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Der Taucher von Paestum

2020, Das Altertum, 65

Das Altertum, 2020, Band 65, Seiten 161-184 Mikro-Axialität: der Taucher von Paestum Georg Stauth Der Taucher von Paestum Uns ist er nicht begegnet, wir haben ihn nicht aufgesucht, sahen ihn gewissermaßen zufällig aus der nahen Ferne beim Mittagessen auf Englisch parlierend, ein Kollege sicherlich.1 Wir wollten nicht stören. Wir hätten Gabriel Zuchtriegel gerne zu einem außerdienstlichen Gespräch getroffen. In „Etruskische Orte“ des (deutsch inspirierten) englischen Dichters David Herbert Lawrence ist „der deutsche Etruskergelehrte“ eine stehende Figur.2 Gabriel Zuchtriegel gleicht diesem – von Lawrence als beschränkt und objektivistisch gezeichneten – Archäologen von 1927 wenig. Zuchtriegel lebt in einer erneut von Kulturumtrieben erschütterten Zeit, in unserer Zeit; er ist dagegen ein ausgewiesener Fachwissenschaftler und mit den neuen Anwendungsbereichen der Archäologie vertraut. Die zu D. H. Lawrence‘s und Aldous Huxley’s Zeit noch als Gegensätze gehandelten Bereiche von wissenschaftlich-forschendem und intuitiv-inspiriertem Forschen (unter der Erde und am Boden der Geschichte gewissermaßen) dürften sich ihm zumindest als zu überwindende oder sich ergänzende erwiesen haben.3 Er ist mit 38 Jahren bereits Direktor des PaestumMuseums und der Altertümer in der südita- lienischen Provinz Kampanien (ursprünglich Teil eines revolutionären Armenhauses im italienischen Süden, aus dem norditalienische Generäle wie etwa Cavour lieber geflohen wären, als es der neuen Nation Italien einzugliedern). Zuchtriegel arbeitet hart – wie man dort überall erfahren kann – an einer ultimativ weltoffenen Präsentation der Altertümer und mit einer pointierten Mission im Bildungswesen der Region – kurz, im Jargon der deutschen Gemeinde der Geisteswissenschaften, ein ‚Leuchtturm‘. Zuchtriegel hebt die Sonderheit eines Fundes aus der Nähe Paestums hervor, der, so möchte ich behaupten, alle Problemwürfe der aktuellen Interpretation eines antiken Fundes beherbergt: Es handelt sich um das einzige uns bekannte Grab mit bebilderten Fresken in einer griechischen Siedlung vor dem 4. Jahrhundert v. Chr. Noch einzigartiger ist es durch sein auf der unteren Fläche des Grabdeckels angebrachtes Bildmotiv: ein junger (nackter) Mann, der sich (geschickt) von oben ins Wasser stürzt. „Die Eigenart, die das Grab des Tauchers so rätselhaft macht, ergibt sich daraus, dass es bar eines jeden narrativen Elements ist, derart dass es angefügt wäre oder einen Hinweis enthielte, uns die Bedeutung dieses Bildes 162 GEORG STAUTH zu eröffnen; keine Spur eines mythischen Elements, auch wenn es unleserlich sein könnte. Die Forschung tendiert dahin, in diesem Springer eine metaphorische Repräsentation der Passage vom Leben zum Tod zu sehen; das aber wäre eine problematische Interpretation: Eine metaphorische Sprache, die für diese Zeit – so weit entfernt von antiker Kunst – im Repertoire archäologischer Funde nicht bezeugt ist. Es gab das Bild als Metapher nicht, oder wenn es sie gab, dann wäre das Grab des Tauchers das einzige Beispiel; kann man ernsthaft behaupten, dass in einem Universum der Musik, in dem es einzig den Kontrapunkt gibt, jetzt plötzlich als Improvisation eine auf Harmonie und Akkorden gegründete Oper erschiene?“4 Soweit die synthetisch-kritische Stellungnahme von Gabriel Zuchtriegel zu den verschiedenen, meist religiös gefärbten Interpretationen des Taucherbildes in Paestum. Ich Abb. 1 möchte dieser Kritik zustimmen, habe aber einige Fragen hinzuzufügen: Was wäre, wenn man die Frage der Stilkohärenz einer Ära erst einmal beiseiteließe. Man muss ja nicht gleich von „Metapher“ sprechen, aber man könnte doch vielleicht auch andere Abbildbeispiele finden. Vielleicht in einer anderen Gegend, in einer anderen Kultur Süditaliens, bei den Etruskern, zum Beispiel in einem Tumulus von Tarquinia? Und wenn man – wie Zuchtriegel es vorschlägt – die religiöse Richtung ablegte und die Abbildsprache profanierte? Hätte man dann nicht vielleicht doch ein Beispiel für die resistente, gegenfügige, erlebnisbezogene Darstellung? Erscheint sie nicht natürlich, einzelmenschlich, wider die Kollektive der Großen, der trunksüchtigen und kriegerischen Heroen aufstehend? Meine folgenden Überlegungen zum Taucher gehen in diese Richtung (Abb. 1). Zunächst allerdings seien ein paar Worte zur Der Taucher von Paestum und der Autor MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM „Axialität“, das aus der Spätantike hervorgegangene, aufklärungsuchende Setzen der Orientierungslinien in Raum und Zeit,5 angebracht; auch hier, so meine ich, wäre ein Stück der „Profanisierung“ notwendig. Der Golf von Salerno Wer an der Küste des Golfs von Salerno entlang nach Süden fährt, kommt nach etwa einer guten halben Stunde bei den Tempeln von Paestum an. Er durchstreift eine Landschaft, die im Rücken durch die phantastischen, aus dem Meer ragenden hohen Berge zwischen Sorrent, Amalfi und Salerno begrenzt ist. Er hat rechts das Meer und im Osten und Süden weiter im Inland aufsteigende Bergzüge, die der Reise der vom Meer über flache Küstenhügel herangetragenen weißen oder grauen, ja manchmal gar rosaroten Wolken ein Ende setzen. Es kommt zu dunklen Wolkenstauen, die sich oft aus heftigen finsteren Ballungen in Entladungen des herangetragenen Wassers ergießen. Hier liegt eine sonderbare, langsam ansteigende Landschaft zwischen Meer und Bergen, immer getriebene Wolken, und der ständige Wechsel der Wetterlagen zwischen bedrohlichen Gewittereinfällen und dem hitzebringenden, über allem liegenden Sonnenfeld, dem Azzurro, bis zu einem stillgelegten Horizont reichend. So wie ein stiller Himmel stundenlang scheinen kann, so produzieren die Gewitter dunkle Zwischenlagen und schaffen eben dann wieder jene Ballungen unter und über den Bergketten. Es schießen Blitze herunter, es schallen weit über das Land hallende Donner. Es folgen gewaltige Erschütterungen der Luft und das Regenschütten, das den Menschen ängstigt oder gar in einen hilflosen Schrecken versetzen kann: stündlich wechselnde Lagen von heißer Luft, an fernen Hügeln hängende schwarze Wolken, von Wasserschüssen überflutete Felder. Dort, wo Paestum liegt, das alte Poseidonia, unweit des Flusses Sele, stehen seine weißen Tempelreste in den Himmel weisend; dort 163 war bis Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. nichts oder wenig zu finden. Wie also nahmen die allmählich von Tarent und Sybaris herüberkommenden – eventuell gar von dort entflohenen – ersten Siedler diese Landschaft auf? Darf man annehmen, wenn wir uns – „naiv“, ja, der Einwand ist uns bekannt – auch hier auf Erlebnissichten beziehen, dass es sein kann, wenn man über längere Zeit in bzw. gewissermaßen über einer solch lebendigen Landschaft lebt, sich dabei als bewusstes Einzelwesen in Beschreibungen der Alten vertieft, sich einen thematischen Schwerpunkt setzt, der Naturerlebnis und Bewältigungen desselben, wovon die Alten in ihren Legenden und Mythen, ja ihren Andichtungen sprechen, in einen quasi unmittelbaren Zusammenhang mit ihren sozialen, geograpischen und religiösen Kreationen bringt? Wir haben ein paar Hinweise eines jungen Mannes aus Neapel, Giambattista Vico (1668– 1744), der in Vatola lebte, in einem wenige Kilometer südlich von Paestum in den Bergen über dem Meer liegenden Dorf. Er diente in seiner Jugend neun Jahre als mittelloser Hauslehrer in einem kleinen Schloss. Könnte seine unter dem Titel „Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker“ in Neapel 1725 erschienene Geschichte6 nicht doch auch von den Eindrücken aus seiner Zeit in dieser Landschaft geprägt sein? In dieser Region, die den Aufstieg und den Niedergang zweier so großer Zivilisationen, der griechischen und der römischen, so klar in den gebliebenen Ruinen und Relikten verkörpert, in Neapel, das zur Lebenszeit des Philosophen Schicksal bestimmend selbst den dreifachen Herrschaftswandel europäischer Dynastien (Spanier, Österreicher, Franzosen) erfahren hat, war kaum ein Geschichtsziel auszumachen, so wenig wie in den Geschichten der Alten. Nirgendwo schien die ‚Anthroposcene‘ so klar wie hier; immanent sind nur die Taten des menschlichen Geschlechts selbst, in der schwankenden Gesetzlichkeit ihrer Folgen. Aber Vico 164 GEORG STAUTH beschreibt so eindringlich den Wandel zwischen vor-religiösem ‚Urmenschentum’,7 das erst, indem es im Blitz den Zeus erkannte, seine Angst allmählich zu beherrschen verstand, und die Religion, wie sie in unwillkürlicher Bindung ihre Substanz ändert, in neue weltliche Macht entlässt. Giganten, Heroen und Aristokraten, die schließlich selbst dem von ihnen erfundenen Gesetz unterstellt sind und gerade dieses fortdauernd zu brechen versuchen werden; Plebejer, die am Leid weiter züngeln, obwohl ihnen das Leben schon fast alles gegeben hat. ‚Urmensch’ meint nach Vico nicht nur eine zentrale Bedeutung der Präsenz von Natur im menschlichen Leben, sondern stellt auch die Individualität des menschlichen Erlebens als Ganzes, gewissermaßen im Bild, in Rechnung. Es ist dies der Ausgangspunkt für den in diesem Aufsatz vertreten Mikro-Ansatz. Die zum Handel zunächst sich hier ansiedelnden Griechen mögen schon Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. auf direkt aus Ägypten importierte Kulte gestoßen sein, wie die Etrusker entlang des Tyrrhenischen Meeres überhaupt. Die Hera an der Sele, dem bei Paestum ins Meer stoßenden Fluss, erscheint ihnen etwa schon als eine „verborgene“ Isis, Göttin des Lichts; Symbole, ägyptische Kulte, lokale Praxis und schließlich die aus Ägypten stammende Idee des Säulenbaus der Tempel, breit ausgelegte Mischungen, die sich im Kräftefeld von geflohenen Plebejern und obsiegenden einfallenden Heroen verdichten und entfalten? Sagt Vico wirklich etwas zu den Bedingungen der lokalen Verflechtungen des Hellenismus? Darf man diese Fragen stellen, auch wenn sie zum Überspringen der Fachkompetenzen herausfordern? Globale Bedingung axialer Sichtweisen Wie immer man seine Augen auf die Dinge in den Spektren der gerade gängigen methodischen Orientierungen richtet, es sind Archäo- logie und Altertumswissenschaft dabei unweigerlich auf Klassifikationssysteme angewiesen, die sich auf strukturelle Bedingungen am Ort – historische und natürliche – beziehen, zugleich aber von außen mit Begriffen gefüttert werden, die den Stand der menschlichen Interessen in Wissen und Macht reflektieren: Fachdisziplin. Am deutlichsten wird dies, wenn wir von „axialen Räumen“ sprechen, die trotz ihrer beträchtlichen Ausweitung ihre Bestimmungen von den monotheistischen Weltreligionen her erhalten: „Texte“ (Bibel, Koran, Thora), jenseits aller praktischer Erfahrung produzierte Wahrheiten, in einer „Welt“ in Metaphern von charismatischer Authentizität gefangen, göttlichen/prophetischen Ursprungs, auf Offenbarung beruhend, füllen den Raum. Wir befinden uns auf dem weiten Gebiet der postkolonialen Analyse des Orients, einerseits jenes weiten Raumes, in dem die Weltreligionen ihre Geburt feierten, von daher also auch diejenige unserer eigenen Kultur, andererseits beziehen wir uns auf die großen Räume eben dieser unserer Kultur, Okzident, als den ursprünglichen Ort der Realisierung unserer Erfindungen und Empfindungen, die Öffnung der essentiellen, axialen Bedingungen für neue Bewusstseinseinbrüche – Wandel, der in kulturellen Entwicklungssprüngen fortdauert und in „andere“ Kulturräume hineinwirkt. Die gängige Theorie der Axialität hält „Zivilisation“ in einer Großraum-Dimension gefangen, die im Spiel zwischen geschichtlicher Kontinuität und radikalem Bruch mit der Geschichte einen multiplen Kern der kulturellen Entwicklung zulässt und damit eine grundlegende Bedingung für die weltumfassende kulturelle Einheit darstellt. Ein Mittel im Kampf um die imperiale Einheit des postkolonialen Selbstverständnisses des Menschentums steht uns dabei in der Archäologie/Anthropologie zur Verfügung: Die binäre Klassifikation zwischen Ost und West wurde durch theologische Narrative des Ursprungs ergänzt. Wir denken in Ost-West- MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM Widersprüchen als ein räumliches MakroDesign, in dem Christentum und Europa als der bestimmende Teil in der charismatischen Aktivierung der Welt figurieren, im umfassenden prophetischen Monotheismus/Messianismus. Wir heben uns damit in unseren revolutionären, axialen Behandlungsmustern von den kohärenten integrativen, stagnativen Präsentationen der patrimonialen Herrschaft im Orient ab. Es ist in der Tat berechtigt davon zu sprechen, dass auf diese Weise der Begriff des „Orients“ als des politischen Ortes der menschlichen und sozialen Unterentwicklung, des falschen Ortes nicht-modulierten Lebens, des exotischen, des anderen, irrationalen Weltverständnisses und der ‚Unordnung‘ selbst ein Produkt der okzidentalen Selbstbestimmung ist.8 So gesehen, wäre ein Besuch in Paestum keineswegs ein Gang „in eine völlig fremde Welt“.9 Paestum ist Teil des axialen Raumes Europas,10 es zeigt uns zunächst und vor allem, wie stark am „Ursprung“ unserer eigenen Weltsicht eine durch axiale Richtungen bestimmte, unseren Blick einbeziehende Ordnung steht. Bei diesem fortlebenden oder hier gerade wieder erwachenden, ureigenen Ganzheitsblick für den Austausch zwischen Mensch und Natur gerät nun auch der Ort selbst mit seiner langen Geschichte der Auslagerung und Unterbewertung lokaler Völker in den Blick. Die zivilisatorische Bedeutung der uralten lokalen oder selbst aus dem „Orient“ eingewanderten italischen Völker (etwa der Lukaner und Etrusker) wird erkannt. Zwar ist die herausragende monumentale Stellung „Athens“ und „Roms“ ungebrochen, doch macht sich in den musealen Präsentationen vor Ort eine neue Idee bemerkbar, eine Errungenschaft des zeitgenössischen postkolonialen Denkens und Forschens: die Notwendigkeit der Anerkennung der „Vorgeschichte“, der weitgehend unbekannten, aber in den Sedimenten von abgelagertem Ruinenschutt auffindbaren und von daher weiterwirkenden Präsenz im Bild 165 der Lebensformen der ‚Urmenschen’. Es wird auf großartige Weise ein Interesse für die „marginalen“ und „subalternen“ Lebenskulturen des Altertums geweckt. Man kann spüren, wie nahe diese uns heute sein können, so nahe wie diejenigen der Metropolen selbst. Das ist für uns durchaus ein Thema, weil wir selbst weiterhin in axialen Denkmustern verwurzelt sind, in anderen Worten, uns im tiefen Urgrund der lokalen Erscheinungen bewegen. Andererseits besteht der Begriff von Leben fort; zwischen Ursprung und Tod erfindet sich das Leben weiter, als βίος, als Medium der Komprimierung, die aufsteigende und verschwindende Präsenz des Körpers in Zeit und Raum. An Paestum irritieren uns zwei Tatbestände, die zeigen, wie Kultur sichtbar am Beginn aufbricht und das Ende mitdenkt: Erstens ist es die überragende Präsentation einer „kleinen“ Tatsache, die seit ihrer Entdeckung nie ganz vergessen, aber erst neuerlich mit größerem Respekt als einer ergänzenden Nebensache behandelt wurde: das Gemälde des nackten Springers, des sog. Tauchers (Abb. 2) Die Positur des Körpes und der Ausdruck seiner Natur sind so allgemein, dass er überall hätte sein können.11 Als würden wir uns selbst in unserer wahren körperlichen Existenz erkennen können, stehen wir heute, nach zweieinhalb Jahrtausenden, vor diesem ätherischen Bild eines einfachen, in Luft und Wasser sich bewegenden menschlichen Körpers. Aber vielleicht urteilen wir zu schnell? Könnten wir uns zu schnell mit dieser Erscheinung affektiv solidarisieren, weil sie – rein körperlich – eine Nachkriegsgeneration einfängt, eben jene (für das 20. Jahrhundert so verbindliche) Generation, wie sie Walter Benjamin beschreibt?: Sie „stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper“.12 Leben also 166 Abb. 2 GEORG STAUTH Innenansicht des Grabes des Tauchers (Tuffatore) in Paestum, ca. 470 v. Chr. außerhalb der Zeit und wider alle Tradition. Oder war er, der winzig, aber höchst körperlich erscheinende Taucher nicht doch etwas Anderes, etwas ganz Anderes, vielleicht der völlig in seiner Energie spiritualisierte Körper zwischen Himmel und Erde? Auch das könnte man aus manchen Interpretationen herauslesen. Zweitens, der weite Raum, in dem sich die kolossalen Tempel allein gestellt zwischen Himmel und Erde über den Ruinen einer Kleinstadt erheben, allein, unweit über dem Meer angeordnet, bleibt die Konstruktion der Formen in Masse und Stein beeindruckend (Abb. 3). Heute noch können die Besucher – wie sonst kaum bei Präsentationen antiker Monumente – sich weitgehend selbst dem freien Lauf ihrer Blickrichtungen überlassen. Man kann darin wandern wie in ‚freier Natur‘, als lebte man selbst als ein Grieche in seiner Zeit, in seiner Welt. Eine längst verloren gegangene urmenschliche Erfahrung des inneren Verflochtenseins von kultureller Gestaltung in der Stein- und Säulenmaterie der monumentalen Tempel und des daraus hinausdringenden Sichterlebnisses der Natur kommt auf. Das ‚Naturschöne‘ wird zum gestalteten ‚Menschheitsschönen‘– hier also Leben in massiver, kolossaler Tradition und in überzeitlicher Erinnerung. Für uns heute sind solche Ausblicke Zeugnisse des ästhetischen Bewusstseins der „Alten“, der „Anderen“, so als wären wir selbst bar jeder Erfahrung, in der noch Natur allein sich als ein ästhetisches Phänomen ereignen könnte. Zwei so verschiedene Grunderlebnisse an einem Ort: In diesen beiden Ereignissen der Begegnung, der Körpereinheit und der Natureinheit, verbirgt sich die Erfahrung einer anderen Art von „Axialität“. Nicht mehr als Großraum-Dimension der Ideen von „Zivilisation“ stellt sich die lästige Hauptfrage nach dem Ursprung unseres Ordnungsdenkens, sondern als das, worin wir das „Andere“ in der Nähe erleben und sehen können. In diesen beiden Dimensionen der Unmittelbarkeit will ich mich am Beispiel Paestums der Frage der Mikro-Axialität widmen, gerade um das, was im Sinne einer MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM Abb. 3 167 Paestum. Athenatempel (sog. Ceres-Tempel) unmittelbaren Erfahrung heute noch als Axialität Bedeutung haben kann, zu zeigen. Man kann diesen Sprung jedoch nicht ohne Kosten machen. Nähme man sie theoriegeschichtlich ernst, so müsste man die Axialitätsphilosophen direkt mit Benjamins extemporalem menschlichen Sensorium konfrontieren, und umgekehrt sich selbst Benjamins hoffnungslosem okzidentalen Verfallensein entledigen. (Das hieße in diesem Falle natürlich auch in der Gestalt der Tempel ägyptische Handwerker oder Handwerk und Werkzeug aus der Tradition der ägyptischen Groß- und Urgroßväter mitzudenken, wie andererseits die wirkende Idee der Geschlossenheit der antiken griechischen Kunst aufzugeben). Der Ausruf Goethes, sich hier „in einer völlig fremden Welt“ zu fühlen,13 signalisiert heute mehr als nur die verzweifelte Suche nach den „Ursprüngen“ der Ruinen, im Großen und im Kleinen. Wir wagen den Sprung in die Zeit des Tourismus und müssen mit dem Massengrab der Selfie-Kamera leben. Es wäre falsch zu vergessen, was der Beruf des Archäologen/Altertumswissenschaftlers heute bedeutet, und wie er nicht an diesem unmittelbaren technischen und medialen Wandel vorbeikommt. Auf dieser Ebene wird deutlich, wie sich doch alle der Frage der Stufen neuer Organisationsformen der sinnlichen Wahrnehmung widmen, (nach Materie, Handwerk und Form) öffnen und entsprechend auch den Wandel in der Deutung von Altertümern vollziehen müssen. Während Kirche und Staat noch das herrschende Geschichtsbild, die Post-Axialität von Rom und Italien, durch das Einbeziehen 168 GEORG STAUTH der Kolosse in ihre eigene Monumentalität pflegten, geht es doch heute eher um ein vielfaches Näherkommen an diese uns anscheinenden Dinge aus alter Zeit. Ein Festhalten am privaten Bild bereitet den Weg zu einer neuen, individuellen Aneignung. Der „Taucher“ wird uns da so normal körperlich, wie wir selbst es sind (aber auch nicht nur ein vorweggenommener Sportsmann). Nur sein Verhältnis zu den anderen Menschen-, Tier- und Dingbildern in den Gräbern ist und bleibt uns rätselhaft, die Wissenschaft ist so ratlos wie wir. Der axiale Taucher Der sehr kalt und fremd stilisierte „Taucher“ im Sprung von einem Gerüst kann nicht so „plump“ sein, wie er erscheint; im Vergleich gar mit den einst aus dem Sumpfland über dem Meer aufsteigenden schweren Säulensteinen dreier großer Tempel, wie Goethe sie noch im März 1787 in Paestum erlebt hat, wirkt er sehr lebendig. Die Tempel wurden ab der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. errichtet; man vermutet vom griechischen Tarentum her inspiriert, möglicherweise im Wettbewerb mit Athen. Man kann also von einer imperialen, kolonialen Tat sprechen, ein globales, visionäres Zeichen setzend. Was bei Goethe noch als störende, verwirrende und befremdende Reste und Relikte des obsiegenden Barbarentums erscheinen mochte, die die Tempel umlagernden Trümmer erkennen wir heute als die dynamischen Siedlungsbereiche an. Sie erzählen vom Leben in der Zeit der alten Lebenskulturen der im Glanze Roms untergegangenen italischen Stämme. Letzteren, den Lukanern, Samanern etc., wieder ein kulturell bedeutsames Leben einzuhauchen und es im Gesamtkomplex für Paestum zu würdigen, ist das Anliegen der heutigen ‚postkolonialen‘ Archäologie und Altertumswissenschaft unter der Leitung von Gabriel Zuchtriegel.14 Das etwa zweieinhalb Jahrtausende alte Fresko mit dem ins Wasser springenden „Taucher“ wurde im Süden Paestums von Mario Napoli im Juni 1968 gefunden. Auf der Innenseite der Grababdeckung überdauerte es die „Geschichte“ der griechischen Kolonie Pyxos oder Doppelbesiedelung in Apoikia am Ort. Das Grab wird um 470 v. Chr. datiert.15 Das den nackten „Taucher“ – il Tuffatore – verkörpernde Bild entwickelt eine für uns heute eigene visionäre Spannkraft im kulturellen Feld zwischen monumentaler Macht und einfachem Leben. In Form und Stil hebt es sich gegenüber den an den Seitenwänden des Grabs erhaltenen Fresken deutlich ab. Da bleibt das Problem der Deutung im Kontext. Man weiß nicht, aus welchen Motiven diese Figur auf der Unterseite des Grabdeckels angebracht wurde. Eines aber ist offensichtlich, und ein entsprechendes Springer- bzw. Taucherphoto eines jungen Mannes aus den 1950er Jahren, das im Museum gezeigt wird, scheint uns dahin zu führen: Man sprang damals, vor mehr als zweitausend Jahren nicht anders von der Höhe ins Wasser als heute. Die ältesten Siedlungen an dieser Stelle, vom Meer den Hügel hinauf, gründeten in einer Zeit, als es noch die Etrusker hätten sein können, die diese Küstengebiete des südlichen Italiens beherrschten, wie auch andere Landschaften südlich des Tibers. Zu den einwandernden Griechen – man weiß hier wegen der großen Lücken in der antiken Überlieferung wenig Genaues – kamen im 5. Jahrhundert v. Chr. eben jene inländischen wilden Bergvölker, die Lukaner und/oder Etrusker/Tyrrhener u. a. hinzu und bald später schon die Römer, die in einer Mischung von barbarischer Zerstörung und Assimilation dem griechischen Erbe ein Ende setzten. Nun waren es nicht vielleicht doch auch hier Etrusker, auf die die Römer gestoßen waren und die auch hier – wie im Tyrrhenischen Mittelitalien – ein bleibendes kulturelles Zeichen setzten? Die von den Rö- MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM 169 Abb. 4 Fresko im Grab der Jagd und des Fischfangs (Tomba della Caccia e della Pesca) in Tarquinia, ca. 510 v. Chr. mern und den, wie Lawrence meint, romhörigen modernen Historikern wegen ihrer Lebenstrunkenheit als Barbaren abgetanen Etrusker waren und sind im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. doch auch südlich des Tiber selbst noch der einschlägigen Wissenschaft bekannt. Gab es einen Austausch zwischen Etruskern und Lukanern? Ihre Siedlungen sind wegen der Holzbauweise weitgehend verschwunden, es bleiben uns nur ihre Gräber. Unzweifelhaft hinterließen die Griechen dagegen ein bleibendes Zeugnis ihrer großen Kultur in Stein. Und so sind auch heute noch ihre Tempel, die Massigkeit und Schwere der Säulen, die überragende Proportioniertheit der hellen, lichtsetzenden Erscheinungen im Raum die einzigen monumentalen Hinterlassenschaften der Antike am Ort. Nun, wir sind keine Archäologen oder Historiker, müssen also unsere Ideen von Paestum in Anlehnung an Goethes örtliche Erfahrung „in den Wind spucken“, weil wir die lokalen Sprachen nicht entschlüsseln können.16 Es bleiben uns Bild und Architektur als Gegenstand. Ahnend, dass mir eine sol- che Figur wie der Taucher schon einmal in den Blick gekommen war, greife ich nach dem Etruskerbuch des ersten der von den Historikern so verschmähten ideenreichen ‚Postmodernisten‘ (und eben auch selbst kein Archäologe oder Historiker): D. H. Lawrence. In seinem „Etruskische Orte“17 finde ich dann überrascht einen zweiten „Tuffatore“, der anders, wenn auch nicht ganz anders, als der Paestum-Taucher ins Wasser springt. Der Paestum-Taucher hat also zumindest ein Pendant in dem aus dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. stammenden berühmten Bild im Grab der Jagd und des Fischfangs (Tomba della Cacchia e Pesca) in Tarquinia, dem ca. 100 km nördlich von Rom gelegenen lebendigsten der etruskischen Orte mit glorreichen Fresken in seiner Nekropole (Abb. 4).18 Es sei angemerkt: Zwischen den beiden Taucherbildern liegen nicht nur ca. 400 km Entfernung, sondern auch ein fast 50 Jahre dauernder Zeitabschnitt in der lokalen Geschichte. Wir können hier nur offen fragen, was in dieser Zeit an und in den Landschaften zwischen diesen Orten alles passiert ist? 170 GEORG STAUTH Hier also ist er, der zweite nackte Taucher, jetzt nicht im Bildzentrum zwischen Luft und Wasser, sondern am rechten Ende eines von Tieren, Vögeln und Fischen übersprudelnden Gemäldes, gar selbst schon dem Wasser nahe (Abb. 4). Man hätte sich gewundert, wenn Lawrence, dem tiefsehenden Beobachter, dieser „Typ“ nicht aufgefallen wäre. Er gebrauchte so wunderbare Worte über den etruskischen Lebenspuls – heiter, ungezwungen, lebenslustig – und zu den Fresken im Grab der Jagd und des Fischfangs. Allerdings, wie er die Stimmung des Gemäldes beschreibt, legt er kaum Wert darauf, dem Einzelcharakter des sich fast einsam, nackt und streng von einem Felsen herunterstürzenden Mannes, vorbei an Vögeln und Fischen, größere Bedeutung beizumessen. „Aus dem Meer“, schreibt er, – oder ist es vielleicht doch auch nur ein Teich? Lawrence braucht das Meer, weil es besser zu „Zugluft“ und „Dunst“, „fliegenden Vögeln und springenden Fischen und kleinen jagenden, fischenden, in Booten rudernden Menschen“ passt, die sonst die Atmosphäre des Bildes beherrschen. Aber doch, er sieht ihn, zeigt ihn: Aus dem Meer „ragt ein hoher Fels empor, von dem ein nackter Mann, schattenhaft, aber noch zu erkennen, prächtig und gewandt in die Fluten taucht.“19 Dort im Tarquinia des D. H. Lawrence haben wir es im Fresko an der linken Wandseite mit dem Körper in kleiner Gestalt, aber doch in Form eines höchst „modernen“ Tiefentauchers zu tun, der in instinktiv gestreckter Haltung derjenigen des PaestumSpringers verblüffend ähnlich ist. Jetzt haben wir ihn deutlich, den, wie ich sagen möchte, modern-sportlichen (die Haare so glatt am Kopf, als wäre ihm die Badekappe abhandengekommen), schmalen, stromlinienförmigen, springenden Taucher, den Etrusker von Tarquinia, der dem Taucher von Paestum so ähnlich ist. Als wäre er selbst hier angekommen, und jetzt schon im Wasser unter Fischen und Enten tauchend, zwischen ganz anderen Lustmolchen gerad- linig nach unten vorbeigleitend, sehen wir ihn. Während der Taucher in Paestum gerade eben noch dem Brett entsprungen schien, mit elegant leicht gekrümmten Beinen, nicht ohne Zielbewusstsein sich kantig und mit Fliehkraft aus dem endlosen Himmel auf das breite endlose Wasser richtete, war es doch der in Tarquinia, der in Form und Gestalt fast gleiche Menschenkörper, der von oben her lebendig am jungen Leben der Vögel und fliegenden Fischen vorbeirauschte, hinunter ins Wasser, in den Felsensee oder das „Meer“. Vergleicht man sie mit den sonst in dieser Bilderwelt wesenden, den liebenden, tanzenden und kämpfenden Heroen, so ähneln sie in ihrer Erscheinung nicht den Heroen, wohl aber eher den springenden Delphinen, die in den Fresken von Tarquinia so häufig zu sehen sind (nicht aber in Paestum!). Es zeigt sich mit dem Taucher, wie Thomas Steinfeld treffend bemerkt,20 die in der Tat zeitliche und räumliche Unangemessenheit als wirklicher Reiz des etruskischen Kulturerbes. Der Taucher erhält eine gewisse Doppelsinnigkeit als nackter Körper randständig in der Natur, die einmal hoch belebt ist, einmal aber selbst schon fast ornamental abstrahiert. Die Gestalter im Paestum-Museum sind sich der Möglichkeit der etruskischen Präsenz bewusst und zeigen im Sekundentakt einer Video-Präsentation das Abbild des Front-Freskos von Tarquinia mit den unter Enten und Fischen planschenden jungen Fischern im Boot, nicht aber den Springer im Gemälde der linken Seitenwand. Gegenstand und Thema der Archäologie/Altertumswissenschaft bleiben an den Ort (den heute außer Mode gekommenen Genius loci, das frühe Wirken der italischen Völker gewissermaßen Appendix des großen Griechenland und Rom) gebunden. Die vertrackten, vielfältigen Formen der inneren Konnektivität treten in den Hintergrund. So auch die Frage nach der Präsenz der im logozentrischen Denken der Historiker unverstanden gebliebenen Etrusker, denen MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM ein ‚genialer‘ Laie wie D. H. Lawrence doch so unvermittelt eine den Römern gegenüber geistige und lebenstechnische Überlegenheit zusprechen, ja aus heutiger Sicht gar eine globale Dimension ihrer eigenständigen Zivilisation nicht absprechen wollte. Paestum und Tarquinia Was dann? Vergleichen wir noch einmal die beiden „Taucher“ aus Paestum und Tarquinia, mit all den Rätseln ihrer späteren Interpretation und ihrer verborgenen Konnektivität. Es prägt sich dieser quasi minimal ‚vergeistlichte‘ Körper ein, hochspringend, von oben leicht gebeugt sich nach unten orientierend, alleine. Meer und Luft, fast ohne Welt durchschweifend regiert er das Grab in Paestum. Da ist in Tarquinia der in gerader Stromlinie von oben nach unten ins Tiefe des Wassers gerichtete, im Chaos der Tierwelt (Enten, Delphine, Fische etc.) von Geradlinigkeit strotzend, aber ganz in Ruhe, nur zum Felsen randständig herunterkommende Badekörper. In beiden Fassungen bricht sich der gleiche Körperbau den einsamen Weg durch die Elemente, miniaturartig wie bei Paul Klee, hier aber voller kleiner muskulöser Rundungen, immer mit streng nach oben gerichtetem Kopf. Was machen wir mit dieser minimalen, marginalen doppelten Bildfigur der Antike? Bedarf sie nicht der höchsten Beachtung, wenn wir heute, aus der Antike, von Neuem archaisches Menschentum schöpfend, über Korporalität, ja im nackten, wie im religiösen Leben über Trans-Korporalität sprechen? Ist da nicht auch eine so machtvolle Präsenz des ‚modernen‘ Körpers wie in der Antike? Wie vergegenwärtigen wir sie uns erneut, ja, fragen danach, wie nahe oder wie fern diese Menschen aus der griechischen und vorgriechischen Welt uns sind. Unter den Etruskern der findige Lawrence, unter den Subalternen der Gegend von Paestum der 171 junge deutsche Archäologe, der aus den Trümmern der Tempellandschaft heute ein anderes antikes Menschenbild zusammenpuzzelt! Wie könnte man auch diese Parallelität der „surrealen“ Körper als die „Realität“ der kleinen Zeichen von Paestum und Tarquinia entschlüsseln? Ross Holloway hat andererseits den Weg zu einer neuen technischen Erklärung der gravierenden Stildifferenzen im Grab des Tauchers eröffnet – mag sein, dass die verschiedenen Hände zweier Maler in der Gestaltung der Fresken eine größere Rolle spielen als Philosophien (etwa der Transzendenz).21 Es kommen in den Fresken aber auch grundlegend verschiedene Typisierungen von Körperformen zum Ausdruck, symbolisch zwei koexistente, gleichsam alternative Lebensformen: hier massige, orgiastische, dort leichte, fliegende, gleichsam asketische Körperlichkeit. Ein Ansporn, den philosophischen Weg weiter zu gehen.22 Befinden wir uns in Paestum wirklich in einer so völlig anderen Welt? Goethe an einem Tag in Paestum, warum konnte er so wenig Gefallen aus der Harmonie der Tempelbauten ziehen? Ein Tag in den Ruinen, „plump“, eine Stufe zum idealen Griechentum, das Gefällige habe erst aus dem Ernsten hervortreten müssen. Als wäre er dem Strandtourismus entflohen, gerade einmal ein Tag in den damals noch recht ungepflegten Ruinen, Leere und doch Größe spürend. Heute erschlägt man uns in einem überaus beeindruckenden Museum mit großartigen Dokumentationen. Nein, da ist nichts von faschistischer Architektur spürbar! Man brauchte allerdings Wochen, um wirkliches Wissen aus dieser Vielfalt zu ziehen. Aber das Wandern und Wandeln in diesen Lichträumen der Geschichte, wo der marmorgeschliffene glänzende Travertino helle Ruhe bringt und Gelassenheit. Wie konnte das alles, was draußen, aber auch in diesen Räumen zu sehen ist, entstehen? Zu Beginn des 6. oder vielleicht schon am Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr., soviel ist 172 GEORG STAUTH gesichert, entstand in Paestum eine neue griechische Kolonie, und doch ist es aus heutiger Sicht nicht möglich, den gewaltvollen Prozess des Zurückdrängens, der Vertreibung oder Unterwerfung der italischen Völker und schließlich dann ihres Obsiegens über das Griechische nachzuvollziehen. Die italienische Altertumsforschung hat sich in der Tat seit langem mit den italischen, den vorrömischen und vorgriechischen Stämmen und ihren Siedlungen beschäftigt, doch gewinnt die Existenz dieser Völker auch in ihrer Bedeutung für den Hellenismus in postkolonialen und postmodernen Forschungsrichtungen ein neues Gewicht. Ich bedauere es sehr, dass diese Trends andererseits kaum noch unser Bewusstsein mit der inneren Geschichte der Modernitätskritik – von Nietzsche bis Benjamin etwa – belasten wollen. So sehr der moderne Rekurs auf den „Mythos“ sich gegen den Logozentrismus der Kulturwissenschaften richtet, so wenig kann er sich davor verwahren, die Frage nach den wirklichen Mustern der Erkenntnis- und Gestaltungsformen in der vorhumanistischen Welt selbst wieder nur als eine positive zu stellen, ganz als ob die Erkenntniswelt der Alten sich nur im Herrschaftsbild des modernen Objektivismus erschließen ließe. Die Geschichte der lebensphilosophischen Modernitätskritik wäre über Karl Löwith23 hinaus noch zu schreiben. Friedrich Nietzsche wollte die NeoRomantiker lehren, was es heißt, ‚wie die Griechen zu leben‘.24 Beobachtet man die wissensbemühten Zeitmenschen – im Gegensatz zu den Massen-Arbeitsmenschen, die durch unsere Großstädte hasten – einzeln mit Buch und Kamera, in Gruppen mit Führern, in Schulklassen verschiedenen Alters und Grades mit ihren Lehrern, wie sie sich in der Nähe und Ferne zu der kolossalen Architektur durch diese konstruierte und rekonstruierte Landschaft der Antike bewegen, so gewinnt man den Eindruck, dass alle hier plötzlich wie von den Maximen der Griechensehnsucht erfasst sind, und dass das allgemeine Wohlgefühl, das sie verbreiten, in sich selbst ein bleibendes fortschrittliches Kulturpotential bergen könnte. Die bewegenden und sanften Präsentationen der alten Dauerkonflikte und das gewalttätige Austragen von kulturellen Differenzen zwischen den ‚Urmenschen’ einerseits und den griechisch-römischen ‚Zivilisatoren’ andererseits bleiben im Hintergrund. Wir erleben den Griechen in der gesteigerten Form seiner Monumentalbauten, wo er zwischen den Säulenblicken aus seinen Tempeln heraus die Rahmen absteckt, innerhalb derer er Himmel und Natur in axiale Dimensionen setzt und beobachtet und den Göttern dort das Wissen ihrer Macht abtrotzt. Andererseits aber beginnen wir die Bedeutung des ‚Urmenschen‘ zu erkennen. Hier zunächst noch verkörpert er im „Aufstieg“ und ‚Fortschritt“ begriffen, in ‚primitiven‘ Formen, den Krieger, den Soldaten, den Sportsmenschen. Aber lassen sich die ererbten kulturellen Widersprüche im „Bild“ allein aufheben? Es kommen heute noch die Arithmetik der Bevölkerungsgruppen hinzu, die Physik der hinterlassenen Scherben und die Neugier des nachgeborenen Wiedererlebens. Die Rätsel, die uns die Bilder des Tauchers aufgeben, reichen tiefer in die Welt der kulturethischen Fragen der überzeitlichen ‚Körperlichkeit‘, die uns heute so sehr am Herzen liegen. Wir müssen uns fragen, welchen „Bildern“ und „Idealen“ diese Körper nicht entsprechen? Mit Sicherheit doch jenen nicht, die unten an den Grabwänden in Paestum der Lust und Feier fröhnen, ihre Trinkschalen halten, ihre Musikinstrumente, dann ihre Augen auf sich gegenseitig gerichtet und nach oben, zur Decke hin, zum Taucher? Woher nehmen die Taucher, gegenüber solcher Leiblichkeit, die Eigenart ihres unscheinbaren Erscheinens? Und worin kann man dem Taucher, diesem normalen, schwebenden Körper, so klein wie er ist, dann doch ein langes Leben als „Ideal“ zueignen? MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM Und vergessen wir nicht die Kämpfe der Gestalten am Himmel in den wandernden, aufblühenden und vergehenden Wolkenbildern, die Angst vor Gewitterschlägen und Feuerbrünsten – als wäre es die Sprache einer enthobenen Macht, die Geister in den schwankenden, wildbewegten Büscheln und Blättern der Bäume und im Rumoren ihrer Stämme. All das waren Beobachtungen, mit denen Giambattista Vico, ganz ein Sohn Neapels und der umliegenden Gegenden, seine „Neue Wissenschaft“ auf dem Zusammenhang von Angst und Wahrheit begründete:25 die im Körper und vom Körper her denkenden Menschen. Das Hauptproblem der Archäologen und Philologen bleibt aber immer die gebotene strikte schematische Grenzziehung nach Kategorien, der Trennungen von Ort und Zeit, des Stils und der Künstler und die Idee der geschlossenen Einheit der antiken Kunst. Man versucht objektivistische Kategorien zu schaffen, die kaum Aussagen treffen über Form und Intensität, innere Energie oder auch Gestalt, Erfahrungsbilder vor Ort zu vermeiden, sondern vielmehr auf Bestimmung statischer Grenzen und leerer Begriffe zurückzugreifen. Man äußert sich jetzt doch auch kritisch gegenüber solchen Abgrenzungen wie „Greek/Apulian prototypes“ gegenüber „Etruscan sepulcral analogies.“26 Aber man bleibt immer noch relativ sprachlos gegenüber den Versuchen, etwa die Malereien an den Grabwänden und Grabbeigaben, die Gestalt der Kammern etc. als kontextuelle Aussagen zu gewinnen. Alles und nichts Verlässliches lässt sich über das Zusammenspiel des Tauchers mit seinen erotisch-heroischen Genossen im Grab aussagen. Aber helfen uns die Stilfragen, etwas über die Bewusstseinswelten des „Tauchers“ und seiner Beziehung zu der ihn umgebenden Welt in den Grabbildern und den Grabformen etc. zu erfahren? Der Taucher von Tarquinia harrt weiterhin eines grundlegenden Vergleichs und wird andererseits bei D. H. Lawrence27 in seiner Beziehung zur 173 Fischergemeinschaft im Boot überschätzt oder fehlgedeutet. Die Spielgenossen befinden sich einfach nicht, wie von Lawrence angenommen, im gleichen Bild. Auch hier in Tarquinia kommuniziert der Taucher nicht mit der ihn umgebenden lebendigen Welt, wenn er am Rande durchaus auch sich darin zu befinden scheint. Er erscheint eben doch in allem gänzlich als „begriffliches“ Gegenbild. In der Tat, es gibt eine enge Kontinuität in der Unter- oder Ab-Beurteilung der etruskischen Einflüsse, wie sie meines Erachtens auch in der „Doppelexistenz“ des Tauchers in Paestum mit seinem Pendant in Tarquinia zu Tage tritt. Niemand – selbst Zuchtriegel nicht – ist daran interessiert, der von Lawrence beklagten langen Geschichte der kategorischen und apodiktischen „modernen Forschung“ einen Endpunkt zu setzen: Lawrence sprach von der einzigen Bewunderung der Rom-Historiker für Machismus, Krieg und Transzendenz. Die Doppelexistenz der Figur des „Tuffatore“ in Paestum und Tarquinia gibt dabei weiterhin offene Rätsel auf. Diese physische und geistige marginale Position eines Mannes (der ins Wasser springt) sollte auf die Notwendigkeit der Öffnung des Denkens hinweisen, ein neues geistiges Abenteuer sicher, das auf der Einsicht basiert, wie sehr sich in dieser Figur der „Forscher“ mit dem „Erforschten“ selbst in Verbindung bringen lässt, und so auch ein neues Zusammenspiel von „Erfahrung“ und „Methode“ ermöglicht. In diesem Sinne möchte ich meine beiden Tage in Paestum in Dankbarkeit zelebrieren, auch trotz des angelegentlichen Einwands gegenüber der großartigen Arbeit, die dort geleistet wird. Natürlich wird uns hier ein Wohlgefühl vermittelt. „Lasst uns wieder mehr Griechisch denken“, was heißt das? Ein Aufruf, die symbolischen Erscheinungen in dieser Welt wieder ernst zu nehmen? Wahrnehmung und Erfahrung bleiben für die Bestimmung des eignen Standorts von Bedeutung. Und gerade von hier aus ist die Frage nach der 174 GEORG STAUTH Axialität von Raum und Zeit, Gestalt und Ort, Kontinuität, Schöpfung und Bruch neu zu bewerten. Treten wir noch einen Moment zurück und vergegenwärtigen wir uns den „Blick“ der Forscher: der Taucher und die Frage der Transzendenz. Ist es wirklich das lebendige Bild, das wir ernst nehmen dürfen? Der Forscher hat es schwer, die Bedingungen seiner Wahrnehmung sind gesetzt: Es darf sich nicht um einen einfachen, natürlichen, sportlichen Sprung handeln, platte, zu offensichtliche, banale Alltäglichkeit. Aber was ist ein Sprung anderes? Etwa „das rätselhafte Bild eines Sprunges“, das „der Verstorbene im Grab“ mit auf seine „Reise ins Jenseits nimmt?“28 Das Bild wird, wie oben gesagt, um 470 v. Chr. datiert. Es wird vornehmlich im Zusammenhang mit den anderen im Grab vorgefundenen Darstellungen interpretiert. Auch hier bildet Zuchtriegel eine Ausnahme, wenn er die lokalen Bezüge herzustellen versucht und die anderen später gefundenen Gräber in Paestum mit einbezieht.29 Sonst spricht man von „einer komplexen Bilderfolge, die immer schon als Ausdruck einer formalstrengen Logik, in Funktion eines tiefgreifenden psychologischen Niveaus betrachtet wurde“.30 Der Taucher wird jetzt als die symbolisch zu verstehende Hauptszene der inneren Grabmalereien interpretiert, obwohl er ja auf der Unterseite der aufgetragenen Deckelwand figuriert. So, „dass der Sprung nicht als reale Situation, also ein sportlicher Sprung ausgelegt werden kann, sondern einen metaphorischen Übergang vom irdischen Leben ins Jenseits darstellt“.31 Das Bild zeigt einen Sprungturm mit angebrachten Leitern und einen feingliedrigen, quasi minimalisierten Körper, der sich schon in der Luft befindet, über einem von zwei Bäumen umrandeten Wasser. Die Anordnung der Blätter an den Bäumen folgt im Stil – wenn auch weit weniger systematisch, gradlinig und geordnet – den Bäumen im Fresko des Grabs des Triklinius in Tarquinia, um 470 v. Chr. (sic!).32 Es ist naheliegend, beim Anblick des Tuffatore sich einmal daran zu erinnern, was Turmspringen im Übergang zum Erwachsenwerden bedeuten kann. Zunächst fällt bei dieser segelnden Gestalt auf, dass es sich in der Tat um eine sehr realistische Darstellung des „Springens“ handelt: das Wedeln und Segeln, das angestrengte Geradehalten beim Lenken des hinuntersinkenden Körpers, der überlebend ins Wasser kommen muss, um von dort aus wieder herauszukommen. Natürlich braucht man eigentlich keinen religiös-mystischen narrativen Kontext, nicht die gehobene Dichtung und mystische Überlieferung, um Momente des Springens mit den sozialen Erfahrungen des Symposiums – in den anderen Fresken der Grabwände von Paestum dargestellt – miteinander zu vergleichen: die Akte der Hingabe zu Musik und Eros, wie das „Springen“, das Eintauchen in das Meer“ – nicht nur in den Beobachtungen des D. H. Lawrence – beide, nur verschiedene „andere Dimensionen der Ekstasis“ darstellen. Ich möchte dem gerne folgen, das kann ich – ähnlich wie Zuchtriegel – aber nicht: Die rein körperliche Erscheinung der Springer und ihres Tauchens fallen nun gänzlich aus jedem symbolischen Bereich heraus, den wir heute noch als transzendental wahrnehmen können. Axiales Licht zwischen Säulen in bebautem Stein und Natur Man kann nicht gerade behaupten, dass „Axialität“ zu einem Modebegriff der kultursoziologischen Forschung verkommen wäre, obwohl zwischen Lund und Prag, Jerusalem und Montreal kleinere oder größere Forschergruppen aus dem Nachlass von Karl Jaspers „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ (1949) und Shmuel Eisenstadts einflussreicher Nachlese zur „Theorie der Achsenzeit“ (1987) operandi vivendi weiterhin profitieren. Sie lesen den Stand zeit- MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM genössischer Fachdisziplinen unter dem Gesichtspunkt von Korrekturen und Anpassungsmodellen.33 Solche ‚Operationalisierungen‘ von „Theorie“ in der Philologie gleichen in Vielem den Heideggerschen Holzwegen. Armando Salvatores Neuerfindung des ‚Axialen‘ oder der ‚Axialität‘ ist da eine Ausnahme, gelingt es ihm doch einigermaßen überzeugend, den Begriff von Jaspers „Achsenzeit“ in die verschiedenen Schübe des Umbruchs und der Kontinuität in der europäischen Struktur- und Denkgeschichte einzubringen.34 Ist es hier dann die „Staatsraison“ Vicos , die römische aequitas civilis, die sich über verschiedene Lagerungen des modernen Denkens in ein theoriebewusstes menschliches Einzelwesen hinein verlängert, als Grundlage einer neuen civitas, einer zivilitären quasi kommunitären Gesellschaft? Von hier aus könnte man – jenseits aller politischen Erwägungen, die angesichts der damit einhergehenden Verdrängungen der Funktions- und Reglungsmacht des Staates aufkommen – im Angesicht der Tempelbauten von Paestum sich die Freiheit nehmen, paradoxerweise den Achsenbegriff im Kleinen zu verfolgen. Den Begriff der „Axialität“ aus den Makro-Bezügen der religiös-kulturellen und politischen Strukturen herauszunehmen, impliziert, ihn wieder auf das zu beziehen, was er ursprünglich bedeutete, nämlich die visionäre Wandlung der „Richtungen“ der inneren Organisation der menschlichen Sinne und der Erfahrungs- und Bewusstseinserweiterung als die eigentlich schöpferische Kraft im Prozess der sozialen Gestaltung des Lebens anzuerkennen. 1944, in der kurzen Zeit der deutschen Besatzung Italiens, muss es Zeiten gegeben haben, in denen die humanistisch oder romanistisch gebildete Schicht der Militärmacht sich der italienischen Schätze der römischen Kultur bemächtigen konnte. Nur so jedenfalls ist zu begreifen, warum in dieser Phase des verlorengehenden Krieges doch so eigenartig feinsinnige Produkte zur Geschichte 175 des europäischen Geistes entstanden. Bei der Vorbereitung einer Reise nach Paestum im Mai 2019 ist mir der kleine Artikel, in drei Seiten, „Die Tempel von Paestum in ihrem Verhältnis zum Licht“ (1944) von Carl Lamb in die Hand gefallen.35 Ich fand hier eine Anwendung von „Achse“, die den Lichteinfall in der griechischen Tempelarchitektur thematisiert: „Achse“ hier also als Richtung ohne Zeit? Der Laie sieht darin zuerst nur eine Art „Flucht“ in der Säulenanordnung, hinausweisend in eine „Richtung“ der Natur. Sicher ist, dass unter Archäologen und Architekten – mit Raumordnungen von Anfang an befasst – eine längst bekannte, wenn vielleicht auch noch nicht gänzlich erfasste Perspektive vorherrscht Die Parallelität der beiden Baukörper des sog. Poseidontempels und der sog. Basilika ist an sich noch keine Sonderheit, doch die Richtung weist, wie die des sog. Cerestempels, nach Osten. Ist Osten Zeit? Oder Morgenblick? Festzeiten der Gottheit? ‚Götterdämmerung‘ oder Erweckung des Menschen? Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. steht der Sonnenaufgang bei griechischen Monumentalbauten im Vordergrund der „Richtung“, das Licht. Es ist dies ein Außenraumbezug, wie er nur im griechischen Tempelbau in Erscheinung tritt. Erstaunlich dabei ist, dass das Licht selbst aber gerade in diesem Außenbezug im Wechsel weder der Tages- noch der Jahreszeiten unmittelbare Bedeutung annimmt. Das heißt, außer der allgemeinen Ausrichtung der Bauten nach Osten spielen die sich ständig wechselnden Einfallsrichtungen keine besondere Rolle bei der baulichen Gestaltung; es sei denn, man interpretierte die Tatsache, dass die Triglyphenfriese in der Höhe über den Säulen, wie diese selbst, immer in vollem Licht gesichtet werden, und die Säulen abschließenden Kapitelle aus quadratischem Abakus und rundem Echinus sich gegenseitig ergänzend auf Lichtsammeln und Lichtzerstreuen, so sehen es Lamb und Curtius, ausgelegt sind, als Mittel der neutralen 176 GEORG STAUTH Objektivierung von innerer Harmonie.36 Es ist diese sich über die Zeit hin in Varianten zeigende Technik, die den Bauten die „körperliche Massivität“ verleiht,37 andererseits, aber um Vieles weiterreichend, eine gewisse – hier mag man betont davon sprechen – sakrale „Autarkie des Einzelbaus“ vermittelt.38 Man kann heute schwerlich noch den feinsinnigen Beobachtungen Carl Lambs folgen, der in bestimmten Momenten vom „Gegenüber von Gestirn und Bildsäule gleichsam einen Ausdruck von Strahlungskraft“ sieht; wo „Götterbild“ in der Beleuchtung durch das „Gestirn“ spricht und behauptet, dass „die Orientierung nach der Sonne das künstlerische Verhältnis der Tempel zum Lichte genau bestimmte“.39 Man scheint sich darin einig, dass man die griechischen Säulentempel als „Skulptur“, als „Kunstwerk“ zu sehen hat, das anders als in Ägypten, wo diese Baukunst entwickelt wurde, und Tempel als ein „ewig lebend gedachtes, in Stein ausgeführtes Weltmodell“ bedeutete, einen „hohen Abstraktionsgrad“ allein schon in seiner Technik repräsentierte. Alles aber, was wir hier sehen, scheint einzig der Funktion zu dienen, den Tempelbau als Ganzes einheitlich vom Licht zu beleben. In der neueren Literatur scheinen Steintechnik und –formate allerdings höher zu stehen als das Licht. Und was feinsinnig von Lamb beobachtet wurde, nämlich wie sehr auch von innen heraus die Blickführung als Achse des Lichts gesetzt ist,40 also vielleicht gar diese ganze „Autarkie des Einzelbaus“ eine einzige Formensprache von innen heraus ist, vom Inneren der Tempel ins Licht, so sehr bleiben die miteinander verschlungenen Schattenlinien der Bergketten Achse, in der Weite des Draußen präsent, und so gewinnt auf diese Weise die Welt-/ Gottverbindung eine eigenständige „axiale“ Bedeutung. Und vergessen wir den Lichtstrahl nicht, der ja schon bei Vico die abstrakte Metaphysik in das Verhältnis des Menschen mit der Natur herunterholt.41 Es besteht ein künstlerisches oder gar ein religiöses Verhältnis der Tempel zum Licht. Anders als in den christlichen Kirchenarchitekturen, in denen die bäuerliche Vorstellung vom Haus als Gotteshaus fortlebt,42 sind die Tempel von Paestum vielleicht das große Beispiel für die griechische Tempelkunst als ein auf die Lichtverhältnisse abgestellter Freilichtbau, ein von der „Welt“ her beleuchteter und in sie hinein leuchtender Außenraum, der der Phantasie einen Freiraum lässt, der nicht nur für ein bestimmtes Lichttalent maßgebend war! (Das steht ja, wie wir wissen im Gegensatz zur Wirkung des Innen in der Spätgotik/Barock: dem innen im Gotteshaus kreisenden Licht!). Licht trägt natürlich zu einer ‚Objektivität der Formensprache‘ bei! Konstellationen der Reinheit. Fronten von schrankenloser Klarheit: Kapitelle, Gebälk, Giebel. Kleine Schattenlinien an wichtigen Stellen helfen dem Zusammenwirken der Teile. Jaspers dickes Achsenzeit-Buch ist 1949 erschienen, ein erster Achsenzeitaufsatz schon 1946 in der Zeitschrift „Der Monat“, in dem er die Zeit zwischen 200 vor und 600 nach Christus als den globalen Durchbruch der kulturübergreifenden „Kommunikation“ in den Prophetenoffenbarungen identifiziert, also „Axialität“ als einen quasi abstrakten himmlischen Regenguss beschreibt. Bleibt die ‚Metaphysik‘: Jaspers kollidiert schon im Begriff der Achse (temporal) mit Lambs Drei-Seiten-Aufsatz (spatial) über den Tempellichtraum in Paestum von 1944. Lamb eröffnet mit einem gewissen transzendentalen Blick über die Wände des Tempels hinaus, einen material-sakralen Ausblick, die visuelle Konstruktion einer sakralen Landschaft, das Hereinholen der wechselhaften Natur in den beständigen Blick, die ‚Transzendenz‘ der sich kreuzenden Bergketten, in Nebelstreifen beschattete, sich überschneidende Linien bilden am ‚Ende‘, am Horizont eine gewisse Harmonie. Was soll dann noch die viel diskutierte, von der Kirche bestimmte Unterscheidung von Säkularität und Sakralität? MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM Vielleicht gelingt es später einmal, mit einem ausgeweiteten Begriff des Axialen, der die Wandlungsweisen des Wahrnehmens und Bewusstseins aus Erfahrungen in persönlichen und räumlichen Mikro-Kontexten heraus aufgreift, uns zu helfen, über die Staats- und Gemeinschafts-„Axialität“ der klassischen historischen Soziologie hinaus zu blicken und das weite Feld neuer Schübe der Öffnungen im Vergleich von Archäologie/Altertumswissenschaft und Orientwissenschaft zu erschließen? Mikro-Axialität Eigentlich geht es eben nicht mehr um Begriffe und Begriffskonstruktionen oder idealtypische Feldbestimmungen, sondern um Annäherung an Erfahrung, wenn es sein muss „durch den Begriff hindurch“, wie Theodor Adorno es ausgedrückt hat. Natürlich wird man nicht umhinkommen, auf Begriffe einzugehen, denn sie überdauern, auch wenn man nicht von Adorno her denkt. Ausgangspunkt hier aber sind Beschreibungen erfahrenen Lebens. ‚Idealtypen‘ müssen wegen ihrer ideologischen Redundanz abgelehnt werden. Man kann nicht eigentlich behaupten, dass wir die mythische Welt überwunden haben, und je mehr sie ins Blickfeld der Forschung rückt, umso größer ist die Bedeutung des Dinghaften in den Urformen des menschlichen Lebens. Es liegt der Schluss nahe, dass die Distanz zum ‚Urmenschen’ geringer wird, wenn der Blick in die Zukunft der Moderne schweift. Sicher spielt auch Angst vor dem Vergessen der großen Erfahrung der Alten eine Rolle. Je ausschließlicher die Zurücknahme der Transzendenz ist, umso intensiver das Mythisieren der Dinge und die Wiedererfindung des Heroischen, und sei es nur als musealer, monumentaler Akt, sei es als banaler Ausdruck eines neuen, ins Gegensätzliche getragenen Wettbewerbs zwischen dem Mythos der homerischen Heroen einerseits und 177 der monotheistisch ausgelegten postsokratischen Philosophie der Griechen. Wollte man sich vor solchen Gegensätzen schützen, wäre es nur natürlich, im Monument der griechischen Klassik selbst schon die Weite der menschlichen Erfahrung zu ermessen. Doch ebenso unvermittelt wäre das Apodiktum, dass Mikro-Axialität ganz dem Monumentalen selbst widerspricht. Allein schon der unumstößliche Ausdruck der Größe scheint im Gegensatz zum Anspruch der Mikro-Analyse zu stehen, die vollends nur auf Einzelmomente unmittelbarer Spannung in der menschlichen Erfahrung abgestellt ist. Doch wenn Axialität auch als eine andauernd irritierende Reorganisation des individuellen Bewusstseins geltend gemacht wird, liegt auch die Wirkung des Großen auf der Hand; das Monumentale ist nicht aus dem Blick zu nehmen. Größe drängt sich auf, auch wenn man Transaktionen und Konnekt-Felder mit in den Blick nimmt. Das Zusammenspiel der Dinge im perspektivischen Raum ergibt sich unabhängig von Größe und Massivität des Materials: In Paestum sind es lokale Präsentationen und Präsentationsräume des Altertums, die aus den Forschungen und Projekten der aktiven wissenschaftlichen Verwaltung der antiken Welt hervorgegangen sind und gänzlich an den lokal vorgefundenen Gegenständen hängenbleiben. Nicht Offenbarungstexte und Gottesvorstellungen im Wandel der Zeiten stehen im Vordergrund. Wer allerdings die Notwendigkeit einer Negation des Achsenzeitbegriffs sehen wollte, sähe sich enttäuscht. Auch in der Perspektive des Minimalen sind Achsen, wenn auch weitgehend nur als Formen der Linienführung und der Richtung zu beobachten. Mein bescheidener Vorschlag will helfen, Punkte zu setzen und um sie herum Kreise zu ziehen. Es sind die Verbindungslinien zu zeichnen, die uns die manifesten Dinge vorgeben, die Aufmerksamkeit erregen und unser Augenmerk auf sich ziehen (nicht eben die Suche nach Allgemeinbegriffen). 178 GEORG STAUTH Zunächst: Was sagt es – bleiben wir am Beispiel der Tempel –, wenn wir behaupten, dass Aussagen über Mikro-Axialität sich nicht in Monumenten ausdrücken können? Wäre andererseits das Wandeln im schattenlosen Licht der Säulenhallen nicht so eine tief empfundene mikro-axiale Erscheinung? Mir geht es hier um Querverbindungen von Zeit, Raum und Licht, NichtGeschichte oder Ur-Geschichte als gegenwärtige Empfindungen. Wenn in diesen Erfahrungen ein Moment binärer Dualität fortexistierte, dann sollten wir das so verstehen, als existierten hier verschiedene Ausdrücke von Körperlichkeit – Körper in differenten Zuständen und als Gegenwart verschieden aufleuchtender Lagen des Seienden. Sprechen wir von Licht, so geht es nicht um Ideen der Transzendenz, wie etwa im klassischen Achsenzeit-Konzept. Ideen, die sich als das Allgemeine ausdrücken oder in den Gegenstand hineingepresst werden, sind, wie gesagt, nicht zu unterdrücken, müssen aber nicht unser vornehmliches Interesse finden. Vielmehr interessiert uns, was sich an Erfahrung ereignet. Am Tempel zunächst ist es die sichtbare Massivität des die Jahrtausende überdauernden Baues (Goethe scheint diese noch eher als Bedrohung wahrgenommen zu haben). Die Forscher zur antiken Baukunst hoben eine Vision der „Autarkie“ des einsam über der Landschaft liegenden Baus hervor. Nicht die Welt von Draußen als gestaltende/gestaltete Kunst in das Innen des „Hauses“ geholt (wie im ursprünglichen ägyptischen Säulenbau), sondern die nach außen weißenden Richtungen – Achsen – des Baus und seine Materialität und Transzendenz zugleich: Himmelsrichtungen der Säulenanordnung, die Variationen des Außenbezugs im Lichteinfall als Zerstreuung und Verteilung, nicht als Bündelung und Zentrierung – als ginge es um Stille, ruhende Bezüge zur Weltordnung draußen. Dagegen hat uns Vico, der erste moderne Philosoph der Immanenz, gezeigt, wie chao- tisch die Götterwelt draußen ist, wie bedrohlich die Natur dennoch bleibt. Ein ständig aufgerufenes Moment der Tempelbetrachtung sind die lokalen Lagerungen der Immanenz-Problematik: Berge, Meer, Wolken, Wetter. Die Gegensätze von höchster Brutalität, Zivilität als Moment der Beherrschung des Gesetzes der Natur, List als die innere Kraft, äußere physische Stärke, Lust und spielerische Körperlichkeit. Und immer wieder beständige Transgressionen als Lösungsmomente des Göttlichen im Gegengöttlichen. Ähnlich liegen die Erklärungsmomente des Tuffatore, wo doch zeitliche und translokale Konnektivitäten eine offene, größere Rolle spielen, die von Urmensch-Problematik in den vorgriechischen Lokalkulturen erhält eine parallele Ausdrucksform im reinen, spielerisch zwischen den Elementen gleitenden Körper des Tuffatore. Plötzlich die übergeschichtliche Sport-Attitüde, taucht sie doch schon in Gestalt der Felsenspringer als männerbündische Nostalgie unter den ersten emigrierten Griechen auf.43 Ruhe und Schließung des Himmels, Stabilität versus Unruhe, Destabilisierung - Immanenz des Chaos als Bedrohung oder als Lösung? Andererseits, wie bereits gesagt, sind Masse und Monumentalität ganz eigene Erfahrungsmomente – gefährlich nahe an „Idee“ anschließend, eben allgemein, weil sie sich sowohl auf die Monumente als auch auf die dargestellten Körper beziehen lassen. Körper: Masse, festgehalten im Säulenbau, und bei Tier und Mensch in Bewegung, eine eigene Totalität. Nachlese: Umbrüche in Natur und Moral Im Gegensatz zum Tuffatore von Paestum mit seiner klaren und perlenden Körperlichkeit sprechen die übrigen Fresken mit den feiernden Heroen – Genossen im gleichen Grab – eine andere Bildsprache. Sie zele- MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM brieren ihr Dasein in erotischen, homo-geschlechtlichen Ehrerbietungen, Gelagen mit Wein und Musik und, trotz aller strotzenden Körperlichkeit, mit erhabenen Gesten. Wo sie in anderen Gräbern spielen und kämpfen, mit wilden Tieren hadern, sprechen sie von der ständigen Bedrohung des Lebens, der sie in bunter Stärke widerstehen. Und so sind doch die Tiere alles andere als dämonische Mitwesen. Im Unterschied zur elementaren Diesseitigkeit des Tuffatore kratzen die Heroen immer am Himmel und invozieren in einem von Flügeln gekennzeichneten Chaos des Symbols das Reich der Urphänomene. Könnte in dieser durcheinander schwirrenden Dingwelt der Symbole und Zeichen mythischer Lebensformen nicht eine Bedrohung der Werte der Vernunft gesehen werden? Ist das die Lösung der „Wahlverwandtschaften“, dass das „Dämonische“, die „Idolatrie der Natur“ im Tod obsiege: „Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausholen“ und „Einzig der Begriff des Dämonischen steht, wie ein unabgeschliffener Monolith in der Ebene“.44 Können wir von der Parallelität von Transzendenz/Immanenz sprechen: hier die Elementarwelt des Tuffatore (ein materiales Abbild des Natürlichen), dort die Heroen in Angst vor Chaos und ihrer eigenen Kraft und Wildheit? In diesem Sinne könnte man dann auch natürlich vom Tuffatore als von einem in der elementaren Seite des Lichts sich Bewegenden sprechen, der sich von Anfang an nicht dem „Leben des Mythos“ widersetzt, sondern ohne „Herrscher und Grenzen“ mit ihm und in ihm lebt. Ich ahne, wie ich mich mit diesen Reflektionen über Zeit, Raum und Licht/ NichtLicht zur Frage der Urformen des menschlichen Wissens hingeführt sehe, und – was vielleicht noch wichtiger ist – mich dahin bewege anzuzeigen, dass heute jede Beobachtung und Reflektion der Tempelwelt von Paestum sich augenscheinlich selbst in das Leben in der griechischen Antike und in Paestum als erste Form der Kolonisierung 179 hineinversetzt. Das sind nicht nur post-protestantische Fragen nach den aktiven ‚Kosten‘ des modernen Asketismus und Rationalismus, wie sie von der Achsenzeit-Theorie des Weber-Freundes Karl Jaspers aufgeworfen wurden. Man hätte „Aufklärung“ falsch verstanden, wenn man mit ihr eine neue Gottheit der Vernunft zu erfinden gehofft hätte, und Giambattista Vicos Warnung vor der Vorstellung des schreckhaften ‚Urmenschen‘45 als dem wahren, übergeschichtlich waltenden Vernunftwesen beiseitelegte. Andererseits wäre es auch eine grobe Einschränkung, sich hier alleine nur mit Formen der internalisierten dionysischen Bescheidenheit und Innenbezogenheit als einer nicht- oder noch nicht-europäisierten Form des Denkens zu beschäftigen, oder gar einer soziologischen Manier folgend, nur nach höheren Formen der Ordnung, der Stabilität oder gar Instabilität zu suchen. Aus Sicht der Frage nach Mikro-Axialität sollte der Weg aber auch keineswegs zur Limitierung der Perspektive auf die „Nussschale“ der sogenannten intuitiven Macht der ‚kleinen Dinge‘ führen. Allerdings mit der Vorstellung der unauflöslichen Konnektivitäten treten wir in ein neues Beobachtungsfeld ein, die Sicht- und Lichtflächen breiten sich aus wie ein Korallenriff oder verringern sich auf schmalste Fügungen der Linienführung mit umfassender Macht des Zusammenhalts und der Harmonie. Folgt man den Lichteffekten bis in die Mikrobereiche des Seienden, der Zeitlichkeit der Lichtentfaltung, so hat die Unmittelbarkeit der Stimmungen und Affekte auch eine konstruktive Dimension: Sie stärkt das Bewusstsein über Bedeutung und Potentialitäten der Instabilität und des offenen Umgangs mit Chaos. Eine Leichtigkeit des Lebens und Unschuld des Nutzens der Vernunft, wie wir sie seit den Zeiten der Griechen und Etrusker nicht mehr gesehen haben. GEORG STAUTH 180 Danksagung Ich möchte mich bei Armando Salvatore für den regen Austausch während des Besuchs in Paestum und Caserta und unmittelbar danach recht herzlich bedanken. Sana Chavoshian sei Dank für die Durchsicht des Manuskripts. Mein Dank gehört, den Herausgebern und Editoren dieser Zeitschrift; besonders vermerkt sei hier die mehr als nur symbolische Unterstützng, die ich von Andrea Streily erfuhr. Anmerkungen 1 2 3 4 Reflektionen durch eine Kurzreise nach Neapel, Caserta und Salerno veranlasst; ein Tag soziologisch-anthropologischen Wanderns mit Armando Salvatore, danach fünf Tage hinunter und hoch am Golf von Salerno, Ende Mai 2019. Lawrence 1999, 104-10; siehe auch das Vorwort zu „Etruskische Orte“ von Anthony Burgess (in: Lawrence 1999, 11). Das Vorwort zur englischen Ausgabe von Massimo Pallottino widmet sich ausgiebig dem ‚skeptischen, trockenen, kleinen deutschen Gelehrten‘ aus der Phantasie des Schriftstellers Lawrence (1986, 23-24). Hier die ‚Chimäre von Arezzo‘ betreffend ein Beispiel für den Streit zwischen Literaten und Wissenschaftler: „Was bedeutet wohl dieser Löwe mit seinem zweiten Nacken und Kopf?“ fragte ich den Deutschen. Er zuckte die Achseln und sagte: „Nichts.“ Der Löwe hatte für ihn keinen Sinn, weil nichts, außer dem Abc der Tatsachen, für ihn irgendeine Bedeutung besitzt. Er ist ein Wissenschaftler, und wenn er nicht will, dass etwas einen Sinn haben soll, ist es damit ipso facto sinnlos.“ (Lawrence 1999, 111). Lawrence und Huxley waren sich auf der Suche zwischen Wissenschaft und Imagination gegenseitig inspirierende Wallfahrer im Etrurien der 1920er Jahre (Pallottini 1957). „La particolarità che rende la tomba del tuffatore un unicum enigmatico è l’assenza di 5 6 7 8 ogni elemento narrativo, di qualsiasi attributo o indicazione che possa rilevare il significato di questa immagine; nessuna traccia di elementi mitologici, anche illeggibili che fossero. La ricerca tende a vedere nel tuffo una rappresentazione metaforica del passaggio dalla vita alla morte; un’interpretazione non priva di problemi: un linguaggio metaforico che non fa parte del repertorio attestato dalle fonti archeologiche in questa fase così remota dell’arte antica. L’immagine come metafora non esisteva - o se esisteva, la tomba del tuffatore ne sarebbe l’unico esempio; come se in un universo musicale dove esiste solo il contrappunto, all’improvviso apparisse un’opera basata su armonie e accordi.“(Zuchtriegel 2016). Vgl. hierzu etwa Bryan S. Turners „monumentalistische“ Gesamtschau (Turner 2001). Vico 1924. Der ‚Urmensch’ hat seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Kulturwissenschaft im Bild des archaischen Menschen eine vielfältige Verwendung erfahren; es ist hier nicht der Ort, dies im Einzelnen zu behandeln. Ich greife den Begriff auf, nicht um ihn in eine sozialwissenschaftliche oder ästhetische Theorie zu transzendieren, sondern ich stelle ihn vielmehr unter den anthropologischen Aspekt des Ausdrucks von konkreter Wildheit und Chaos: d. h. volles Leben ohne Disziplin unter Rückbezug zur Geschichte des frühen Menschen. „Der Urmensch ist ein wirklicher Wilder, grenzenlos und anarchisch, zu binden nur durch die magische Kraft der durch die Sinne erzeugten, feierlichen Schrecken erregenden Form; keine eingeborenen vernünftigen Ideen sind in ihm, sondern Furcht und Chaos.“ (Vico 1924, 32; siehe auch S. 3943). Vergleiche auch die kulturkritischen Betrachtungen von Vico’s „Angst“ als ‚intellektueller Ort‘ in der modernen Architektur bei Confurius 2017, 92 ff. Paestum – ich komme darauf zurück – ist heute nicht mehr visuell aus dem historischen Kontext seiner Entstehung zu begreifen. Dennoch sind „Material“ und „Gestalt“ MIKRO-AXIALITÄT: DER TAUCHER VON PAESTUM 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 der Tempel ein Produkt architektonischer und technischer Wanderungen – in Stufen und Bewegungen über Jahrhunderte hinweg – aus Ägypten (siehe Koenigs 2005). Goethe, Italiensche Reise, 2. März 1787. Wie natürlich auch Ägypten, wenn auch von Assmann (2006) nur aus der Distanz der „Erinnerung“ heraus reduziert gezeigt (so doch bei lokalen Forschungen immer wieder vergessen oder unterdrückt), in den hellenistischen und vor-hellenistischen Kulturraum des östlichen Mittelmeers hineinwirkt, wurde in der Ausstellung „Ägypten, Griechenland, Rom: Abwehr und Berührung“ im Frankfurter Städel Museum 2005/2006 höchst inspirierend verfolgt. Siehe Zuchtriegel 2018b, 79. Benjamin 1980b, 291. Goethe, Italienische Reise, 23. März 1787. Zuchtriegel 2016. Siehe Napoli 1970, 64; Zuchtriegel 2018c, 5. Steinfeld 2019. Lawrence 1999, 63; siehe auch Lawrence 1986, 32 ff. Lawrence 1999, 37-130. Lawrence 1999, 63; er muss hier offenbar von zwei verschiedenen Photographien ausgehen, das Bild mit den im Boot winkenden Fischern weiterfahren: „während hinter ihm ein Gefährte den Felsen hinauf klettert und ein Boot auf dem Wasser mit eingelegten Rudern wartet; drei Männer, von denen der mittlere sich nackt aufrichtet und seine Arme ausbreitet, beobachten den Taucher. Derweil springt hinter dem Boot ein großer Delphin hoch, und ein Vogelschwarm steigt auf, um sich am Felsen vorbei in die klare Luft empor zu schwingen.“ Diese letztere Passage ist in der englischen Fassung, in der die Bilder voneinander getrennt abgedruckt sind, nicht nachzuvollziehen. Wie dem auch sei, Lawrence integriert in seiner Beschreibung zwei Bilder, die von ihrer Position, Gestaltung und Gestik im Grab selbst nichts miteinander zu tun haben können, jedenfalls nicht in der von ihm beschriebenen Form. Steinfeld 2019. 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 181 Siehe Holloway 2006, 365. 373 f. Vgl. Pontrandolfo/Rouveret/Cipriano 2015; del Verme 2016; Zuchtriegel 2018a; rückblickend: Lawrence 1986; 1999; Pallottini 1957. Man kann Löwith als einen der Ersten bezeichnen, die eine ‚linke Ontologie‘ systematisch zu begründen suchen: „Eine phänomenologische Analyse dieses allgemeinen Problems geben die ersten Teile des Kapitals, worin Marx den Warencharakter unserer Hervorbringungen aufzeigt. An der Ware erschließt sich ihm die ontologische Grundstruktur unserer gesamten gegenständlichen Welt, ihre „Warenform“ (Löwith 1981, 171, siehe auch insbesondere S. 168-191). Nietzsche’s Auslassungen zum Griechentum sind vielfältig und oft widersprüchlich. Immer wieder war ihm die Vorstellung des Lebens unter den Griechen eine Art Rettungsanker vor Decadance. So empfielt er zum Beispiel neues Bildungsleben „in der „altgriechischen Urwelt des Großen, Natürlichen und Menschlichen (zu) suchen.“„Dort aber finden wir auch die Wirklichkeit einer wesentlich unhistorischen Bildung und einer trotzdem oder vielmehr deswegen unsäglich reichen und lebensvollen Bildung.“ (Nietzsche 1980, 307). Vergleiche zu Vico’s Begriff von Angst und Schrecken in der Konstruktion des mythischen Weltbilds (Vico 1924, 39-42); siehe auch Confurius 2017, 93-94. Nach del Verme 2016. Lawrence 1999, 63-65. Del Verme 2016, 71. Zuchtriegel 2018c. Del Verme 2016, 74. Del Verme 2016, 74. Man bemerke dort auch die sich doch sehr ähnlich gestaltenden Figuren der tanzend prozessierenden Männer in roter Farbe und vergleiche sie mit den hier im Grab vorgefundenen Fresken (siehe Lawrence 1999, 71. 7475). Hinweis von Armando Salvatore (Schreiben vom 21. Juli 2019): Er nimmt den japanischen Philosophen Isutzu als eine Ausnah- GEORG STAUTH 182 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 meerscheinung an, der nicht von den modernen Disziplinen ausgehend zurückblickt, wenn er von Japan und China spricht. Die Idee, Griechenland und insbesondere die VorSokratiker als „craddle of the Orient“ zu sehen, bedarf dabei ganz eigner Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung der Affektmodulierung, nicht nur als Findung von Ruhe und Stabilität, sondern auch als Form von potentieller Chaotisierung: „Licht“ als kosmische Kraft des Chaos. Hier also könnte auch der Gedanke der Mikro-Axialität ansetzen oder besser weiter getragen werden. Salvatore 2007. Lamb 1944, 15. 20f. Siehe Lamb 1944, 29 Abb. 5; vgl. Koenigs 2005, 58. Koenigs 2005, 58. Koenigs 2005, 58. Lamb 1944, 22. Lamb 1944, 21. Vico 1924, 42 ff. Das scheint so auch bei den Griechen gewesen zu sein, nur dass sie das lebendige „Haus“ als äußere Modellvorlage betrachteten und so auch im technischen Prozess des Bauens und der architektonischen Entwicklung verfuhren (Koenigs 2005, 56-57). DeVries 1978. Benjamin 1980a, 85-86. Siehe Anm. 6. Literaturverzeichnis Assmann 2006: J. Assmann, Erinnertes Ägypten. Pharaonische Motive in der europäischen Religions- und Geistesgeschichte (Berlin 2006). Benjamin 1980a: W. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: W. Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. st 345 (Frankfurt a. M. 1980) 63-135. Benjamin 1980b: W. Benjamin, Erfahrung und Armut. In: W. Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. st 345 (Frankfurt a. M. 1980) 291-296. Confurius 2017: G. Confurius, Architektur und Geistesgeschichte: Der intellektuelle Ort der europäischen Baukunst (Bielefeld 2017). Curtius 1944: L. Curtius, Die Tempel von Paestum. In: C. Lamb/ L. Curtius, Die Tempel von Paestum. 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