Das Altertum, 2020, Band 65, Seiten 161-184
Mikro-Axialität: der Taucher von Paestum
Georg Stauth
Der Taucher von Paestum
Uns ist er nicht begegnet, wir haben ihn
nicht aufgesucht, sahen ihn gewissermaßen
zufällig aus der nahen Ferne beim Mittagessen auf Englisch parlierend, ein Kollege sicherlich.1 Wir wollten nicht stören. Wir hätten Gabriel Zuchtriegel gerne zu einem
außerdienstlichen Gespräch getroffen. In
„Etruskische Orte“ des (deutsch inspirierten) englischen Dichters David Herbert
Lawrence ist „der deutsche Etruskergelehrte“ eine stehende Figur.2 Gabriel Zuchtriegel gleicht diesem – von Lawrence als beschränkt und objektivistisch gezeichneten –
Archäologen von 1927 wenig. Zuchtriegel
lebt in einer erneut von Kulturumtrieben erschütterten Zeit, in unserer Zeit; er ist dagegen ein ausgewiesener Fachwissenschaftler
und mit den neuen Anwendungsbereichen
der Archäologie vertraut. Die zu D. H. Lawrence‘s und Aldous Huxley’s Zeit noch als
Gegensätze gehandelten Bereiche von wissenschaftlich-forschendem und intuitiv-inspiriertem Forschen (unter der Erde und am
Boden der Geschichte gewissermaßen) dürften sich ihm zumindest als zu überwindende
oder sich ergänzende erwiesen haben.3 Er ist
mit 38 Jahren bereits Direktor des PaestumMuseums und der Altertümer in der südita-
lienischen Provinz Kampanien (ursprünglich Teil eines revolutionären Armenhauses
im italienischen Süden, aus dem norditalienische Generäle wie etwa Cavour lieber geflohen wären, als es der neuen Nation Italien einzugliedern). Zuchtriegel arbeitet
hart – wie man dort überall erfahren kann –
an einer ultimativ weltoffenen Präsentation
der Altertümer und mit einer pointierten
Mission im Bildungswesen der Region –
kurz, im Jargon der deutschen Gemeinde
der Geisteswissenschaften, ein ‚Leuchtturm‘.
Zuchtriegel hebt die Sonderheit eines
Fundes aus der Nähe Paestums hervor, der,
so möchte ich behaupten, alle Problemwürfe
der aktuellen Interpretation eines antiken
Fundes beherbergt: Es handelt sich um das
einzige uns bekannte Grab mit bebilderten
Fresken in einer griechischen Siedlung vor
dem 4. Jahrhundert v. Chr. Noch einzigartiger ist es durch sein auf der unteren Fläche
des Grabdeckels angebrachtes Bildmotiv:
ein junger (nackter) Mann, der sich (geschickt) von oben ins Wasser stürzt. „Die Eigenart, die das Grab des Tauchers so rätselhaft macht, ergibt sich daraus, dass es bar
eines jeden narrativen Elements ist, derart
dass es angefügt wäre oder einen Hinweis
enthielte, uns die Bedeutung dieses Bildes
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GEORG STAUTH
zu eröffnen; keine Spur eines mythischen Elements, auch wenn es unleserlich sein könnte.
Die Forschung tendiert dahin, in diesem
Springer eine metaphorische Repräsentation
der Passage vom Leben zum Tod zu sehen;
das aber wäre eine problematische Interpretation: Eine metaphorische Sprache, die für
diese Zeit – so weit entfernt von antiker
Kunst – im Repertoire archäologischer Funde
nicht bezeugt ist. Es gab das Bild als Metapher nicht, oder wenn es sie gab, dann wäre
das Grab des Tauchers das einzige Beispiel;
kann man ernsthaft behaupten, dass in einem
Universum der Musik, in dem es einzig den
Kontrapunkt gibt, jetzt plötzlich als Improvisation eine auf Harmonie und Akkorden gegründete Oper erschiene?“4
Soweit die synthetisch-kritische Stellungnahme von Gabriel Zuchtriegel zu den verschiedenen, meist religiös gefärbten Interpretationen des Taucherbildes in Paestum. Ich
Abb. 1
möchte dieser Kritik zustimmen, habe aber
einige Fragen hinzuzufügen: Was wäre, wenn
man die Frage der Stilkohärenz einer Ära erst
einmal beiseiteließe. Man muss ja nicht gleich
von „Metapher“ sprechen, aber man könnte
doch vielleicht auch andere Abbildbeispiele
finden. Vielleicht in einer anderen Gegend, in
einer anderen Kultur Süditaliens, bei den
Etruskern, zum Beispiel in einem Tumulus
von Tarquinia? Und wenn man – wie Zuchtriegel es vorschlägt – die religiöse Richtung
ablegte und die Abbildsprache profanierte?
Hätte man dann nicht vielleicht doch ein Beispiel für die resistente, gegenfügige, erlebnisbezogene Darstellung? Erscheint sie nicht
natürlich, einzelmenschlich, wider die Kollektive der Großen, der trunksüchtigen und kriegerischen Heroen aufstehend?
Meine folgenden Überlegungen zum Taucher gehen in diese Richtung (Abb. 1). Zunächst allerdings seien ein paar Worte zur
Der Taucher von Paestum und der Autor
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
„Axialität“, das aus der Spätantike hervorgegangene, aufklärungsuchende Setzen der
Orientierungslinien in Raum und Zeit,5 angebracht; auch hier, so meine ich, wäre ein
Stück der „Profanisierung“ notwendig.
Der Golf von Salerno
Wer an der Küste des Golfs von Salerno entlang nach Süden fährt, kommt nach etwa einer guten halben Stunde bei den Tempeln von
Paestum an. Er durchstreift eine Landschaft,
die im Rücken durch die phantastischen, aus
dem Meer ragenden hohen Berge zwischen
Sorrent, Amalfi und Salerno begrenzt ist. Er
hat rechts das Meer und im Osten und Süden
weiter im Inland aufsteigende Bergzüge, die
der Reise der vom Meer über flache Küstenhügel herangetragenen weißen oder grauen,
ja manchmal gar rosaroten Wolken ein Ende
setzen. Es kommt zu dunklen Wolkenstauen,
die sich oft aus heftigen finsteren Ballungen
in Entladungen des herangetragenen Wassers ergießen. Hier liegt eine sonderbare,
langsam ansteigende Landschaft zwischen
Meer und Bergen, immer getriebene Wolken,
und der ständige Wechsel der Wetterlagen
zwischen bedrohlichen Gewittereinfällen und
dem hitzebringenden, über allem liegenden
Sonnenfeld, dem Azzurro, bis zu einem stillgelegten Horizont reichend. So wie ein stiller
Himmel stundenlang scheinen kann, so produzieren die Gewitter dunkle Zwischenlagen
und schaffen eben dann wieder jene Ballungen unter und über den Bergketten. Es schießen Blitze herunter, es schallen weit über das
Land hallende Donner. Es folgen gewaltige
Erschütterungen der Luft und das Regenschütten, das den Menschen ängstigt oder gar
in einen hilflosen Schrecken versetzen kann:
stündlich wechselnde Lagen von heißer Luft,
an fernen Hügeln hängende schwarze Wolken, von Wasserschüssen überflutete Felder.
Dort, wo Paestum liegt, das alte Poseidonia,
unweit des Flusses Sele, stehen seine weißen
Tempelreste in den Himmel weisend; dort
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war bis Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr.
nichts oder wenig zu finden. Wie also nahmen
die allmählich von Tarent und Sybaris herüberkommenden – eventuell gar von dort entflohenen – ersten Siedler diese Landschaft
auf?
Darf man annehmen, wenn wir uns –
„naiv“, ja, der Einwand ist uns bekannt –
auch hier auf Erlebnissichten beziehen, dass
es sein kann, wenn man über längere Zeit in
bzw. gewissermaßen über einer solch lebendigen Landschaft lebt, sich dabei als bewusstes
Einzelwesen in Beschreibungen der Alten
vertieft, sich einen thematischen Schwerpunkt setzt, der Naturerlebnis und Bewältigungen desselben, wovon die Alten in ihren
Legenden und Mythen, ja ihren Andichtungen sprechen, in einen quasi unmittelbaren
Zusammenhang mit ihren sozialen, geograpischen und religiösen Kreationen bringt? Wir
haben ein paar Hinweise eines jungen Mannes aus Neapel, Giambattista Vico (1668–
1744), der in Vatola lebte, in einem wenige Kilometer südlich von Paestum in den Bergen
über dem Meer liegenden Dorf. Er diente in
seiner Jugend neun Jahre als mittelloser
Hauslehrer in einem kleinen Schloss. Könnte
seine unter dem Titel „Neue Wissenschaft
über die gemeinschaftliche Natur der Völker“
in Neapel 1725 erschienene Geschichte6 nicht
doch auch von den Eindrücken aus seiner Zeit
in dieser Landschaft geprägt sein?
In dieser Region, die den Aufstieg und den
Niedergang zweier so großer Zivilisationen,
der griechischen und der römischen, so klar
in den gebliebenen Ruinen und Relikten verkörpert, in Neapel, das zur Lebenszeit des
Philosophen Schicksal bestimmend selbst
den dreifachen Herrschaftswandel europäischer Dynastien (Spanier, Österreicher,
Franzosen) erfahren hat, war kaum ein Geschichtsziel auszumachen, so wenig wie in
den Geschichten der Alten. Nirgendwo
schien die ‚Anthroposcene‘ so klar wie hier;
immanent sind nur die Taten des menschlichen Geschlechts selbst, in der schwankenden Gesetzlichkeit ihrer Folgen. Aber Vico
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GEORG STAUTH
beschreibt so eindringlich den Wandel zwischen vor-religiösem ‚Urmenschentum’,7 das
erst, indem es im Blitz den Zeus erkannte,
seine Angst allmählich zu beherrschen verstand, und die Religion, wie sie in unwillkürlicher Bindung ihre Substanz ändert, in neue
weltliche Macht entlässt. Giganten, Heroen
und Aristokraten, die schließlich selbst dem
von ihnen erfundenen Gesetz unterstellt sind
und gerade dieses fortdauernd zu brechen
versuchen werden; Plebejer, die am Leid weiter züngeln, obwohl ihnen das Leben schon
fast alles gegeben hat. ‚Urmensch’ meint nach
Vico nicht nur eine zentrale Bedeutung der
Präsenz von Natur im menschlichen Leben,
sondern stellt auch die Individualität des
menschlichen Erlebens als Ganzes, gewissermaßen im Bild, in Rechnung. Es ist dies der
Ausgangspunkt für den in diesem Aufsatz
vertreten Mikro-Ansatz.
Die zum Handel zunächst sich hier ansiedelnden Griechen mögen schon Ende des
7. Jahrhunderts v. Chr. auf direkt aus Ägypten importierte Kulte gestoßen sein, wie die
Etrusker entlang des Tyrrhenischen Meeres
überhaupt. Die Hera an der Sele, dem bei
Paestum ins Meer stoßenden Fluss, erscheint
ihnen etwa schon als eine „verborgene“ Isis,
Göttin des Lichts; Symbole, ägyptische Kulte,
lokale Praxis und schließlich die aus Ägypten
stammende Idee des Säulenbaus der Tempel,
breit ausgelegte Mischungen, die sich im
Kräftefeld von geflohenen Plebejern und obsiegenden einfallenden Heroen verdichten
und entfalten? Sagt Vico wirklich etwas zu
den Bedingungen der lokalen Verflechtungen
des Hellenismus? Darf man diese Fragen stellen, auch wenn sie zum Überspringen der
Fachkompetenzen herausfordern?
Globale Bedingung axialer
Sichtweisen
Wie immer man seine Augen auf die Dinge in
den Spektren der gerade gängigen methodischen Orientierungen richtet, es sind Archäo-
logie und Altertumswissenschaft dabei unweigerlich auf Klassifikationssysteme angewiesen, die sich auf strukturelle Bedingungen
am Ort – historische und natürliche – beziehen, zugleich aber von außen mit Begriffen
gefüttert werden, die den Stand der menschlichen Interessen in Wissen und Macht reflektieren: Fachdisziplin. Am deutlichsten wird
dies, wenn wir von „axialen Räumen“ sprechen, die trotz ihrer beträchtlichen Ausweitung ihre Bestimmungen von den monotheistischen Weltreligionen her erhalten: „Texte“
(Bibel, Koran, Thora), jenseits aller praktischer Erfahrung produzierte Wahrheiten, in
einer „Welt“ in Metaphern von charismatischer Authentizität gefangen, göttlichen/prophetischen Ursprungs, auf Offenbarung beruhend, füllen den Raum.
Wir befinden uns auf dem weiten Gebiet
der postkolonialen Analyse des Orients, einerseits jenes weiten Raumes, in dem die
Weltreligionen ihre Geburt feierten, von daher also auch diejenige unserer eigenen Kultur, andererseits beziehen wir uns auf die
großen Räume eben dieser unserer Kultur,
Okzident, als den ursprünglichen Ort der
Realisierung unserer Erfindungen und
Empfindungen, die Öffnung der essentiellen, axialen Bedingungen für neue Bewusstseinseinbrüche – Wandel, der in kulturellen
Entwicklungssprüngen fortdauert und in
„andere“ Kulturräume hineinwirkt. Die gängige Theorie der Axialität hält „Zivilisation“
in einer Großraum-Dimension gefangen, die
im Spiel zwischen geschichtlicher Kontinuität und radikalem Bruch mit der Geschichte
einen multiplen Kern der kulturellen Entwicklung zulässt und damit eine grundlegende Bedingung für die weltumfassende
kulturelle Einheit darstellt. Ein Mittel im
Kampf um die imperiale Einheit des postkolonialen Selbstverständnisses des Menschentums steht uns dabei in der Archäologie/Anthropologie zur Verfügung: Die binäre
Klassifikation zwischen Ost und West
wurde durch theologische Narrative des Ursprungs ergänzt. Wir denken in Ost-West-
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
Widersprüchen als ein räumliches MakroDesign, in dem Christentum und Europa als
der bestimmende Teil in der charismatischen Aktivierung der Welt figurieren, im
umfassenden prophetischen Monotheismus/Messianismus. Wir heben uns damit in
unseren revolutionären, axialen Behandlungsmustern von den kohärenten integrativen, stagnativen Präsentationen der patrimonialen Herrschaft im Orient ab. Es ist in
der Tat berechtigt davon zu sprechen, dass
auf diese Weise der Begriff des „Orients“ als
des politischen Ortes der menschlichen und
sozialen Unterentwicklung, des falschen Ortes nicht-modulierten Lebens, des exotischen, des anderen, irrationalen Weltverständnisses und der ‚Unordnung‘ selbst ein
Produkt der okzidentalen Selbstbestimmung ist.8
So gesehen, wäre ein Besuch in Paestum
keineswegs ein Gang „in eine völlig fremde
Welt“.9 Paestum ist Teil des axialen Raumes
Europas,10 es zeigt uns zunächst und vor allem, wie stark am „Ursprung“ unserer eigenen Weltsicht eine durch axiale Richtungen
bestimmte, unseren Blick einbeziehende
Ordnung steht. Bei diesem fortlebenden
oder hier gerade wieder erwachenden, ureigenen Ganzheitsblick für den Austausch
zwischen Mensch und Natur gerät nun auch
der Ort selbst mit seiner langen Geschichte
der Auslagerung und Unterbewertung lokaler Völker in den Blick. Die zivilisatorische
Bedeutung der uralten lokalen oder selbst
aus dem „Orient“ eingewanderten italischen
Völker (etwa der Lukaner und Etrusker)
wird erkannt. Zwar ist die herausragende
monumentale Stellung „Athens“ und „Roms“
ungebrochen, doch macht sich in den musealen Präsentationen vor Ort eine neue Idee
bemerkbar, eine Errungenschaft des zeitgenössischen postkolonialen Denkens und Forschens: die Notwendigkeit der Anerkennung
der „Vorgeschichte“, der weitgehend unbekannten, aber in den Sedimenten von abgelagertem Ruinenschutt auffindbaren und
von daher weiterwirkenden Präsenz im Bild
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der Lebensformen der ‚Urmenschen’. Es
wird auf großartige Weise ein Interesse für
die „marginalen“ und „subalternen“ Lebenskulturen des Altertums geweckt. Man kann
spüren, wie nahe diese uns heute sein können, so nahe wie diejenigen der Metropolen
selbst.
Das ist für uns durchaus ein Thema, weil
wir selbst weiterhin in axialen Denkmustern verwurzelt sind, in anderen Worten,
uns im tiefen Urgrund der lokalen Erscheinungen bewegen. Andererseits besteht der
Begriff von Leben fort; zwischen Ursprung
und Tod erfindet sich das Leben weiter, als
βίος, als Medium der Komprimierung, die
aufsteigende und verschwindende Präsenz
des Körpers in Zeit und Raum. An Paestum
irritieren uns zwei Tatbestände, die zeigen,
wie Kultur sichtbar am Beginn aufbricht
und das Ende mitdenkt:
Erstens ist es die überragende Präsentation einer „kleinen“ Tatsache, die seit ihrer
Entdeckung nie ganz vergessen, aber erst
neuerlich mit größerem Respekt als einer ergänzenden Nebensache behandelt wurde:
das Gemälde des nackten Springers, des sog.
Tauchers (Abb. 2) Die Positur des Körpes
und der Ausdruck seiner Natur sind so allgemein, dass er überall hätte sein können.11
Als würden wir uns selbst in unserer wahren körperlichen Existenz erkennen können,
stehen wir heute, nach zweieinhalb Jahrtausenden, vor diesem ätherischen Bild eines
einfachen, in Luft und Wasser sich bewegenden menschlichen Körpers. Aber vielleicht
urteilen wir zu schnell? Könnten wir uns zu
schnell mit dieser Erscheinung affektiv solidarisieren, weil sie – rein körperlich – eine
Nachkriegsgeneration einfängt, eben jene
(für das 20. Jahrhundert so verbindliche)
Generation, wie sie Walter Benjamin beschreibt?: Sie „stand unter freiem Himmel in
einer Landschaft, in der nichts unverändert
geblieben war als die Wolken, und in der
Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender
Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper“.12 Leben also
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Abb. 2
GEORG STAUTH
Innenansicht des Grabes des Tauchers (Tuffatore) in Paestum, ca. 470 v. Chr.
außerhalb der Zeit und wider alle Tradition.
Oder war er, der winzig, aber höchst körperlich erscheinende Taucher nicht doch etwas
Anderes, etwas ganz Anderes, vielleicht der
völlig in seiner Energie spiritualisierte Körper zwischen Himmel und Erde? Auch das
könnte man aus manchen Interpretationen
herauslesen.
Zweitens, der weite Raum, in dem sich die
kolossalen Tempel allein gestellt zwischen
Himmel und Erde über den Ruinen einer
Kleinstadt erheben, allein, unweit über dem
Meer angeordnet, bleibt die Konstruktion
der Formen in Masse und Stein beeindruckend (Abb. 3). Heute noch können die Besucher – wie sonst kaum bei Präsentationen
antiker Monumente – sich weitgehend
selbst dem freien Lauf ihrer Blickrichtungen
überlassen. Man kann darin wandern wie in
‚freier Natur‘, als lebte man selbst als ein
Grieche in seiner Zeit, in seiner Welt. Eine
längst verloren gegangene urmenschliche
Erfahrung des inneren Verflochtenseins von
kultureller Gestaltung in der Stein- und
Säulenmaterie der monumentalen Tempel
und des daraus hinausdringenden Sichterlebnisses der Natur kommt auf. Das ‚Naturschöne‘ wird zum gestalteten ‚Menschheitsschönen‘– hier also Leben in massiver,
kolossaler Tradition und in überzeitlicher
Erinnerung. Für uns heute sind solche Ausblicke Zeugnisse des ästhetischen Bewusstseins der „Alten“, der „Anderen“, so als wären wir selbst bar jeder Erfahrung, in der
noch Natur allein sich als ein ästhetisches
Phänomen ereignen könnte.
Zwei so verschiedene Grunderlebnisse an
einem Ort: In diesen beiden Ereignissen der
Begegnung, der Körpereinheit und der Natureinheit, verbirgt sich die Erfahrung einer
anderen Art von „Axialität“. Nicht mehr als
Großraum-Dimension der Ideen von „Zivilisation“ stellt sich die lästige Hauptfrage
nach dem Ursprung unseres Ordnungsdenkens, sondern als das, worin wir das „Andere“ in der Nähe erleben und sehen können. In diesen beiden Dimensionen der
Unmittelbarkeit will ich mich am Beispiel
Paestums der Frage der Mikro-Axialität
widmen, gerade um das, was im Sinne einer
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
Abb. 3
167
Paestum. Athenatempel (sog. Ceres-Tempel)
unmittelbaren Erfahrung heute noch als
Axialität Bedeutung haben kann, zu zeigen.
Man kann diesen Sprung jedoch nicht
ohne Kosten machen. Nähme man sie theoriegeschichtlich ernst, so müsste man die
Axialitätsphilosophen direkt mit Benjamins
extemporalem menschlichen Sensorium
konfrontieren, und umgekehrt sich selbst
Benjamins hoffnungslosem okzidentalen
Verfallensein entledigen. (Das hieße in diesem Falle natürlich auch in der Gestalt der
Tempel ägyptische Handwerker oder Handwerk und Werkzeug aus der Tradition der
ägyptischen Groß- und Urgroßväter mitzudenken, wie andererseits die wirkende Idee
der Geschlossenheit der antiken griechischen Kunst aufzugeben).
Der Ausruf Goethes, sich hier „in einer
völlig fremden Welt“ zu fühlen,13 signalisiert
heute mehr als nur die verzweifelte Suche
nach den „Ursprüngen“ der Ruinen, im Großen und im Kleinen. Wir wagen den Sprung
in die Zeit des Tourismus und müssen mit
dem Massengrab der Selfie-Kamera leben.
Es wäre falsch zu vergessen, was der Beruf
des Archäologen/Altertumswissenschaftlers
heute bedeutet, und wie er nicht an diesem
unmittelbaren technischen und medialen
Wandel vorbeikommt. Auf dieser Ebene
wird deutlich, wie sich doch alle der Frage
der Stufen neuer Organisationsformen der
sinnlichen Wahrnehmung widmen, (nach
Materie, Handwerk und Form) öffnen und
entsprechend auch den Wandel in der Deutung von Altertümern vollziehen müssen.
Während Kirche und Staat noch das herrschende Geschichtsbild, die Post-Axialität
von Rom und Italien, durch das Einbeziehen
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GEORG STAUTH
der Kolosse in ihre eigene Monumentalität
pflegten, geht es doch heute eher um ein
vielfaches Näherkommen an diese uns anscheinenden Dinge aus alter Zeit. Ein Festhalten am privaten Bild bereitet den Weg zu
einer neuen, individuellen Aneignung. Der
„Taucher“ wird uns da so normal körperlich,
wie wir selbst es sind (aber auch nicht nur
ein vorweggenommener Sportsmann). Nur
sein Verhältnis zu den anderen Menschen-,
Tier- und Dingbildern in den Gräbern ist
und bleibt uns rätselhaft, die Wissenschaft
ist so ratlos wie wir.
Der axiale Taucher
Der sehr kalt und fremd stilisierte „Taucher“ im Sprung von einem Gerüst kann
nicht so „plump“ sein, wie er erscheint; im
Vergleich gar mit den einst aus dem Sumpfland über dem Meer aufsteigenden schweren Säulensteinen dreier großer Tempel, wie
Goethe sie noch im März 1787 in Paestum
erlebt hat, wirkt er sehr lebendig. Die Tempel wurden ab der Mitte des 6. Jahrhunderts
v. Chr. errichtet; man vermutet vom griechischen Tarentum her inspiriert, möglicherweise im Wettbewerb mit Athen. Man
kann also von einer imperialen, kolonialen
Tat sprechen, ein globales, visionäres Zeichen setzend. Was bei Goethe noch als störende, verwirrende und befremdende Reste
und Relikte des obsiegenden Barbarentums
erscheinen mochte, die die Tempel umlagernden Trümmer erkennen wir heute als
die dynamischen Siedlungsbereiche an. Sie
erzählen vom Leben in der Zeit der alten Lebenskulturen der im Glanze Roms untergegangenen italischen Stämme. Letzteren,
den Lukanern, Samanern etc., wieder ein
kulturell bedeutsames Leben einzuhauchen
und es im Gesamtkomplex für Paestum zu
würdigen, ist das Anliegen der heutigen
‚postkolonialen‘ Archäologie und Altertumswissenschaft unter der Leitung von Gabriel
Zuchtriegel.14
Das etwa zweieinhalb Jahrtausende alte
Fresko mit dem ins Wasser springenden
„Taucher“ wurde im Süden Paestums von
Mario Napoli im Juni 1968 gefunden. Auf
der Innenseite der Grababdeckung überdauerte es die „Geschichte“ der griechischen Kolonie Pyxos oder Doppelbesiedelung in Apoikia am Ort. Das Grab wird um 470 v. Chr.
datiert.15
Das den nackten „Taucher“ – il Tuffatore –
verkörpernde Bild entwickelt eine für uns
heute eigene visionäre Spannkraft im kulturellen Feld zwischen monumentaler Macht
und einfachem Leben. In Form und Stil hebt
es sich gegenüber den an den Seitenwänden
des Grabs erhaltenen Fresken deutlich ab.
Da bleibt das Problem der Deutung im Kontext. Man weiß nicht, aus welchen Motiven
diese Figur auf der Unterseite des Grabdeckels angebracht wurde. Eines aber ist offensichtlich, und ein entsprechendes Springer- bzw. Taucherphoto eines jungen Mannes aus den 1950er Jahren, das im Museum
gezeigt wird, scheint uns dahin zu führen:
Man sprang damals, vor mehr als zweitausend Jahren nicht anders von der Höhe ins
Wasser als heute.
Die ältesten Siedlungen an dieser Stelle,
vom Meer den Hügel hinauf, gründeten in
einer Zeit, als es noch die Etrusker hätten
sein können, die diese Küstengebiete des
südlichen Italiens beherrschten, wie auch
andere Landschaften südlich des Tibers. Zu
den einwandernden Griechen – man weiß
hier wegen der großen Lücken in der antiken Überlieferung wenig Genaues – kamen
im 5. Jahrhundert v. Chr. eben jene inländischen wilden Bergvölker, die Lukaner
und/oder Etrusker/Tyrrhener u. a. hinzu
und bald später schon die Römer, die in einer Mischung von barbarischer Zerstörung
und Assimilation dem griechischen Erbe ein
Ende setzten. Nun waren es nicht vielleicht
doch auch hier Etrusker, auf die die Römer
gestoßen waren und die auch hier – wie im
Tyrrhenischen Mittelitalien – ein bleibendes
kulturelles Zeichen setzten? Die von den Rö-
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
169
Abb. 4 Fresko im Grab der Jagd und des Fischfangs (Tomba della Caccia e della Pesca) in
Tarquinia, ca. 510 v. Chr.
mern und den, wie Lawrence meint, romhörigen modernen Historikern wegen ihrer Lebenstrunkenheit als Barbaren abgetanen
Etrusker waren und sind im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. doch auch südlich des Tiber
selbst noch der einschlägigen Wissenschaft
bekannt. Gab es einen Austausch zwischen
Etruskern und Lukanern? Ihre Siedlungen
sind wegen der Holzbauweise weitgehend
verschwunden, es bleiben uns nur ihre Gräber. Unzweifelhaft hinterließen die Griechen dagegen ein bleibendes Zeugnis ihrer
großen Kultur in Stein. Und so sind auch
heute noch ihre Tempel, die Massigkeit und
Schwere der Säulen, die überragende Proportioniertheit der hellen, lichtsetzenden
Erscheinungen im Raum die einzigen monumentalen Hinterlassenschaften der Antike
am Ort.
Nun, wir sind keine Archäologen oder Historiker, müssen also unsere Ideen von Paestum in Anlehnung an Goethes örtliche Erfahrung „in den Wind spucken“, weil wir die
lokalen Sprachen nicht entschlüsseln können.16 Es bleiben uns Bild und Architektur
als Gegenstand. Ahnend, dass mir eine sol-
che Figur wie der Taucher schon einmal in
den Blick gekommen war, greife ich nach
dem Etruskerbuch des ersten der von den
Historikern so verschmähten ideenreichen
‚Postmodernisten‘ (und eben auch selbst
kein Archäologe oder Historiker): D. H. Lawrence. In seinem „Etruskische Orte“17 finde
ich dann überrascht einen zweiten „Tuffatore“, der anders, wenn auch nicht ganz anders, als der Paestum-Taucher ins Wasser
springt. Der Paestum-Taucher hat also zumindest ein Pendant in dem aus dem Ende
des 6. Jahrhunderts v. Chr. stammenden berühmten Bild im Grab der Jagd und des
Fischfangs (Tomba della Cacchia e Pesca) in
Tarquinia, dem ca. 100 km nördlich von Rom
gelegenen lebendigsten der etruskischen
Orte mit glorreichen Fresken in seiner
Nekropole (Abb. 4).18 Es sei angemerkt: Zwischen den beiden Taucherbildern liegen
nicht nur ca. 400 km Entfernung, sondern
auch ein fast 50 Jahre dauernder Zeitabschnitt in der lokalen Geschichte. Wir können hier nur offen fragen, was in dieser Zeit
an und in den Landschaften zwischen diesen
Orten alles passiert ist?
170
GEORG STAUTH
Hier also ist er, der zweite nackte Taucher, jetzt nicht im Bildzentrum zwischen
Luft und Wasser, sondern am rechten Ende
eines von Tieren, Vögeln und Fischen übersprudelnden Gemäldes, gar selbst schon
dem Wasser nahe (Abb. 4). Man hätte sich
gewundert, wenn Lawrence, dem tiefsehenden Beobachter, dieser „Typ“ nicht aufgefallen wäre. Er gebrauchte so wunderbare
Worte über den etruskischen Lebenspuls –
heiter, ungezwungen, lebenslustig – und zu
den Fresken im Grab der Jagd und des
Fischfangs. Allerdings, wie er die Stimmung
des Gemäldes beschreibt, legt er kaum Wert
darauf, dem Einzelcharakter des sich fast
einsam, nackt und streng von einem Felsen
herunterstürzenden Mannes, vorbei an Vögeln und Fischen, größere Bedeutung beizumessen. „Aus dem Meer“, schreibt er, – oder
ist es vielleicht doch auch nur ein Teich?
Lawrence braucht das Meer, weil es besser
zu „Zugluft“ und „Dunst“, „fliegenden Vögeln und springenden Fischen und kleinen
jagenden, fischenden, in Booten rudernden
Menschen“ passt, die sonst die Atmosphäre
des Bildes beherrschen. Aber doch, er sieht
ihn, zeigt ihn: Aus dem Meer „ragt ein hoher
Fels empor, von dem ein nackter Mann,
schattenhaft, aber noch zu erkennen, prächtig und gewandt in die Fluten taucht.“19
Dort im Tarquinia des D. H. Lawrence haben wir es im Fresko an der linken Wandseite mit dem Körper in kleiner Gestalt, aber
doch in Form eines höchst „modernen“ Tiefentauchers zu tun, der in instinktiv gestreckter Haltung derjenigen des PaestumSpringers verblüffend ähnlich ist. Jetzt
haben wir ihn deutlich, den, wie ich sagen
möchte, modern-sportlichen (die Haare so
glatt am Kopf, als wäre ihm die Badekappe
abhandengekommen), schmalen, stromlinienförmigen, springenden Taucher, den
Etrusker von Tarquinia, der dem Taucher
von Paestum so ähnlich ist. Als wäre er
selbst hier angekommen, und jetzt schon im
Wasser unter Fischen und Enten tauchend,
zwischen ganz anderen Lustmolchen gerad-
linig nach unten vorbeigleitend, sehen wir
ihn. Während der Taucher in Paestum gerade eben noch dem Brett entsprungen
schien, mit elegant leicht gekrümmten Beinen, nicht ohne Zielbewusstsein sich kantig
und mit Fliehkraft aus dem endlosen Himmel auf das breite endlose Wasser richtete,
war es doch der in Tarquinia, der in Form
und Gestalt fast gleiche Menschenkörper,
der von oben her lebendig am jungen Leben
der Vögel und fliegenden Fischen vorbeirauschte, hinunter ins Wasser, in den Felsensee oder das „Meer“. Vergleicht man sie
mit den sonst in dieser Bilderwelt wesenden,
den liebenden, tanzenden und kämpfenden
Heroen, so ähneln sie in ihrer Erscheinung
nicht den Heroen, wohl aber eher den springenden Delphinen, die in den Fresken von
Tarquinia so häufig zu sehen sind (nicht
aber in Paestum!).
Es zeigt sich mit dem Taucher, wie Thomas Steinfeld treffend bemerkt,20 die in der
Tat zeitliche und räumliche Unangemessenheit als wirklicher Reiz des etruskischen
Kulturerbes. Der Taucher erhält eine gewisse Doppelsinnigkeit als nackter Körper
randständig in der Natur, die einmal hoch
belebt ist, einmal aber selbst schon fast ornamental abstrahiert. Die Gestalter im Paestum-Museum sind sich der Möglichkeit der
etruskischen Präsenz bewusst und zeigen
im Sekundentakt einer Video-Präsentation
das Abbild des Front-Freskos von Tarquinia
mit den unter Enten und Fischen planschenden jungen Fischern im Boot, nicht aber den
Springer im Gemälde der linken Seitenwand. Gegenstand und Thema der Archäologie/Altertumswissenschaft bleiben an den
Ort (den heute außer Mode gekommenen
Genius loci, das frühe Wirken der italischen
Völker gewissermaßen Appendix des großen
Griechenland und Rom) gebunden. Die vertrackten, vielfältigen Formen der inneren
Konnektivität treten in den Hintergrund.
So auch die Frage nach der Präsenz der im
logozentrischen Denken der Historiker unverstanden gebliebenen Etrusker, denen
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
ein ‚genialer‘ Laie wie D. H. Lawrence doch
so unvermittelt eine den Römern gegenüber geistige und lebenstechnische Überlegenheit zusprechen, ja aus heutiger Sicht
gar eine globale Dimension ihrer eigenständigen Zivilisation nicht absprechen
wollte.
Paestum und Tarquinia
Was dann? Vergleichen wir noch einmal die
beiden „Taucher“ aus Paestum und Tarquinia, mit all den Rätseln ihrer späteren Interpretation und ihrer verborgenen Konnektivität. Es prägt sich dieser quasi minimal
‚vergeistlichte‘ Körper ein, hochspringend,
von oben leicht gebeugt sich nach unten orientierend, alleine. Meer und Luft, fast ohne
Welt durchschweifend regiert er das Grab in
Paestum. Da ist in Tarquinia der in gerader
Stromlinie von oben nach unten ins Tiefe
des Wassers gerichtete, im Chaos der Tierwelt (Enten, Delphine, Fische etc.) von Geradlinigkeit strotzend, aber ganz in Ruhe,
nur zum Felsen randständig herunterkommende Badekörper. In beiden Fassungen
bricht sich der gleiche Körperbau den einsamen Weg durch die Elemente, miniaturartig
wie bei Paul Klee, hier aber voller kleiner
muskulöser Rundungen, immer mit streng
nach oben gerichtetem Kopf. Was machen
wir mit dieser minimalen, marginalen doppelten Bildfigur der Antike? Bedarf sie nicht
der höchsten Beachtung, wenn wir heute,
aus der Antike, von Neuem archaisches
Menschentum schöpfend, über Korporalität,
ja im nackten, wie im religiösen Leben über
Trans-Korporalität sprechen? Ist da nicht
auch eine so machtvolle Präsenz des ‚modernen‘ Körpers wie in der Antike? Wie vergegenwärtigen wir sie uns erneut, ja, fragen
danach, wie nahe oder wie fern diese Menschen aus der griechischen und vorgriechischen Welt uns sind. Unter den Etruskern der findige Lawrence, unter den
Subalternen der Gegend von Paestum der
171
junge deutsche Archäologe, der aus den
Trümmern der Tempellandschaft heute ein
anderes antikes Menschenbild zusammenpuzzelt! Wie könnte man auch diese Parallelität der „surrealen“ Körper als die „Realität“ der kleinen Zeichen von Paestum und
Tarquinia entschlüsseln? Ross Holloway hat
andererseits den Weg zu einer neuen technischen Erklärung der gravierenden Stildifferenzen im Grab des Tauchers eröffnet – mag
sein, dass die verschiedenen Hände zweier
Maler in der Gestaltung der Fresken eine
größere Rolle spielen als Philosophien (etwa
der Transzendenz).21 Es kommen in den
Fresken aber auch grundlegend verschiedene Typisierungen von Körperformen zum
Ausdruck, symbolisch zwei koexistente,
gleichsam alternative Lebensformen: hier
massige, orgiastische, dort leichte, fliegende, gleichsam asketische Körperlichkeit.
Ein Ansporn, den philosophischen Weg weiter zu gehen.22
Befinden wir uns in Paestum wirklich in
einer so völlig anderen Welt? Goethe an einem Tag in Paestum, warum konnte er so
wenig Gefallen aus der Harmonie der Tempelbauten ziehen? Ein Tag in den Ruinen,
„plump“, eine Stufe zum idealen Griechentum, das Gefällige habe erst aus dem Ernsten hervortreten müssen. Als wäre er dem
Strandtourismus entflohen, gerade einmal
ein Tag in den damals noch recht ungepflegten Ruinen, Leere und doch Größe spürend.
Heute erschlägt man uns in einem überaus
beeindruckenden Museum mit großartigen
Dokumentationen. Nein, da ist nichts von
faschistischer Architektur spürbar! Man
brauchte allerdings Wochen, um wirkliches
Wissen aus dieser Vielfalt zu ziehen. Aber
das Wandern und Wandeln in diesen Lichträumen der Geschichte, wo der marmorgeschliffene glänzende Travertino helle Ruhe
bringt und Gelassenheit. Wie konnte das alles, was draußen, aber auch in diesen Räumen zu sehen ist, entstehen?
Zu Beginn des 6. oder vielleicht schon am
Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr., soviel ist
172
GEORG STAUTH
gesichert, entstand in Paestum eine neue
griechische Kolonie, und doch ist es aus heutiger Sicht nicht möglich, den gewaltvollen
Prozess des Zurückdrängens, der Vertreibung oder Unterwerfung der italischen Völker und schließlich dann ihres Obsiegens
über das Griechische nachzuvollziehen. Die
italienische Altertumsforschung hat sich in
der Tat seit langem mit den italischen, den
vorrömischen und vorgriechischen Stämmen und ihren Siedlungen beschäftigt, doch
gewinnt die Existenz dieser Völker auch in
ihrer Bedeutung für den Hellenismus in
postkolonialen und postmodernen Forschungsrichtungen ein neues Gewicht.
Ich bedauere es sehr, dass diese Trends
andererseits kaum noch unser Bewusstsein
mit der inneren Geschichte der Modernitätskritik – von Nietzsche bis Benjamin etwa –
belasten wollen. So sehr der moderne Rekurs auf den „Mythos“ sich gegen den Logozentrismus der Kulturwissenschaften richtet, so wenig kann er sich davor verwahren,
die Frage nach den wirklichen Mustern der
Erkenntnis- und Gestaltungsformen in der
vorhumanistischen Welt selbst wieder nur
als eine positive zu stellen, ganz als ob die
Erkenntniswelt der Alten sich nur im Herrschaftsbild des modernen Objektivismus
erschließen ließe. Die Geschichte der lebensphilosophischen Modernitätskritik wäre
über Karl Löwith23 hinaus noch zu schreiben. Friedrich Nietzsche wollte die NeoRomantiker lehren, was es heißt, ‚wie die
Griechen zu leben‘.24 Beobachtet man die
wissensbemühten Zeitmenschen – im Gegensatz zu den Massen-Arbeitsmenschen,
die durch unsere Großstädte hasten – einzeln mit Buch und Kamera, in Gruppen mit
Führern, in Schulklassen verschiedenen Alters und Grades mit ihren Lehrern, wie sie
sich in der Nähe und Ferne zu der kolossalen Architektur durch diese konstruierte
und rekonstruierte Landschaft der Antike
bewegen, so gewinnt man den Eindruck,
dass alle hier plötzlich wie von den Maximen
der Griechensehnsucht erfasst sind, und
dass das allgemeine Wohlgefühl, das sie verbreiten, in sich selbst ein bleibendes fortschrittliches Kulturpotential bergen könnte.
Die bewegenden und sanften Präsentationen der alten Dauerkonflikte und das
gewalttätige Austragen von kulturellen Differenzen zwischen den ‚Urmenschen’ einerseits und den griechisch-römischen ‚Zivilisatoren’ andererseits bleiben im Hintergrund.
Wir erleben den Griechen in der gesteigerten Form seiner Monumentalbauten, wo er
zwischen den Säulenblicken aus seinen
Tempeln heraus die Rahmen absteckt, innerhalb derer er Himmel und Natur in
axiale Dimensionen setzt und beobachtet
und den Göttern dort das Wissen ihrer
Macht abtrotzt. Andererseits aber beginnen
wir die Bedeutung des ‚Urmenschen‘ zu erkennen. Hier zunächst noch verkörpert er
im „Aufstieg“ und ‚Fortschritt“ begriffen, in
‚primitiven‘ Formen, den Krieger, den Soldaten, den Sportsmenschen. Aber lassen sich
die ererbten kulturellen Widersprüche im
„Bild“ allein aufheben? Es kommen heute
noch die Arithmetik der Bevölkerungsgruppen hinzu, die Physik der hinterlassenen
Scherben und die Neugier des nachgeborenen Wiedererlebens.
Die Rätsel, die uns die Bilder des Tauchers aufgeben, reichen tiefer in die Welt der
kulturethischen Fragen der überzeitlichen
‚Körperlichkeit‘, die uns heute so sehr am
Herzen liegen. Wir müssen uns fragen, welchen „Bildern“ und „Idealen“ diese Körper
nicht entsprechen? Mit Sicherheit doch jenen nicht, die unten an den Grabwänden in
Paestum der Lust und Feier fröhnen, ihre
Trinkschalen halten, ihre Musikinstrumente, dann ihre Augen auf sich gegenseitig
gerichtet und nach oben, zur Decke hin, zum
Taucher? Woher nehmen die Taucher, gegenüber solcher Leiblichkeit, die Eigenart
ihres unscheinbaren Erscheinens? Und worin kann man dem Taucher, diesem normalen, schwebenden Körper, so klein wie er ist,
dann doch ein langes Leben als „Ideal“ zueignen?
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
Und vergessen wir nicht die Kämpfe der
Gestalten am Himmel in den wandernden,
aufblühenden und vergehenden Wolkenbildern, die Angst vor Gewitterschlägen und
Feuerbrünsten – als wäre es die Sprache einer enthobenen Macht, die Geister in den
schwankenden, wildbewegten Büscheln und
Blättern der Bäume und im Rumoren ihrer
Stämme. All das waren Beobachtungen, mit
denen Giambattista Vico, ganz ein Sohn
Neapels und der umliegenden Gegenden,
seine „Neue Wissenschaft“ auf dem Zusammenhang von Angst und Wahrheit begründete:25 die im Körper und vom Körper her
denkenden Menschen.
Das Hauptproblem der Archäologen und
Philologen bleibt aber immer die gebotene
strikte schematische Grenzziehung nach
Kategorien, der Trennungen von Ort und
Zeit, des Stils und der Künstler und die Idee
der geschlossenen Einheit der antiken
Kunst. Man versucht objektivistische Kategorien zu schaffen, die kaum Aussagen treffen über Form und Intensität, innere Energie oder auch Gestalt, Erfahrungsbilder vor
Ort zu vermeiden, sondern vielmehr auf Bestimmung statischer Grenzen und leerer Begriffe zurückzugreifen. Man äußert sich
jetzt doch auch kritisch gegenüber solchen
Abgrenzungen wie „Greek/Apulian prototypes“ gegenüber „Etruscan sepulcral analogies.“26 Aber man bleibt immer noch relativ
sprachlos gegenüber den Versuchen, etwa
die Malereien an den Grabwänden und
Grabbeigaben, die Gestalt der Kammern etc.
als kontextuelle Aussagen zu gewinnen. Alles und nichts Verlässliches lässt sich über
das Zusammenspiel des Tauchers mit seinen
erotisch-heroischen Genossen im Grab aussagen. Aber helfen uns die Stilfragen, etwas
über die Bewusstseinswelten des „Tauchers“
und seiner Beziehung zu der ihn umgebenden Welt in den Grabbildern und den Grabformen etc. zu erfahren? Der Taucher von
Tarquinia harrt weiterhin eines grundlegenden Vergleichs und wird andererseits bei
D. H. Lawrence27 in seiner Beziehung zur
173
Fischergemeinschaft im Boot überschätzt
oder fehlgedeutet. Die Spielgenossen befinden sich einfach nicht, wie von Lawrence angenommen, im gleichen Bild. Auch hier in
Tarquinia kommuniziert der Taucher nicht
mit der ihn umgebenden lebendigen Welt,
wenn er am Rande durchaus auch sich darin
zu befinden scheint. Er erscheint eben doch
in allem gänzlich als „begriffliches“ Gegenbild.
In der Tat, es gibt eine enge Kontinuität in
der Unter- oder Ab-Beurteilung der etruskischen Einflüsse, wie sie meines Erachtens
auch in der „Doppelexistenz“ des Tauchers
in Paestum mit seinem Pendant in Tarquinia zu Tage tritt. Niemand – selbst Zuchtriegel nicht – ist daran interessiert, der von
Lawrence beklagten langen Geschichte der
kategorischen und apodiktischen „modernen
Forschung“ einen Endpunkt zu setzen: Lawrence sprach von der einzigen Bewunderung
der Rom-Historiker für Machismus, Krieg
und Transzendenz. Die Doppelexistenz der
Figur des „Tuffatore“ in Paestum und Tarquinia gibt dabei weiterhin offene Rätsel
auf. Diese physische und geistige marginale
Position eines Mannes (der ins Wasser
springt) sollte auf die Notwendigkeit der
Öffnung des Denkens hinweisen, ein neues
geistiges Abenteuer sicher, das auf der Einsicht basiert, wie sehr sich in dieser Figur
der „Forscher“ mit dem „Erforschten“ selbst
in Verbindung bringen lässt, und so auch ein
neues Zusammenspiel von „Erfahrung“ und
„Methode“ ermöglicht. In diesem Sinne
möchte ich meine beiden Tage in Paestum in
Dankbarkeit zelebrieren, auch trotz des angelegentlichen Einwands gegenüber der
großartigen Arbeit, die dort geleistet wird.
Natürlich wird uns hier ein Wohlgefühl vermittelt. „Lasst uns wieder mehr Griechisch
denken“, was heißt das? Ein Aufruf, die symbolischen Erscheinungen in dieser Welt wieder ernst zu nehmen? Wahrnehmung und
Erfahrung bleiben für die Bestimmung des
eignen Standorts von Bedeutung. Und gerade von hier aus ist die Frage nach der
174
GEORG STAUTH
Axialität von Raum und Zeit, Gestalt und
Ort, Kontinuität, Schöpfung und Bruch neu
zu bewerten.
Treten wir noch einen Moment zurück und
vergegenwärtigen wir uns den „Blick“ der
Forscher: der Taucher und die Frage der
Transzendenz. Ist es wirklich das lebendige
Bild, das wir ernst nehmen dürfen? Der Forscher hat es schwer, die Bedingungen seiner
Wahrnehmung sind gesetzt: Es darf sich
nicht um einen einfachen, natürlichen,
sportlichen Sprung handeln, platte, zu offensichtliche, banale Alltäglichkeit. Aber
was ist ein Sprung anderes? Etwa „das rätselhafte Bild eines Sprunges“, das „der Verstorbene im Grab“ mit auf seine „Reise ins
Jenseits nimmt?“28 Das Bild wird, wie oben
gesagt, um 470 v. Chr. datiert. Es wird vornehmlich im Zusammenhang mit den anderen im Grab vorgefundenen Darstellungen
interpretiert. Auch hier bildet Zuchtriegel
eine Ausnahme, wenn er die lokalen Bezüge
herzustellen versucht und die anderen später gefundenen Gräber in Paestum mit einbezieht.29 Sonst spricht man von „einer komplexen Bilderfolge, die immer schon als
Ausdruck einer formalstrengen Logik, in
Funktion eines tiefgreifenden psychologischen Niveaus betrachtet wurde“.30 Der
Taucher wird jetzt als die symbolisch zu verstehende Hauptszene der inneren Grabmalereien interpretiert, obwohl er ja auf der
Unterseite der aufgetragenen Deckelwand
figuriert. So, „dass der Sprung nicht als
reale Situation, also ein sportlicher Sprung
ausgelegt werden kann, sondern einen metaphorischen Übergang vom irdischen Leben ins Jenseits darstellt“.31 Das Bild zeigt
einen Sprungturm mit angebrachten Leitern und einen feingliedrigen, quasi minimalisierten Körper, der sich schon in der
Luft befindet, über einem von zwei Bäumen
umrandeten Wasser. Die Anordnung der
Blätter an den Bäumen folgt im Stil – wenn
auch weit weniger systematisch, gradlinig
und geordnet – den Bäumen im Fresko des
Grabs des Triklinius in Tarquinia, um 470
v. Chr. (sic!).32 Es ist naheliegend, beim Anblick des Tuffatore sich einmal daran zu erinnern, was Turmspringen im Übergang
zum Erwachsenwerden bedeuten kann. Zunächst fällt bei dieser segelnden Gestalt auf,
dass es sich in der Tat um eine sehr realistische Darstellung des „Springens“ handelt:
das Wedeln und Segeln, das angestrengte
Geradehalten beim Lenken des hinuntersinkenden Körpers, der überlebend ins Wasser
kommen muss, um von dort aus wieder herauszukommen. Natürlich braucht man eigentlich keinen religiös-mystischen narrativen Kontext, nicht die gehobene Dichtung
und mystische Überlieferung, um Momente
des Springens mit den sozialen Erfahrungen
des Symposiums – in den anderen Fresken
der Grabwände von Paestum dargestellt –
miteinander zu vergleichen: die Akte der
Hingabe zu Musik und Eros, wie das „Springen“, das Eintauchen in das Meer“ – nicht
nur in den Beobachtungen des D. H. Lawrence – beide, nur verschiedene „andere Dimensionen der Ekstasis“ darstellen. Ich
möchte dem gerne folgen, das kann ich –
ähnlich wie Zuchtriegel – aber nicht: Die
rein körperliche Erscheinung der Springer
und ihres Tauchens fallen nun gänzlich aus
jedem symbolischen Bereich heraus, den wir
heute noch als transzendental wahrnehmen
können.
Axiales Licht zwischen Säulen in
bebautem Stein und Natur
Man kann nicht gerade behaupten, dass
„Axialität“ zu einem Modebegriff der kultursoziologischen Forschung verkommen wäre,
obwohl zwischen Lund und Prag, Jerusalem
und Montreal kleinere oder größere Forschergruppen aus dem Nachlass von Karl
Jaspers „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ (1949) und Shmuel Eisenstadts
einflussreicher Nachlese zur „Theorie der
Achsenzeit“ (1987) operandi vivendi weiterhin profitieren. Sie lesen den Stand zeit-
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
genössischer Fachdisziplinen unter dem Gesichtspunkt von Korrekturen und Anpassungsmodellen.33 Solche ‚Operationalisierungen‘ von „Theorie“ in der Philologie
gleichen in Vielem den Heideggerschen
Holzwegen. Armando Salvatores Neuerfindung des ‚Axialen‘ oder der ‚Axialität‘ ist da
eine Ausnahme, gelingt es ihm doch einigermaßen überzeugend, den Begriff von Jaspers „Achsenzeit“ in die verschiedenen
Schübe des Umbruchs und der Kontinuität
in der europäischen Struktur- und Denkgeschichte einzubringen.34 Ist es hier dann die
„Staatsraison“ Vicos , die römische aequitas
civilis, die sich über verschiedene Lagerungen des modernen Denkens in ein theoriebewusstes menschliches Einzelwesen hinein
verlängert, als Grundlage einer neuen civitas, einer zivilitären quasi kommunitären
Gesellschaft? Von hier aus könnte man –
jenseits aller politischen Erwägungen, die
angesichts der damit einhergehenden Verdrängungen der Funktions- und Reglungsmacht des Staates aufkommen – im Angesicht der Tempelbauten von Paestum sich
die Freiheit nehmen, paradoxerweise den
Achsenbegriff im Kleinen zu verfolgen. Den
Begriff der „Axialität“ aus den Makro-Bezügen der religiös-kulturellen und politischen
Strukturen herauszunehmen, impliziert,
ihn wieder auf das zu beziehen, was er ursprünglich bedeutete, nämlich die visionäre
Wandlung der „Richtungen“ der inneren Organisation der menschlichen Sinne und der
Erfahrungs- und Bewusstseinserweiterung
als die eigentlich schöpferische Kraft im Prozess der sozialen Gestaltung des Lebens anzuerkennen.
1944, in der kurzen Zeit der deutschen Besatzung Italiens, muss es Zeiten gegeben haben, in denen die humanistisch oder romanistisch gebildete Schicht der Militärmacht
sich der italienischen Schätze der römischen
Kultur bemächtigen konnte. Nur so jedenfalls ist zu begreifen, warum in dieser Phase
des verlorengehenden Krieges doch so eigenartig feinsinnige Produkte zur Geschichte
175
des europäischen Geistes entstanden. Bei
der Vorbereitung einer Reise nach Paestum
im Mai 2019 ist mir der kleine Artikel, in
drei Seiten, „Die Tempel von Paestum in ihrem Verhältnis zum Licht“ (1944) von Carl
Lamb in die Hand gefallen.35 Ich fand hier
eine Anwendung von „Achse“, die den Lichteinfall in der griechischen Tempelarchitektur thematisiert: „Achse“ hier also als Richtung ohne Zeit? Der Laie sieht darin zuerst
nur eine Art „Flucht“ in der Säulenanordnung, hinausweisend in eine „Richtung“ der
Natur. Sicher ist, dass unter Archäologen
und Architekten – mit Raumordnungen von
Anfang an befasst – eine längst bekannte,
wenn vielleicht auch noch nicht gänzlich erfasste Perspektive vorherrscht
Die Parallelität der beiden Baukörper des
sog. Poseidontempels und der sog. Basilika
ist an sich noch keine Sonderheit, doch die
Richtung weist, wie die des sog. Cerestempels, nach Osten. Ist Osten Zeit? Oder
Morgenblick? Festzeiten der Gottheit? ‚Götterdämmerung‘ oder Erweckung des Menschen? Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. steht
der Sonnenaufgang bei griechischen Monumentalbauten im Vordergrund der „Richtung“, das Licht. Es ist dies ein Außenraumbezug, wie er nur im griechischen
Tempelbau in Erscheinung tritt. Erstaunlich dabei ist, dass das Licht selbst aber gerade in diesem Außenbezug im Wechsel
weder der Tages- noch der Jahreszeiten unmittelbare Bedeutung annimmt. Das heißt,
außer der allgemeinen Ausrichtung der
Bauten nach Osten spielen die sich ständig
wechselnden Einfallsrichtungen keine besondere Rolle bei der baulichen Gestaltung;
es sei denn, man interpretierte die Tatsache,
dass die Triglyphenfriese in der Höhe über
den Säulen, wie diese selbst, immer in
vollem Licht gesichtet werden, und die Säulen abschließenden Kapitelle aus quadratischem Abakus und rundem Echinus sich gegenseitig ergänzend auf Lichtsammeln und
Lichtzerstreuen, so sehen es Lamb und Curtius, ausgelegt sind, als Mittel der neutralen
176
GEORG STAUTH
Objektivierung von innerer Harmonie.36 Es
ist diese sich über die Zeit hin in Varianten
zeigende Technik, die den Bauten die „körperliche Massivität“ verleiht,37 andererseits,
aber um Vieles weiterreichend, eine gewisse
– hier mag man betont davon sprechen – sakrale „Autarkie des Einzelbaus“ vermittelt.38 Man kann heute schwerlich noch den
feinsinnigen Beobachtungen Carl Lambs folgen, der in bestimmten Momenten vom „Gegenüber von Gestirn und Bildsäule gleichsam einen Ausdruck von Strahlungskraft“
sieht; wo „Götterbild“ in der Beleuchtung
durch das „Gestirn“ spricht und behauptet,
dass „die Orientierung nach der Sonne das
künstlerische Verhältnis der Tempel zum
Lichte genau bestimmte“.39 Man scheint sich
darin einig, dass man die griechischen Säulentempel als „Skulptur“, als „Kunstwerk“
zu sehen hat, das anders als in Ägypten, wo
diese Baukunst entwickelt wurde, und Tempel als ein „ewig lebend gedachtes, in Stein
ausgeführtes Weltmodell“ bedeutete, einen
„hohen Abstraktionsgrad“ allein schon in
seiner Technik repräsentierte. Alles aber,
was wir hier sehen, scheint einzig der Funktion zu dienen, den Tempelbau als Ganzes
einheitlich vom Licht zu beleben.
In der neueren Literatur scheinen Steintechnik und –formate allerdings höher zu
stehen als das Licht. Und was feinsinnig von
Lamb beobachtet wurde, nämlich wie sehr
auch von innen heraus die Blickführung als
Achse des Lichts gesetzt ist,40 also vielleicht
gar diese ganze „Autarkie des Einzelbaus“
eine einzige Formensprache von innen heraus ist, vom Inneren der Tempel ins Licht,
so sehr bleiben die miteinander verschlungenen Schattenlinien der Bergketten Achse,
in der Weite des Draußen präsent, und so gewinnt auf diese Weise die Welt-/ Gottverbindung eine eigenständige „axiale“ Bedeutung. Und vergessen wir den Lichtstrahl
nicht, der ja schon bei Vico die abstrakte
Metaphysik in das Verhältnis des Menschen
mit der Natur herunterholt.41
Es besteht ein künstlerisches oder gar ein
religiöses Verhältnis der Tempel zum Licht.
Anders als in den christlichen Kirchenarchitekturen, in denen die bäuerliche Vorstellung vom Haus als Gotteshaus fortlebt,42
sind die Tempel von Paestum vielleicht das
große Beispiel für die griechische Tempelkunst als ein auf die Lichtverhältnisse abgestellter Freilichtbau, ein von der „Welt“ her
beleuchteter und in sie hinein leuchtender
Außenraum, der der Phantasie einen Freiraum lässt, der nicht nur für ein bestimmtes
Lichttalent maßgebend war! (Das steht ja,
wie wir wissen im Gegensatz zur Wirkung
des Innen in der Spätgotik/Barock: dem innen im Gotteshaus kreisenden Licht!). Licht
trägt natürlich zu einer ‚Objektivität der
Formensprache‘ bei! Konstellationen der
Reinheit. Fronten von schrankenloser
Klarheit: Kapitelle, Gebälk, Giebel. Kleine
Schattenlinien an wichtigen Stellen helfen
dem Zusammenwirken der Teile.
Jaspers dickes Achsenzeit-Buch ist 1949
erschienen, ein erster Achsenzeitaufsatz
schon 1946 in der Zeitschrift „Der Monat“,
in dem er die Zeit zwischen 200 vor und
600 nach Christus als den globalen Durchbruch der kulturübergreifenden „Kommunikation“ in den Prophetenoffenbarungen
identifiziert, also „Axialität“ als einen quasi
abstrakten himmlischen Regenguss beschreibt. Bleibt die ‚Metaphysik‘: Jaspers
kollidiert schon im Begriff der Achse (temporal) mit Lambs Drei-Seiten-Aufsatz (spatial)
über den Tempellichtraum in Paestum von
1944. Lamb eröffnet mit einem gewissen
transzendentalen Blick über die Wände des
Tempels hinaus, einen material-sakralen
Ausblick, die visuelle Konstruktion einer sakralen Landschaft, das Hereinholen der
wechselhaften Natur in den beständigen
Blick, die ‚Transzendenz‘ der sich kreuzenden Bergketten, in Nebelstreifen beschattete, sich überschneidende Linien bilden am
‚Ende‘, am Horizont eine gewisse Harmonie.
Was soll dann noch die viel diskutierte, von
der Kirche bestimmte Unterscheidung von
Säkularität und Sakralität?
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
Vielleicht gelingt es später einmal, mit einem ausgeweiteten Begriff des Axialen, der
die Wandlungsweisen des Wahrnehmens
und Bewusstseins aus Erfahrungen in persönlichen und räumlichen Mikro-Kontexten
heraus aufgreift, uns zu helfen, über die
Staats- und Gemeinschafts-„Axialität“ der
klassischen historischen Soziologie hinaus
zu blicken und das weite Feld neuer Schübe
der Öffnungen im Vergleich von Archäologie/Altertumswissenschaft und Orientwissenschaft zu erschließen?
Mikro-Axialität
Eigentlich geht es eben nicht mehr um
Begriffe und Begriffskonstruktionen oder
idealtypische Feldbestimmungen, sondern
um Annäherung an Erfahrung, wenn es sein
muss „durch den Begriff hindurch“, wie
Theodor Adorno es ausgedrückt hat. Natürlich wird man nicht umhinkommen, auf Begriffe einzugehen, denn sie überdauern,
auch wenn man nicht von Adorno her denkt.
Ausgangspunkt hier aber sind Beschreibungen erfahrenen Lebens. ‚Idealtypen‘ müssen
wegen ihrer ideologischen Redundanz abgelehnt werden. Man kann nicht eigentlich
behaupten, dass wir die mythische Welt
überwunden haben, und je mehr sie ins
Blickfeld der Forschung rückt, umso größer
ist die Bedeutung des Dinghaften in den Urformen des menschlichen Lebens. Es liegt
der Schluss nahe, dass die Distanz zum ‚Urmenschen’ geringer wird, wenn der Blick in
die Zukunft der Moderne schweift. Sicher
spielt auch Angst vor dem Vergessen der
großen Erfahrung der Alten eine Rolle. Je
ausschließlicher die Zurücknahme der
Transzendenz ist, umso intensiver das Mythisieren der Dinge und die Wiedererfindung des Heroischen, und sei es nur als musealer, monumentaler Akt, sei es als banaler
Ausdruck eines neuen, ins Gegensätzliche
getragenen Wettbewerbs zwischen dem Mythos der homerischen Heroen einerseits und
177
der monotheistisch ausgelegten postsokratischen Philosophie der Griechen.
Wollte man sich vor solchen Gegensätzen
schützen, wäre es nur natürlich, im Monument der griechischen Klassik selbst schon
die Weite der menschlichen Erfahrung zu
ermessen. Doch ebenso unvermittelt wäre
das Apodiktum, dass Mikro-Axialität ganz
dem Monumentalen selbst widerspricht. Allein schon der unumstößliche Ausdruck der
Größe scheint im Gegensatz zum Anspruch
der Mikro-Analyse zu stehen, die vollends
nur auf Einzelmomente unmittelbarer
Spannung in der menschlichen Erfahrung
abgestellt ist. Doch wenn Axialität auch als
eine andauernd irritierende Reorganisation
des individuellen Bewusstseins geltend gemacht wird, liegt auch die Wirkung des Großen auf der Hand; das Monumentale ist
nicht aus dem Blick zu nehmen. Größe
drängt sich auf, auch wenn man Transaktionen und Konnekt-Felder mit in den Blick
nimmt. Das Zusammenspiel der Dinge im
perspektivischen Raum ergibt sich unabhängig von Größe und Massivität des Materials: In Paestum sind es lokale Präsentationen und Präsentationsräume des Altertums,
die aus den Forschungen und Projekten
der aktiven wissenschaftlichen Verwaltung
der antiken Welt hervorgegangen sind und
gänzlich an den lokal vorgefundenen Gegenständen hängenbleiben. Nicht Offenbarungstexte und Gottesvorstellungen im
Wandel der Zeiten stehen im Vordergrund.
Wer allerdings die Notwendigkeit einer Negation des Achsenzeitbegriffs sehen wollte,
sähe sich enttäuscht. Auch in der Perspektive des Minimalen sind Achsen, wenn auch
weitgehend nur als Formen der Linienführung und der Richtung zu beobachten. Mein
bescheidener Vorschlag will helfen, Punkte
zu setzen und um sie herum Kreise zu ziehen. Es sind die Verbindungslinien zu zeichnen, die uns die manifesten Dinge vorgeben,
die Aufmerksamkeit erregen und unser Augenmerk auf sich ziehen (nicht eben die Suche nach Allgemeinbegriffen).
178
GEORG STAUTH
Zunächst: Was sagt es – bleiben wir am
Beispiel der Tempel –, wenn wir behaupten,
dass Aussagen über Mikro-Axialität sich
nicht in Monumenten ausdrücken können?
Wäre andererseits das Wandeln im schattenlosen Licht der Säulenhallen nicht so
eine tief empfundene mikro-axiale Erscheinung? Mir geht es hier um Querverbindungen von Zeit, Raum und Licht, NichtGeschichte oder Ur-Geschichte als gegenwärtige Empfindungen. Wenn in diesen Erfahrungen ein Moment binärer Dualität
fortexistierte, dann sollten wir das so verstehen, als existierten hier verschiedene Ausdrücke von Körperlichkeit – Körper in differenten Zuständen und als Gegenwart
verschieden aufleuchtender Lagen des Seienden. Sprechen wir von Licht, so geht es
nicht um Ideen der Transzendenz, wie etwa
im klassischen Achsenzeit-Konzept. Ideen,
die sich als das Allgemeine ausdrücken oder
in den Gegenstand hineingepresst werden,
sind, wie gesagt, nicht zu unterdrücken,
müssen aber nicht unser vornehmliches Interesse finden. Vielmehr interessiert uns,
was sich an Erfahrung ereignet.
Am Tempel zunächst ist es die sichtbare
Massivität des die Jahrtausende überdauernden Baues (Goethe scheint diese noch
eher als Bedrohung wahrgenommen zu haben). Die Forscher zur antiken Baukunst hoben eine Vision der „Autarkie“ des einsam
über der Landschaft liegenden Baus hervor.
Nicht die Welt von Draußen als gestaltende/gestaltete Kunst in das Innen des
„Hauses“ geholt (wie im ursprünglichen
ägyptischen Säulenbau), sondern die nach
außen weißenden Richtungen – Achsen –
des Baus und seine Materialität und Transzendenz zugleich: Himmelsrichtungen der
Säulenanordnung, die Variationen des Außenbezugs im Lichteinfall als Zerstreuung
und Verteilung, nicht als Bündelung und
Zentrierung – als ginge es um Stille, ruhende Bezüge zur Weltordnung draußen.
Dagegen hat uns Vico, der erste moderne
Philosoph der Immanenz, gezeigt, wie chao-
tisch die Götterwelt draußen ist, wie bedrohlich die Natur dennoch bleibt.
Ein ständig aufgerufenes Moment der
Tempelbetrachtung sind die lokalen Lagerungen der Immanenz-Problematik: Berge,
Meer, Wolken, Wetter. Die Gegensätze von
höchster Brutalität, Zivilität als Moment
der Beherrschung des Gesetzes der Natur,
List als die innere Kraft, äußere physische
Stärke, Lust und spielerische Körperlichkeit. Und immer wieder beständige Transgressionen als Lösungsmomente des Göttlichen im Gegengöttlichen. Ähnlich liegen die
Erklärungsmomente des Tuffatore, wo doch
zeitliche und translokale Konnektivitäten
eine offene, größere Rolle spielen, die von
Urmensch-Problematik in den vorgriechischen Lokalkulturen erhält eine parallele
Ausdrucksform im reinen, spielerisch zwischen den Elementen gleitenden Körper des
Tuffatore. Plötzlich die übergeschichtliche
Sport-Attitüde, taucht sie doch schon in Gestalt der Felsenspringer als männerbündische Nostalgie unter den ersten emigrierten
Griechen auf.43 Ruhe und Schließung des
Himmels, Stabilität versus Unruhe, Destabilisierung - Immanenz des Chaos als Bedrohung oder als Lösung?
Andererseits, wie bereits gesagt, sind
Masse und Monumentalität ganz eigene Erfahrungsmomente – gefährlich nahe an
„Idee“ anschließend, eben allgemein, weil sie
sich sowohl auf die Monumente als auch auf
die dargestellten Körper beziehen lassen.
Körper: Masse, festgehalten im Säulenbau,
und bei Tier und Mensch in Bewegung, eine
eigene Totalität.
Nachlese: Umbrüche in Natur
und Moral
Im Gegensatz zum Tuffatore von Paestum
mit seiner klaren und perlenden Körperlichkeit sprechen die übrigen Fresken mit den
feiernden Heroen – Genossen im gleichen
Grab – eine andere Bildsprache. Sie zele-
MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM
brieren ihr Dasein in erotischen, homo-geschlechtlichen Ehrerbietungen, Gelagen mit
Wein und Musik und, trotz aller strotzenden
Körperlichkeit, mit erhabenen Gesten. Wo
sie in anderen Gräbern spielen und kämpfen, mit wilden Tieren hadern, sprechen sie
von der ständigen Bedrohung des Lebens,
der sie in bunter Stärke widerstehen. Und so
sind doch die Tiere alles andere als dämonische Mitwesen. Im Unterschied zur elementaren Diesseitigkeit des Tuffatore kratzen
die Heroen immer am Himmel und invozieren in einem von Flügeln gekennzeichneten
Chaos des Symbols das Reich der Urphänomene. Könnte in dieser durcheinander
schwirrenden Dingwelt der Symbole und
Zeichen mythischer Lebensformen nicht
eine Bedrohung der Werte der Vernunft gesehen werden? Ist das die Lösung der „Wahlverwandtschaften“, dass das „Dämonische“,
die „Idolatrie der Natur“ im Tod obsiege:
„Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich
auch herausholen“ und „Einzig der Begriff
des Dämonischen steht, wie ein unabgeschliffener Monolith in der Ebene“.44
Können wir von der Parallelität von Transzendenz/Immanenz sprechen: hier die Elementarwelt des Tuffatore (ein materiales
Abbild des Natürlichen), dort die Heroen in
Angst vor Chaos und ihrer eigenen Kraft
und Wildheit? In diesem Sinne könnte man
dann auch natürlich vom Tuffatore als von
einem in der elementaren Seite des Lichts
sich Bewegenden sprechen, der sich von Anfang an nicht dem „Leben des Mythos“ widersetzt, sondern ohne „Herrscher und
Grenzen“ mit ihm und in ihm lebt.
Ich ahne, wie ich mich mit diesen Reflektionen über Zeit, Raum und Licht/ NichtLicht zur Frage der Urformen des menschlichen Wissens hingeführt sehe, und – was
vielleicht noch wichtiger ist – mich dahin bewege anzuzeigen, dass heute jede Beobachtung und Reflektion der Tempelwelt von
Paestum sich augenscheinlich selbst in das
Leben in der griechischen Antike und in
Paestum als erste Form der Kolonisierung
179
hineinversetzt. Das sind nicht nur post-protestantische Fragen nach den aktiven ‚Kosten‘ des modernen Asketismus und Rationalismus, wie sie von der Achsenzeit-Theorie
des Weber-Freundes Karl Jaspers aufgeworfen wurden. Man hätte „Aufklärung“ falsch
verstanden, wenn man mit ihr eine neue
Gottheit der Vernunft zu erfinden gehofft
hätte, und Giambattista Vicos Warnung vor
der Vorstellung des schreckhaften ‚Urmenschen‘45 als dem wahren, übergeschichtlich
waltenden Vernunftwesen beiseitelegte. Andererseits wäre es auch eine grobe Einschränkung, sich hier alleine nur mit Formen der internalisierten dionysischen
Bescheidenheit und Innenbezogenheit als
einer nicht- oder noch nicht-europäisierten
Form des Denkens zu beschäftigen, oder gar
einer soziologischen Manier folgend, nur
nach höheren Formen der Ordnung, der Stabilität oder gar Instabilität zu suchen.
Aus Sicht der Frage nach Mikro-Axialität
sollte der Weg aber auch keineswegs zur Limitierung der Perspektive auf die „Nussschale“ der sogenannten intuitiven Macht
der ‚kleinen Dinge‘ führen. Allerdings mit
der Vorstellung der unauflöslichen Konnektivitäten treten wir in ein neues Beobachtungsfeld ein, die Sicht- und Lichtflächen
breiten sich aus wie ein Korallenriff oder
verringern sich auf schmalste Fügungen der
Linienführung mit umfassender Macht des
Zusammenhalts und der Harmonie. Folgt
man den Lichteffekten bis in die Mikrobereiche des Seienden, der Zeitlichkeit der Lichtentfaltung, so hat die Unmittelbarkeit der
Stimmungen und Affekte auch eine konstruktive Dimension: Sie stärkt das Bewusstsein über Bedeutung und Potentialitäten der Instabilität und des offenen Umgangs mit Chaos. Eine Leichtigkeit des Lebens und Unschuld des Nutzens der Vernunft, wie wir sie seit den Zeiten der Griechen und Etrusker nicht mehr gesehen
haben.
GEORG STAUTH
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Danksagung
Ich möchte mich bei Armando Salvatore für
den regen Austausch während des Besuchs in
Paestum und Caserta und unmittelbar danach recht herzlich bedanken. Sana Chavoshian sei Dank für die Durchsicht des Manuskripts. Mein Dank gehört, den Herausgebern und Editoren dieser Zeitschrift; besonders vermerkt sei hier die mehr als nur symbolische Unterstützng, die ich von Andrea
Streily erfuhr.
Anmerkungen
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Reflektionen durch eine Kurzreise nach
Neapel, Caserta und Salerno veranlasst;
ein Tag soziologisch-anthropologischen Wanderns mit Armando Salvatore, danach fünf
Tage hinunter und hoch am Golf von Salerno,
Ende Mai 2019.
Lawrence 1999, 104-10; siehe auch das Vorwort zu „Etruskische Orte“ von Anthony Burgess (in: Lawrence 1999, 11). Das Vorwort
zur englischen Ausgabe von Massimo Pallottino widmet sich ausgiebig dem ‚skeptischen,
trockenen, kleinen deutschen Gelehrten‘ aus
der Phantasie des Schriftstellers Lawrence
(1986, 23-24). Hier die ‚Chimäre von Arezzo‘
betreffend ein Beispiel für den Streit zwischen Literaten und Wissenschaftler: „Was
bedeutet wohl dieser Löwe mit seinem zweiten Nacken und Kopf?“ fragte ich den Deutschen. Er zuckte die Achseln und sagte:
„Nichts.“ Der Löwe hatte für ihn keinen Sinn,
weil nichts, außer dem Abc der Tatsachen,
für ihn irgendeine Bedeutung besitzt. Er ist
ein Wissenschaftler, und wenn er nicht will,
dass etwas einen Sinn haben soll, ist es damit
ipso facto sinnlos.“ (Lawrence 1999, 111).
Lawrence und Huxley waren sich auf der Suche zwischen Wissenschaft und Imagination
gegenseitig inspirierende Wallfahrer im
Etrurien der 1920er Jahre (Pallottini 1957).
„La particolarità che rende la tomba del tuffatore un unicum enigmatico è l’assenza di
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ogni elemento narrativo, di qualsiasi attributo o indicazione che possa rilevare il significato di questa immagine; nessuna traccia di
elementi mitologici, anche illeggibili che fossero. La ricerca tende a vedere nel tuffo una
rappresentazione metaforica del passaggio
dalla vita alla morte; un’interpretazione non
priva di problemi: un linguaggio metaforico
che non fa parte del repertorio attestato dalle
fonti archeologiche in questa fase così remota
dell’arte antica. L’immagine come metafora
non esisteva - o se esisteva, la tomba del tuffatore ne sarebbe l’unico esempio; come se in
un universo musicale dove esiste solo il contrappunto, all’improvviso apparisse un’opera
basata su armonie e accordi.“(Zuchtriegel
2016).
Vgl. hierzu etwa Bryan S. Turners „monumentalistische“ Gesamtschau (Turner 2001).
Vico 1924.
Der ‚Urmensch’ hat seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Kulturwissenschaft im Bild
des archaischen Menschen eine vielfältige
Verwendung erfahren; es ist hier nicht der
Ort, dies im Einzelnen zu behandeln. Ich
greife den Begriff auf, nicht um ihn in eine sozialwissenschaftliche oder ästhetische Theorie zu transzendieren, sondern ich stelle ihn
vielmehr unter den anthropologischen Aspekt des Ausdrucks von konkreter Wildheit
und Chaos: d. h. volles Leben ohne Disziplin
unter Rückbezug zur Geschichte des frühen
Menschen. „Der Urmensch ist ein wirklicher
Wilder, grenzenlos und anarchisch, zu binden nur durch die magische Kraft der durch
die Sinne erzeugten, feierlichen Schrecken
erregenden Form; keine eingeborenen vernünftigen Ideen sind in ihm, sondern Furcht
und Chaos.“ (Vico 1924, 32; siehe auch S. 3943). Vergleiche auch die kulturkritischen Betrachtungen von Vico’s „Angst“ als ‚intellektueller Ort‘ in der modernen Architektur bei
Confurius 2017, 92 ff.
Paestum – ich komme darauf zurück – ist
heute nicht mehr visuell aus dem historischen Kontext seiner Entstehung zu begreifen. Dennoch sind „Material“ und „Gestalt“
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der Tempel ein Produkt architektonischer
und technischer Wanderungen – in Stufen
und Bewegungen über Jahrhunderte hinweg
– aus Ägypten (siehe Koenigs 2005).
Goethe, Italiensche Reise, 2. März 1787.
Wie natürlich auch Ägypten, wenn auch von
Assmann (2006) nur aus der Distanz der „Erinnerung“ heraus reduziert gezeigt (so doch
bei lokalen Forschungen immer wieder vergessen oder unterdrückt), in den hellenistischen und vor-hellenistischen Kulturraum
des östlichen Mittelmeers hineinwirkt,
wurde in der Ausstellung „Ägypten, Griechenland, Rom: Abwehr und Berührung“ im
Frankfurter Städel Museum 2005/2006
höchst inspirierend verfolgt.
Siehe Zuchtriegel 2018b, 79.
Benjamin 1980b, 291.
Goethe, Italienische Reise, 23. März 1787.
Zuchtriegel 2016.
Siehe Napoli 1970, 64; Zuchtriegel 2018c, 5.
Steinfeld 2019.
Lawrence 1999, 63; siehe auch Lawrence
1986, 32 ff.
Lawrence 1999, 37-130.
Lawrence 1999, 63; er muss hier offenbar von
zwei verschiedenen Photographien ausgehen, das Bild mit den im Boot winkenden Fischern weiterfahren: „während hinter ihm
ein Gefährte den Felsen hinauf klettert und
ein Boot auf dem Wasser mit eingelegten Rudern wartet; drei Männer, von denen der
mittlere sich nackt aufrichtet und seine Arme
ausbreitet, beobachten den Taucher. Derweil
springt hinter dem Boot ein großer Delphin
hoch, und ein Vogelschwarm steigt auf, um
sich am Felsen vorbei in die klare Luft empor
zu schwingen.“ Diese letztere Passage ist in
der englischen Fassung, in der die Bilder voneinander getrennt abgedruckt sind, nicht
nachzuvollziehen. Wie dem auch sei, Lawrence integriert in seiner Beschreibung zwei
Bilder, die von ihrer Position, Gestaltung und
Gestik im Grab selbst nichts miteinander zu
tun haben können, jedenfalls nicht in der von
ihm beschriebenen Form.
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Siehe Holloway 2006, 365. 373 f.
Vgl. Pontrandolfo/Rouveret/Cipriano 2015;
del Verme 2016; Zuchtriegel 2018a; rückblickend: Lawrence 1986; 1999; Pallottini 1957.
Man kann Löwith als einen der Ersten bezeichnen, die eine ‚linke Ontologie‘ systematisch zu begründen suchen: „Eine phänomenologische Analyse dieses allgemeinen
Problems geben die ersten Teile des Kapitals,
worin Marx den Warencharakter unserer
Hervorbringungen aufzeigt. An der Ware erschließt sich ihm die ontologische Grundstruktur unserer gesamten gegenständlichen
Welt, ihre „Warenform“ (Löwith 1981, 171,
siehe auch insbesondere S. 168-191).
Nietzsche’s Auslassungen zum Griechentum
sind vielfältig und oft widersprüchlich. Immer wieder war ihm die Vorstellung des Lebens unter den Griechen eine Art Rettungsanker vor Decadance. So empfielt er zum
Beispiel neues Bildungsleben „in der „altgriechischen Urwelt des Großen, Natürlichen
und Menschlichen (zu) suchen.“„Dort aber
finden wir auch die Wirklichkeit einer wesentlich unhistorischen Bildung und einer
trotzdem oder vielmehr deswegen unsäglich
reichen und lebensvollen Bildung.“ (Nietzsche 1980, 307).
Vergleiche zu Vico’s Begriff von Angst und
Schrecken in der Konstruktion des mythischen Weltbilds (Vico 1924, 39-42); siehe
auch Confurius 2017, 93-94.
Nach del Verme 2016.
Lawrence 1999, 63-65.
Del Verme 2016, 71.
Zuchtriegel 2018c.
Del Verme 2016, 74.
Del Verme 2016, 74.
Man bemerke dort auch die sich doch sehr
ähnlich gestaltenden Figuren der tanzend
prozessierenden Männer in roter Farbe und
vergleiche sie mit den hier im Grab vorgefundenen Fresken (siehe Lawrence 1999, 71. 7475).
Hinweis von Armando Salvatore (Schreiben
vom 21. Juli 2019): Er nimmt den japanischen Philosophen Isutzu als eine Ausnah-
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meerscheinung an, der nicht von den modernen Disziplinen ausgehend zurückblickt,
wenn er von Japan und China spricht. Die
Idee, Griechenland und insbesondere die VorSokratiker als „craddle of the Orient“ zu sehen, bedarf dabei ganz eigner Betrachtung
unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung der
Affektmodulierung, nicht nur als Findung
von Ruhe und Stabilität, sondern auch als
Form von potentieller Chaotisierung: „Licht“
als kosmische Kraft des Chaos. Hier also
könnte auch der Gedanke der Mikro-Axialität ansetzen oder besser weiter getragen werden.
Salvatore 2007.
Lamb 1944, 15. 20f.
Siehe Lamb 1944, 29 Abb. 5; vgl. Koenigs
2005, 58.
Koenigs 2005, 58.
Koenigs 2005, 58.
Lamb 1944, 22.
Lamb 1944, 21.
Vico 1924, 42 ff.
Das scheint so auch bei den Griechen gewesen zu sein, nur dass sie das lebendige „Haus“
als äußere Modellvorlage betrachteten und so
auch im technischen Prozess des Bauens und
der architektonischen Entwicklung verfuhren (Koenigs 2005, 56-57).
DeVries 1978.
Benjamin 1980a, 85-86.
Siehe Anm. 6.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1-3: Photos von A. Salvatore; Abb. 4:
nach einem Hinweis von S. Chavoshian,
https://www.penn.museum/documents/publications/expedition/PDFs/21-1/Diving.pdf
Anschrift des Autors
[email protected]
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