela Oster in diesem Band.
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In dem Beitrag »Larvatus prodeo. Realitäten des Wintergartenfotos in Roland Barthes’ La chambre claire« wirft Angela Oster ein neues Licht auf das berühmte Wintergartenfoto, das – so wurde Barthes’ Worten in La chambre claire bislang in der
Forschung umstandslos Glauben geschenkt – in La chambre claire vom Autor zwar
beschrieben, aber nicht abgedruckt wurde. Unter anderem im Zusammenhang mit
Barthes’ Journal de deuil wird jedoch deutlich, dass Barthes mit seinem letzten Buch
an seine allererste Buchpublikation anknüpft. In Le degré zéro de l’écriture stellt Barthes das paradoxe Verfahren des „larvatus prodeo“ in Aussicht, welches es ermöglicht, einen Gegenstand zu (re)präsentieren und ihn gleichzeitig abwesend sein zu
lassen. Das Wintergartenfoto, so die These von Angela Oster, ist in La chambre claire
tatsächlich ‚real‘ abgedruckt, aber Barthes ‚maskiert‘ es diskret, um das geliebte Foto
der Zudringlichkeit des Betrachters zu entziehen. „Larvatus prodeo je m’avance en
désignant mon masque du doigt“: das Wintergartenfoto agiert jenseits der Zeichen,
doch gerade deshalb ist es wichtig, Barthes’ Fingerzeig – „auf meine Maske weisend
schreite ich voran“ – bezüglich der ‚Realitäten‘ des Wintergartenfotos zu folgen.
In Auseinandersetzung mit dem Trauertagebuch, das Barthes in den Jahren
1977 bis 1979 führte, zeigt Judith KASPER (München) in »Angesichts des Verlusts
fast nichts. Über Roland Barthes’ Journal de deuil«, wie sich dort der Affekt der
Trauer um die verlorene Mutter direkt in die Struktur der Signifikanten einlässt.
Eine im Sinne Anselm Haverkamps anagrammatische Lektüre zeigt, dass die
Dominanz der Vorsilbe „dé“ in diesem Text eine Verdichtung im Sinne des lateinischen „dis“ herbeiführt, die der Semantik der „séparation“ oder „privation“ entspricht. Barthes setzt an die Stelle einer normalisierenden Trauer den emotionalen
„chagrin“ und markiert ihn am Wort in der melancholischen Vorsilbe „dé“. So
konkretisieren sich der Riss des Todes und die Problematik des Erinnerns im
einzelnen, bewusst gesetzten Lexem („dépasser“, „désormais“, „début“, „désir“,
„détresse“). Barthes geht dabei über Freuds Auseinandersetzung mit Trauer und
Melancholie und dessen Ökonomie der Trauer hinaus; er affiziert bzw. infiziert
den eigenen Text mit der „erschöpfenden, panischen Metonymie der Trauer“. Zusätzlich zeigt der Rückgang auf Prousts Recherche, dass dessen Gedächtnisbegriff
der mémoire involontaire wesentlich durch die Relektüre der „intermittences du
cœur“ und das Trauertagebuch Barthes’ differenziert werden kann.
Lektüren des widerspenstigen Realen
Die weiterhin beständige Aktualität Barthes’ für die zeitgenössische Literaturwissenschaft erweist sich schließlich insbesondere an denjenigen Lektüren, die – ausgehend von Barthes – andere Autoren, Texte oder Gegenstände in den Blick nehmen, um deren „Wirklichkeitseffekte“ genauer zu beschreiben. Inszenierungen von
Affekten, Gender-Ordnungen oder Körper-Unordnungen und die Darstellbarkeit
von Gewalt stehen dabei im Mittelpunkt.
Am Gegenstand der Lach- und Gefühlskultur unter Ludwig XIV. und den comédies-ballets Molières zeigt Karin PETERS (Mainz) in »Die Sprache des Zwerchfells: Se-
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miologie des Körpers und barockes Lachen bei Molière«, wie Roland Barthes’ hoch
reflektierte Semiologie des Körpers zum Ausgangspunkt einer diskursgeschichtlichen
Lektüre gemacht werden kann, ohne dabei Literatur auf Diskursivität zu reduzieren
und ohne Körper in der Literatur als zeichenloses ‚Reales‘ zu betrachten. Die formale Stillstellung irreduzibler sozialer Widersprüche in der heterogenen Mischform der
Ballettkomödie wird am Beispiel des Malade imaginaire vorgeführt. Die dort in Stellung gebrachte groteske Körperlichkeit steht nicht nur zu den disziplinierten Körpern der tänzerischen Zwischenspiele quer, sondern überschießt im barocken „Eros
du langage“ die klassische Disziplinierung der Sprache und der Gefühle. Die „katastrophische“ und zugleich lustvolle Erfahrung des Körpers als Leib im Lachen und
Verlachen erzeugt psychopragmatisch einen doppelten „Wirklichkeitseffekt“ und
das Theater des späten Molière ist somit gleichzeitig konvergent als auch divergent
zu einer Ideologie, die der „fabrication“ des absoluten Souveräns dienen soll.
In ihrer Betrachtung der Darstellungen des Hermaphroditen in der Encyclopédie
der französischen Aufklärung gelingt es Fabienne IMLINGER (München) mit »Cet
obscur objet du savoir: L’hermaphrodite dans l’Encyclopédie«, die problematische
Evidenz des bloßen Objekts auf den Kopf zu stellen. Die Unterteilung der enzyklopädischen Bildseiten in eine informativ-paradigmatische Einheit – eine Reihe ‚bloßer‘, dekontextualisierter Objekte – und in eine syntagmatische „scène vivante“
kann als enthabitualisierende, surrealistische „découpage du monde“ gelesen werden. Barthes hat dies in seiner Analyse der „Planches“ im Sinne einer unendlichen
Zirkulation beschrieben. Die unterschiedlichen Darstellungen des dritten Geschlechts reichen nun von einem „excès de détail“ bis hin zur Obsession der „possession“ des anatomisch zerstückelten Objekts: des auch bildlich herausgelösten
Geschlechtsteils. Die ‚Monstrosität‘ des dritten Geschlechts, dessen „Realität“ oder
„vrai sexe“ die Mathesis vor unlösbare Probleme stellt, wird schließlich im Haupttext und im Supplement der Encyclopédie unterschiedlich vorgestellt: Die klassizistisch, mythisch inszenierte Pose wird durch die reine Anatomie des Genitals abgelöst und offenbart einen penetrierenden Blick des Wissens, der das hermaphroditische
Geschlecht schrittweise effeminisiert und fetischisiert.
In »Quei due Barthes: Realitäten der Schreibpraxis in Calvinos Barthes-Lektüren« verweist Simona OBERTO (Erlangen) auf den intellektuellen Austausch zwischen Barthes und dem Barthes-Leser Italo Calvino in den sechziger Jahren. Calvino assoziiert seine „due Barthes“ mit der Weiterentwicklung des Strukturalismus
zum „texte“ und orientiert sich mehrfach an dessen „larvatus prodeo“ und der
spielerischen Kombinatorik. Calvinos zweiter Barthes entwickelt sich ab 1968, als
er an dessen Seminar zu Balzacs Sarrasine teilnimmt. In der gemeinsamen Lektüre
lernt Calvino von Barthes die verschiedenen Sinnschichten der Literatur neu zu
deuten, wodurch seine Schreibpraxis, auch in Relation zur sogenannten ‚Wirklichkeit‘, maßgeblich beeinflusst wird. Gerade die Auseinandersetzung mit Barthes’
»La mort de l’auteur« führt schließlich bei Calvino in den Glauben an die Entbehrlichkeit des Subjekts: der Autor wird von ihm rituell zu Grabe getragen.
Anhand von Jonathan Littells zeitgenössischem Roman Les Bienveillantes (2006)
untersucht zuletzt Daniela KIRSCHSTEIN (Berlin) in »Effet de réel/Effet de guerre.
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KARIN PETERS
Jonathan Littells Les Bienveillantes« die Wirklichkeitserwartungen, die an Kriegsliteratur von mahnenden Historikern herangetragen und in Les Bienveillantes zugleich dekonstruiert werden. Der Roman setzt auf die systematische Generierung
von Wirklichkeitseffekten in Form von Metaphern der Alltäglichkeit, der monströsen, körperlichen Nähe zum sadistischen Protagonisten und in Gestalt des
sprachlich reproduzierten Panoramas der ‚Realitäten‘ des Nazireichs. Die monströse Genauigkeit historischer ‚Wahrheit‘ im beigefügten Glossar und den verwendeten Quellen überschießt jedoch schlicht ihre Textualität: die fremden, deutschen
Begriffe sind nicht allein einem dokumentarischen Willen geschuldet, sondern erzeugen innerhalb des Textes sinnlich erfahrbare, hörbare Präsenzeffekte. Dadurch
wird der Alltag des Massenmörders literarisch ‚erlebbar‘ und zur ‚authentischen
Fabel‘. Die Kluft zwischen dem erzählenden Panoramablick eines kühlen Täters,
der alles sieht, und dem erzählten Körper des Täters, der an der „Tötungsarbeit“
zugrunde geht, verweigert die Distanzierung des Lesers vom Erzähler: Die Wirklichkeitseffekte des Romans produzieren so einen obszön-pornographischen Blick
auf die und mit der Gewalt.
IV.
Kann man mit Roland Barthes über die oder als Liebe Literaturwissenschaft neu zu
fassen versuchen? Zumindest stellt sich in seinen eigenen Texten und Interpretationen dem Imperativ des Realen – etwa der Liebe –, der als widerständiger Impuls
wirkt, hartnäckig immer ein „Imperativ der Lektüre“66 – und mit ihr die Textualität – an die Seite. Anselm Haverkamp beruft sich auf letzteren, wenn er Barthes als
Bürgen einer zeichenskeptischen, wiewohl zeichenbewussten Philologie fasst, die von
der Sprachlichkeit nie los kommt, im ‚Jenseits der Zeichen‘ nie ankommt. Das semiologische Abenteuer Roland Barthes’ versteht sich dagegen als bewegliche
„Produktion“67 eines traumatischen Realen und reproduziert lustvoll dieses Reale
bis ins einzelne Lexem hinein.
Die ‚Verführbarkeit‘ des Rolandiste68 erscheint deshalb groß, in der Auseinandersetzung mit Barthes autokommunikative Gesten des Affekts sprechen zu lassen
oder gar in liebende imitatio einzutreten. Zwischen Methode auf der einen und
Symptom einer „Epoche des Realen“ auf der anderen Seite changiert das Denken
Barthes’, und die Problematisierung des Methodischen bei ihm selbst droht mithin
die Auseinandersetzung mit seinen Texten in Diagnosen des ‚Symptomatischen‘
stillzustellen. Tatsächlich lässt sich keine bündige Methodik aus Barthes’ Ringen
mit dem Realen mehr ableiten. Der doppelt gerichtete Imperativ, das Reale in der
Literatur – und somit auch in der Lektüre – zu berücksichtigen, erscheint dennoch
wegweisend. Daher hat sich die in diesem Band dokumentierte Auseinanderset66 Vgl. dazu den Beitrag von Anselm Haverkamp in diesem Band.
67 Vgl. Zitat zu Anm. 44.
68 Vgl. zum frz. rolandisme der Forschung den Beitrag von Claude Coste in diesem Band.
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EINLEITUNG
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zung mit Barthes bewusst über das Œuvre Barthes’ hinaus auf die riskanten Grenzgebiete einer unmöglich anmutenden ‚Semiologie des Realen‘ eingelassen. Denn
das Reale des Affekts, der Macht, des Geschlechts oder der Gewalt in (literarischen)
Texten und Diskursen bleibt eine aktuelle – und offene – Frage für die Interpretation.
Auswahlbibliographie
Übersetzungen ins Deutsche
Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur [2 Essays], Hamburg: Claassen, 1959.
Kritik und Wahrheit, hg. v. Helmut Scheffel, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1967.
Der Eiffelturm, hg. v. Helmut Scheffel, München: Rogner & Bernhard, 1970.
Über mich selbst, München: Matthes & Seitz, 1978.
Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied, Berlin: Merve, 1979.
Das Reich der Zeichen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981.
Am Nullpunkt der Literatur, hg. v. Helmut Scheffel, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982.
Cy Twombly, Berlin: Merve, 1983.
Elemente der Semiologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1983.
Michelangelo Antonioni, München: Hanser, 1984.
Michelet, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984.
Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985.
Die Sprache der Mode, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985.
Begebenheiten, hg. v. Hans-Horst Henschen, Mainz: Dieterich, 1988.
Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988.
Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988.
Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980, hg. v. Agnès Bucaille-Euler, Frankfurt/
Main: Suhrkamp, 2002.
„Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.“ Schriften
zum Theater, hg. v. Jean-Loup Rivière, Berlin: Alexander, 2002.
Chronik, hg. v. Mira Köller, Berlin: Merve, 2003.
Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt/Main: Suhrkamp,
2005.
Variations sur l’écriture. Französisch-deutsch, hg. v. Hans-Horst Henschen, Mainz: Dieterich,
2006.
Kritische Essays, hg. v. Dieter Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990/2006.
Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman; Vorlesung am Collège de France, hg. v. Éric Marty, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2007.
Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France; 1978-1979 und 1979-1980,
hg. v. Éric Marty, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008.
Die Lust am Text. Kommentar von Ottmar Ette, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1974/2010.
Tagebuch der Trauer, München: Hanser, 2010.
Mythen des Alltags, Frankfurt/Berlin: Suhrkamp, 1964/2010.
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KARIN PETERS
Monographien
BRUNE, Carlo, Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben, Würzburg:
Königshausen & Neumann, 2003.
BÜRGER, Peter, Das Verschwinden des Subjekts, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998.
ETTE, Ottmar, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp,
1999.
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KIEFER, Jochen, Die Puppe als Metapher, den Schauspieler zu denken. Zur Ästhetik der theatralen Figur bei Craig, Meyerhold, Schlemmer und Roland Barthes, Berlin: Alexander,
2004.
KLEINDIENST, Robert, Beim Tode! Lebendig! Paul Celan im Kontext von Roland Barthes’
Autorkonzept. Eine poetologische Konfrontation, Würzburg: Königshausen & Neumann,
2007.
KOLESCH, Doris, Das Schreiben des Subjekts. Zur Inszenierung ästhetischer Subjektivität bei
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LANGER, Daniela, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie
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LEITGEB, Christoph, Barthes’ Mythos im Rahmen konkreter Ironie. Literarische Konstruktionen des Eigenen und des Fremden, München: Fink, 2008.
LINDORFER, Bettina, Roland Barthes. Zeichen und Psychoanalyse, München: Fink, 1998.
OSTER, Angela, Ästhetik der Atopie. Roland Barthes und Pier Paolo Pasolini, Heidelberg:
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PANY, Doris, Wirkungsästhetische Modelle. Wolfgang Iser und Roland Barthes im Vergleich,
Erlangen: Palm & Enke, 2000.
RÖTTGER-DENKER, Gabriele, Roland Barthes zur Einführung, Hamburg: Junius, 1989.
SCHABACHER, Gabriele, Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion
‚Gattung‘ und Roland Barthes’ Über mich selbst, Würzburg: Königshausen & Neumann,
2007.
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