Thomas Sablowski / Judith Dellheim / Alex Demirović /
Katharina Pühl / Ingar Solty (Hrsg.)
Auf den Schultern von Karl Marx
WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
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Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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1. Auflage Münster 2021
© 2021 Verlag Westfälisches Dampfboot
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Lütke Fahle Seifert AGD, Münster
Druck: Rosch-Buch Druckerei GmbH, Scheßlitz
Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier
ISBN 978-3-89691-259-6
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
1. Marx neu gelesen
Michael Brie
Marx’ kommunistischer Dämon. Wie ist ein Verein freier Menschen möglich?
21
Hermann Klenner
Marx und das Recht: Annäherungen
35
Emanuel Kapfinger
Marx’ Kritik der Philosophie in den Pariser Manuskripten
49
Ulrich Ruschig
Zum Begriff der Gerechtigkeit bei Marx
67
Alex Demirović
Der Wirklichkeitsstatus der bürgerlichen Gesellschaft. Zu Marx’ Kritik der
Vorgeschichte als Traumgeschichte
83
Stefano Breda
Der marxsche und der vormarxsche Begriff des fiktiven Kapitals
Zur Entstehungsgeschichte einer begrifflichen Konfusion
109
Kohei Saito
Das intellektuelle Verhältnis von Marx und Engels aus ökologischer Perspektive:
Eine Neubewertung
125
Karl Heinz Roth
Marx und die revolutionären Umbrüche seiner Zeit: Vom eurozentrischen
Determinismus zu einer global offenen Perspektive
141
Emanuela Conversano
Vom Nutzen und Nachteil der historischen Analogie für die Praxis. Bemerkungen
über Marx’ späte Studien
179
Lutz Brangsch
Die Herausforderung der Differenz
193
2. Marxismen: Weiterentwicklungen und Kritiken
John Lütten
Zum Gebrauchswert des Klassenbegriffs
207
Helmut Dahmer
Freud, Marx und das Problem der „Mentalität(en)“
227
Mariana Schütt
Freud und Marx zusammendenken – Adornos Analysen zur Affektdynamik in der
bürgerlichen Gesellschaft. Affekte im Zentrum sozialwissenschaftlicher Untersuchungen 257
Michael Zander
„Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt.“
Ideologie als psychologisches Problem
271
Leonie Knebel
Kritische Psychologie als historisch-materialistische Subjektwissenschaft
281
Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln
297
María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan
Marxistisch oder postkolonial? Falsche Fragen zur falschen Zeit
311
Ruth Sonderegger
Für eine Episteme sinnlicher Praktiken jenseits der kunsttheoretischen Ästhetik
325
3. Mit Marx den gegenwärtigen Kapitalismus analysieren
Frieder Otto Wolf
Probleme der konkreten Analyse der konkreten Situation
Ein Re-Orientierungsversuch
343
Florian Butollo / Patricia de Paiva Lareiro
Technikutopien und säkulare Stagnation: Der Kapitalismus als Treiber und Schranke
des Digitalen
359
Judith Dellheim
„Kein Kampf für Classenprivilegien und Monopole“. Zur Kategorie „Monopol“
in der Kritik der politischen Ökonomie und zu ihrer Anwendung in moderner
„Globalisierungskritik“
377
Nicole Mayer-Ahuja
Streit um Zeit. Marx’ Beitrag zur Analyse von aktuellen Veränderungen der Arbeitswelt
395
Ingrid Artus
Ein marxistischer Blick auf neue Konturen der Erwerbsarbeit: Prekarisierung,
Sorgekrise und neue Streiks
411
Roland Atzmüller
Reproduktion durch Veränderung. Arbeitskraft zwischen Wohlfahrtsstaat und
humankapitalorientierter Subjektivierung
425
Bernd Belina / Susanne Heeg
Wohnen mit Marx
439
Jürgen Leibiger
Über sinkende Zinsen, die Euthanasie der Rentiers und das Ende des Kapitalismus
455
Ingar Solty
Brauchen wir eine vierte Welle der marxistischen Imperialismustheorie?
485
Jens Wissel
Materialistische Staatstheorie und die Veränderung von Staat und Politik in der
Europäischen Union
505
Stefan Schmalz
Krisentendenzen in der internationalen Arbeitsteilung. Gedanken zum Aufstieg
Chinas im Anschluss an Marx
521
Ingo Schmidt
Große Krisen und die Rechte. Erklärungen, Feindbestimmung und Lösungsvorschläge
von den 1870er Jahren bis heute
533
Autor*innen und Herausgeber*innen
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
546
552
Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln
„Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren,
wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“
Karl Marx, Das Kapital 1867
Immer wenn verstärkt rassistische Tendenzen offen im liberal-demokratischen Deutschland zutage
treten, wird auch vermehrt diskutiert, wie wir Rassismus in seinen konjunkturellen Wandlungen
verstehen und wie wir diese Form von Menschenverachtung nachhaltig bekämpfen können. Nach
dem „langen Sommer der Migration“ 2015/2016 hat sich die Stimmung gegen Asylsuchende und
Muslim*innen wesentlich verschärft. Dies zeigte sich in den wöchentlichen Protesten von PEGIDA
in ganz Deutschland, dem Erstarken von rechten und nationalistischen Bewegungen wie den Identitären, sowie dem Einzug der rechten und offen rassistischen Alternative für Deutschland (AfD)
als drittstärkste Kraft mit 12,6% in den Bundestag bei den Bundestagswahlen im September 2017.
Die Intensivierung der Krise des europäischen Imperialismus und seines Grenzregimes ab dem
Sommer 2015 hat dabei zu spürbaren materiellen Verschlechterungen für Asylsuchende – vollere
Zwangsunterkünfte, endlose Verfahren etc. – und zu einer Zunahme von rassistischen Übergriffen
in Deutschland generell geführt.1 Auch wenn die Verstärkung der aktuellen gesamtgesellschaftlich
rassistischen Atmosphäre in Deutschland wesentlich von der medial dominanten Asyldebatte
geprägt ist, muss festgestellt werden, dass sich Rassismen nicht nur im Rahmen von Angriffen
auf (vermeintliche) Asylsuchende zeigen, sondern im Leben von nichtweißen und migrantischen
Menschen in Deutschland in einer brutalen Alltäglichkeit erfahrbar sind. Debatten um Rassismus
auf den Themenkomplex Flucht und Asyl zu reduzieren, wie auch viele Linke dies gerne tun, ist
unzureichend und führt zu einer Unsichtbarmachung der komplexen rassistischen Realität der
Bundesrepublik Deutschland. Wir denken, dass die Diskussionen und politischen Maßnahmen
rund um das Thema Flucht und Asyl wichtig und zentral für eine antirassistische Praxis sowie
eine damit organisch verbundene Theoriebildung sind, wollen jedoch darüber hinausgehen und
fragen: Wie muss eine nachhaltige, marxistische Theoriebildung zu Rassismus und Antirassismus
für Deutschland heute aussehen? Vor allem, weil der Begriff, mit dem ein Problem beschrieben
wird, direkte Rückschlüsse auf die Methoden zur Lösung dieses Problems bietet.
Wir gehen seit einigen Jahren dieser Frage auf den Grund und sehen, dass es im deutschsprachigen Raum an einer Übersetzung und Rezeption von internationalen Schlüsselautor*innen
1 Statistiken sind hier trügerisch, da viele Angriffe von den Betroffenen nicht angezeigt oder anderweitig
öffentlich gemacht werden. Die zugänglichen Zahlen – Anzeigen bei der Polizei sowie Chroniken
anhand von Rekonstruktionen über Zeitungsartikel und Zeugenaussagen zeigen den explosionsartigen
Aufwärtstrend ab 2015 deutlich: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%Bcchtlingsfeindliche_
Angriffe_in_der_Bundesrepublik_Deutschland, https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/
chronik-vorfaelle und https://mediendienst-integration.de/desintegration/rassismus.html.
298
Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
marxistischer Rassismusanalysen fehlt. Zwar wurden einige Schlüsselwerke ins Deutsche übersetzt,
etwa Robert Miles „Rassismus: Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs“ (1991,
englisches Original: 1989), oder auch Keeanga-Yamahtta Taylors „Von #BlackLivesMatter zu
Black Liberation“ (2017), jedoch gibt es einen riesigen Kanon an vor allem englischsprachiger
marxistischer Literatur zu ‘Rasse‘2 und Rassismus, welche keinen Eingang in die deutschsprachigen Diskussionen gefunden hat. Beispielhafte Autor*innen aus den USA und Großbritannien
sind Adolph Reed Jr., Robin D. G. Kelly, Sharon Smith, Mike Cole, Paul Heidemann, Satnam
Virdee oder auch David Roediger. Hinzu kommt die im deutschsprachigem Raum sehr periphere
Rezeption wichtiger marxistischer Schlüsselwerke zur Diskussion um Eurozentrismus und Postkoloniale Theorie wie Vivek Chibbers „Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals“
(2018) sowie Kevin B. Andersons „Marx at the Margins: On Nationalism, Ethnicity, and NonWestern Societies“ (2016), welches bis jetzt nicht auf Deutsch erschienen ist. Eigene Analysen, die
den deutschen Kontext in seinen historisch spezifischen Bedingungen analysieren, gibt es dabei
noch weniger. Zu den wenigen marxistischen Analysen aus Deutschland zählen „Wertgesetz und
Rassismus“ (1976) von Peter Schmitt-Egner, der Rassismus als notwendige Bewusstseinsform der
bürgerlichen Gesellschaft aus dem marxschen Wertgesetz ableitet, und „Rassismus und Ökonomie“
(1989) von Werner Ruf, der im Anschluss an die Analysen von Schmitt-Egner den Rassismus der
deutschen Einwanderungsgesellschaft analysiert. Diese beiden Analysen bleiben jedoch auf einer
formanalytischen Ebene, die praktisch politische Einordnung von Rassismus, auch als konkretes
Herrschaftsinstrument, fehlt dagegen weiterhin.
Auch linke und sich auf den Marxismus berufende Diskussionen um Rassismus und Antirassismus bedienen sich daher liberaler Ansätze, die meist auf einem nicht weiter spezifizierten
Intersektionalitätsansatz aufbauen oder sich ohne konkretes Programm auf eine „Neue Klassenpolitik“ berufen (siehe Friedrich/Redaktion Analyse & Kritik 2018), ohne eine gesonderte
Analyse der Genese des Rassismus in Deutschland und eine Bilanz als antirassistisch markierter
Kämpfe vorzunehmen. So behaupten viele Linke zwar einen abstrakten Zusammenhang von
Rassismus und Kapitalismus, dieser kann jedoch selten erklärt werden. Oft münden damit auch
diese linken Analysen in der Erarbeitung weiterer Konzepte innerhalb der Vorurteilspädagogik
und vernachlässigen den ökonomischen Kampf komplett.
Anschließend an den 2017 im Lower Class Magazine erschienenen Artikel „Zur Lage des Antirassismus“ von Amanda Trelles Aquino, Can Yıldız und Ward Jazani wollen wir aufzeigen, was
eine marxistische Begriffsbestimmung von Rassismus heute aufweisen muss, wie eine marxistische
Kritik am liberalen Antirassismus aussehen kann und welche programmatischen Perspektiven
sich für die Zentralität des Kampfes gegen Rassismus im Klassenkampf in Deutschland ergeben.
2 Wir benutzen das Wort ‘Rasse’, um auf den Rassifizierungsprozess hinzuweisen, welcher Menschen ob
biologistisch oder kulturalistisch weiterhin in angeblich separate Menschengruppen fasst und reale,
materielle sowie psychische Auswirkungen auf alle Gesellschaftsmitglieder hat (vgl. Miles 1989). Durch
die Setzung des Konzeptes in einfache Anführungszeichen, soll aufgezeigt werden, dass es sich um
eine analytische Kategorie handelt, eine Idee als soziale Konstruktion, dessen Grundprämissen wir als
antirassistische Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen bekämpfen (vgl. Cole 2016). Wir denken,
dass wir nicht über Rassismus sprechen können, ohne die ihm zugrunde liegende Kategorie der ‘Rasse’
zu benennen.
Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln
299
1. Begriffsbestimmung: Was ist Rassismus im Kapitalismus?
Um Rassismus im Kapitalismus bestimmen zu können, müssen wir zurück zu den Wurzeln:
daher beginnen wir bei Marx. In seinen Ausführungen zur ursprünglichen Akkumulation führt
Marx die Rolle von Kolonialismus und Sklaverei für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise an. „Der außerhalb Europa direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord
erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital“ (MEW 23,
781). Die kapitalistische Produktionsweise schafft sich damit einen globalen Markt für Rohstoffe
und Arbeitskräfte. Die Rolle der Kolonien und der Kolonisierten ist damit die Bereitstellung
von Rohstoffen für die Weiterverarbeitung in Europa, sowie von Waren, die in der europäischen
Metropole konsumiert werden. Innerhalb der Kolonien wiederum werden in diesem Prozess die
politischen und sozialen Verhältnisse zerstört (MEW 23, 475).
„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung
der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von
Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen
die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente
der ursprünglichen Akkumulation.“ (MEW 23, 779)
Dabei ist nicht nur die Entwicklung des Weltmarktes asymmetrisch, sondern auch die Form der
Arbeit von europäischen Arbeiter*innen und Kolonisierten: „Überhaupt bedurfte die verhüllte
Sklaverei der Lohnarbeiter in Europa zum Piedestal die Sklaverei sans phrase in der neuen Welt“
(MEW 23, 787). Sklaverei ist damit nicht etwa eine präkapitalistische Form der Arbeit, sondern
ein relevanter Bestandteil der Kapitalakkumulation. Diese Differenz zwischen „Ausbeutung und
Überausbeutung“ (Balibar 1998, 269) ist die Existenzbedingung für Rassismus, nicht seine Folge.
Vor dem Kapitalismus hat es keinen Versuch gegeben, Rassismus wissenschaftlich zu begründen.
Die ersten biologistischen Rassentheorien wurden im 18. Jahrhundert ausformuliert, während der
Kolonialismus bereits im 15. Jahrhundert begann. Darüber hinaus schreibt der US-amerikanische
Historiker Winthrop Jordan über die ersten Begegnungen zwischen englischen Reisenden und
Kaufmännern und Afrikaner*innen, dass die Begegnungen nicht durch rassistische Vorurteile
geprägt waren, Rassismus also keine notwendige Reaktion war (Jordan 2000, 33).3 Rassismus
muss demnach einen anderen Ursprung haben. Auch die Klassengesellschaft in England musste
mit Gewalt durchgesetzt werden. Aufrecht erhält sie sich in den meisten westlichen Industriestaaten allerdings durch das abstrakte Recht, vor allem die menschenrechtlichen Prinzipien
von Freiheit und Gleichheit, welche über die Verallgemeinerung der Lohnarbeit und das kapitalistische Wertgesetz etabliert werden (MEW 23, 190). In der Kolonie ist das ökonomische
Ausbeutungsverhältnis deckungsgleich mit dem politischen Gewaltverhältnis (vgl. Miles 1989,
138). Peter Schmitt-Egner zeigt, wie diese unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in der Form
auch den Inhalt des Rassismus darstellen. Da die Kolonisierten keinen rechtlichen Anspruch auf
den Normalarbeitstag von 8 Stunden, der in der Metropole Anfang des 20. Jahrhunderts durch
die Arbeiterbewegung erkämpft wurde, hatten, mussten sie weit darüber hinaus arbeiten. Der
Wert ihrer Arbeitskraft liegt unter dem Wert der Arbeitskraft, der durch den gesellschaftlichen
Durchschnitt in der Metropole festgelegt wird. Sie werden damit, so Schmitt-Egner, buchstäb3 Wenn das Zitierte im Literaturverzeichnis auf Englisch angeführt ist, sind alle Übersetzungen unsere
eigenen.
300
Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
lich minderwertig. Indem beim Kolonisierungsprozess außerdem alle sozialen und kulturellen
Institutionen zerstört wurden und der Lohn der Kolonisierten in Lebensmitteln ausbezahlt wird,
leben sie auf ihre physische Erhaltung hin und damit auf ihre Natur reduziert. In der bürgerlichen
Gesellschaft, in der menschliche Subjektivität vor allem über Kultur und in Abgrenzung zur Natur
bestimmt wird, gelten die Kolonisierten als kulturlose, quasi tierische Wesen. Da in der Kolonie
der Wert der Ware Arbeitskraft so niedrig ist, war der Einsatz oft weit günstiger als der Einsatz
von Maschinen, sodass die Kolonisierten auf Handarbeit reduzierte und damit dequalifizierte
Arbeiten erledigen mussten, die weit unter dem historisch-technischen Niveau der Zeit lagen.
Sie galten somit als unterentwickelt. „Fest steht für den Rassisten, dass die Billig-Arbeitskräfte,
welcher Nation, Kultur oder Rasse sie entstammen mögen, den Schritt zum mitteleuropäischen
Kulturmenschen allesamt noch nicht geschafft haben“ (Ruf 1989, 78).
Rassismus ergibt sich damit sowohl formal als auch inhaltlich aus den Bedingungen der kapitalistischen Produktion. Es ist dabei keineswegs bestimmend, dass körperliche Unterschiede
als ideologische Marker der Unterscheidung gelten. Sie wurden quasi-zufällig im Nachhinein
herangezogen, um die ökonomische Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Überausbeutung
ideologisch zu verklären, die Differenz geht damit über die Sphäre des rein Ökonomischen hinaus.
„Vor dem Hintergrund der Sklaverei war aus der Hautfarbe ein soziales Zeichen gemacht worden, das
natürliche Minderwertigkeit signalisieren sollte und unabhängig von ihrem sozialen Status gegenüber
allen geltend gemacht wurde, die sich irgendwie als Neger stigmatisieren ließen.“ (Hund 2007, 31)
Während Afrikaner*in sein bzw. dunkle Haut zu haben, nicht unbedingt bedeuten musste,
versklavt zu sein oder unfreie Arbeit zu verrichten, waren aber die Versklavten in den Amerikas, nach der massiven und teilweise gänzlichen Auslöschung der indigenen Bevölkerung, alle
Afrikaner*innen und hatten dunkle Haut. Dies erschien als natürliche Differenz (vgl. Chang
1985, 42). Daraus ergibt sich die berühmte Feststellung von Eric Williams, dass Rassismus von
Sklaverei kommt und nicht Sklaverei von Rassismus (Williams 1944, 7).
Teil der Schaffung des globalen Marktes ist die größere Mobilität von Arbeitskräften. Dies lässt
sich nicht nur am Kolonisierungsprozess oder im Imperialismus nachvollziehen, sondern auch in
der Arbeitsmigration, wie sie beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland stattgefunden hat. Der Wiederaufbau des Landes erforderte Arbeitskräfte, und die Nachfrage konnte
durch die deutsche Bevölkerung nicht bzw. nicht billig genug gedeckt werden. Die Anstellung von
Gastarbeiter*innen in der BRD eignete sich dabei auf besondere Weise, weil laut Dachverband
der Deutschen Arbeitgeberverbände Arbeitsmarktanforderungen nach oben und nach unten
angeglichen werden konnten (Nikolinakos 1973, 68). Das bedeutet, dass es die Gastarbeiter*innen
waren, die man konjunkturbedingt entlassen oder auf die man als Reserve zugreifen konnte.
Das wurde durch die Gesetzgebung und das sogenannte Inländerprimat, welches bis heute gilt,
auch institutionalisiert. Die Einbindung ausländischer Arbeitskräfte in die unteren Sektoren des
Arbeitsmarkes war Grundlage für eine ethnische Hierarchisierung und Segmentierung in der
gesellschaftlichen Produktion. Ähnlich wie im Falle der Kolonien ergibt sich auch hier aus der
Unterscheidung von Ausbeutung und Überausbeutung der Rassismus.
Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln
301
2. Rassismus und Konkurrenz
Als politisches Instrument ist Rassismus „Agens einer Zersetzung des ‘Klassenbewusstseins’“
(Balibar 1998a, 27). Stuart Hall beschrieb bereits, wie Arbeitskämpfe in Südafrika zum Beispiel
zerschlagen wurden, indem bei weißen Arbeiter*innen durch rassistische Argumente eine Identifikation mit weißen Kapitalist*innen, statt schwarzen Arbeiter*innen, geschaffen wurde (vgl.
Hall 1994, 103; ebd. 131f.).
Neben diesem rational-funktionalen Aspekt kommt ein weiteres Moment des Rassismus hinzu:
Indem er dehumanisiert und damit als Legitimation und Rationalisierung von Gewaltverhältnissen dient, kann er genauso in Hass umschlagen (vgl. Hund 2007, 32). In bestimmten Formen
kolonialer Gewalt oder im Genozid ist es schwer, ein funktionales oder rationales Moment zu
erkennen. Den Rassismus allerdings auf seine extremsten Ausprägungen zu reduzieren, verkennt
seine alltäglichen Dimensionen. Aus der Überausbeutung Schwarzer/Brauner/migrantischer
Arbeiter*innen, entsteht auch die Konkurrenz zwischen ihnen und den weißen/nicht-migrantischen Arbeiter*innen. Marx stellt dies in Bezug auf das Verhältnis von irischen und englischen
Arbeitern dar.
„Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in
zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche
englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life
[Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und
macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt
damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er
verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor white [armen Weißen] zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. […] Der Irländer […] sieht zugleich in dem englischen Arbeiter
den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.“ (MEW 32, 668f.)
Die Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Arbeiter*innen ist zwar real, aber die fälschlich
angenommene Vorstellung der lohndrückenden Konkurrenten ist ein zu Unrecht verallgemeinerter rechter Mythos (vgl. Nikolinakos 1973, 95). Vielmehr bilden die Überausgebeuteten, ob
sie nun Kolonisierte oder Migrant*innen sind, einen Puffer nach unten. Nach Berechnungen
des Migrationsforschers Friedrich Heckmann sind ca. 2,3 Millionen Deutsche von Arbeiter- in
Angestelltenpositionen gerückt (vgl. Heckmann 1981, zitiert in Karakayalı 2008, 104). Dieser
Puffer rettet weiße Arbeiter*innen vor dem Abstieg in die unterste Stufe der sozialen Hierarchie
und schafft damit ein Interesse an der Aufrechterhaltung einer rassistischen Unterscheidung. Der
deutsche Diskurs um sogenannte Integration lässt sich vor allem in diesem Kontext nachvollziehen.
Erst mit der Niederlassung der Gastarbeitergeneration und der verstärkten Konkurrenz auf dem
Arbeits- und Wohnungsmarkt, in Schulen und um gesellschaftliche Teilhabe wurden Fragen der
„Integration“ relevant:
„Hierzu ist zu bedenken, daß erst in den siebziger Jahren, vor allem seit der zunehmenden Familienzusammenführung nach dem Anwerbestopp von 1973, Türken in großer Zahl von isoliert lebenden
exotischen Heimbewohnern zu einem Teil der normalen Wohnbevölkerung wurden, der mit den
Deutschen um Wohnungen konkurrierte und in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen
präsent war.“ (Jamin 1999, 160f.)
Dieses Konkurrenzverhältnis bietet die Möglichkeit, in der Krise soziale Probleme wie Wohnungslosigkeit, Kriminalität und soziale Deklassierung rassistisch zu rationalisieren (vgl. Balibar 1998b,
264). Das Paradoxe an der Integrationsforderung ist, dass kulturelle „Fremdheit“ nur oberflächlich
302
Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
das Problem zu sein scheint. Hier lässt sich ein Zusammenhang zwischen Rassifizierung und
Klasse feststellen. Genauso, wie es in vielen vermeintlich antirassistischen Argumenten Positivbezüge auf gut qualifizierte und gebildete Migrant*innen gibt, so gibt es auch ein Ressentiment
gegen aufsteigende Migrant*innen: „Türkische Putzfrauen lassen sich eben besser verkraften
als syrische Hautärztinnen“ (Castro Varela 2015, 92). Der Aufstieg eines Großteils der ehemaligen Gastarbeiter*innen und der nachfolgenden Generationen in qualifiziertere Arbeiter- und
Angestelltenpositionen sowie Selbstständigkeit bedeutet ein direktes Konkurrenzverhältnis zu
nicht-migrantischen Arbeiter*innen. Die Anwesenheit der Migrant*innen wird also solange nicht
problematisiert, solange sie in den ihnen zugewiesenen sozialen Positionen bleiben.
3. Ein marxistischer Rassismusbegriff
Der liberale Antirassismus der westlichen Gesellschaften entwickelte seinen Rassismusbegriff vor
dem Hintergrund des biologistisch argumentierenden Rassismus (vgl. Bojadžijev 2008, 22). Der
neue Rassismus äußert sich allerdings vor allem durch kulturalistische Argumente (Balibar 1998a).
Für den neuen Rassismus wird diskursiv eher von Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit
oder Xenophobie gesprochen. Rassismus ist aber ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, die
auf unterschiedliche Weise in die Produktion miteinbezogen und ausgebeutet werden. Er ist
damit zum einen nicht auf eine bestimmte, hier biologistische, Argumentation angewiesen. Er
richtet sich zum anderen nicht gegen „Fremde“, sondern findet vor allem innerhalb von Gesellschaften statt (vgl. Chang 1985, 39). Kulturalismus und Biologismus sind beides Bestandteile
des Rassismus, der sich argumentativ zwar zwischen diesen Polen bewegen kann, letztlich aber
bestimmten Körpern eine bestimmte Kultur zuweist (vgl. Müller 1992). „Die Unterscheidung
zwischen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit [dient dazu] Angriffe auf und Diskriminierung
von ‘Schwarzen’ [und Braunen] und [weißen] ‘Migrantinnen und Migranten’ zu unterscheiden“
(ebd. 28). Diese Unterscheidung ist, im Kontext eines marxistischen Rassismusbegriffs nicht
schlüssig, denn hier findet eine Art Verkehrung von ‘Rasse’ und Rassismus statt. So werden
rassistische Kategorien essenzialisiert. Es wird impliziert, dass es nicht die historisch-spezifischen
Bedingungen sind, die die Rassifizierung bestimmter Gruppen möglich gemacht haben und damit
eine historische Zufälligkeit darstellen, sondern es eine den Gruppen innewohnende Eigenschaft
ist und das Ressentiment sich daraus speist. Der Begriff Fremdenfeindlichkeit versucht darüber
hinaus, zwischen ‘Rasse’ als sozial konstruierter Kategorie und ‘Migrant*innen’ als natürlicher
Kategorie zu unterscheiden, ohne die Bedingungen zu thematisieren, in denen diese Kategorien
hergestellt werden: „Denn solange es die Gruppe der Migrantinnen und Migranten gibt, gibt es
sie nur unter Verhältnissen, die sie zu solchen machen“ (Bojadžijev 2008, 15).
4. Kritik des liberalen Antirassismus
Das Pochen auf Kritisches Weißsein (Critical Whiteness) und Workshops zum Empowerment,
also Selbstbestärkung von People of Colour als antirassistische Praxis in Räumen der (radikalen)
Linken seit dem Ende der 2000er Jahre ist vor allem eine Antwort auf die Marginalisierung
migrantischer Kämpfe und Stimmen in mehrheitsdeutschen, linken Kontexten. Selten gelten
Kämpfe von Migrant*innen als zentrale Inspirationsquellen für linke Politik in Deutschland;
die meisten linken Aktivist*innen und Intellektuellen wissen kaum etwas von diesen Geschich-
Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln
303
ten, die selbstverständlich Teil der Arbeiterbewegung, der feministischen, ökologischen und
antirassistischen Bewegung dieses Landes sein sollten. Die kurdische Befreiungsbewegung unter
Führung der Arbeiterpartei Kurdistans konnte ab Ende 2013 (diasporische) Kurd*innen zwar
prominent als Protagonist*innen eines antifaschistischen Widerstandes sichtbar machen – um
die antirassistischen Kämpfe von kurdischen und anderen nicht-weißen bzw. migrantischen
Arbeiter*innen in Deutschland geht es dabei jedoch nicht.
„Die alltägliche Erfahrung rassistischer Ausgrenzung in der Schule, an der Clubtür, auf dem
Arbeitsmarkt, in der Ausländerbehörde und bei der Wohnungssuche und die häufige NichtAnerkennung oder Nicht-Einbeziehung dieser Erfahrungen durch GenossInnen, die diese Erfahrungen nicht machen, macht misstrauisch“ (Ibrahim u.a. 2012).
Kritisches Weißsein als Konzept scheint daher ein attraktives Angebot um genau auf diese
Missstände innerhalb politischer, auch linker, Zusammenhänge hinzuweisen. Das Problem mit
diesem Konzept, so wie er im deutschsprachigem Raum angewendet wird, fassen Aida Ibrahim,
Jule Karakayalı, Serhat Karakayalı und Vassilis S. Tsianos treffend zusammen:
„Einerseits geht es um eine Ausweitung, die alle Weißen zu Priviligierten macht; andererseits wird
ein eher entpersonalisierter Fokus auf Institutionen gerichtet. In diesem Konzept sind die ‘weißen’
Institutionen und Diskurse so mächtig, dass sie die Individuen, die darin als ‘Weiße’ konstruiert
werden, vollständig entmündigen. Gleich, wie diese sich verhalten, sie sind ‘Profiteure’. Anstatt eine
Rassismustheorie in Angriff zu nehmen, deren Fluchtpunkt die ideologische und praktische Abschaffung von Kategorien wie ‘Race’ ist, dreht sich das Whiteness-Konzept von Anfang an im Kreis.“
(Ibrahim u.a. 2012)
Der aktuelle hegemoniale Antirassismus bewegt sich in einem liberalen Diskurs und bedient
sich einer ebenso liberalen Praxis, welche durch Bildung und die Produktion von Vorbildern
die (post-)migrantischen Anderen zu höherer Leistung für die Integration zu bewegen sucht.
Dies kann offensiv geschehen, wie in der „Raus mit der Sprache. Rein ins Leben“-Kampagne der
Deutschlandstiftung Integration, bei der prominente nicht-weiße Deutsche bzw. Deutsche mit
Migrationsgeschichte in ihrer Familienbiografie mit ausgestreckter schwarz-rot-golden gefärbter
Zunge Migrant*innen „zum Deutschlernen“ anregen sollen (HORIZONT online 2010). Oder
auch subtiler, durch eine Reihe von Workshops, die in sogenannten safer spaces, also sichereren
Räumen, unter Nicht-Weißen, lediglich an Methoden arbeiten, sich als Einzelperson zu bestärken
(self care, Selbstfürsorge), ohne eine Kampfperspektive kollektiver Befreiung für alle Unterdrückten
und Ausgebeuteten aufzuzeigen. Wir denken, dass Räume des Austausches und offenen Sprechens
über die eigene gelebte Realität unabdingbar sind, sehen jedoch ein Problem darin, wenn das
Schaffen dieser Räume – inklusive der Forderungen, das ‘Selbst’ zu dekolonisieren – zu einem
Ziel an sich wird – eine Dynamik, die in deutschsprachigen Metropolen wie Berlin, Hamburg,
München, Köln, Frankfurt, Wien und Zürich in vielen sogenannten People of Colour-Räumen
dominant ist. Was all diese Maßnahmen vereint, ist der Individualismus in der analytischen
Herangehensweise und damit verbundenen praktischen Lösungsvorschlägen.
„Der Liberalismus ist die hegemoniale Ideologie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: Sie setzt
die Freiheit des Individuums an erste Stelle und richtet sich gegen Kollektivismus und den Missbrauch
von Macht und Herrschaft. Dass die Freiheit im Kapitalismus für die Arbeiter*innen vor allem die
„Freiheit“ von Produktionsmitteln bedeutet und dementsprechend die „Freiheit“ ihre Arbeitskraft
zu verkaufen nach sich zieht, wird dabei verschwiegen. Genauso, dass die eigentliche Freiheit, die hier
verteidigt wird, den Kapitalist*innen gebührt: die Freiheit des Eigentums ist das Grundelement der
bürgerlichen Ordnung, die vom Staat, Rechtssystem und Polizei, geschützt wird. Der Liberalismus
304
Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
verkennt, dass Herrschaft ein unübertroffenes Ausmaß angenommen hat, indem suggeriert wird, dass
sie auf ein Minimum reduziert worden sei.“ (Jazani, Trelles Aquino und Yıldız, 2017)
Auch linkere Antworten wie Diskussionsveranstaltungen und Workshops zu Kritischem Weißsein
bzw. Empowerment von nicht-weißen und/oder migrantischen Menschen, gründen ihre Arbeit
fast ausschließlich auf genau diesen Liberalismus, wenn primär anhand von Identitäten politische
Subjektivität gemessen wird. Und hier tritt die hegemoniale Auslegung der Intersektionalitätstheorie und einer intersektionalistischen Praxis zu Tage. Denn Intersektionalität ist als Konzept
sehr unterschiedlich auslegbar. Die dominante Interpretation von Intersektionalität ist aktuell
eine, die die Verschränktheit (Intersektion) verschiedener Macht- und Herrschaftsverhältnisse
wahrnimmt und daraus eine emanzipatorische, inklusive Praxis abzuleiten sucht. Dabei werden
Kategorien wie Klasse, Geschlecht und ‘Rasse’ mit den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen,
Kapitalismus, (Hetero-)Sexismus und Rassismus als Unterdrückungsformen behandelt, welche
alle zu bestimmten Subjektformierungen durch eine diskriminierende Lebenserfahrung führen.
In dieser Interpretation wird somit Intersektionalität zu einer Strategie der radikalen Inklusion,
in der meist durch besondere Bildungsarbeit an dem Bewusstsein von Individuen und damit auch
an gesellschaftlichem Bewusstsein gerückt wird, um diese pathologisch irrationalen Denkmuster
und diskriminierenden Handlungen zu überkommen. Hier kommen jedoch zwei grundlegende
Probleme auf. Erstens lässt sich Rassismus, wie bereits oben ausgeführt, nicht einfach nur als ein
irrationales Vorurteil definieren. Rassismus in Deutschland schafft sehr wohl materielle Vorteile
für als weiß und Deutsch rassifizierte Menschen:
„Der bevorzugte Zugang zu Informationen über Stellenangebote, die Behandlung im Wettbewerb
um Beschäftigung, Arbeitsplätze mit besseren Löhnen und Bedingungen und Beförderungen sind
keine Illusion. Ebenso wenig sind es eine bevorzugte Behandlung durch Vermieter, Dienstleister,
Geschäftsinhaber und die Polizei“ (Cramfield 2016, zitiert in Georgi 2019, 108).
Zweitens lässt sich diese real überlegene Position in einer rassistisch strukturierten, kapitalistischen Gesellschaft nicht ohne eine Kontextualisierung dieser rassistischen Vorteile, also die
gesamte ökonomische und soziale Ordnung verstehen (ebd.). Eine marxistische Rassismusanalyse
muss also die Kategorie Klasse als Ausbeutungsverhältnis anders behandeln als dialektisch
verbundene Unterdrückungskategorien wie Geschlecht oder ‘Rasse’, welche sich im deutschsprachigem Raum nach 1945 über tatsächlichen oder zugeschriebenen Migrationshintergrund
oder durch die Kategorie Kultur, und weniger über ein offenes Sprechen über ‘Rasse’ ausdrückt.
Die analytische Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung fasst Terry Eagleton
gut zusammen:
„Niemand hat eine bestimmte Hautpigmentierung, weil andere eine andere haben, und niemand hat
ein bestimmtes Geschlecht, weil andere ein anderes haben. Aber Millionen von Menschen befinden
sich in der ‘Position’ des Lohnarbeiters, weil es auf der Welt ein paar Familien gibt, die in ihren Händen die Produktionsmittel konzentrieren. Beide Kategorien (bürgerlich/proletarisch oder Ausbeuter/
Ausgebeuteter) stehen auf eine Weise im Verhältnis zueinander, das – im Unterschied zu anderen
Identitäten – nur durch Abschaffung dieses spezifischen Verhältnisses (Kapital/Arbeit) auch die
untergeordneten ‘Identitäten’ abgeschafft werden können.“ (Eagleton 1997, 78)
Identität wird in diesen intersektionalistischen Kreisen meist nicht als ein nicht-essentialistisches,
sich immer in Bewegung befindendes Konzept verhandelt, sondern als eine quasi statische Zuschreibung von Sein. Vishwas Satgar beschreibt treffend, wie in heutigen sozialen Kämpfen gegen
Rassismus Identitätspolitik eine wichtige Rolle einnimmt. Jedoch neige diese „in ihren Extremen
Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln
305
[…] dazu, Unterschiede auf problematische Weise zu rassifizieren“ (Satgar 2019a, 11). Partikulare
Erfahrung ist wichtig und darf nicht runtergespielt werden. Das Pochen hierauf und die Festschreibung ohne Klassenperspektive birgt jedoch die Gefahr, leicht in Chauvinismen abzurutschen,
bei denen Zusammenarbeit und Solidarität nicht mehr politisch konstruiert wird, sondern auf
essentialistischen Zuschreibungen bzw. Selbstidentifizierung – Schwarzsein, Ausländer*insein
etc. – basiert (ebd.). Emanzipatorische Perspektiven, um die aus Unterdrückung resultierenden
Partikularitäten (Schwarz, Braun usw.) tatsächlich zu überwinden, haben in diesen Diskussionen
kaum Platz.
Der Umgang von Marxist*innen mit Intersektionalität als Kategorie ist dabei vielfältig. Einige
Marxist*innen lehnen Intersektionalität als postmoderne Spielart ab, da „[…] sie die Verbindung zu
ihren materiellen Grundlagen, dem Kapitalismus, nicht herstellt und daher auf einer diskursiven
Ebene agiert und eine Vielzahl von sozialen Identitäten und sozialen Spaltungen strategisch
fördert“ (Satgar 2019a, 14 – siehe hierzu auch Aguilar 2015). Basierend auf Delia D. Aguilar
argumentiert Satgar, dass
„[…] intersektionale Ansätze […] die von ihnen beschriebene Unterdrückung nicht erklären [können],
da es an strukturellen Grundlagen mangelt. Stattdessen wird [von Aguilar] eine historische materialistische Optik vorgeschlagen, um über Klasse, Geschlecht und Rasse nachzudenken. Ein solcher
Ansatz kritisiert flache postmoderne Ansätze der Intersektionalität, die sich lediglich auf ein liberales
Individuum konzentrieren, das in unterschiedliche, sich überschneidende Beziehungen (Rasse, Klasse,
Geschlecht, Region usw.) eingetaucht ist, und wie daraus eine individuelle Identität entsteht. Stattdessen
untersucht ein historisch materialistischer Ansatz, wie überschneidende Beziehungen Unterdrückung
und Ausbeutung reproduzieren. Dies dient als Grundlage, um kollektive Unterdrückung und die
Notwendigkeit von Solidaritäten zu verstehen.“ (Satgar 2019a, 14)
Andere Marxist*innen verteidigen Intersektionalität als Konzept zum besseren Verstehen von sozialer Realität und den unterschiedlichen Niveaus an Überausbeutung von Arbeiter*innen. Robin
D.G. Kelly ruft zum Beispiel zu einer radikalen Kontextualisierung des Projekts der Aufklärung
auf, bei dem die Dehumanisierung rassistisch markierter ‘Anderer’ kein zu vernachlässigendes Nebenprodukt ist, sondern im Zentrum genau dieses eigentlich emanzipatorischen Vorhabens stand
(Kelly 1997). Marxist*innen dürften keine unkritische Verteidigung des Aufklärungsprojekts
betreiben und müssten ihr eigenes Fingerzeigen auf sogenannte Identitätspolitik hinterfragen: „[…]
die neue Aufklärungs-Linke kann sich Bewegungen nicht vorstellen, die von Afroamerikanern,
Frauen, Latinos, Schwulen und Lesben angeführt werden, die für das Ganze sprechen oder sogar
radikalen Humanismus annehmen. […] die einzigen Menschen, die die Sprache des Universalismus
sprechen können, sind weiße Männer“ (ebd.). Für Kelly ist das Bestehen von Marxist*innen auf der
Zentralität der Interessen der Arbeiterklasse berechtigt, „[a]ber ohne eine Analyse, die Rassismus,
Sexismus und Homophobie ernst nimmt und tiefe historische Unterschiede berücksichtigt, werden
wir nicht wissen, was ‘Interessen’ bedeuten“ (ebd.). Daher ist Intersektionalität als Kategorie,
nicht als Strategie, unabdingbar, um einen Marxismus aufzubauen, der keinen rassistischen,
männlichen, oder heterosexistischen Chauvinismus mit de facto Nebenwiderspruchsargumenten
fördert (ebd.). Die Wichtigkeit von Identitätspolitiken in der Arbeiterbewegung sieht auch Sharon
Smith. Smith erklärt, wie die Schwarze, feministische Tradition in den USA als sozialistisches
Projekt zur Abschaffung von Ausbeutung und aller Unterdrückung entstand – und nicht wie in
der hegemonialen postmodernen Geschichtsschreibung in Abgrenzung zu marxistischer Politik
(Smith 2017). Auch Smith versteht Intersektionalität als ein Werkzeug zum Erreichen der gesam-
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Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
ten Klasse – als Strategie biete diese jedoch kein Programm zur Zerschlagung des ökonomischen
Grundlage, der kapitalistische Produktionsweise, sowie zur Aufhebung von damit verbundenen
Unterdrückungsformen (ebd.).
Wenn „[…] ein essentieller Bestandteil emanzipatorischer Politik ist, sich durch gesellschaftliche
Machtverhältnisse nicht festlegen zu lassen, sondern diese zu hinterfragen und zu bekämpfen“
(Ibrahim u.a. 2012), dann generiert eine solche essentialisierende Identitätspolitik, die stark im
aktuellen liberalen Antirassismus verankert ist, keine programmatischen Antworten auf eine
gemeinsame Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung. Die Antworten, die wir dann
vorfinden, sind Safer-Spaces-Politiken, also Politiken, die sicherere Räume für von Rassismus
Betroffene schaffen wollen, um darin zu einer verstärkten Selbstermächtigung zu gelangen, selten
jedoch in eine universalistische Befreiungsperspektive, also einer Zusammenarbeit in breiteren
Gruppen münden, sondern allzu oft in längerfristig separatistisch angelegten Gruppierungen.
„Ohne Subjektivität gibt es keine Politik. Subjektive Erfahrungen und politische Positionen sind aber
nicht das Gleiche. Weder folgt aus bestimmten Erfahrungen zwingend eine bestimmte politische
Haltung noch ist die Einnahme einer politischen Haltung durch die eigene Erfahrung limitiert. […]
Eine politische Position ist nicht die logische Folge spezifischer persönlicher Erfahrungen, sondern
entwickelt sich durch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen. […] Zu
behaupten, dass eine politische Haltung unveränderbar an die ‘Position’ innerhalb der Gesellschaft
gebunden ist, bedeutet, einen statischen Begriff von Gesellschaft zu vertreten, der die Möglichkeit
politischer Veränderung letztlich ausschließt.“ (Ibrahim u.a. 2012)
5. Ausblick: Antirassismus und Klassenkampf
Was in der aktuellen Debatte um Rassismus fehlt, ist eine Analyse des Rassismus im neoliberalen
Kapitalismus, der Rassismus, der sich erst richtig mit dem Ende des Kalten Krieges und dem
(vermeintlichen) Sieg des liberalen Kapitalismus seit den 1990er Jahren entwickelt hat. Eine
Rassismusanalyse, die die globale Krise und die neuen Fluchtursachen, den aktuellen Imperialismus durch Abwanderung industrieller Produktion in den Globalen Süden und den Abbau
des Sozialstaates, sowie das Widererstarken des Nationalismus angesichts einer fortschreitenden
Globalisierung fassen kann.
Wir schließen uns Vishwas Satgar an, wenn er feststellt, dass der
„[…] Marxismus im zwanzigsten Jahrhundert […] trotz starker antirassistischer politischer Verpflichtungen in den meisten Fällen keine effektive antirassistische Verankerung in der theoretischen Orientierung und Praxis [bot]. Das ist unsere Herausforderung im 21. Jahrhundert, indem wir einen
nicht-eurozentrischen Marxismus in Kämpfen entwickeln und die rassistischen Annahmen der euroamerikanischen Moderne in Frage stellen.“ (Satgar 2019a, 11)
Wir können mit unserer Kritik hier kein ausführliches Programm für eine erfolgreiche politische
Praxis bieten. Unsere Analyse macht jedoch zwei Punkte besonders deutlich: Rassismus ist ein
Bestandteil kapitalistischer Produktionsweise. Das Kapital setzt notwendig gewaltvoll die Überausbeutung bestimmter Teile der Arbeiterklasse durch und muss dies ideologisch erklären. Eine
Überwindung von Rassismus innerhalb des Kapitalismus ist damit ausgeschlossen. Zum anderen
ist Antirassismus eine notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Klassenkampf, weil erst
klare antirassistische Forderungen sowie eine entsprechende Praxis eine gemeinsame Grundlage
für einen Kampf schaffen, in dem alle Teile der Arbeiterklasse Protagonist*innen ihrer Befreiung
sind. Während weiße Arbeiter*innen durch Rassismus einige relative Privilegien erhalten, besteht
Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln
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ihr allgemeines Interesse als Arbeiter*innen eigentlich in der strikten Zurückweisung dieser
Unterscheidung und einem gemeinsamen Kampf:
„Arbeiter_innen werden sich nie zusammenschließen, um für die Staatsmacht zu kämpfen, wenn sie
sich nicht zusammenschließen können, um heute für die Anforderungen am Arbeitsplatz zu kämpfen.
Wenn weiße Arbeiter_innen heute nicht für die Bekämpfung von Rassismus gewonnen werden, werden
sie sich nie mit Schwarzen Arbeiter_innen für eine Revolution morgen vereinen. Wenn die Schwarzen
Arbeiter_innen nicht dafür gewonnen werden, heute gegen den Anti-Immigranten-Rassismus zu sein,
werden sie sich morgen nie mit den Latino-Arbeiter_innen für eine Revolution zusammenschließen.“
(Taylor 2011)
Denn ohne alle Teile der Klasse – und dieses globale Proletariat ist mehrheitlich nicht-weiß
– wird es zu keiner nachhaltigen proletarischen Revolution kommen. Taylor führt weiter aus:
„Deshalb sagte Lenin, dass eine revolutionäre, auf dem Marxismus basierende Partei ein ‘Tribun
der Unterdrückten’ sein muss, der bereit ist, gegen die Unterdrückung einer beliebigen Gruppe
von Menschen zu kämpfen, unabhängig von der Klasse der Betroffenen“ (ebd.). Die Relevanz
dessen, erkannte schon Marx, als er über das Scheitern der US-amerikanischen Arbeiterbewegung
schrieb: „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut
gebrandmarkt wird“ (MEW 23, 318).
Dies wurde bereits durch die Tradition eines aktiv antirassistischen Marxismus, insbesondere
etwa durch W.E.B. Du Bois und C.L.R. James, mit der Verpflichtung „zur Arbeiterklasse-Solidarität über die Farblinie hinweg für die menschliche Emanzipation“ formuliert (Satgar 2019a,
12). Wir dürfen daher den antirassistischen Kampf nicht als eine partikularistische Bestrebung
um Sonderinteressen verstehen, wie es etwa die liberale Antidiskriminierungspolitik versucht
(siehe hierzu auch Roldán Mendívil und Sarbo 2019), sondern als Teil eines universalistischen
Kampfes für die Emanzipation aller.
„Für Marx ist dieser Kampf gegen den Kapitalismus zum Wohle des Menschen ein universalistischer
Kampf. Der Punkt dieser Universalien ist, dass sie von zentraler Bedeutung sind, um die Welt des
Kapitalismus zu verstehen und sie zu überwinden. Darüber hinaus negieren sie als Universalien die
Besonderheit als Teil eines dialektischen Ganzen nicht“ (Satgar 2019a, 6)
Den antirassistischen Kampf daher auf eine Angelegenheit derjenigen zu reduzieren, die von Rassismus betroffen sind, ist verkürzt und wird dem Antirassismus als allgemein-emanzipatorischem
Projekt nicht gerecht. Wir schließen uns daher Ibrahim u.a. an, die konstatieren:
„Wir wollen dagegen einen Umgang mit Fragen von Rassismus, der es ermöglicht politische Subjekte
nicht nach ihrer Herkunft oder Hautfarbe einzuteilen – wie es auch der Rassismus tut – sondern danach
fragt, wie antirassistische Kämpfe das Leben von uns allen verbessern können“ (Ibrahim u.a. 2012).
„[D]er Widerstand gegen Rassismus ist notwendig, möglich und geschieht“ (Satgar 2019b, 241).
Die Frage ist nur, welche Rolle der revolutionäre Marxismus in aktuellen und zukünftigen antirassistischen Kämpfen, auch in Deutschland, einnehmen wird.
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