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Emotionsgeschichte
Von Marie Louise Herzfeld-Schild
1. Einleitung
Emotionen sind »geschichtsmächtig« und »geschichtsträchtig«.1 Dies sind
die Grundvoraussetzungen, auf denen seit ca. zwei Jahrzehnten die Erforschung emotionaler Dimensionen der Geschichte fußt. Untersuchungen
aus der Sozial-, Kultur- oder Medizingeschichte haben nicht nur gezeigt,
dass Emotionen untrennbar in den Lauf der Geschichte eingewoben sind
und diese mit gestaltet haben. Sie machen außerdem deutlich, dass emotionale Repräsentation, emotionaler Ausdruck und auch emotionale Erfahrungsqualitäten geschichtlichen Veränderungen unterliegen. Selbst diejenigen Emotionshistoriker, die nicht zu strengem Konstruktivismus neigen
und universelle Emotionskonzepte (wie etwa die Existenz von Basisemotionen) in ihre Überlegungen mit einbeziehen, sind davon überzeugt, dass
Emotionen stets einen mehr oder weniger ausgeprägten historisch variablen Anteil besitzen. Denn als kognitive und (zumeist) intentionale Akte
sind Emotionen aufs Engste mit Bedeutungszuschreibungen verbunden:
Sie urteilen, sie geben dem Wahrgenommenen einen Sinn und betten ihn
habituell in größere Zusammenhänge ein. Geht man mit Pierre Bourdieu
davon aus, dass der Habitus soziokulturell und historisch wandelbar ist,
so bringt eine Änderung der soziokulturellen und historischen Situation
auch einen neuen Bedeutungszusammenhang von Wahrgenommenem
und konsequenterweise auch einen Wandel der Emotionen selbst mit sich.
Als Quellen für die emotionshistorische Forschung dienten den beteiligten Geschichtswissenschaften bisher traditionell fast ausnahmslos Texte,
Abbildungen oder andere Materialien, deren Befragung sich jedoch an neu
entwickelten, spezifisch auf die Emotionsgeschichte ausgerichteten Methoden orientieren. Emotionalem Vokabular und emotionalen Diskursen,
1
Vgl. U. Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35/2 (2009), S. 183–208, hier S. 202.
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emotionalen Stilen oder emotionalen Räumen der Vergangenheit wird
mithilfe von Konzepten wie »emotional communities«2, »emotional practices«3 oder »emotives«4 begegnet (einem Konzept, das der Historiker und
Ethnologe William Reddy einführte, um Emotionssaussagen in ihren »sowohl weltbeschreibenden als auch weltverändernden Eigenschaften« zu
begreifen5). Diese Konzepte erlauben einen methodisch reflektierten und
abgesicherten Zugang zu vergangenen Gefühlswelten, indem sie sich nicht
auf das Innenleben der Menschen konzentrieren, das für Außenstehende
letztlich selbst durch psychologische Befragungen heutzutage nicht eindeutig zugänglich ist. Stattdessen versuchen die emotionshistorischen Zugänge
den Dualismus von Innen und Außen zu überwinden, indem sie Emotionen als kommunikative und daher intersubjektiv sichtbare und entäußerte
Entitäten auffassen, als welche sie in der Geschichte auffindbar werden.
Die Historische Musikwissenschaft sowie ihr Gegenstand, die Musik
in der Geschichte, hat in der emotionshistorischen Forschung bisher eine
untergeordnete Rolle gespielt. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade die
Musik seit Jahrhunderten besonders eng mit der Gefühlswelt der Menschen in Verbindung gebracht wird. Auch wenn nicht viele Informationen
überliefert sind, so erlauben die vorhandenen Textquellen doch, davon
auszugehen, dass schon in Antike und Spätantike ein enger Zusammenhang zwischen Musik und dem emotionalen Leben der Menschen bestand.
Spätestens mit dem von Claudio Monteverdi neu in die Musik eingeschriebenen klanglichen Ausdruck von Emotionen (vor allem in der ›seconda
prattica‹) können neben Textquellen zu musikbasierten Emotionsdiskursen schließlich auch musikalische Quellen selbst mit gutem Recht als zentrale Quelle für historische Emotionsforschung verwendet werden. Diese
wurden jedoch bis dato in nur äußerst geringem Maße in Betracht gezogen, geschweige denn auch nur ansatzweise entschlüsselt. Denn es fehlt an
Untersuchungen aus dem Bereich der Historischen Musikwissenschaft, die
2
3
4
5
B. Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca / London 2006.
M. Scheer, Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)?
A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory 51/2 (2012),
S. 193–220.
W. Reddy, Navigation of Feeling: A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001.
J. Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 298.
Methoden, Quellen, Inhalte
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Emotionen in und aus der Musikgeschichte in methodisch abgesicherter
Weise betrachten.
2. Methoden, Quellen, Inhalte
Gerade mit der allmählichen Öffnung der Historischen Musikwissenschaft
gegenüber den historischen Kulturwissenschaften, die die Sinne und den
Körper, Erinnerungskulturen oder soziale Praktiken vermehrt in den Blick
nehmen und eine wissenschaftliche Annäherung an diese Phänomene methodisch aufarbeiten, liegt eine erneute Hinwendung zu Emotionen unter
aktualisierten Vorzeichen jedoch näher als je zuvor. Um der engen gegenseitigen Verbindung von Musik und Emotionen in der Geschichte gerecht zu
werden, liegt es nahe, die Historische Musikwissenschaft und die Emotionsgeschichte zusammenzubringen und – auch im Diskurs mit den historischen
Kulturwissenschaften – neue und interdisziplinäre Methoden zu entwickeln,
mit deren Hilfe sowohl die historischen Wirklichkeiten von Emotionen als
auch die historische Emotionalität der Musik weiter ausdifferenziert werden können. Denn einerseits können Musik und Klänge der Vergangenheit,
musikalische Praktiken und musikbezogene Diskurse auf spezifische Weise
Auskunft darüber geben, welche Emotionen besonders intensiv, auf welche
Weise und in welchem Kontext verhandelt wurden. Andererseits können
wiederum Erkenntnisse zu Emotionen in der Geschichte helfen, historische
Musik(kulturen) in ihrer emotionalen Bedeutung und Wirkung besser zu
verstehen. Emotionsgeschichte und Musikgeschichte können daher in diesen Fragen direkt ineinandergreifen und sich wechselseitig voranbringen.
Dabei stellt sich dem Musikhistoriker jedoch zunächst die Frage, welche
Aspekte des Zusammenspiels von Musik und Emotion in der Geschichte
überhaupt sinnvoll erforscht und mit ausreichender Evidenz beantwortet
werden können. Denn sowohl Musik als auch Emotionen sind ephemere Phänomene, deren Erfahrungsqualitäten sich in historischen Quellen
nur mittelbar manifestieren. So steht jeder historisch arbeitende Emotionsforscher vor der Schwierigkeit, seine ›Probanden‹ nicht mehr selbst
über ihre emotionalen Erfahrungen befragen zu können; ebenso sind die
Erfahrungsqualitäten der Musik in ihrer Klanglichkeit nur im Moment
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der Aufführung erlebbar und historisch nicht vollends rekonstruierbar.
Die Musikpsychologie unterscheidet zwischen ›perceived emotions‹, die
wir aus dem Musikausdruck herauslesen können, ohne sie notwendigerweise selbst zu fühlen, und ›induced emotions‹, die unseren subjektiven
Emotionseindruck und die Erfahrungsqualität beim Musikerleben beschreiben6. Beide Dimensionen sind gleichermaßen von subjektiven, musikalischen und situativen Aspekten bestimmt, daher sind ihre Grenzen
schon für die gegenwärtige Forschung nicht immer klar bestimmbar. Für
den historisch arbeitenden Musikwissenschaftler jedoch lösen sie sich beinahe vollständig auf. Denn um sich Emotionen nähern zu können, kann er
Emotionen nicht in ein Innen – einen Eindruck – und ein Außen – einen
Ausdruck – unterteilen, sondern muss sie notwendigerweise als innen und
außen verbindende Phänomene verstehen, die ihre Bedeutung im kommunikativen Miteinander erhalten.
Die systematische, zumeist von Musikpsychologie und analytischer
Musikphilosophie gestellte Frage, welche musikalischen Aspekte (Melodieführung, Harmonieverlauf, Rhythmus, Dynamik, Klangfarbe etc.) auf welche Weise welche Emotionen ausdrücken und / oder auslösen, muss daher
aus historischer Perspektive mit weiteren Parametern aufgefüllt und dementsprechend etwa folgendermaßen erweitert werden: Welche emotionale
Bedeutung wurde welcher Musik wann zugeschrieben, welche Rolle spielen
innermusikalische Parameter dabei und wie hängen diese Bedeutungszuschreibungen wiederum mit den sozial-, kultur- und wissenshistorischen
Gegebenheiten des jeweiligen Untersuchungszeitraums zusammen? Welche Quellen bieten sich für eine solche Forschungsfrage besonders an,
und mit welchen Methoden lassen sich evidente Erkenntnisse aus den
Quellen herausarbeiten?
All diesen Fragen kann sich die musikhistorische Arbeit nur über Umwege nähern. Verschiedene Möglichkeiten stehen dafür zur Verfügung, von
denen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – im Folgenden drei vorgestellt
werden sollen: Die Erarbeitung (a) emotional-musikalischen Vokabulars,
6
Ein Überblick findet sich in P. N. Juslin / P. Laukka, Expression, Perception, and Induction of
Musical Emotions: A Review and a Questionnaire Study of Everyday Listening, in: Journal of
New Music Research 33 (2004), S. 217–238.
Methoden, Quellen, Inhalte
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(b) musikalischer Patterns von Emotionsausdruck sowie (c) emotional-musikalischer Praktiken. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die Trennung
der Ansätze nur demonstrativen Zwecken dient. In der wissenschaftlichen
Praxis greifen die unterschiedlichen Zugänge je nach Fragestellung auf die
eine oder andere Weise ineinander, sodass sich die jeweiligen Ergebnisse zu
einem umfangreicheren und differenzierteren Gesamtbild zusammenfügen.
a) Emotionales Vokabular in Textquellen über Musik
Auch wenn Emotionen nicht notwendigerweise durch Sprache, sondern
ebenso durch Körper- (z. B. Mienenspiel) und Klanggesten (z. B. Seufzer) vermittelt werden, ist das historische emotionale Vokabular eine der
reichsten und für den Emotionshistoriker unverzichtbarsten Quellen des
Erkenntnisgewinns. Dies gilt genauso für den zu Emotionen forschenden
Musikhistoriker, denn auch wenn sein Gegenstand die Musik ist, so ist die
Arbeit mit Textquellen für die Kontextualisierung von Emotionen in der
Musikgeschichte unerlässlich. Um die Gefühlswelten vergangener Zeiten
angemessen einschätzen zu können, sollte am Beginn der emotionshistorischen Arbeit demnach ein Verständnis des emotionalen Vokabulars in
seiner historischen Bedeutung stehen. Dies betrifft zuallererst Begriffe wie
den des Affekts, der Leidenschaft, des Gefühls, des Gemüts, der Stimmung
und der erst im 19. Jahrhundert hinzu gekommenen Emotion, die in ihrer konzeptuellen, historisch-wandelbaren Semantik ebenso ein- und abzugrenzen sind wie Konzepte spezifischer Emotionen, etwa Liebe, Hass,
Furcht, Treue, Stolz, Melancholie, Wahnsinn, etc.
Emotionshistoriker haben in den letzten Jahren zahlreiche Grundlagen
für diese Art von historischem Emotionswissen gelegt,7 auf denen Untersuchungen zur Musik aufbauen können. Denn eine der wichtigsten Quellen
für die Erforschung von Musik und Emotion in der Geschichte sind sicherlich Ego-Dokumente wie Briefe oder Tagebücher, in denen ein subjektiver
Gefühlseindruck in persönlichen Worten geschildert wird, sowie Berichte
7
Siehe grundlegend T. Dixon, From Passions to Emotions: The Creation of a Secular Psychological Category, Cambridge 2003, sowie U. Frevert et al. (Hg.), Gefühlswissen: Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt / New York 2011.
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in Zeitungen oder Zeitschriften, die die emotionale Wirkung von Musik
beim Publikum aus einer intersubjektiven oder teilnehmend-beobachtenden Perspektive für einen größeren Leserkreis beschreiben. Die genauen
Inhalte dieser Quellen können nur durch eine behutsame Bestimmung des
historischen Vokabulars in ihrer soziokulturellen und konzeptuellen Bedeutung erfasst werden. Vorausgehendes Durchsehen von Enzyklopädien
und Lexika, wissenschaftlichen Abhandlungen, ästhetischen oder literarischen Werken, die Aufschluss über historische Semantik geben, ist eine
Grundlage für die Erforschung des spezifischen emotionalen Vokabulars
auch in den entsprechenden musikhistorischen Quellen.8 Dieser qualitativen Arbeit stehen quantitative Ansätze zur Seite, denn Evidenz kann nur
durch eine hohe Anzahl an Belegen erreicht werden. Diese sehr zeitaufwendige Aufgabe kann mittlerweile durch computerbasierte Methoden erleichtert werden. Besonders vielversprechend ist dabei die Erforschung des
Vokabulars historischer Texte mittels Big-Data-Sets, die Auskunft über semantisch verwandte Wortcluster geben, die sich zu historischen Konzepten
zusammenfügen, sowie über deren Verwendung und deren Bedeutungswandel im Laufe der Zeit.9 Historische Diskurse über die emotionale Kraft
und Wirkung von Musik, emotional-musikalische Moden und konkrete
emotionale Bedeutungszuschreibungen an bestimmte Musiken vergangener Zeiten können auf diese qualitative Weise erfasst werden und mittels
quantitativer Evidenz zu neuen wissenschaftlichen Ergebnisse führen.
b) Emotionsausdruck in musikalischen Quellen
Für den emotionshistorisch orientierten Musikwissenschaftler ist es von
besonderem Interesse herauszuarbeiten, welche Musiken zu welcher Zeit
8
9
Siehe z. B. M. L. Herzfeld-Schild, Resonanz und Stimmung. Musikalische Paradigmen im historischen Spannungsfeld von Anthropologie, Ästhetik und Physiologie, in: Resonanz, Rhythmus
und Synchronisierung: Erscheinungsformen und Effekte, hg. von T. Breyer et al., Bielefeld 2017,
S. 127–144.
Siehe z. B. G. Recchia / E. Jones / P. Nulty / J. Regan / P. de Bolla, Tracing shifting conceptual vocabularies through time, in: Knowledge Engineering and Knowledge Management: EKAW 2016
Satellite Events, EKM and Drift-an-LOD, Bologna, Italy, November 19–23, 2016, Revised Selected
Papers, hg. von P. Ciancarini et al., Cham 2016, S. 19–28, DOI: 10.1007/978–3–319–58694–6.
Methoden, Quellen, Inhalte
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mit welchen Emotionen verbunden wurden und welche musikalischen Parameter dafür verantwortlich gemacht werden können. Auch dafür werden
zunächst sprachliche Zeugnisse aus dem entsprechenden Zeitraum benötigt, die im Zusammenhang mit konkreten Musikbeispielen Aussagen über
historische Emotionen machen (gleich, ob es sich nun um ›perceived‹ oder
›induced emotions‹ handelt). Die Erarbeitung des emotionalen Vokabulars
ist demnach unabdingbare Voraussetzung für weitergehende Untersuchungen, die sich bestimmten historischen Musikbeispielen selbst zuwenden.
Historische Quellen, die hinreichende Aussagekraft haben, um bestimmter
Musik eine bestimmte emotionale Bedeutung nachweisen zu können, sind
jedoch selten und müssen mit viel Geduld aufgespürt werden.
Grundlage des Ansatzes, Musik selbst in die emotionshistorische Untersuchung mit einzubeziehen, ist die gerechtfertigte Annahme, dass die emotionale Wirkung von Musik nicht allein im Rezipienten als Individuum,
seiner soziokulturellen Prägung und seiner musikalischen Autobiographie liegt, sondern dass die Gestaltungsweise der Musik einen nicht zu
unterschätzenden Einfluss auf die emotionale Bedeutungszuschreibung
an Musik haben kann. Dieser Ansatz beruht keinesfalls auf universalistischen Annahmen, sondern bezieht das Wissen über die historische Wandelbarkeit von emotionalem Ausdruck, emotionaler Repräsentation und
emotionalen Erfahrungen sowie kulturelle Codes, die die Erfahrung intersubjektiv lenken, reflektierend mit ein. Dass bestimmte Instrumente und
Tonarten, ein bestimmter musikalischer Gestus und Rhythmus, Lautstärke,
Harmonie- oder Melodieführung zumindest innerhalb eines gewissen historisch-kulturellen Raums selbst in unterschiedlichen Kontexten relativ
einheitliche, rekonstruierbare Wirkungen besaßen, darf dabei von der historischen Forschung selbstverständlich nicht vorausgesetzt, sondern muss
von ihr nachgewiesen werden.10
Um mehr als Einzelfälle betrachten und schließlich allgemeingültigere
Aussagen darüber machen zu können, welche musikalischen Aspekte in
früheren Zeiten mit welchen Emotionen in Verbindung gebracht wurden,
10
Siehe z. B. F. Hentschel, Musik und das Unheimliche im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Musikwissenschaft 73 (2016), S. 9–50, sowie ders., Festlichkeit. Expressive Qualität und historische
Semantik bei Beethoven, in: Archiv für Musikwissenschaft 3 (2013), S. 161–190.
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benötigen Musikhistoriker nicht nur für die sprachliche, sondern ebenso
für die musikalische Seite neben qualitativer Aufarbeitung auch quantitative Evidenz. Auch dafür können der Historischen Musikwissenschaft computerbasierte Möglichkeiten zur Seite stehen, die die Arbeit erleichtern und
etwa musikalische Patterns aus einer großen Anzahl an Partituren herausfiltern.11 Auch wenn ein solches digitales System selbstverständlich nicht
die Arbeit des Historikers ersetzen kann, der im Vor- und Nachhinein Parameter bestimmt, überprüft, in Relation zu Textdokumenten und anderen
Quellen setzt und selbstständig weiterdenkt, so stellt es doch eine große
Hilfe gerade bei der Evidenzsuche im Bereich solch ephemerer Phänomene
wie Musik und Emotionen in der Geschichte dar.
c) Musikalisch-emotionale Praktiken
Am anderen Ende der Skala musikhistorischer Emotionsforschung steht
die Untersuchung emotionaler Praktiken im Musik(er)leben. Hier spielen
sowohl Fragen der verbalen Bedeutungszuschreibung an Musik als auch
Fragen nach der musikalischen Gestaltung und dem der Musik zugeschriebenen Emotionsausdruck eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt steht
vielmehr das Musikerlebnis als soziale Praxis, das unter emotionshistorischen Gesichtspunkten zur emotionalen Praxis wird.12
Das Erarbeiten von Emotionsgeschichte anhand der Betrachtung von
emotionalen Praktiken macht einen wichtigen Teil gegenwärtiger historischer Emotionsforschung aus. Untersuchungen dieser Art betrachten zahlreiche Aspekte kommunikativ-emotionalen Miteinanders, angefangen von
Worten und Gesten über Körperhaltungen und Verhaltensweisen, Diskursen und Moden bis hin zu Räumen und Materialien, die in die jeweilige
Praxis mit eingebunden sind. Eine wichtige Funktion hierbei spielt die Eigenschaft von Emotionen, gruppenbildend wirksam und sowohl innerhalb
dieser Gruppen als auch über deren Grenzen hinaus ansteckend zu sein.
11
12
Vgl. dazu F. Hentschel et al., The Vision of MUSE4Music Applying the MUSE Method in Musicology,
in: Computer Science. Research and Development (2016), DOI 10.1007/s00450–016–0336–1.
Siehe dazu M. L. Herzfeld-Schild, MitLeidenSchaft. Emotion und Musik im Spannungsfeld von
Leid und Leidenschaft, in: Passions. Musik des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Leid und
Leidenschaft, hg. von C. Bebermeier, E. Buyken und G. Finke, Würzburg 2017, S. 15–33.
Methoden, Quellen, Inhalte
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Denn so wie Untersuchungen des emotionalen Vokabulars und musikalischen Emotionsausdrucks quantitativ ausreichende Belege für historische
Emotionssemantik benötigen, um wissenschaftlich nutzbar zu sein, so benötigt auch die Betrachtung emotionaler Praktiken Belege dafür, dass es
sich bei den aus den Quellen herausgearbeiteten Aspekten nicht um individuelle Einzelfälle, sondern um innerhalb sozialer Gruppen mehr oder
weniger einheitliche Phänomene handelt. Nicht immer muss es um tatsächliche Verhaltensmuster im kommunikativen Miteinander gehen; auch
vorgegebene Regeln in Erziehungs- oder Eheratgebern oder in Literatur und
Filmen vorgeführtes Verhalten können darüber Auskunft geben, wie bestimmte soziale Gruppen zu bestimmten Zeiten ihr Zusammenleben emotional ausagierten oder ausagieren wollten – und damit, welche Emotionen
als positiv, welche als negativ, als angemessen oder unangemessen galten.13
Für Untersuchungen zu emotional-musikalischen Praktiken rücken
insbesondere Aufführungen (im weitesten Sinne) in den Fokus, die Gruppen bildende Eigenschaften haben: Musik im höfischen, bürgerlichen oder
proletarischen Bereich, in politischen, religiösen oder pädagogischen Kontexten, von Fußballgesängen über Popkonzerte und Opernaufführungen
bis hin zu Musik im Krieg. Christopher Smalls Konzept von »musicking«,
das den Musikbegriff ausweitet auf alles, was im weitesten Sinne soziale
Musikpraxis ist,14 verbindet sich hier mit Monique Scheers Ansatz, Emotionen als kommunikativ-soziale Praktiken zu verstehen,15 zu einer Forschungsrichtung, die am ehesten als historisch ausgerichtete Musiksoziologie mit emotionsgeschichtlicher Perspektive aufgefasst werden kann.
Die Ergebnisse einer solchen auf emotionale Praktiken fokussierte Musikgeschichtsschreibung verdeutlichen, wie sehr die historischen Erkenntnisse
über musikalischen Emotionsausdruck tatsächlich vor dem Hintergrund
soziokultureller Kontexte betrachtet werden müssen. Denn gerade Untersuchungen zur sozial-emotionalen Wirksamkeit von Musik zeigen, dass
die gleiche Musik in unterschiedlichen zeitlichen, sozialen oder kulturellen
13
14
15
Vgl. dazu grundlegend Rosenwein, Emotional Communities (wie Anm. 2).
Siehe C. Small, Musicking: The Meanings of Performing and Listening, Middletown, CT 1987.
Scheer, Emotions (wie Anm. 3).
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Kontexten für vollständig andere Zwecke eingesetzt werden konnte.16 Innerhalb welches Radius dadurch auch ihre emotionale Wirkung variiert,
bleibt zu untersuchen. Aber die Betrachtung emotional-musikalischer
Praktiken lässt die historische Wandelbarkeit der emotionalen Wirkung
von Musik erwarten und relativiert damit Annahmen über musikalische
und / oder emotionale Universalität.
3. Perspektiven
Nichtsdestotrotz können Erkenntnisse experimenteller Musikforschung
sowie anderer Bereiche der Emotionsforschung aus den Lebens- und Naturwissenschaften in interdisziplinären Zusammenschlüssen für die Untersuchung von Musik- und Emotionsgeschichte wertvolle Einsichten liefern.
Einen möglichen Ansatzpunkt dafür liefern beispielsweise die Forschungsergebnisse der Psychologin und Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett, die eine Vereinbarkeit von naturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Ansätzen ermöglichen:17 Ebenso wie viele Emotionshistoriker ist sie
überzeugt davon, dass es keine »unique fingerprints of emotions«18 gibt, die
kultur- und geschichtsunabhängig existieren; ihre Forschung legt vielmehr
nahe, dass das Gehirn unseren körperlichen Wahrnehmungen und Empfindungen auf der Grundlage von soziokulturell erlernten »emotional concepts« einen Sinn und eine Bedeutung gibt und damit individuell geprägte
Emotionen ›macht‹, anstatt auf universelle Weise zu ›reagieren‹19.
Doch auch jenseits der experimentellen Emotionsforschung lässt sich
festhalten, dass Arbeiten zu Emotionen in der Musikgeschichte ein breitgefächertes interdisziplinäres Vorgehen ebenso im Rahmen benachbarter Fächer verlangen. Sowohl die Klärung von historischen Begriffen und
16
17
18
19
Dies zeigt Wiebke Rademacher exemplarisch in ihrem Aufsatz Beethoven’s ›Leonore‹ in Berlin
Around 1900. On Contextual Factors of Music Performances as Source Material for Past Emotional Practice, in: Emotions and the Arts. An Interdisciplinary History (Special Issue von Cultural History 7/2 [2018]), hg. von M. L. Herzfeld-Schild und E. Sullivan, S. 167–186.
L. Feldman Barrett, How Emotions are Made, London 2017.
Ebd., S. 12.
Ebd., v. a. das Kapitel »Emotions are constructed«, S. 25–41.
Perspektiven
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Konzepten als auch die sozial- und kulturhistorische Kontextualisierung
der betrachteten Musik- und Emotionsphänomene überschreitet die Zuständigkeitsgrenzen der Historischen Musikwissenschaft; diese ist daher
auf Transfer und Transformation von Wissen aus den unterschiedlichen
Geschichts-, Kunst-, Sozial- und Kulturwissenschaften angewiesen, ohne
dass sie dabei die eigene Kompetenz außer Acht lassen oder die eigenen
Fragestellungen, Herangehensweisen und Ergebnisse aus den Augen verlieren sollte.20 Denn nur so kann musikhistorische Emotionsforschung umgekehrt auch produktiven Input für die Emotionsgeschichte als solche geben.
F. Hentschel, Musik und das Unheimliche im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Musikwissenschaft 73 (2016), S. 9–50.
M. L. Herzfeld-Schild, MitLeidenSchaft. Emotion und Musik im
Spannungsfeld von Leid und Leidenschaft, in: Passions. Musik des
18. Jahrhunderts in Spannungsfeld von Leid und Leidenschaft, hg. von
C. Bebermeier, E. Buyken und G. Finke, Würzburg 2017, S. 15–33.
J. Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte,
München 2012.
20
Zur Bedeutung von Interdisziplinarität für die Historische Musikwissenschaft siehe meinen
entsprechenden Beitrag im vorliegenden Band, S. 320–329.