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Trügerische Freiheit in Kafka' s "In der Strafkolonie"

In diesem Essay unternehmen wir den Versuch, die Form der trügerischen Freiheit, die Franz Kafka in seiner Erzählung "In der Strafkolonie" literarisch darstellt, mit Hilfe der Sokratischen Philosophie zu verstehen. Trügerische Freiheit ist die Entscheidungs-und Handlungsfreiheit von Menschen, die in dem Sinne gedanklich unfrei sind, dass sie nicht in der Lage sind, eine grundlegende Täuschung über die kognitive und volitionale Situation, in der sie gefangen sind, aus eigener Kraft zu erkennen und zu überwinden. Sokrates erinnert seine Gesprächspartner in Platons Dialogen daran, dass jede menschliche Fähigkeit auf eine entweder gute, glückszuträgliche oder schlechte, glücksabträgliche Weise gebraucht wird und der tatsächlich (und nicht lediglich scheinbar) glückszuträgliche Gebrauch einer Fähigkeit ein komplexes, praktisches Wissen erfordert, das uns vor allem vor vermeidbaren Täuschungen bewahrt. 1 So verhält es sich auch mit der menschlichen Handlungsfreiheit. Kafka zeigt in seiner Erzählung "In der Strafkolonie", in welcher Weise Manipulation und Indoktrination die Willensfreiheit von Personen so sehr beeinträchtigen, dass sie ihre Handlungsfreiheit auf eine lediglich scheinbar gute, glückszuträgliche, tatsächlich jedoch schlechte, glücksabträgliche Weise gebrauchen.

Nino Galdavadze / Jörg Hardy Trügerische Freiheit in Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ Einleitung In diesem Essay unternehmen wir den Versuch, die Form der trügerischen Freiheit, die Franz Kafka in seiner Erzählung „In der Strafkolonie“ literarisch darstellt, mit Hilfe der Sokratischen Philosophie zu verstehen. Trügerische Freiheit ist die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit von Menschen, die in dem Sinne gedanklich unfrei sind, dass sie nicht in der Lage sind, eine grundlegende Täuschung über die kognitive und volitionale Situation, in der sie gefangen sind, aus eigener Kraft zu erkennen und zu überwinden. Sokrates erinnert seine Gesprächspartner in Platons Dialogen daran, dass jede menschliche Fähigkeit auf eine entweder gute, glückszuträgliche oder schlechte, glücksabträgliche Weise gebraucht wird und der tatsächlich (und nicht lediglich scheinbar) glückszuträgliche Gebrauch einer Fähigkeit ein komplexes, praktisches Wissen erfordert, das uns vor allem vor vermeidbaren Täuschungen bewahrt.1 So verhält es sich auch mit der menschlichen Handlungsfreiheit. Kafka zeigt in seiner Erzählung „In der Strafkolonie“, in welcher Weise Manipulation und Indoktrination die Willensfreiheit von Personen so sehr beeinträchtigen, dass sie ihre Handlungsfreiheit auf eine lediglich scheinbar gute, glückszuträgliche, tatsächlich jedoch schlechte, glücksabträgliche Weise gebrauchen. 1 Platon: Euthydem 279a–282a, Charmides 174c–d, Gorgias 460a–c, Menon 87d–88d, Symposion 180e- 181a. Die Sokratische These eines entweder glückszuträglichen oder glücksabträglichen Gebrauchs menschlicher Fähigkeiten erläutern Hardy 2011, S. 17-28; Reshotko 2006, 108f., 119f.; Rudebusch 1999, S. 28f. Zur Sokratisch-Platonischen Auffassung des Glücks im Sinne eines insgesamt gelingenden Lebens vgl. Blößner 1997, Hardy 2011 und Stemmer 1988. 1 Willensfreiheit in einem reichen Sinne – im Unterschied zur bloßen Handlungsfreiheit – sei hier als die komplexe Fähigkeit charakterisiert, das eigene Wollen zum Thema machen und verstehen zu können und vom eigenen Nachdenken bestimmen zu lassen.2 Eine erste Bedingung für diese Form von Willensfreiheit ist die Fähigkeit und Möglichkeit, die Tatsachen der Welt, in der man lebt, zu erkennen. Manipulation und Indoktrination bestehen darin, dass eine Person (oder eine Gruppe von Personen) in anderen Personen die trügerische Illusion der Willensfreiheit erzeugt, ihre Willensfreiheit tatsächlich aber grundlegend beeinträchtigt, indem sie ihnen die Möglichkeit nimmt, die Tatsachen in ihrer Lebenswelt zu erkennen. Manipulation lässt den Menschen zwar ihre Handlungsfreiheit, untergräbt aber ihre Willensfreiheit. Das unterscheidet Manipulation von offenkundiger Gefangenschaft, die ihren Opfern zwar die Handlungsfreiheit raubt, aber nicht in jedem Falle zwangsläufig auch ihre Willensfreiheit nachhaltig beeinträchtigt. Im Gegenteil: Manipulation kann das größere Übel sein, denn sie nimmt ihren Opfern die Einsicht in ihre gedankliche Gefangenschaft und so auch die Möglichkeit des Widerstands und der selbständigen Befreiung. Der Hinrichtungsapparat Kafka beschreibt in seiner Erzählung „In der Strafkolonie“ eine Kolonie an einem fiktiven Ort in einem fiktiven Land zu einer fiktiven Zeit, in die Personen geschickt werden, die zum Tode verurteilt sind. Ort und Zeit des Geschehens nennt Kafka – wie so oft in seinen Werken – wohl deshalb nicht, weil er allgemeine Handlungsweisen und Probleme literarisch darstellen möchte, die zur conditio humana gehören und so an jedem Ort und zu jeder Zeit bestehen könn(t)en. Die Erzählung kreist um einen Hinrichtungsapparat, den ein Offizier der Strafkolonie zu Beginn der Erzählung einem Forschungsreisenden zeigt, der die Strafkolonie besucht. Die Strafkolonie hat einen neuen Kommandaten, der den Reisenden eingeladen hat, der Exekution eines Menschen zuzuschauen, der „wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten“ (S. 164) zum Tode verurteilt worden ist.3 Die Strafkolonie ist ein Ort des Gehorsams und der grenzenlosen 2 Diese Idee der Willensfreiheit entwickelt Bieri 2003. 3 Zitate aus der Textaugabe: Franz Kafka: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt am Main 1996. 2 Grausamkeit, die durch den zentralen Gegenstand der Erzählung, den Hinrichtungsapparat symbolisch verkörpert wird. Der Apparat besteht aus drei Teilen: Bett, Egge und Zeichner. Das Bett ist der untere Teil des Apparats, auf das die Verurteilten gelegt und mit einem Filzstumpf im Mund mit Riemen festgeschnallt werden. Die jeweilige Inschrift nennt das von den Verurteilten verletzte Gesetz. Die Egge schneidet den Text dieses Gesetzes in den Leib des Verurteilten ein, bis er qualvoll verblutet. Auf grausamste Weise vollendet die Egge den Prozeß der Indoktrination, die so sehr in das Denken der Menschen eindringt, dass sie nicht in der Lage sind, an der Gerechtigkeit der Gesetze und Strafurteile des Regimes zu zweifeln. Der Offizier erklärt dem Reisenden, welche Folgen die mit der Egge auf den Leib geschriebene Inschrift hat: .„Um die Augen beginnt es ... der Verstand geht dem Blödesten auf ... Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern“ (179). Nach einigen Stunden verblutet der Verurteilte. Mit sklavischer Bewunderung trauert der Offizier dem früheren Kommandanten nach, der den Hinrichtungsapparat in Perfektion konstruiert hat. Der verwunderte Reisende fragt nach den Fähigkeiten und Befugnissen des früheren Kommandanten: „Hat er denn alles in sich vereinigt? War er Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner?“ „Jawohl“, antwortet der Offizier (169). Die Bewohner der Strafkolonie sind davon überzeugt, dass es unmöglich ist, sich von ihrer Schuld zu befreien. Sie erfahren die Bestrafung buchstäblich am eigenen Leib bis zum Tod, der nach der Auffassung des Offiziers kein leidvolles, sondern angenehmes, erlösendes Erlebnis ist. In der Strafkolonie sind die Menschen lediglich Gegenstände, die dem Ziel der perfekten Funktionsweise der Bestrafung dienen. Das große Interesse des Offiziers an der lückenlosen Herrschaft der Gesetze des Regimes zeigt sich in seiner perfiden Faszination für die Perfektion des Hinrichtungsapparats. Der Offizier kennt jedes Detail der komplizierten Maschinerie, ärgert sich darüber, dass der Apparat nach jeder Hinrichtung verunreinigt wird und ist stolz darauf, dass der Apparat eine gläserne Egge hat, so dass die Ausführung der Todesurteile transparent ist. Nur er darf die Zeichnungen im oberen Teil des Apparats berühren und er gibt sie niemandem in die Hand. Nach dem Tod des früheren Kommandanten ist der Hinrichtungsapparat jedoch beschädigt und verliert allmählich seine perfekte Funktionsfähigkeit. Nachdrücklich bittet der Offizier den neuen Kommandanten der Kolonie um die Reparatur der beschädigten Teile, denn das allmähliche technische Versagen des Hinrichtungsapparats kündigt ihm den Untergang der bestehenden Diktatur der Strafkolonie an. 3 Der Reisende als Repräsentant der Humanität Der Forschungsreisende, der Gerechtigkeit und Humanität vertritt, besucht die Strafkolonie als ein Beobachter, der die Rechtssysteme verschiedener Staaten kennenlernen und erfahren möchte, ob sie die Gerechtigkeit und Menschenwürde achten. Zu seinem großen Erstaunen erfährt der Reisende, dass die Verurteilten ihr eigenes Urteil gar nicht kennen und noch nicht einmal wissen, dass sie verurteilt worden sind. Überaus verwundert ist der Reisende auch darüber, dass die Rechtsordnung der Strafkolonie auf dem folgenden Prinzip beruht: „Die Schuld ist immer zweifellos“ (174). Diesem Prinzip folgt der autokratische Verwaltungsstil in der Kolonie: Wenn ein Gericht aus mehreren Richtern besteht und ein Fall von mehreren zuständigen Behörden untersucht wird, sind Meinungsverschiedenheiten und mögliche Zweifel an der mutmaßlichen Straftat zugelassen. Der Offizier hat hingegen eine entgegengesetzte Einstellung und hegt nicht den geringsten Zweifel an der Wahrheit und Gerechtigkeit der Urteile, die in der Strafkolonie vollstreckt werden. Nicht Gerechtigkeit und Freiheit, sondern der Gehorsam bestimmt den sozialen Raum der Kolonie und seines Rechtssystems. Eines der Gesetze der Welt, aus der die Verurteilten in die Strafkolonie geschickt werden, lautet: „Ehre deinen Vorgesetzten!“ (173). Wer dieses Gesetz verletzt, wird zum Tode verurteilt. Für den Reisenden sind „die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution (...) zweifellos“ (181). Der Offizier weiß es und er sagt dem Reisenden: „Sie sind in europäischen Anschauungen befangen, vielleicht sind Sie ein grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe“ (185). Welche Mission möchte der Reisende erfüllen? Möchte er die Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit der Strafkolonie lediglich beschreiben und danach wieder seine Wege gehen oder möchte (und wird) er in das unmenschliche System der Strafkolonie eingreifen? Der Erzähler lässt uns wissen, dass der Reisende lediglich die Absicht hat, „zu sehen und keineswegs etwa (reist), um fremde Gerichtsverfassungen zu ändern“ (188). So scheint es zunächst zu sein. Am Anfang der Erzählung ist der Reisende in der Tat lediglich ein Beobachter. Am Ende wird er jedoch zum Gegner des Offiziers. 4 Das Übel der Manipulation Manipulation und Indoktrination üben ihr Unheil dadurch aus, dass die manipulativen Menschen das Denken, Wollen, Fühlen und Handeln anderer Menschen in ihrem eigenen Interesse beeinflussen und dabei in den anderen Menschen die Illusion eigener Entscheidungsfreiheit erzeugen. Diktatoren bestrafen diejenigen, die ihren Befehlen nicht folgen, ihren manipulativen Interessen nicht willfahren und lassen die Opfer sich schuldig fühlen. Für diese Form der Manipulation und Indoktrination steht in Kafkas Erzählung die Egge, der mittlere Teil des Hinrichtungsapparats. Die todbringende Egge „entspricht der Form des Menschen“ (172). Manipulation und Indoktrination gelingen dann, wenn die Opfer sich die manipulativen Interessen anderer Menschen zu eigen machen. Die Opfer der Manipulation wissen nicht um ihre eigene Unfreiheit und setzen sich deshalb nicht zur Wehr. Deshalb sind Manipulation und Indoktrination wirksamer als die offenkundige Unterdrückung von Menschen, die wissen, dass sie von Anderen unterdrückt werden und rebellieren, sobald sie es können. Trügerische Freiheit untergräbt den Widerstand der wirklichen Freiheit. Im manipulativen Raum der Strafkolonie herrscht illusorische Freiheit und darin besteht auch die elementare Ungerechtigkeit in der Strafkolonie. Als der zum Tode Verurteilte auf das Bett des Hinrichtungsapparats gelegt wird, behandelt ihn ein Soldat des Offiziers sehr grob. Der Offizier lauscht auf die Reaktion des Reisenden und nur zum Schein befiehlt er einem Soldaten, der die Exekution ausführen soll: „Stell ihn auf!“, „Behandle ihn sorgfältig!“ (177). Auch die Opfer der Diktatur sind gehorsam. Den zum Tode Verurteilten beschreibt der Erzähler so, dass er „so hündisch ergeben aus (sah), dass es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme“ (169). Die Verurteilten der Kolonie unterwerfen sich der manipulativen Gewalt; sie sind keine freien Menschen, sondern Sklaven. Der Dienstantritt des neuen Kommandanten in der Kolonie bringt das Fundament der früheren Regierung jedoch ins Wanken. Diese Tatsache wird auf raffinierte Weise in Kafkas Symbolik deutlich: Der Hinrichtungsapparat verliert allmählich seine Funktionsfähigkeit. Der Offizier versucht zwar mit aller Kraft, den Zusammenbruch der Maschine aufzuhalten, muss aber eingestehen, dass ihm die Macht des alten Kommandanten fehlt (182). In seiner Verzweiflung 5 sucht der Offizier den Reisenden für sich zu gewinnen: „Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort genügt. Es muss gar nicht Ihrer Überzeugung entsprechen, wenn es nur scheinbar seinem Wunsche entgegenkommt“ (185). „Unabgelenkt von falschen Einflüsterungen und verächtlichen Blicken – wie sie bei größerer Teilnahme an der Exekution nicht hätten vermieden werden können – haben Sie meine Erklärungen angehört, die Maschine gesehen und sind nun im Begriff, die Exekution zu besichtigen“ (187), sagt der Offizier dem Reisenden, um ihn für sich zu gewinnen. Das eigene Unglück des sklavisch gehorsamen Offiziers zeigt sich in seiner Verehrung des früheren Kommandanten und seiner stetigen Sorge um den behutsamen Umgang mit dem Hinrichtungsapparat. Der Offizier weiß: Wenn die Maschine nicht länger funktioniert, wird die Strafkolonie in ihrer früheren Form zerfallen. Zuletzt opfert der verzweifelt fanatische Offizier sein Leben für den Hinrichtungsapparat und das alte Regime. Er weiß, dass der neue Kommandant den Hinrichtungsapparat ablehnt, vermag der neuen politischen Herrschaft aber keinen Widerstand zu leisten, und so sieht er nur einen Ausweg: Zerbricht der Hinrichtungsapparat, möchte er sterben. Der neue Kommandant strebt nach Veränderungen und der Reisende unterstützt ihn darin. Der Offizier ist hingegen von der Hinrichtungsmaschine besessen. Die Maschine und ebenso die manipulative Doktrin, die sie verkörpert, brauchen beständige Erneuerung, um nicht zu zerfallen. Interessanterweise gesteht der Offizier im ersten Treffen, in der Besichtigung des Hinrichtungsapparats und vor dem Besuch der Exekution, dass einige Teile der Maschine beschädigt sind. Er spricht „von dem kreischenden Rad, den zerrissenen Riemen, dem widerlichen Filz“ (189). Der mangelhafte Zustand des Zahnrads bedeutet offenbar, dass die Grundlagen der herrschenden Doktrinen brüchig geworden sind. Der zerrissene Riemen deutet darauf hin, dass die Menschen bereit sind, Widerstand zu leisten und sich aus den Fesseln der manipulativen Herrschaft zu befreien. Der „widerliche Filzstumpf“ steht wiederum für die ungerechte, manipulative Herrschaft, die jede freie Meinungsäußerung buchstäblich erstickt. Bemerkenswerterweise beginnt die Auflösung der Hinrichtungsmaschine erst nach dem Tode des früheren Kommandanten der Strafkolonie. So wird deutlich, dass die manipulative Herrschaft in der Strafkolonie zerbricht, sobald ihre Verwalter die Macht verlieren, der Kolonie ihre Gesetze zu geben und deren Befolgung zu kontrollieren. Der Offizier scheint die Achtung der menschlichen Würde des humanistisch gesonnenen Reisenden zu kennen und er gibt sich den Anschein, selber ebenfalls die Würde der Menschen in der Strafkolonie zu respektieren. Er prahlt, die Ausführung der Urteile sei durchsichtig. Deshalb sei die Egge aus Glas. Der Offizier verhöhnt so die rechtliche 6 Transparenz eines Rechtsstaats. Wirkliche Gerechtigkeit erfordert in einem Rechtsstaat auch die Transparenz der rechtlichen Entscheidungen und ihrer Umsetzung durch die exekutive Gewalt. Die vergebliche List des Offiziers Mit großem Eifer verfolgt der Offizier eine manipulative List. Nach seinem Plan sollen die früheren Regeln und das Hinrichtungssystem der Strafkolonie unter den neuen Bedingungen der Herrschaft des neuen Kommandanten aufrechterhalten werden. Der Offizier möchte von der Anerkennung, die der neue Kommandant dem Forschungsreisenden entgegenbringt, profitieren. Er bittet den Reisenden an einer Sitzung teilzunehmen, in der, unter dem Vorsitz des neuen Kommandanten, über die künftige Gesetzgebung, die Ausführung der Strafmaßnahmen und damit auch über die Hinrichtungsmaschine entschieden wird. Der Reisende möge dem Kommandanten mitteilen oder jedenfalls signalisieren, dass auch er mit dem mangelhaften Zustand der Hinrichtungsmaschine unzufrieden ist und den Offizier auf diese Weise in seiner Absicht unterstützen, den neuen Kommandanten so zu manipulieren, dass er sich die Überzeugung des Offiziers zu eigen macht: „Sie müssen gar nicht selbst von der mangelnden Teilnahme an der Exekution, von dem kreischenden Rad, dem zerrissenen Riemen, dem widerlichen Filz reden, nein, alles weitere übernehme ich, und glauben Sie, wenn ihn meine Rede nicht aus dem Saale jagt, so wird sie ihn auf die Knie zwingen, daß er bekennen muß: Alter Kommandant, vor dir beuge ich mich. – Das ist mein Plan; wollen Sie mir zu seiner Ausführung helfen? Aber natürlich wollen Sie, mehr als das, Sie müssen“ (188). Die Antwort des Reisenden ist unmissverständlich klar: „Nein.“, „Ich bin ein Gegner dieses Verfahrens“ (188). Der Offizier versteht diese Antwort als Ausdruck einer humanistischen Einstellung und ihrer Kritik am inhumanen Rechtssystem der Strafkolonie. Der Offizier nimmt den Reisenden nur deshalb scheinbar ernst, weil er „ein großer Forscher“ ist (186), doch die Bedeutung seiner Worte vermag er nicht zu verstehen. Nachdem der Offizier erkennt, dass seine List gescheitert ist, will er selbst in der Hinrichtungsmaschine sterben. Beide Antagonisten der Erzählung, der Offizier und ebenso der Reisende, vertreten ihre Überzeugungen mit letzter Konsequenz. Der Offizier ist bereit, für seine Überzeugung zu sterben und „der Reisende hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt“ (193). Der Erzähler lässt es offen, ob sich der Offizier letztlich über die Ungerechtigkeit der Strafkolonie im Klaren ist. Jedenfalls ist seine letzte Handlung konsequent: Er befreit den in dem 7 Hinrichtungsapparat liegenden, gefolterten Verurteilten mit den Worten: „Du bist frei“ (191) und legt sich selbst in den Apparat. Bemerkenswerterweise setzt der Offizier die Inschrift: „Sei gerecht!“ (191) in den Zeichner. Das Unglück des sklavischen Gehorsams kommt in Kafkas Erzählung vollends darin zum Ausdruck, dass der Offizier sich freiwillig entscheidet, sich in die Hinrichtungsmaschine zu legen. Der Reisende sieht die Verzweiflung im Gesicht des sterbenden Offiziers: „kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken, was alle anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht“ (196). Das gemarterte Gesicht des sterbenden Offiziers zeigt wohl, dass er im Sterben selbst am eigenen Leibe erfährt, dass die manipulative Doktrin, durch Folterqualen Erlösung zu erlangen, eine perfide Täuschung ist. Weshalb übernimmt der Offizier den Platz des Verurteilten? Diese Szene ist wohl der Höhepunkt der Erzählung. Wie verhält sich der Verurteilte im unerwarteten Rollentausch mit dem Offizier? Haben der Offizier und der Verurteilte das Übel der trügerischen, indoktrinierten Freiheit verstanden? Offenbar nicht. Hätte der Offizier die Ungerechtigkeit der Manipulation schließlich erkannt, so hätte er sich nicht selbst durch den Hinrichtungsapparat getötet, sondern vielmehr den Verurteilten befreit und die Maschine zerstört und keine weiteren Hinrichtungen vollstreckt. Der Offizier scheint sich jedoch dafür selbst zu bestrafen, dass es ihm nicht gelungen ist, die Hinrichtungsmaschine aufrechtzuerhalten. Auch der Verurteilte befreit sich nicht wirklich aus seiner gedanklichen Unfreiheit. „Besonders der Verurteilte schien von der Ahnung irgendeines großen Umschwungs getroffen zu sein. Was ihm geschehen war, geschah nun dem Offizier. Vielleicht würde es so bis zum Äußersten gehen. Wahrscheinlich hatte der fremde Reisende den Befehl dazu gegeben. Das war also Rache. Ohne selbst bis zum Ende gelitten zu haben, wurde er doch bis zum Ende gerächt. Ein breites, lautloses Lachen erschien nun auf seinem Gesicht und verschwand nicht mehr“ (193 f.). Der Verurteilte versteht nicht, dass der Offizier seine eigene verblendete Überzeugung von der Gerechtigkeit des Hinrichtungsapparats nur dadurch aufrechterhalten kann, dass er sich, mit der Inschrift „Sei gerecht!“, selbst bestraft. Er glaubt irrtümlich, der Reisende habe dem Offizier aus Rache an der Diktatur der Unmenschlichkeit den Selbstmord befohlen. Das lautlose Lachen auf dem Gesicht des befreiten Verurteilten, das nicht mehr verschwand, ist offenbar kein befreites, glückliches Lachen, sondern wohl eine Grimasse, ein Ausdruck seiner gedanklichen Unfreiheit. Wie es scheint, erfreut sich der vormals Verurteilte zwar der Freiheit, die ihm vom Offizier willkürlich gewährt ward, vermag jedoch nicht zu verstehen, dass eine Freiheit, die aus Rache und Vergeltung gewährt wird, ebenfalls illusorisch ist. 8 Die Freiheit, die ein Rechtsstaat garantiert, ist Freiheit für jeden Menschen. Wenn die soziale Welt der Kolonie nur durch die selbstzerstörerische Willkür des Offiziers einem zuvor verurteilten Menschen zur unverhofften Freiheit verhilft, dann bleibt diese Welt auch für den zuvor verurteilten Menschen eine beständige Todesgefahr. Die wahre Freiheit der Bewohner der Strafkolonie bestünde in der endgültigen Zerstörung des Hinrichtungsapparats, d. h. in der Auflösung der Gesellschaftsform, die den Menschen ihre gedankliche Freiheit raubt. Solange der Offizier und der vormals Verurteilte lediglich ihre Rollen tauschen, bleibt die Freiheit illusorisch. Am Ende zerfällt zwar der Hinrichtungsapparat: Die Zahnräder zerbrechen, die Egge schreibt nicht mehr, der ganze Mechanismus funktioniert nicht mehr. Die Hinrichtungsmaschine zerbricht, doch die gedankliche Unfreiheit der Bewohner der Kolonie bleibt bestehen, solange sie weiterhin in einer Illusion der Freiheit gefangen sind und nicht verstehen, dass Freiheit nicht lediglich die Befreiung eines einzelnen Menschen aus der Hinrichtungsmaschine, sondern vielmehr die Freiheit (und Rechtssicherheit) jedes Menschen ist. Freiheit erfordert die Universalität der Gerechtigkeit. Solange diese wirklich gerechte Freiheit nicht besteht, setzt die Hinrichtungsmaschine ihr tödliches Werk in einer gewissen Weise, nämlich in der Form neuer gedanklicher Unfreiheit fort – und der Reisende weiß es. Das Ende der Erzählung – eine weitere Illusion der Freiheit Mit dem Zusammenbruch des Hinrichtungsapparats zerfällt das frühere diktatorische Regime der Strafkolonie. Die todbringende Maschine zerbricht, der Offizier stirbt, der zum Tode Verurteilte wird befreit – und dennoch bleibt die Gesellschaft der Strafkolonie im Bann des Gehorsams gefangen, denn viele Bewohner scheinen an die Auferstehung des früheren Kommandanten und die „Wiedereroberung der Kolonie“ zu glauben – und vielleicht gar gehorsam darauf zu hoffen. Das bleibt in der Erzählung offen. Der fortwährende Bann der Indoktrination wird in einer Episode im Schlussteil der Erzählung indes klar: Der Reisende interessiert sich für die Grabstätte des früheren Kommandanten. Er wird in ein Teehaus geführt, in dem eine Grabstätte errichtet wurde, da die Kirche der Kolonie die Bestattung eines Vertreters des alten Regimes auf einem öffentlichen Friedhof verweigert hatte. Die Inschrift auf dem Grabstein prophezeit eine Wiederauferstehung des Kommandanten und seine Wiedereroberung der Kolonie: „Hier ruht nun der Kommandant. Seine Anhänger, die jetzt keinen Namen tragen dürfen, haben ihm das Grab gegraben und den 9 Stein gesetzt. Es besteht eine Prophezeiung, daß der Kommandant nach einer bestimmten Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird. Glaubet und wartet!“ (198). Der Reisende liest und versteht; er entflieht dieser weiterhin indoktrinierten Welt und erlaubt es dem Verurteilten und dem Soldaten nicht, in sein Boot zu steigen und Bürger einer humanen, gerechten Welt zu werden, denn er weiß, dass sie nicht wirklich verstehen, was es bedeutet(e), ein Leben in Gerechtigkeit und Freiheit zu führen. Die Flucht des Reisenden aus der Kolonie entspringt offenbar seiner Klarheit darüber, dass eine Gemeinschaft, die von Manipulation und Gehorsam bestimmt ist, die Idee der Freiheit nicht versteht und deshalb keine wirkliche Freiheit aus dem Verstehen heraus wollen kann. Nach der Veränderung der sozialen Verhältnisse in der Strafkolonie tauschen die Menschen lediglich ihre Rollen; der vormals Verurteilte ist nun ein freier Mensch und der Offizier verurteilt sich selbst. Aber die ungerechten, manipulativen Verhältnisse der sozialen Welt der Kolonie haben sich nicht verändert. In der gedanklichen Unfreiheit der Bürger der Strafkolonie setzt die Hinrichtungsmaschine ihr Werk fort. Die Maschine wirkt für sich. Befreiung geschähe erst durch die Entdeckung der gedanklichen Selbstbestimmung – jenseits jeder Manipulation. Zwei interpretatorische Fragen bleiben offen: Weshalb verlässt der Reisende die Strafkolonie, anstatt (jedenfalls für eine gewisse Zeit) dort zu bleiben, um in die bestehenden Verhältnisse einzugreifen? Wenn der Reisende weiß, dass er dazu beitragen kann, in der Strafkolonie Gerechtigkeit zu schaffen und wenn er seine eigene Überzeugung von der Gerechtigkeit mit anderen Menschen teilen, ihnen also ebenfalls zu einem Leben in Gerechtigkeit verhelfen wollte, dann würde er versuchen, in der bisherigen Strafkolonie Gerechtigkeit zu schaffen. Weshalb tut er es nicht? Wäre sein Rettungsversuch vergeblich? Literatur Bieri, P. 2003. Das Handwerk der Freiheit, München. Blößner, N. 1997. Dialogform und Argument. Studien zu Platons ‚Politeia’, Stuttgart. Hardy, J. 2011. Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates. Göttingen. Kafka, F. 1996. Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt am Main. 10 Penner, T. 2005. Socratic Ethics: Ultra-Realism, Determinism, and Ethical Truth, in: Christopher Gill (Hrsg.), Virtue, Norms, and Objectivity. Issues in Ancient and Modern Ethics, Oxford, S. 157187. Reshotko, N. 2006. Socratic Virtue. Making the Best of the Neither-Good-nor-Bad, Cambridge. Rudebusch, G. 1999. Socrates, Pleasure, and Value, Oxford. Stemmer, P. 1988. „Der Grundriß der platonischen Ethik“. Zeitschrift für philosophische Forschung 42, 529-569. 11