Repositorium für die Medienwissenschaft
Vera Mader
Morgen, das 22. Jahrhundert. Neue, alte und Andere
Zukünfte
2020
https://doi.org/10.25969/mediarep/13653
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Rezension / review
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Mader, Vera: Morgen, das 22. Jahrhundert. Neue, alte und Andere Zukünfte. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft
22: Medium | Format, Jg. 12 (2020), Nr. 1, S. 207–213. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/13653.
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—
MORGEN, DAS 22. JAHRHUNDERT
Neue, alte und Andere Zukünfte
von VERA MADER
Armen Avanessian, Mahan Moalemi (Hg.):
Ethnofuturismen, Leipzig (Merve) 2018
Alexis Lothian: Old Futures. Speculative Fiction and
Queer Possibility, New York ( NYU Press) 2019
Henriette Gunkel, kara lynch (Hg.): We Travel the
Space Ways. Black Imaginations, Fragments, and Diffractions,
Bielefeld (transcript) 2019
—
Zukunft ist ungleich verteilt. Ob jemand von einem gesicherten Auskommen für sich und nächste Angehörige
ausgehen kann, richtet sich nach der color line, der sozialen Herkunft und / oder der geschlechtlichen Identität.
Wenn die Zukunft kid stuff ist, wie José Esteban Muñoz
Lee Edelmans Inanspruchnahme von Queerness als
Absage an eine (reproduktive) Zukunft entgegenhält,
dann ist sie nur die Angelegenheit mancher Kids,1 nämlich jener, denen qua sozialer Positionierung eine solche vorbestimmt ist. Der Begriff der Zukunft, mit dem
ich diese Rezension überschreibe, ist eine Erfindung
und sinngebende Fiktion der weißen Moderne,2 die
den nach wie vor konkreten Zusammenhang von race
und Überleben vernachlässigt. Diese ‹Zukunft› posiert
als Deutungshoheit, die jede Vision Anderer Zukünfte zu korrumpieren scheint. Ausgehend von prekären
Lebensrealitäten, in der die Rassifizierung Schwarzer
und Brauner Körper ‹Zukunft haben› zum Privileg weniger macht, verortete die Sängerin Nina Simone im Jahr
BESPRECHUNGEN
1971 die Möglichkeit Schwarzer Zukünftigkeit in einem
Stadium nach dem apokalyptischen Zerfall: «When life
is taken and there are no more babies born / […] / Tomorrow will be the 22nd Century».3 Wenn diese Versicherung des Kommenden auch von einer unter den
gegebenen Bedingungen nicht verfügbaren Zukunft
ausgeht, so ist in ihrer Formulierung sowohl der heilende Bruch eines Neubeginns als auch die zeitliche Kontinuität repressiver Strukturen angelegt.
Simones 22. Jahrhundert ist insofern Gegenstand
dieser Rezension, als diese drei Veröffentlichungen
vorstellt, die sich mit fiktionalen, künstlerischen und
spekulativen Rekalibrierungen einer zivilisatorischen
‹Zukunft› befassen – als einer wirkmächtigen Denkfigur der Moderne, deren Versprechen entlang sozialer
Differenzachsen ihre Gültigkeit verlieren. Die Bände
Ethnofuturismen, herausgegeben von Armen Avanessian
und Mahan Moalemi, und We Travel the Space Ways. Black
Imaginations, Fragments, and Diffractions, erschienen in
Ko-Herausgeber_innenschaft von Henriette Gunkel und
kara lynch, sowie die Monografie Old Futures. Speculative
Fiction and Queer Possibility von Alexis Lothian denken Zukunft von sozialen Positionierungen jenseits des aufklärerischen Subjekts aus. In der Regel werden historisch
marginalisierte Personengruppen nicht in eine Zukunft
miteinbezogen, die mit dem Determinismus von Moderne / Kolonialität 4 verschweißt und dabei ebenso zeitlich
linear wie straight in dem Sinne ist, dass deren soziale
Reproduktion normativ organisiert ist. Demgegenüber
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VERA MADER
fragen die vorliegenden Texte danach, wie sich Zukunft
in ein Denken übertragen lässt, das nicht in eurozentrische Teleologie eingebettet wäre.
Der Band Ethnofuturismen von Avanessian und Moalemi
versucht in diesem Sinne nichts Geringeres, als «Freiheit
und Emanzipation jenseits antiquierter Fortschrittslogik»
(S. 9) zu denken und kompiliert Theoriestücke und Spekulationen, die lokale Ausformungen pluraler Zukünfte
ausfindig machen. Auch Lothian geht von einer solchen
Vielzahl der Zukunftsfiktionen aus. Ihr Buch Old Futures.
Speculative Fiction and Queer Possibility folgt einer queeren
Tradition spekulativer literarischer und filmischer Erzählungen im 20. Jahrhundert. Lothian untersucht das
Verhältnis dieser Texte zu einem Zukunftsdenken, das
die Durchsetzung und den Erhalt imperialer Machtstrukturen und der Vormachtstellung einer technologischen
Moderne sicherstellt. (S. 2) Die Herausgeberinnen von
We Travel the Space Ways. Black Imaginations, Fragments,
and Diffractions, Gunkel und lynch, gruppieren wiederum
kulturwissenschaftliche Kritik, aktivistische und künstlerische Beiträge um das Vorhaben eines Schwarzen future
fictioning, das aus queerfeministischer Perspektive zu
afrofuturistischen Spekulationen ansetzt. Dieses Einbiegen in die space ways bricht mit modernen Ordnungen
von Zeitlichkeit, Subjektivität und Sinnstiftung und denkt
Afrozukunft als Raum, in dem nicht-repressive Strukturen der Vergemeinschaftung und dekoloniale Wissensformationen erfahrbar werden.
Zukunftsdebatten scheinen, nicht zuletzt vor dem
Hintergrund der ökologischen Sorge, Konjunktur zu
haben. Die drei Publikationen greifen die aktuelle
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Popularität afrofuturistischer Ästhetiken und Erzählungen auf und verhandeln die immer schon prekäre Ausgangslage marginalisierter Zukünfte vielleicht auch als
ein Gegengewicht zum Krisendenken des Anthropozändiskurses, welcher, wie Kathryn Yusoff argumentiert, als
geologische Wissenskategorie konstitutiv von rassisierten Machtstrukturen durchzogen ist.5 Doch stellt sich in
Bezug auf den Erscheinungskontext der besprochenen
Publikationen und die weiße Positionierung der Rezensentin ebenso die Frage nach dem Ort des Sprechens
über marginalisierte Zukünfte: Was sind die machtstrukturellen Implikationen dieses Absolutsetzens der
Positionierung einer queer person of color als kritische Instanz in dieser Rezension sowie innerhalb nordamerikanischer und europäischer Wissenschaftsdiskurse? Wie
können Andere Zukünfte perspektiviert werden, ohne
dass sie im Projekt der Inklusion marginalisierter sozialer Positionen aufgehen und wiederum einen weißen
Zukunftsdiskurs zentrieren?
Der Band Ethnofuturismen führt Zukunft als ein Feld
ein, das machtpolitischen Aushandlungen unterliegt
und einer solchen Reflexion einen vielversprechenden
Ausgangspunkt bieten würde. Doch zielen die Herausgeber in ihren einleitenden «Befunde[n] zu gemeinsamen
und gegensätzlichen Zukünften» auf die Diagnose einer
gegenwärtigen globalen Krise ab: Angesichts aufkommender Nationalismen in Europa und dem Niedergang
der Nationalstaaten außerhalb Europas plädieren Avanessian/Moalemi dafür, in Diskussionen über mögliche
Zukünfte globale Machtstrukturen und darin verzweigte
Kapitalbewegungen einzubeziehen, wobei weltweite Ungleichheitsverhältnisse unterschiedlich gelagerte oder
gar widersprüchliche Zukünfte hervorbringen. (S. 9)
Hinsichtlich der tagespolitischen Aktualität nimmt der
Band zwangsläufig Abstriche in Kauf, handelt es sich bei
den hier versammelten Beiträgen doch größtenteils um
Erstübersetzungen bereits älterer Texte. Diese führen
vor Augen, wie ständigem Wandel unterliegende regionale Bedingungen und kollektive Identitäten sowohl
das Denken historischer Zeitlichkeit als auch spekulative
Vorwegnahmen dessen, was kommen könnte, prägen.
Insofern stellt Ethnofuturismen die Gültigkeitsansprüche
futuristischen Denkens vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten auf die Probe. Wie können ethnofuturistische Interventionen Spannungsverhältnisse zwischen
allumfassenden Deutungsangeboten und partikularer Notwendigkeit emanzipatorisch wenden? Für die
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Herausgeber steht, obwohl sie dies einleitend ankündigen, nicht der Versuch im Zentrum, Gemeinsamkeiten
und Gegensätzlichkeiten dieser Visionen unterschiedlicher historischer Prägung und spekulativer Priorisierung
zu eruieren. Den titelgebenden Begriff der «Ethnofuturismen» entlehnen Avanessian/Moalemi einer estnischen
literarischen Tradition zum Ende der Sowjetunion und
legen ihn neu aus: als einen Ausweg aus der Dichotomie
von «Multikulturalismus vs. Ethnopluralismus» und «Vision der Zukunft, die zwischen der Auflösung aller Unterschiede einerseits und der genau entgegengesetzten
Ideologie einer Bewahrung von ursprünglichen Identitäten andererseits liegt». (S. 9) In diesem Zusammenhang
wäre eine kritische Einordnung des Begriffs des ‹Ethnischen› wünschenswert gewesen, der hier in pauschalisierender Geste dazu verwandt wird, eine Vielzahl Anderer
Zukünfte zusammenzufassen, und damit auch die Dichotomie zwischen Partikularem und Universalem erneut
aufzuspannen scheint.
Auf zwei konkurrierende Futurismus-Spielarten, die
eines Schwarzen Futurismus und die eines Futurismus,
der dem «Real-Fiktiv Hype» (S. 15) untersteht – möchte ich etwas genauer eingehen. Hier zeigt sich, dass
die Sammlung Ethnofuturismen einen «Widerstreit der
Zukünfte» (S. 9) mit jeweils divergierenden Ansätzen,
gemeinsamen Linien und Streitpunkten auf den eigenen Seiten austrägt. Dies lässt sich zunächst an Aria
Deans «Anmerkungen zur Blackzeleration» (S. 67 – 85)
illustrieren: Dean unternimmt den Versuch, einen Akzelerationismus – also die Annahme, die Überwindung
des Kapitalismus erfolge über die durch ihn bereitgestellten Mittel der Steigerung – abseits der Vereinnahmungen durch rechte und linke politische Lager von
einer Schwarzen Position aus zu denken. Ausgehend
von dieser ‹dritten Position› im Rassenkapitalismus,
für die sich Subjektivität und Kapital gegenseitig konstituieren, bestätigt Dean den Akzelerationismus als integralen Bestandteil des Schwarzseins. (S. 80) Aus einer
historischen Perspektive, in der «lebendige[s] Kapital,
spekulative[r] Wert und akkumulierte Zeit […] in den
Körpern schwarzer, schon-inhumaner-(nicht-)Subjekte
gespeichert sind» (S. 85), gilt es, weder den Verlust der
Humanität zu beklagen noch eine Wiederaneignung
von Subjektivität voranzutreiben (S. 84). Damit zeichnet
Dean die Grenzen nach, die den dominanten Zukunftsdiskurs der Moderne einfassen; dies gilt auch für Kodwo
Eshuns 2003 verfasste und nun ins Deutsche übersetzte
BESPRECHUNGEN
«Weiterführende Überlegungen zum Afrofuturismus»
(S. 40 – 65) im selben Band. Vom unterschwelligen Verdacht bei Dean und Eshun, die ‹Zukunft› müsse aus
nicht-eurozentristischer Perspektive bereits ausgedient haben, rücken die Texte von Steve Goodman und
Anna Greenspan ab. Beide kommen aus dem Umfeld
der Cybernetic Culture Research Unit, die von Nick
Land – dessen Positionen Dean vehement kritisiert – in
den 1990er Jahren an der Warwick University mitgegründet wurde. Indem sie sich dem Reiz des Spekulativen
hingeben, legen sie weniger einen Gegenentwurf zu
den von «Maskulinitäts- und Martialitätsphantasmen
bestimmten westeuropäischen Futurismen des frühen
20. Jahrhunderts» (S. 8) vor als spezifische Umformungen derselben und verlagern einen modernen Technologie- und Wissenschaftsglauben in neue regionale
Kontexte: Goodmans Textcollage über die sinofuturistische Geheimwährung Fei Ch’ien (S. 87) erschließt das
Spekulative als grundlegende kapitalistische Funktion.
Anna Greenspans Überlegungen zum Retro-Futurismus
auf der Weltausstellung in Schanghai 2010 zeichnen das
Bild eines «absoluten Futurismus» (S. 126), der unter
dem Zugeständnis der Vorsilbe ‹retro› das Schanghai
des 21. Jahrhunderts mit den Bildern des Futurismus
aus dem 20. Jahrhundert bespielt. Diese real-fiktiven Zukunftsfigurationen verbleiben in engen Schleifen an das
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Archiv bekannter Zukünfte rückgekoppelt, die schließlich auch das Denken von Freiheit und Emanzipation
einhegen. Bezüge auf die Zukunft als kolonisierte Trope
und Verbund bereitstehender Deutungsmuster lassen
die Anderen Zukünfte der Ethnofuturismen teils gar nicht
so anders erscheinen.
Während der Band Ethnofuturismen einerseits von einem politischen Gegenwartsbezug ausgeht und zu den
dabei aufgeworfenen dringlichen Fragen andererseits
nur bedingt Antworten liefert, orientiert sich Alexis Lothian programmatisch am historischen Archiv der Zukünfte. (S. 2) In Old Futures fächert die Autorin ein Spektrum
queerer Zukünfte des 20. Jahrhunderts auf: angefangen
bei spekulativen Feminismen des späten 19. und frühen
20. Jahrhunderts über Figurationen Schwarzer Zukünfte
etwa bei W. E. B. Du Bois oder Samuel R. Delany bis zu filmischen Zukunftsspekulationen wie Lizzie Bordens Born
in Flames (USA 1983) und Derek Jarmans Jubilee (GB 1978).
Diese Zukünfte bewegen sich zwischen zwei Gravitationsfeldern: einer Zukunft als kolonisiertem Imaginationsraum der Moderne, deren Werden auf dem Ausschluss
intersektional vergeschlechtlichter Personen des sogenannten globalen Südens beruht, und der Öffnung hin
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zu einer queeren Potenzialität, die zukünftige Sozialitäten in einem nicht-normativen Begehren der Gegenwart
anlegt. (S. 29) In Erzählungen marginalisierter Zukünfte
weist Lothian Schnittstellen mit queeren Rekonzeptualisierungen von Zeitlichkeit nach. Somit lässt Old Futures
den bisher kaum erkundeten Nexus zwischen Theorien
queerer Zeitlichkeit und den Modalitäten spekulativen
Erzählens nachvollziehen. Der Begriff des world-making rekurriert hier sowohl auf einen fiktionalen Modus als auch
auf ein zentrales Anliegen der Queer Studies (S. 3), deren
Theoriebildung Lothian genealogisch als ‹Geschichte der
Zukünfte› versteht (S. 5). In diesem Rahmen legt Old Futures umfassende Analysen unterschiedlicher Kulturpolitiken des Spekulierens im 20. Jahrhundert vor. Zugleich
tragen diese Diskussionen anschauliche Beispiele und
Perspektiven in die Debatte um queere Zeitlichkeiten ein,
die über die Alternativen von Lee Edelmans No-Future-Polemik und einer Zukunft als queerem Möglichkeitsraum
wie bei Muñoz hinausweisen.6
Lothian befragt zunächst die spekulativen Fiktionen
britischer und US -amerikanischer feministischer Autorinnen des frühen 20. Jahrhunderts wie z. B. Charlotte
Perkins Gilmans Herland (1915) im Hinblick auf deren
Verstrickungen mit kolonialen Narrativen und Bildwelten. Die Möglichkeitsbedingungen dieser Zukünfte beziehen queere Sozialität mit ein, perpetuieren jedoch
zugleich rassistische Gewaltstrukturen bzw. sind in imperiale Projekte US -amerikanischer und europäischer
Nationalismen eingelassen. (S. 72) Die Annahme, dass
sich Queerness und moderne Zukunft über soziale Kontexte hinweg gegenseitig ausschließen, erweist sich als
nicht haltbar.
Dieser Befund bestätigt sich für Lothian in der Fokussierung ihrer Lektüren auf spekulative Fiktionen einer
Schwarzen Tradition, die Entwürfe technologischer und
reproduktiver Zukünftigkeit adaptiert und umdeutet.
(S. 101) Die Autorin analysiert, wie afrofuturistische Figurationen alternativer Raumzeitlichkeit in die Artikulation
von Zukunft als radikalem Möglichkeitsfeld einwirken.
Ein «breeding futures» als queerem Reproduktionsmodus, wie Lothian mit Audre Lorde formuliert (S. 100),
schafft Weisen der Relationalität und der Gemeinschaft
im lustvollen Selbstzweck queeren Begehrens. So liest
Lothian Octavia Butlers Fledgling (2005) und Jewelle
Gomez’ The Gilda Stories (1991) als afrofeministische
Vampirmythologien der Reproduktion über ‹deviante›
Linien der Blutsverwandtschaft. (S. 116)
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Diese Lektüren verkomplizieren Positionen queerer Zeitlichkeit und Varianten sozialer Reproduktion,
dennoch reicht der Beitrag, den Old Futures m. E. leistet, über das Feld der Kritik hinaus. Denn in den medialen Anordnungen der Rezeption audiovisueller
Zukünfte erkennt die Autorin Möglichkeitsräume, mit
denen ihre Argumentationslinie auf produktive Weise
selbst in den Bereich des Spekulativen übersetzt. Mit
dem Vermögen, Affekte durch Raum und Zeit zu übertragen, gesteht Lothian Bildschirmmedien eine eigene Qualität spekulativer Queerness zu. (S. 213) Dabei
nimmt das Erproben verschiedener Medien und Modalitäten des Spekulierens selbst Raum im Buch ein. So
bedient sich Old Futures des strukturellen Genre-Kniffs
von ‹Wurmlöchern›, mithilfe derer sie historische und
intermediale Querverbindungen zwischen den Old Futures und jüngeren Beispielen spekulativer Fiktionen
zieht. Darüber hinaus berichtet die Autorin über ihre
praktischen Erfahrungen als Teil des vidding-Fandoms.
Die Fangemeinde der vidders eignet sich das Remixen
von Videomaterial als reparative Praxis an, mit der sich
hegemoniale audiovisuelle Zeitlichkeiten umordnen
und die darin eingelassenen rassisierten und sexuierten Ordnungen umschichten lassen. (S. 233) Lothians
Auseinandersetzung mit alten Zukünften formuliert
den Wunsch, eine Neuverteilung der Zukunft in der
Gegenwart zu bewerkstelligen. (S. 22) Das vidding hält
dafür die Mittel bereit.
Auch in We Travel the Space Ways tritt Afrofuturismus
mehr als Tun und kreative Praxis denn als theoretisches
Konstrukt in Erscheinung. Im Band kreisen die Bits unterschiedlicher medialer Figurationen und Ästhetiken
des Spekulierens im Orbit einer Tradition Schwarzer
visionärer Praktiken: Das Feld des black future visioning als Kulturkritik erweitern die Herausgeberinnen
Henriette Gunkel und kara lynch um die Bereiche Fotografie, bildende Kunst, Architektur, Performance, Musik
und aktivistisches Organisieren. Damit legt der Band
eine Sammlung multimodaler Interventionen vor, die
in kultureller und politischer Hinsicht Vorschläge zur
Formation von Identität, Kollektivwerdung und neuen Daseinsformen in der Welt machen. (S. 21) So gehe
es zum einen darum, Narrativierungen der Zukunft
nicht der historischen Vereinnahmung durch Siedlerkolonisierung und Weißsein zu überlassen. (S. 25) Und
doch sei dem Ersinnen radikal anderer Realitäten, außerweltlicher Sphären und «safe(r) spaces» (S. 27) ein
BESPRECHUNGEN
Bewusstsein um die Geschichte und Gegenwart intersektionaler Gewaltstrukturen eingeschrieben (S. 22).
Aus der gegenwärtigen Popularität afrofuturistischen Denkens leiten die Herausgeberinnen die Notwendigkeit ab, die Historizität des Begriffs mitzudenken: Ein aktueller Afrofuturismus-Moment müsse in
Anbetracht der historischen Dimension migrantischer
Bewegungen sowie der kulturellen und technologischen
Wissenstransfers über unterschiedliche geopolitische
Kontexte hinweg immer neu befragt werden. (S. 23) We
Travel the Space Ways weist dabei diskursiv und personell
Berührungspunkte mit dem Afrofuturismus der 1990er
Jahre auf, den Greg Tate im Band als «Rise of the Astro
Blacks» rekapituliert. (S. 199 – 202) Die queerfeministischen Positionierungen der Beiträge erlauben es jedoch, aus den gebahnten Wegen eines männlich und
heteronormativ geprägten Diskurses auszuscheren.
(S. 29) Zudem ist der Begriff des Afrofuturismus, wie
die Herausgeberinnen anmerken, maßgeblich durch
diasporische Akteur_innen geprägt. (S. 24) Der Band
bemüht sich daher, Beweggründe und historische Linien verschiedener «pan-African future projects» (S. 25)
nachzureichen. Erprobt werden Strategien, um den
Begriff der Zukunft aus dem Projekt der europäischen
Aufklärung herauszulösen, das Afrika mit der Fähigkeit
zur eigenen Geschichte auch eine Zukunft abspricht. Die
Einbindung eines Konzepts der Africanicity destabilisiere
etwa die im Humanismus verwurzelte binäre Trennung
zwischen Nord und Süd in Analogie zur Differenz von
‹privilegiert› und ‹benachteiligt›. (S. 25) Diese space ways
zu bereisen heißt, Zukunft als Fiktion, Metapher und Figur des Politischen zu begreifen, in der chromgestählte
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space-race-Fantasien und Dekolonialität einen Möglichkeitsraum teilen.
Einen Angelpunkt des konzeptuell und thematisch
zwischen kreativem Schaffen, Aktivismus und Theoriekritik breit aufgestellten Bandes bilden Konzepte afrofuturistischer Zeitlichkeit, die Formen der Selbstwerdung
und Vergemeinschaftung aus einer linearen zeitlichen
Determiniertheit lösen. Die versammelten Modalitäten
afrofuturistischer Zeitlichkeit sind eng mit Affekt- und
Begehrensstrukturen verwoben und an situierte Politiken rückgebunden. (S. 27) So überträgt die Aktivistin
und Künstlerin Rasheedah Philipps in ihrem Beitrag
den Agency-Impetus eines organize your own auf Fragen
zeitlicher Selbstbestimmung (S. 237 – 244), während
Alexis Pauline Gumbs’ Schreiben über die temporale
Bedingtheit von Liebe und Verlust eine Black Astrophysics entwirft. (S. 15 – 20) Tobias Nagls Auseinandersetzung
mit dem Werk des afrodeutschen Künstlers Daniel Kojo
Schrade verfolgt einen forensischen Ansatz, dem Materialschichten als zeitliche Überlagerungen gelten.
(S. 321 – 342) Henriette Gunkel geht der Verschränkung
von Afrofuturismus und queerer Zeitlichkeit in Filmbeispielen nach (S. 387 – 404), wobei die Performanz des
(un)doing ‹devianter› Genderidentitäten ebenso normative Zeitordnungen unterwandert. Hier knüpft Kara
Keelings Darstellung und Analyse eines dem Phänomen
Disco inhärenten (im)proper sonic habitus an, der die Gendernormen in den USA der 1970er Jahre herausforderte
und gleichzeitig die affektiven Verflechtungen Schwarzer Existenz, Geschichte, Technologie und Musik als
visionären Modus ausweist, alternative soziale Konstellationen anzuleiten (S. 245 – 250, hier 245 f.) Die bei Keeling implizite und im Afrofuturismus zentrale Frage nach
212
dem Verhältnis von race und Technologie beschäftigt
Grisha Coleman und Thomas F. DeFrantz im Gespräch
über ihre Medienkunst: Welche Technologien bringen
die Anliegen Schwarzer Personen auf persönlicher, kollektiver und politischer Ebene voran? (S. 53 – 68)
In der multimodalen Aufstellung des Sammelbands
betrifft die Frage nach Technologie auch jene Kulturtechniken, die Wissen generieren und bestimmen,
worin dieses Wissen besteht. We Travel the Space Ways
lotet aus, wie Schriftlichkeit als vorherrschende epistemische Praktik an ihre Grenzen gerät, indem weitere
Wissenspraktiken in den geisteswissenschaftlichen Diskurs aufgenommen werden. Mit der Erweiterung der
medialen Formate werden auch implizite Hierarchien
zwischen den Arten und Weisen intellektueller und
künstlerischer Diskursivierung verhandelt. Kiluanji
Kia Hendas unter dem Titel A City Called Mirage versammelte skulpturale Arbeiten (S. 47 – 52, siehe auch
S. 287 – 302) z. B. setzen dem von Kolonialgeschichte
und Unabhängigkeitskrieg geformten Raum der angolanischen Wüste neue Strukturen auf, während Ayesha
Hameeds Performance-Skript ihrer Spekulationen über
den Black-Atlantis-Mythos typografische Akzente setzt
und Beschreibungen, Links zu Video-Clips sowie eingeblendete Folien beinhaltet. (S. 107 – 126) Zur Gestaltung
einer Afrozukunft stellen die spekulativen Arrangements
der einzelnen Beiträge je eigene produktive Dynamiken,
Aushandlungs- und Erfahrungsräume bereit, die den
Grundannahmen humanistischer Wissensproduktion
mit alternativen Entwürfen begegnen.
Wie schon in Simones 22nd Century anklingt, erzählen diese Geschichten des 22. Jahrhunderts die Historien
des 20. und vorheriger Jahrhunderte oftmals mit. Während das Projekt der Ethnofuturismen zu weiten Teilen
darin besteht, tradierte Zukunftsfiktionen fortzuschreiben, bringen Old Futures und We Travel the Space Ways
Chronopolitiken der medialen Anordnungen auf den
Weg, die soziale Asymmetrien der Gegenwart justieren
und zugleich Brüche in modernen Zukunftsdiskursen
einleiten. Andere Zukünfte werden dabei nicht als kohärente Szenarien greifbar, sondern scheinen vielmehr
im Möglichkeitsfeld spekulativen Mediendenkens auf:
Von der Umstrukturierung audiovisueller Zeitlichkeit
durch vidding-Fandoms bis zur Performance als intermedialer Konfiguration der Gegenerinnerung positionieren
sich diese in der Vielstimmigkeit künstlerisch-medialer
Praktiken und kollaborativer Arbeitsweisen und widmen
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hegemoniale Setzungen von Zukunft und Zeitlichkeit
auf der Ebene ihres Ausdrucks um. Ein solches Tun vorausschauenden Zurückblickens nimmt unter afrozentrischen und intersektionalen Parametern Eintragungen
in die Geschichte des 22. Jahrhunderts vor und verweist
auf Konstellationen des Zukünftigen – als eines Vielfachen zwischen historisch-traumatischer Disposition und
radikalem Umbruch.
—
1 José Esteban Muñoz: Cruising
the Toilet. LeRoi Jones / Amiri
Baraka, Radical Black Traditions,
and Queer Futurity, in: GLQ: A
Journal of Lesbian and Gay Studies.
Bd. 13, Nr. 2 – 3 2007, 353 – 368,
hier 364; Lee Edelman: No Future:
Queer Theory and the Death Drive,
Durham, 2004.
2 Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016.
3 Nina Simone: 22nd Century,
auf: Here Comes the Sun, RCA Victor
1971. Simone coverte den Song
von dem bahamaischen Musiker
Exuma, der diesen im selben Jahr
veröffentlichte.
4 Walter D. Mignolo: The Darker
Side of Western Modernity. Global
Futures, Decolonial Options, Durham
2011, 2.
5 Kathryn Yusoff: A Billion Black
Anthropocenes or None, Minneapolis
2019, 4.
6 José Esteban Muñoz: Cruising
Utopia. The Then and There of Queer
Futurity, New York, 2007; Edelman
2004.
BESPRECHUNGEN
213