Die Geschichte der Arbeiter-Radfahrer
in der Schweiz
zum Jubiläum 100 Jahre ATB 1916–2016
Peter Berger
Mai 2016
Inhaltsverzeichnis
I
Vorwort
5
II
Hauptteil
9
1 Die
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
Vorgeschichte
Das Velo wird alltägliches Transportmittel
Entstehung der Arbeiter-Kulturbewegung
Der Aufstieg zur Massenorganisation . . .
Schweizer Sektionen als eigener Gau . . .
Thalwil wird Vorort in schwerer Zeit . . . .
Vom Gau zum selbständigen Bund . . . . .
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2 Vom ARB zum ATB
2.1 Bern wird neuer Vorort . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Es geht aufwärts: Mitgliederboom in den Zwanzigern
2.3 Ausbau der Mitgliederdienste . . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Politische Lobby der Radfahrer in Verkehr und Sport .
2.5 Festigung der Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Konsolidierung in der Vorkriegszeit
3.1 Prozess wegen der Namensänderung . . . . .
3.2 Gründung von Motorradfahrersektionen . . .
3.3 Sporttätigkeit erhält neue Qualität . . . . . . .
3.4 Der ATB zwischen SPS und KPS . . . . . . . .
3.5 Der Organisationszwang bewegt die Gemüter
3.6 Ringen um das Rennverbot . . . . . . . . . . .
3.7 Der ATB als Teil der Arbeiterkulturbewegung
3.8 Der ATB und der Antifaschismus . . . . . . . .
3.9 Der ATB und der SRB . . . . . . . . . . . . . . .
3.10 Gut gewappnet in die Kriegsjahre . . . . . . .
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4 Nachkriegszeit: Mitgliedermässig auf dem Höhepunkt
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4.1 Konflikt im Vorort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
4.2 Soziale Kämpfe in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . 64
4.3 Neue alte Kontakte über die Grenzen . . . . . . . . . . . . 66
4.4 Die Basis geht im Internationalismus voran . . . . . . . . 67
4.5 Neue Kontakte auch ins Elsass . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.6 Unnachgiebigkeit in der Lizenzpolitik . . . . . . . . . . . . 69
4.7 Die Organisationspflicht wird relativiert . . . . . . . . . . 70
4.8 Motorisierung beeinflusst den Sport der Nachkriegszeit . 71
4.9 ATB-Sektionen im Radfahrerbewusstsein gefangen . . . . 72
4.10 Die Ära Iseli geht zu Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
5 Jahre der Identitätssuche
77
5.1 Grosse Strukturreform nach dem Präsidentenwechsel . . 77
5.2 Und immer wieder: Auseinandersetzungen um den Namen 80
5.3 Diskussion um die Gliederungsstrukturen . . . . . . . . . 81
5.4 Der Beitragseinzug wird zentralisiert . . . . . . . . . . . . 82
5.5 Abkommen mit Partnerorganisationen
. . . . . . . . . . . 82
5.6 Aufbruch zu neuen Ufern: Der Hallenradsport wird verbandsübergreifend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
5.7 Sporttätigkeit in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.8 Geländefahren als neue Breitensportart im ATB . . . . . . 88
5.9 Profilierungversuche als Verkehrsverband . . . . . . . . . 89
5.10 Mehr Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
5.11 Das schwache «Verkehrsbein» . . . . . . . . . . . . . . . . 91
5.12 ATB-Verkehrspolitik: Vom Partikularinteresse zur Gesamtverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5.13 Die Mitgliederleistungen des ATB . . . . . . . . . . . . . . 97
5.14 Vom «Arbeiter-Touring» zu «Sport+Verkehr» . . . . . . . 99
5.15 Aussensicht auf den ATB ist gefragt . . . . . . . . . . . . . 104
6 Auf dem Weg zum Sportverband
107
6.1 Eine gründlich vorbereitete Verbandsreform . . . . . . . . 108
6.2 Die Umsetzung der Verbandsreform . . . . . . . . . . . . . 111
6.3 Das Verkehrsbein wird immer schwächer . . . . . . . . . . 113
6.4 Fusion als Ausweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
6.5 Konzentration auf das Zukunftsfähige . . . . . . . . . . . . 117
4
III
IV
Nachwort
121
Anhang
6.6 Gliederung des ATB: zuerst Bezirke, später Regionen
6.7 Die Sektionen der Schweizer Arbeiter-Radfahrer . . .
6.8 Das Vorortssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.9 Anschluss an einen ausländischen Verband . . . . . . .
6.10 Die Signalordnung im ATB . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.11 Die Organisationen der Asask . . . . . . . . . . . . . . .
6.12 Arbeiter-Radfahrer-Musik . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.13 Quellenhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.14 Jubiläumsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5
6
Teil I.
Vorwort
7
Die Geschichte des ATB in einer Schrift zum 100-Jahr-Jubiläum festzuhalten, wie der Auftrag der ATB-Gremien lautete, ist leichter gesagt
als getan! Zwar ist die Quellenlage im Ganzen gesehen recht gut. Im
Schweizerischen Sozialarchiv lagert enorm viel Quellenmaterial, sowohl des nationalen Verbands als auch zahlreicher Sektionen. Gleichwohl bestehen einige Lücken, und die Ergiebigkeit ist unterschiedlich.
Am besten ist die Zeit von 1927 bis nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert, als man sich stenographische Bundestags-Protokolle leistete. Und im Zentralvorstand wurden von den Sitzungen recht ausführliche, die Stimmungen reflektierende Niederschriften angefertigt. Von
1919 bis 1927 liegen keine Protokolle vor, was wohl damit zu tun hat,
dass der Verband erst Ende der zwanziger Jahre über eine Geschäftsstelle verfügte, wo es Raum für eine systematische Archivierung der
Dokumente gab.
Wunderbarer Weise sind aber von 1913 bis 1919 die Protokolle des
Gauvorstands (vor der Ablösung vom deutschen Verband) – zum Teil
in perfekter Kanzleischrift geschrieben – und des Zentralvorstands
(nach der Verselbständigung) erhalten, so dass sich diese spannende
Zeit vor und nach der Geburtsstunde des Verbandes ziemlich gut rekonstruieren liess. Bei der Schliessung der Lücke von 1919 bis 1927
war die Schrift «Der ATB im Werden», die der langjährige Zentralpräsident Ernst Iseli zum 25-Jahr-Jubiläum schrieb, eine grosse Hilfe.
Ab den 60er Jahren schrieb man allgemein nicht mehr so ausschweifende Protokolle. Gut für effiziente Sitzungen, aber schlecht für den
Chronisten. Diese Art von Niederschriften sind nicht mehr so detailreich. Oft helfen da ergänzende Ablagen weiter. Der Bestand des ATBArchivs ist aber so reich, dass unmöglich das letzte, hinterste Dokument gesichtet werden konnte. Es blieb oft nichts anderes übrig, als
im Archiv gezielt nach Antworten auf gewisse Fragen zu suchen.
Diese Jubiläumsschrift erhebt keinen historisch-wissenschaftlichen
Anspruch, und schon gar nicht auf Vollständigkeit. Auf Fussnoten wurde im Interesse des guten Leseflusses verzichtet. Ergänzende bzw.
erklärende Informationen wurden dagegen in Randkolumnen eingestreut.
Der Aufbau dieser Chronik ist in Zeitepochen gegliedert: Die ganze
Vorgeschichte bis zur Gründung des schweizerischen Verbandes, die
Aufbauphase nach der Gründung 1916 bis zur ersten Namensänderung 1930, die Konsolidierungs- und Ausbauphase bis nach dem Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit bis zum Abgang vom Vorortssystem
1960, die 32 Jahre mit Nationalräten an der Spitze und schliesslich
die Jahre seit der Verbandsreform in den 90er Jahren.
9
Danken möchten wir aber vor allem den Personen, die ihr grosses
Wissen über den ATB in Einzelgesprächen mit uns zu teilen bereit waren, allen voran dem langjährigen Verbandstrainer Kurt Zülli. Dann
aber auch Wilfried Backhaus, Josef Jud, Lilo Fröhlin, Ernst Kobler, Edwin Peter, Harald Reiter, Fritz Schönholzer, Peter Siegenthaler und
Max Zülli.
Dank gebührt ausserdem Alberto Cherubini, der mit einem französischen Text an die Präsenz des ATB in der Romandie erinnert. Er
konnte sich dabei auf das Wissen von Ernst Fuhrer und Louis Sinner,
der übrigens das gleiche Geburtsjahr wie der ATB hat, abstützen.
Einen besonderen Dank sind wir jedoch dem Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich schuldig. Mit der sorgfältigen Archivierung des ATBBestandes hat das Sozialarchiv das Verfassen dieser Jubiläumsschrift
entscheidend erleichtert oder überhaupt möglich gemacht. Das Sozialarchiv ist eine unverzichtbare Einrichtung, wenn es um die Dokumentation sozialer Bewegungen der Schweiz geht.
Winterthur, im Januar 2016
Peter Berger
10
Teil II.
Hauptteil
11
1. Die Vorgeschichte
Die Geschichte des ATB beginnt nicht erst mit seiner Gründung als
Arbeiter-Radfahrer-Bund der Schweiz «Solidarität» im Jahre 1916.
Seine Ursprünge reichen etwa 2 Jahrzehnte weiter zurück. Sie ist
einerseits eng verknüpft mit der technischen Entwicklung des Fahrrades im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und anderseits mit der
gleichzeitigen Erstarkung der internationalen Arbeiterbewegung, verbunden mit einer intensiven Arbeitsimmigration Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Deutschland und Österreich.
1.1. Das Velo wird alltägliches Transportmittel
Um das Velo zu einem massentauglichen Transportmittel werden zu
lassen, brauchte es eine technische Erfindung: Den auf das Hinterrad wirkenden Kettenantrieb. Nach der Erfindung der Laufmaschine
durch den Herrn von Drais im Jahre 1817, die immerhin eine dreifache
Laufgeschwindigkeit ermöglichte, war die weitere Entwicklung des
Velozipeds lange nicht vom Fleck gekommen. Die Anbringung einer
Tretkurbel am Vorderrad in den sechziger Jahren sah zwar nach einer
Revolutionierung des Zweirades aus, führte aber entwicklungsmässig in eine Sackgasse. Der Radius des Vorderrades musste der Beinlänge angepasst werden, und um gleichzeitig eine lenkungsneutrale
Kraftübertragung zu gewährleisten, musste diese möglichst vertikal
erfolgen. Das konnte mit überdimensionierten Vorderrädern erzielt
werden; die Entwicklung filigraner Zugspeichen und Rahmen aus
Stahlrohr anstelle der bisherigen massiven Holzrahmen und -speichen
machten es möglich. Mit diesen neuartigen Hochrädern liessen sich
mit eigener Körperkraft zwar bisher unvorstellbare Geschwindigkeiten erzielen. Das Radfahren wurde jetzt aber zu einer fast akrobatischen Angelegenheit, setzte jedenfalls Leuten in wenig sportlicher
Verfassung Grenzen. Und da der Schwerpunkt durch die Sitzposition
recht hoch und knapp hinter der Nabe des Vorderrades lag, war das
Hochrad auf den unbefestigten Strassen von damals alles andere als
ein sicheres Fahrzeug. Entsprechend begrenzt war der Personenkreis,
der mit diesem Gefährt umgehen konnte. Der hohe Anschaffungspreis
13
sorgte zudem dafür, dass das Hochrad nur begüterten Kreisen offen
stand.
Erst die Anwendung des Kettenantriebs ab 1879 wies den Weg für
eine zukunftsträchtige Entwicklung des Fahrrads. Damit war es möglich, zum sogenannten Niederrad wie zur Zeit der Draisschen Laufmaschine zurückzukehren. Vorder- und Hinterrad waren nun wieder
gleich dimensioniert und hatten arbeitsteilige Funktionen. Das Vorderrad diente nur noch der Lenkung, während die Antriebskraft von
der in der Mitte positionierten Tretkurbel auf das Hinterrad übertragen wurde. Als schliesslich der vom schottischen Tierarzt John Boyd
Dunlop 1888 entwickelte «pneumatische Reifen» die eisenbeschlagenen Räder ablöste, stand der raschen Ausbreitung des Velos nichts
mehr im Wege.
Der stark wachsende Markt führte zu einem scharfen Konkurrenzkampf und damit zu rationelleren Fabrikationsmethoden. Die Folge
war, dass die Anschaffungspreise für das neue Fortbewegungsmittel
rasch zu sinken begannen. Das Radfahren blieb so nicht mehr lange
ein Modesport des Bürgertums. Immer mehr war es gegen das Ende
des Jahrhunderts auch Arbeitern möglich, sich ein Fahrrad leisten zu
können. Für sie war es aber nicht ein Modeartikel, sondern ein wertvolles, zeitsparendes Fortbewegungsmittel im Alltag, vor allem auch
für die Arbeitswege, die mit der stürmischen Industrialisierung immer
länger wurden.
1.2. Entstehung der Arbeiter-Kulturbewegung
Die erste Industrialisierung erhielt nach 1860 durch den Ausbau des
Eisenbahnnetzes kräftig Auftrieb. Die Arbeitskräfte, die in den neu
entstehenden Fabriken in grosser Zahl benötigt wurden, kamen aus
der Landwirtschaft. Dort verloren – ebenfalls als Folge des Eisenbahnbaus – wegen der Umstellung vom arbeitsintensiven Ackerbau auf die
extensive Milchwirtschaft viele Lohn- oder Taglohnarbeitende ihre angestammte Arbeit. Es blieb ihnen nichts anderes übrig als der Gang in
die Fabrik, wo sie unter elenden Bedingungen ihre Arbeitskraft für wenig Lohn verkaufen mussten, ohne jede soziale Absicherung für sich
und ihre Familie und oft unter miserablen Wohnbedingungen in den
neuen Wirtschaftszentren.
Je grösser das proletarische Heer wurde, um so mehr setzte sich der
Gedanke durch, dass die soziale Lage der Arbeiterschaft keine Schicksalsfrage ist, die man machtlos hinzunehmen hat. Karl Marx und Friedrich Engels hatten bereits 1848 in ihrem kommunistischen Manifest
14
unter anderen den Weg gezeigt: Das Proletariat muss sich seiner Kraft
als gemeinsam agierender Klasse bewusst werden und die kapitalistische Ausbeutung durch eine sozialistische Ordnung ersetzen. Mit
dem Schlussappell «Proletarier aller Länder, vereinigt euch» gaben
Marx und Engels auch zu verstehen, dass diese Einswerdung der Arbeiterklasse grenzüberschreitend sein muss. Im Zuge dieser kollektiven Bewusstwerdung der Arbeiterklasse bildeten sich ab den 60er
Jahren des 19. Jahrhunderts politische und gewerkschaftliche Organisationen, die für die Verbesserung der Lage der arbeitenden Bevölkerung kämpften. Mit der allmählichen Herausbildung dieses Klassenbewusstseins in der arbeitenden Bevölkerung ergab sich das Bedürfnis, auch die Freizeit unter Klassengenossen verbringen zu können.
So entstanden bald einmal spezifische Arbeitervereine, vom ArbeiterTurnverein über den Arbeiter-Schützenverein, die Arbeitermusik bis
zum Arbeiterchor. Häufig gingen sie aus den Vereinen der Grütlibewegung hervor, jener sozialpatriotischen Bewegung, die in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts als politische und kulturelle Bewegung
des Kleinbürgertums entstand.
Zur Arbeiter-Kulturbewegung sind aber noch zwei weitere bedeutende Organisationen zu zählen, die indessen einen anderen Ursprung
haben, jene der Naturfreunde und der Arbeiter-Radfahrer. Ihre Entstehung ist dem Umstand zu verdanken, dass es Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg in der Schweiz eine starke Arbeitsimmigration deutscher und österreichischer Facharbeiter gab, aus der
starke Impulse auf den politischen wie gewerkschaftlichen, aber eben
auch auf den sportlich-kulturellen Teil der sozialistischen Arbeiterbewegung unseres Landes ausgingen. Zum Teil waren sie auf der Walz,
wechselten also häufig ihre Stelle, und agitierten so an jedem neuen
Ort, wo sie hinkamen, für die Gründung von Sektionen der Arbeiterorganisationen, die sie aus ihrer Heimat kannten. Auf diesem Wege entstanden die ersten Arbeiter-Radfahrer-Vereine in der Schweiz. Drehscheiben dieser Agitation waren meist die Arbeiterbildungsvereine,
die es in jeder grösseren Stadt gab und die Bibliotheken mit Leseräumen, Versammlungsräume sowie günstige Verköstigungsmöglichkeiten für «Walzbrüder» unterhielten.
1.3. Der Aufstieg zur Massenorganisation
So waren die überall in der Schweiz entstehenden Arbeiter-RadfahrerVereine ganz selbstverständlich als Sektion dem deutschen ArbeiterRadfahrer-Bund «Solidarität» angeschlossen. Ein erster Arbeiter-Rad-
15
fahrerverein ist in Zürich im Jahre 1897 aktenkundig. Er zählte 21
Mitglieder, die nicht einmal alle über ein Fahrrad verfügten, das
Fahren auf dem Rad wohl auch noch lernen mussten. Der ArbeiterRadfahrer-Bund «Solidarität» war in Deutschland in den 90er Jahren
nach der Aufhebung der Bismarkschen Sozialistengesetze, unter denen die Bildung sozialistisch ausgerichteter Arbeiterorganisationen
verboten waren, entstanden. Zwar blieb auch nach der Aufhebung
die Repression gegen sozialistisch taxierte Vereine und Organisationen im Kaiserreich allgegenwärtig. Dies konnte jedoch den rasanten
Aufstieg des Arbeiter-Radfahrer-Bundes nicht verhindern. Die Zahl
der ihm angeschlossenen Radfahrer ging rasch in die Zehntausende.
Nach 12-jährigem Bestehen konnte man 1908 bereits 100 000 Mitglieder feststellen, und am Vorabend des Ersten Weltkriegs zählte die Organisation über 150 000 Bundesmitglieder. Ihren Sitz hatte die «Solidarität» in Offenbach am Main, wo sie nicht nur ihr eigenes «Bundeshaus» hatte, sondern auch das bundeseigene Fahrradhaus «Frischauf». Dieses entwickelte sich zu einem umsatzstarken Handelsunternehmen mit dem Zweck, den Mitgliedern preiswerte Fahrräder
und Zubehör zu verschaffen. Bei Ausbruch des Weltkriegs verfügte
das Fahrradhaus über 28 Filialen. Eine davon befand sich in Zürich
an der Bäckerstrasse; sie sollte dann bei der Abnabelung der Schweizer Sektionen von der internationalen Organisation eine gewisse Rolle
spielen, wie wir noch sehen werden.
Die stürmische Entwicklung des Arbeiter-Radfahrer-Bundes muss
im Zusammenhang mit der raschen Ausformung eines Klassenbewusstseins in der Arbeiterschaft gesehen werden. Die Arbeiter-Radfahrer sahen sich als Propagandisten der sozialistischen Arbeiterbewegung. Ein beliebtes Einsatzgebiet waren agitatorische Ausfahrten
aufs Land, «wo noch Finsternis die Köpfe umhüllt», wie ein Redaktor
einer deutschen sozialdemokratischen Zeitung die Situation bei einer
lobenden Erwähnung des Einsatzes der Arbeiter-Radler umschreibt.
Auf diesen Fahrten kehrte man möglichst bei Wirten ein, die ein sogenanntes «Einkehrschild» mit dem typischen Solidarität-S der ArbeiterRadfahrer neben dem Eingang zum Wirtshaus befestigt hatten. Bei
Aufmärschen wie am 1. Mai gehörten die Arbeiter-Radfahrer mit «Corsofahren» selbstverständlich dazu. Dabei wurden die Parolen und Forderungen der Arbeiterschaft auf dem Rad zur Schau getragen. Daraus
entwickelte sich mit der Zeit das sportlich betriebene Reigenfahren.
Das Fahrrad wurde auch taktisch bei Arbeitskämpfen für Meldeund Kurierdienste eingesetzt. So entstand der Begriff «Rote Kavallerie», den die Arbeiter-Radfahrer gerne und mit Stolz für sich verwen-
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deten. Die Solidarität, welche die Arbeiterradfahrer im Namen ihres
Bundes führten, war nicht nur Ausdruck ihrer Klassenzugehörigkeit
und gemeinsamer politischer Ziele. Sie drückte sich auch in profanen
Dingen wie solidarischem Versicherungsschutz bei Unfallereignissen
aus. Schon früh wurden Notunterstützungen ausbezahlt. Der ArbeiterRadfahrer-Bund «Solidarität» verfügte zudem über eine Sparkasse für
seine Mitglieder.
1.4. Schweizer Sektionen als eigener Gau
Das rasche Wachstum des deutschen Arbeiter-Radfahrer-Bundes
machte 1904 eine Regionalisierung der Organisation notwendig. Der
Bund wurde unterteilt in sogenannte Gaue. Die Schweizer Sektionen
gehörten vorerst zum Gau 22, dessen Sitz sich in Freiburg im Breisgau befand, wurden aber 1907 in einem eigenen Gau zusammengefasst, der zunächst die Nummer 23, später 24 erhielt. Der Bundestag
als oberstes, jährlich tagendes Organ des Arbeiter-Radfahrer-Bundes
«Solidarität» wurde nun nicht mehr von den einzelnen Sektionen
direkt beschickt. Er setzte sich neu aus Delegierten der Gaue, die
dort per Urabstimmung von den Mitgliedern bestimmt wurden, zusammen. Für die Koordination der Sektionen im Gau gab es einen
Gauvorstand mit einem Gauleiter, die an den Gautagen gewählt wurden. Diese Begriffe mögen heute befremdlich klingen, waren aber bis
zu ihrer Diskreditierung durch die Nazis als altdeutsche Ausdrücke
für Gebiet allgemein gebräuchlich. Auch die Naturfreunde nannten
ihre Organisationsbezirke früher Gaue. Das Wort Gau kommt ja auch
heute noch in der Bezeichnung für viele historische Landschaften, ja
sogar im amtlichen Namen zweier Schweizer Kantone vor.
Die Schweizer Sektionen des Arbeiter-Radfahrer-Bundes hatten also bereits ein Jahrzehnt vor der Gründung des ATB über eigene Strukturen verfügt, waren jedoch nach wie vor Glieder der deutschen Organisation. Über die Anzahl Mitglieder des Gaus 24 gibt es einzig aus
dem Jahre 1911 eine verbürgte Zahl: Es waren damals 1626. Mit der
Regionalisierung waren nun allerdings nicht mehr die Bundesinstanzen direkte Ansprechpartner der Sektionen, sondern die Gauleitung,
die eine intermediäre Stellung einnahm. Wie weit die Zusammenfassung in einem Gau mit eigenen Leitungsgremien zu einer stärkeren
Identität der Schweizer Sektionen geführt und so den Keim zur späteren Loslösung gelegt hatte, ist aufgrund der mangelnden Quellenlage
schwierig zu beurteilen. Aktenkundig ist hingegen aufgrund noch erhaltener Protokolle des Gauvorstandes aus den Jahren 1913 und 1914,
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Eine Arbeiter-Radfahrer-Sektion: Gruppenbild mit Dame.
dass ein Konflikt um den damaligen Gauleiter und die Gaufiliale des
Fahrradhauses zu einer gewissen Entfremdung zwischen dem Gau 24
und den Bundesinstanzen in Offenbach geführt hatte.
1.5. Thalwil wird Vorort in schwerer Zeit
Der damalige Gauleiter war gleichzeitig Leiter der Filiale des Fahrradhauses und kam unter Druck, als die Einkaufskommission Unregelmässigkeiten im Geschäftsgang feststellte und ihm kurzerhand das
Postcheckkonto sperren liess. Die Sache begann im Sommer 1913 zu
eskalieren, so dass der Beschuldigte zuerst als Filialleiter freigestellt
wurde und dann auch als Gauleiter seinen Rücktritt gab. Er wurde
durch ein anderes Mitglied der Vorortssektion Zürich ersetzt. Die Bundesleitung in Offenbach intervenierte in dieser Sache und entsandte
zwei Vertreter nach Zürich. Sie nahmen jedoch den bisherigen Gauleiter, dessen Verfehlungen offenbar eher einer Überforderung als gezieltem kriminellem Handeln zuzuschreiben waren, in Schutz und machten stattdessen den Revisoren schwere Vorwürfe. Das verursachte Ärger. Und es ist nicht auszuschliessen, dass aus dem Umstand, dass
es sich beim Gauleiter um einen Landsmann der beiden Offenbacher
Emissäre handelte, gewisse Schlussfolgerungen gezogen wurden.
Diese Probleme auf höchster Ebene sind wohl der Grund, weshalb
Anfang 1914 der in Luzern tagende Gautag der Sektion Zürich den
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Vorort entzog und neu der Sektion Thalwil übertrug. Ein Antrag auf
Loslösung vom deutschen Verband wurde an diesem Gautag jedoch
noch abgelehnt. Die Vorortsrochade bedeutete aber mehr als nur eine örtliche Verlegung. Liest man in den Protokollen die Namen der
Mitglieder des neuen Gauvorstandes, klingen sie nun helvetischer als
dies vorher in Zürich der Fall war. Die neue Vorortssektion Thalwil
startet jedoch mit einer grossen Hypothek: Die Gaufiliale schuldet
dem Fahrradhaus des Bundes in Offenbach, zum Teil als Folge der Veruntreuung, den Betrag von 2700 Franken. Auf ein Gesuch der neuen
Gauleitung um Stundung will das Fahrradhaus nicht eingehen. Wenig
diplomatisch liess die Betriebsleitung im Antwortschreiben wissen,
dass sie bei der Gauleitung einen «solidarisch-genossenschaftlichen
Karakter» vermisse. Sie verlangte im Juni 1914 eine Bezahlung der
ganzen Schuld innert 14 Tagen unter Androhung gerichtlicher Schritte. Im Protokoll der Gauleitung wird hinter der schroffen Haltung des
Fahrradhauses eine Beeinflussung durch Exponenten der Sektion Zürich vermutet, die sich so für den Verlust des Vorortes revanchieren
wollten. Die Gauleitung sucht verzweifelt nach Lösungen für eine Umschuldung, um Ruhe zu haben.
Aber dann fallen im August die Schüsse in Sarajevo, und es treten
mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs andere Probleme in den Vordergrund. Schon im Oktober muss man feststellen, dass viele Sektionen wegen der Truppenmobilisierung und der Heimreise vieler deutscher Mitglieder dem Zusammenbruch nahe sind. Im Januar 1915 berichtet der Kassier, dass die Hälfte der Sektionen mit ihren Einzahlungen 1 bis 2 Quartale im Verzug sind. Es gibt Sektionen, welche die
Bezahlung der Bundesbeiträge ausdrücklich verweigern, «solange die
verdienstlose Zeit andauert». Und für die Filiale kommt das endgültige Aus: Deutschland sperrt die Ausfuhr kriegswichtiger Materialien,
wozu auch der Gummi gehört, und zudem gehen die Verkäufe massiv zurück. Eine Gläubiger-Versammlung beschliesst, den Betrieb zu
liquidieren. Das Material wird beim Gauleiter eingelagert, um es dann
«in besseren Zeiten veräussern» zu können. Es wird beschlossen, mit
den flüssigen Aktiven in erster Linie private Guthaben von Genossen
sicherzustellen, Verlustabschreibungen hingegen möglichst zulasten
der Vereinsmittel vorzunehmen.
1.6. Vom Gau zum selbständigen Bund
Im Frühling 1915 werden die Forderungen nach einer Selbständigkeit des Gaues 24 lauter. Ein Bezirkstag in Höngg verlangt sie, schiebt
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aber gleichzeitig nach: «Die Trennung soll aber nicht heissen, dass auf
internationale Verbindungen verzichtet wird». Im September verlangte die Sektion Zürich, die «Anhandnahme der Herbeiführung zur Lostrennung vom Bunde». Der Gauvorstand beschliesst, die Frage dem
nächsten Gautag zu überantworten und dessen Entscheid einer Urabstimmung zu unterziehen. Vorher wird die Frage aber noch einer
Konferenz der Bezirksleiter unterbreitet, die sich denn auch einstimmig für eine Trennung aussprechen. Den Gauvorstand beauftragen
sie mit der Berechnung der finanziellen Konsequenzen dieses Schrittes. Am 20. Februar 1916 spricht sich dann ein Gautag in Bern mit
20 zu 2 Stimmen für die Verselbständigung aus und beschliesst, die
Frage einer Urabstimmung zu unterbreiten sowie eine Statutenkommission einzusetzen. Der von der Bundesleitung in Offenbach entsandte Karl Fischer votierte zwar mit bewegten Worten für den Verbleib
der Schweizer Sektionen im Internationalen ARB Deutschland, konnte aber nichts mehr bewirken. Lediglich zwei Winterthurer Delegierte
stimmten gegen die Trennung.
Die am Gründungs-Bundestag in Thalwil vom 18. Juni beschlossenen Statuten für den neuen Bund führen das schon bisher im Gau angewendete Vorortsprinzip weiter. Das neue Leitungsgremium heisst
Zentralvorstand. Das neben der Urabstimmung höchste Organ, das
durch die Sektionsdelegierten beschickt wird und ordentlicherweise
alljährlich tagt, wird Bundestag genannt. Die bisherigen Bezirke als
Untergliederung werden beibehalten. Der Bundesgruss «Frisch auf»
gilt auch im neuen Bunde. Auf das Prädikat «Arbeiter» im Namen wird
trotz anderen Vorschlägen nicht verzichtet: Der neue, selbständige
Bund heisst «Arbeiter-Radfahrer-Bund der Schweiz ‹Solidarität›». Bereits der erste Bundestag des ARB der Schweiz hatte sich also mit
Fragen zu befassen, die in der Organisation noch Jahrzehnte später
immer wieder aufs Tapet kommen. Beschlossen wurde ausserdem die
Äufnung eines «Pressfonds» zur Finanzierung eines Organs, das für
die Agitation unerlässlich gehalten wird. Als Datum für die Inkraftsetzung der Statuten und damit der formellen Selbständigkeit wird der
1. Juli 1916 festgelegt.
Mit der Bundesleitung in Offenbach wurde eine Vereinbarung über
die Ablösung getroffen. Diese hält fest, dass das Lager an Liederbüchern, Kassabüchern, Einkehrschildern usw. an die Bundeszentrale
nach Offenbach zurück geht oder zum Selbstkostenpreis übernommen wird. Ansprüche von Mitgliedern auf Unterstützung werden bis
zum 30. Juni noch von Offenbach übernommen. Der aus dem Gau 24
hervorgehende neue Bund übernimmt die Schuld der liquidierten
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Fahrradhaus-Filiale und anerkennt die Forderung des Fahrradhauses in Offenbach. Er verpflichtet sich ferner, diese «nach Beendigung
des Krieges tunlichst nach Vermögen abzuzahlen». Es wird auch eine Schuldenamortisation vereinbart, wobei man davon ausging, dass
nach dem Krieg eine neue Verkaufsstelle die Geschäftsverbindung mit
dem Fahrradhaus in Offenbach wieder aufnehmen würde. Von den 25
Prozent Provision, die auf die zu beziehenden Waren in Aussicht gestellt werden, würde dann das Fahrradhaus 5 Prozent als Abschreibung der Schuld einbehalten.
So waren am Vorabend des formell letzten Gautages vom 18. Juni
1916 in Thalwil die Weichen für die Gründung des Arbeiter-RadfahrerBundes der Schweiz «Solidarität» definitiv gestellt. Was letztlich den
Ausschlag zur organisatorischen Trennung gegeben hat, ist schwierig
zu beurteilen. War es der Krieg oder der Konflikt mit der Bundesleitung und dem Fahrradhaus um die Schuld der Filiale? Wahrscheinlich
beides. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass sich die Loslösung
nach der Bildung eines eigenen Gaues 1907 seit langem abgezeichnet
hätte. Immerhin hatten deutsche Genossen, vor allem in der Vorortssektion Zürich, immer eine dominierende Rolle gespielt. Das änderte
sich erst, als mit Ausbruch des Krieges eine grosse Zahl von ihnen
in ihre Heimat abreisten. Diese Schwächung des deutschen Elements
könnte, gepaart mit dem Filialkonflikt der Grund für die plötzliche Dynamik gewesen sein, die ab Anfang 1915 einsetzte und bereits ein gutes Jahr später zur Loslösung geführt hatte. Der Trennungsbeschluss
wurde am Ende durch eine Urabstimmung mit 936 Ja gegen 54 Nein
wuchtig bestätigt.
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2. Vom ARB zum ATB
Der neue Arbeiter-Radfahrer-Bund der Schweiz «Solidarität» konnte
also von Beginn weg auf gefestigten, wenn auch durch die Kriegszeit etwas beeinträchtigten Strukturen und auch Organisationskulturen aufbauen. Die Bestätigung der bisherigen Vorortssektion Thalwil,
die nun unter Leitung von Zentralpräsident Hauser den gleichen Status im neuen Bund einnahm, war der Kontinuität ebenfalls förderlich.
Zwar hatte sich die Sektion dagegen gesträubt, wurde aber am Ende
vom Bundestag zur Übernahme des Vorots verknurrt.
Der Krieg bot noch immer Grund für manche Beschwernisse in der
Organisationsarbeit, vor allem auch wegen der langen Abwesenheit
der Sektions- und Bundesfunktionäre infolge Militärdienst. Trotzdem
wurde zielstrebig am Aufbau des Bundes gearbeitet. Eine grosse Priorität räumte man dem Ziel ein, so rasch als möglich zu einem eigenen
Presseorgan zu kommen. Die noch am zweitletzten Gautag beschlossene Äufnung eines «Pressfonds» wurde zielstrebig umgesetzt. Der
Bund erhob dazu von jeder Sektion 5 Franken und gab «Pressfondsmarken» zu 50 Rappen heraus. Von jedem Mitglied wurde erwartet,
dass es mindestens zwei davon kauft. Und bereits am 1. Juli 1917 erschien die erste Nummer des «Arbeiter-Radfahrers». Die Sektionen
begrüssten es, wieder über eine Zeitung zu verfügen, nicht nur als
«Agitationsmittel». Man erhoffte sich davon auch, dass «unsere Versammlungen und Ausfahrten reger besucht und die Mitglieder immerzu aufgemuntert» werden.
2.1. Bern wird neuer Vorort
Die Mitgliederzahlen begannen sich bereits in den Kriegsjahren allmählich zu erholen, nahmen dann aber im sozial aufgeheizten Klima
vor und nach dem Generalstreik massiv zu. Aus den Protokollen des
Jahres 1918 der Sektion Zürich sind an jeder Monatsversammlung
zwischen 14 und 20 Neuaufnahmen festgehalten. Die politische Lage
war an den Versammlungen regelmässig ein Thema. Unter dem Stichwort «Generalstreikdebatte» ist im Protokoll der Sektion Zürich vom
11. Dezember 1918 mit Blick auf die vorzeitige Kapitulation des Olt-
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ner Komitees festgehalten, dass es das nächste Mal besser klappen
soll, und «die Mitglieder müssten dabei tätiger sein als bisher». Die
finanzielle Lage des Bundes blieb jedoch angespannt. Das zeigte sich
zum Beispiel auch im Gefolge der schweren Grippe-Epidemie im Winter 1918/19, die zu einer starken Häufung von Notunterstützungen
und zur stärkeren Beanspruchung der Sterbegeld-Leistungen führten.
Der Zentralvorstand stellte aus dieser Erfahrung heraus dem ausserordentlichen Bundestag in Olten den Antrag, das Reglement für das
Sterbegeld so abzuändern, dass dieses während Epidemien um 50 Prozent gekürzt werden kann. Diese vorsorgliche Regelung musste zum
Glück aber nie angewandt werden.
Am 3. Bundestag von 1919 in Olten wird vermerkt, dass sich der
Sektionsbestand innert Jahresfrist von 79 auf 120 Sektionen und die
Mitgliederzahl von 2400 auf über 4000 erhöht hat. Das grosse Thema an diesem ausserordentlichen Bundestag im Juni 1919 war indes
die Bestimmung einer neuen Vorortssektion, da die Sektion Thalwil
von einer weiteren Kandidatur absah, nachdem Zentralpräsident Hauser bereits im Vorjahr zurückgetreten war und das Amt interimsweise durch den Genossen Bürgli aus Zürich ausgeübt wurde. Als neue
Vororte standen sich die Kandidaturen der Sektionen Bern und Zürich
gegenüber. Die Abstimmung gab mit 34 zu 23 Stimmen den Ausschlag
für Bern. Damit begann die lange Epoche des Berner Vororts, die erst
1960 enden sollte, als im ATB mit einer Statutenänderung das Vorortssystem aufgehoben wurde.
Die Berner Ära war zunächst von relativ kurzfristigen Intermezzi
der Zentralpräsidenten Eng, Gaudard und – interimsweise – Rutishauser gezeichnet. Nachdem aber 1922 Ernst Iseli für die Vorortssektion
Bern «Freiheit» als neuer Zentralpräsident das Heft in die Hand nahm
und den «Ministerkrisen» (wie er die Führungsprobleme rückblickend
nannte) ein Ende gesetzt hatte, verstummte auch die sich mehrende
Kritik an der Berner Leitung allmählich. Iseli muss in die Reihe der
vielen starken Persönlichkeiten gestellt werden, welche die Arbeiterbewegung im letzten Jahrhundert hervorgebracht hatte. Wie kein anderer prägte er die Entwicklung des Verbandes, den er bis 1960 mit
viel strategischem wie taktischem Geschick führte. Mit seinen Kritikern ging er nicht immer zimperlich um, war aber stets darauf bedacht, mindestens formell die Parität der Linksparteien und damit die
Einheit des Arbeiter-Radfahrer-Bundes zu wahren. Geradezu verbissen verteidigte er, was er für unumstössliche Prinzipien der ArbeiterRadfahrer hielt, das Rennverbot sowie den Organisationszwang. Er
verstand es aber auch, dem ARB und später dem ATB durch eine
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hartnäckige wie geschickte Interessenvertretung der Radfahrer in der
Zwischenkriegszeit viel Anerkennung und ein verkehrspolitisches Profil zu verschaffen.
2.2. Es geht aufwärts: Mitgliederboom in den Zwanzigern
Die starke politische Mobilisierung der Arbeiterschaft im Gefolge des
Generalstreiks von 1918 hielt auch in den zwanziger Jahren an. Die
Schärfung des Klassenbewusstseins führte dazu, dass sich das Leben
immer mehr innerhalb der Klasse abspielte und man sich bewusst
vom Bürgertum abgrenzen wollte. Auf der andern Seite trug die Verschlechterung des sozialen Klimas dazu bei, dass bürgerliche Vereine
in ihren Reihen gar keine militanten Arbeiter mehr wollten. Es gab
nun zunehmend neue Sektionen auf dem Lande, wo man bisher kaum
Arbeitervereine kannte. «Endlich gibt es nun eine Sektion im dunklen
Tösstal», ist im Gründungsprotokoll der Sektion Rikon von 1930 zu
lesen. Zwar gebe es schon mehrere Parteisektionen im Tal, die «aber
lange für sich selber genug zu tun hatten, um sich im Reiche der Textilbarone und allgemeiner Sektiererei behaupten zu können», wird das
schwierige Terrain zwischen Hörnli und Bachtel weiter beschrieben.
Es entstanden jedoch nicht nur viele neue Sektionen auf dem Lande, sondern auch in peripheren Stadtquartieren. Solange man ein Gau
des Arbeiter-Radfahrer-Bundes Deutschland war, gab es da ein statutarisches Hemmnis. Dort galt nämlich die Doktrin, dass es an einem
Ort nur eine Sektion geben durfte. Damit sollte eine Zersplitterung
der Kräfte verhindert werden. Wer sich dieser Doktrin nicht fügte,
wurde aus dem Bunde ausgeschlossen. Diese ausgesperrten Sektionen bildeten darauf den Arbeiter-Radfahrer-Bund «Freiheit», den es
in Deutschland neben der Solidarität auch noch gab, aber von dieser heftig bekämpft wurde. Die «Freiheit» war mitgliedermässig viel
weniger bedeutend als die «Solidarität». Mehrere ATB-Sektionen haben oder hatten den Namenszusatz «Freiheit». Es konnte bisher nicht
geklärt werden, ob diese Sektionen vor der Gründung des ARB der
Schweiz diesem Konkurrenzverband des ARB Solidarität angeschlossen waren.
1921 gelang der entscheidende Sprung über die Sprachgrenze. Bisher hatte es in der Welschschweiz lediglich in Bulle eine einzelne Sektion gegeben; nun entstand eine nach der andern in Genf, La Chauxde-Fonds, Le Locle, Neuenburg und Delsberg. Und ein Jahr später
kam Lausanne dazu. Diese Ausweitung war vor allem ein Verdienst
des damaligen Zentralpräsidenten Gaudard, der gute Verbindungen
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in die Romandie hatte. Die Sektionen der Romandie bildeten zunächst
den Bezirk 11. Wegen der grossen Ausdehnung des Bezirksgebietes
von Genf bis Pruntrut wurden später die Sektionen des Kantons Neuenburg, des Juras sowie die Sektion Freiburg zum neuen Bezirk 13
zusammengefasst.
Wenn eine Organisation in kurzer Zeit stark wächst, ist es naheliegend, dass es in ihrem Gebälk gelegentlich auch ächzt und kracht.
Es habe zu jener Zeit zwar viele Neugründungen gegeben, nicht alle
hätten aber überlebt, resümierte Ernst Iseli in seiner Schrift zum 25Jahr-Jubiläum, um dann auch noch festzustellen: «Eine ganze Reihe
ungetreuer Sektionskassiere trieb ihr Unwesen.» Zu einem Gerichtsfall kam es bei Wirren um die Sektion Gossau Ende der zwanziger Jahre. Sie hatte auf Betreiben christlichsozialer Mitglieder an einer Versammlung beschlossen, aus dem ARB auszutreten und in den SRB zu
wechseln. Der ZV verweigerte den Austritt, nachdem er Unregelmässigkeiten beim Austrittsentscheid festgestellt hatte. Mit seiner Klage erlitt er vor Gericht allerdings Schiffbruch. Etliche Störungen gab
es auch in einzelnen Bezirken. So wurden die Präsidenten zweier Bezirke abgesetzt, weil sie «Aufträge nicht ausgeführt und gegen den
Zentralvorstand intrigiert» hatten. Ihre Rekurse bei der Beschwerdekommission waren erfolglos. Im Bezirk 1 gab es 1921 sogar Separationsbestrebungen mit dem Ziel, einen eigenen ostschweizerischen Verband zu gründen. Eine grössere Umorganisation wurde 1928 in der
Ostschweiz durchgeführt, als der bisherige Thurgauer Bezirk 2 mit
Vorort Romanshorn, lediglich 6 Sektionen zählend, auf die Bezirke 1
und 12 aufgeteilt wurde. Die Nummer 2 wurde in der Folge für die
Sektionen des Bündnerlandes, Sarganserlandes, der Gaster und des
Fürstentums verwendet. Die liechtensteinischen Arbeiter-Radfahrer
waren noch bis 1927 dem Arbö angeschlossen.
Die Bundesstatuten räumten dem Zentralvorstand ein weitgehendes Recht ein, in Verbindung mit den Bezirksvorständen die Sektionen den Bezirken zuzuteilen. Als die auf mehrere Bezirke verteilten
Sektionen des Kantons Solothurn einen eigenen Bezirk bilden wollten,
vereitelte der ZV dies mit einem klaren Njet.
2.3. Ausbau der Mitgliederdienste
Es wäre aber weit gefehlt zu meinen, der starke Zustrom zu den
Arbeiter-Radfahrern in den 20er-Jahren seien in dieser von sozialer
Unrast gekennzeichneten Zeit rein ideologisch motiviert gewesen. Ein
mindestens ebenso guter Grund waren die zum Teil unverzichtba-
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ren Leistungen, welche die Organisation für die radfahrende Arbeiterschaft erbrachte. Wir hatten schon gesehen, dass bereits vor dem
Ersten Weltkrieg, zu Zeiten der Zugehörigkeit zum ARB Deutschland,
ein Fächer von Versicherungsleistungen vorhanden war, der sich insbesondere auf Haftungs- und Rechtsschutz bezog. Ergänzt war dies
schon damals mit Ansprüchen auf Notunterstützung und einem sogenannten Sterbegeld, einer Leistung für Hinterbliebene von Mitgliedern zur Deckung unerwarteter Todesfallkosten.
Der neu gegründete ARB Schweiz schloss 1916 mit der WinterthurVersicherung einen auf 10 Jahre befristeten Vertrag ab, um seinen
Mitgliedern einen einigermassen ebenbürtigen Ersatz für die nach
der Verselbständigung wegfallenden Versicherungsleistungen der früheren Offenbacher Zentrale sicherzustellen. Der Phantasie für einen
Ausbau dieses Versicherungsschutzes waren keine Grenzen gesetzt,
was die an den Bundestagen gestellten Sektionsanträge betrifft. Den
Sektionen ging es darum, bei der Agitation gute Argumente zu haben, wurden dann aber meist vom Zentralvorstand belehrt, dass höhere Leistungen auch höhere Mitgliederbeiträge bedeuten, was die
Vorteile bei der Mitgliederwerbung wieder relativieren könnte. Einem
am Bundestag von 1918 in Baden eingereichten Antrag, eine Raddiebstahlversicherung einzuführen, erwuchs allerdings bereits im Plenum
breite Skepsis. Zugrunde lag ihr die Befürchtung, mit einer solchen
Versicherung könnten viele Radbesitzer versucht sein, «sich ihr Velo
stehlen zu lassen». Die Diebstahlversicherung kam aber immer wieder aufs Tapet, ihre Einführung scheiterte auch später, vor allem an
den hohen Prämien.
Als 1926 der 10-Jahr-Vertrag mit der Winterthur auslief, hatte man
erwogen, die Radunfall- und Haftpflichtversicherung in eigener Regie
zu führen, erblickte darin schliesslich aber doch ein zu hohes finanzielles Risiko. Mit der Verlängerung des Vertrags um weitere 10 Jahre wurde ein markanter Ausbau des Versicherungswerkes verbunden.
Neben der Versicherung des Todesfalls- und des Invaliditätsriskos
wurde eine Unfalltaggeldversicherung für Mitglieder eingeführt, die
nicht bei der Suval (der heutigen Suva) versichert waren. Gedeckt waren dabei nicht nur Verkehrsteilnehmende, sondern auch Kunstradfahrer und Radballspieler. Zuweilen wurde in Voten von Bundestagsdelegierten die Partnerschaft mit dieser «kapitalistischen Versicherungsgesellschaft» gebrandmarkt und moniert, der Bund verkomme immer
mehr zu einer Versicherungsinstitution.
Eine Paradeleistung für die ARB- und später der ATB-Mitglieder
stellte immer der Rechtsschutz dar, der bei Streitfällen im Strassen-
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verkehr gewährt wurde. Diese Leistung war mehr als eine gewöhnliche Versicherung, sie war auch ein verbandspolitisches Instrument
zur Durchsetzung der verkehrspolitischen Zielsetzungen des Bundes.
Der Rechtsschutz wurde in eigener Regie erbracht, wobei schwierigere Fälle vor Ort an Vertrauensanwälte übertragen wurden. Praktisch
an jeder Sitzung hatte der Zentralvorstand über entsprechende Gesuche zu beschliessen. Solche Entscheide konnten unter Umständen delikat sein, weil enttäuschte Mitglieder häufig nicht bereit waren, negative Entscheide einfach hinzunehmen. Sie drohten dann nicht selten,
die «schlechte Behandlung» zum Beispiel in der Arbeiterpresse publik
zu machen, was einer Negativpropaganda für den ARB gleichgekommen wäre. Oder der ZV wurde gewarnt, man würde «den Bezirksvorstand dahinter jagen», sollte der Rechtsschutz nicht gewährt werden.
Anderseits hatte der Zentralvorstand den Eindruck, dass es etliche
Mitglieder auf das Prozessieren auch in aussichtslosen Fällen abgesehen haben, weil es sie ja nichts kostet. Deshalb wollte er mit einer
Abänderung des Rechtsschutz-Reglementes bei grösseren Streitsummen einen Selbstbehalt von 10 Prozent einführen. Man erhoffte sich
so von seiten prozessfreudiger Mitglieder etwas mehr Zurückhaltung,
wenn im Falle eines Misserfolgs ein Teil der Kosten mitzutragen ist.
Am Bundestag wurde die Reglementsänderung jedoch abgelehnt, ausgerechnet mit dem Hinweis, dass es der ZV ja in der Hand habe, aussichtslose Rechtsschutzgesuche abzulehnen. Es gab aber auch Präzedenzfälle, wo der ZV an der Übernahme eines Rechtsschutzfalles
brennend interessiert war. Als ein Jugendmitglied wegen Zu-zweienFahrens auf der Strasse Bern–Thun in Heimberg von einem Polizisten mit 10 Franken gebüsst wurde und zudem für 4 Franken Administrativkosten hätte aufkommen müssen, war dem Zentralvorstand
die Streitsumme keineswegs zu gering, um Rechtsschutz zu gewähren
und dagegen zu rekurrieren – auch als das betroffene Mitglied bereit
gewesen wäre, die Busse zu zahlen. Der ZV war einhellig der Ansicht,
dass man ein solches Gebaren der Ordnungshüter nicht einreissen lassen dürfe, «sonst könnte die Polizei in Thun an schönen Sommertagen
hunderte mit Bussen belegen, wenn unsere Sektionen ins Oberland
fahren». Bei ihren Ausfahrten pflegten die Arbeiter-Radfahrer ja in
geschlossener Formation und disziplinierter Zweierkolonne zu fahren.
Zentralsekretär Riesen begleitete das minderjährige Jugendmitglied
zu den Verhandlungen am zuständigen Jugendgericht, das allerdings
am Bussenentscheid festhielt.
Zu den Mitgliederdiensten gehörten auch Druckerzeugnisse des
Bundes. Neben dem vierzehntäglich erscheinende Presseorgan «Ar-
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beiter-Radfahrer» und ab 1935 für die Jugendmitglieder der «JungRadler» war es insbesondere auch das sogenannte Jahrbuch, eine jährlich aktualisierte Art Handbuch für den Arbeiter-Radler mit viel wissenswerten und nützlichen Informationen vor allem für das Tourenfahren (Verzeichnisse über Übernachtungsmöglichkeiten, Einkehrstellen, Reparaturwerkstätten usw.). Ein erstes auf die Schweiz zugeschnittenes Jahrbuch wurde bereits 1913 noch durch den damaligen Gau 24 des ARB Deutschland herausgegeben. Mitte der 20erJahre gab der ARB der Schweiz in Zusammenarbeit mit dem HallwagVerlag einen Strassenatlas der Schweiz heraus. Dabei handelte es sich
nicht nur um ein eingekauftes Standard-Kartenwerk; mit den HallwagVertretern wurden Kartendetails vereinbart. Und die Karten mussten
mit Routenbeschreibungen, namentlich über die Alpenpässe, ergänzt
werden, «da für unsere Mitglieder wichtiger als Karten». Für eine
Neuauflage 1927 wurde die Aufführung der Signaltafeln des Strassenverkehrs in Aussicht genommen, falls «eine Einigung der Verkehrspolizeien in den verschiedenen Städten zustande kommt». Mit einzelnen Verlagen traf der ARB auch Arrangements für den verbilligten
Zeitschriftenbezug, wie etwa 1928 für die Zeitschrift «Der Motorfahrer». Mit der Herausgabe von Attesten für die zollfreie Mitnahme des
Velos ins Ausland, kam der ARB Forderungen vor allem grenznaher
Sektionen nach. Es mussten dazu Verhandlungen mit den zuständigen Ämtern der Nachbarstaaten geführt werden. Dabei war es nicht
in jedem Fall einfach, zum Ziel zu gelangen. Mit Deutschland konnte eine entsprechende Abmachung bereits 1921 mühelos getroffen
werden. Schwieriger und langwierig gestaltete es sich bei den übrigen Nachbarstaaten. Im Falle von Österreich musste die Hilfe und
Fürsprache der dortigen Schwesterorganisation Arbö in Anspruch genommen werden. Umgekehrt unterstützte auch der ARB der Schweiz
entsprechende Eingaben des Elsässischen Arbeiter-Radfahrerbundes
bei den Schweizer Behörden.
Zu den Leistungen des Bundes gegenüber den Mitgliedern kann
auch die Materialversorgung gezählt werden. Als auch nach dem
Krieg auf dem Markt noch während längerer Zeit Mangel an Schläuchen und Pneus herrschte, organisierte der Zentralvorstand einen
Grosseinkauf, um bei den Mitgliedern die Notlage wenigstens ein
Stück weit zu beheben. 1920 wurde wohl aus gleich liegenden Motiven in Bern die Genossenschaft Fahrradhaus «Solidarität» aus der
Taufe gehoben. Das Anteilscheinkapital lag grösstenteils in den Händen der Sektionen, abgesehen von einigen Privatpersonen. Die Anteilscheine mussten aufgrund eines Bundestagsbeschlusses zwingend
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verzinst werden. Ein Kind des damaligen Zentralpräsidenten Eng, begegnete das Projekt im Zentralvorstand von Anfang an einer gewissen
Skepsis, möglicherweise genährt aus den Erinnerungen an die Probleme der einstigen Gaufiliale des Fahrradhauses Offenbach. Die weitere
Entwicklung gab den Bedenken Recht. Der ZV geriet regelmässig in
die Zwangslage, der Genossenschaft zinslose Darlehen gewähren zu
müssen, um die Ansprüche der Anteilseigner zu sichern. 1928 eröffnete die Geschäftsführung in einer Art Vorwärtsstrategie Depots in
Bümpliz, Spiez und Gümligen. Weitere waren geplant – ein Unterfangen, das der ZV stoppte, um die Sache nicht noch weiter zu einem
Fass ohne Boden werden zu lassen. Die sich anbahnende Weltwirtschaftskrise tat ein Übriges, um das Geschäft mit dem Fahrradhaus
zum Scheitern zu bringen. Der Verkauf neuer Velos sowie Nähmaschinen, die man ebenfalls im Vertrieb hatte, ging massiv zurück, und die
gestiegene Nachfrage nach Occasionen konnte nicht befriedigt werden. Schliesslich wurde das Fahrradhaus 1936 liquidiert, nachdem ein
Kapitalschnitt auf null vorgenommen wurde und Darlehen noch zu 50
Prozent vergütet werden konnten.
2.4. Politische Lobby der Radfahrer in Verkehr und Sport
Der in den 20er Jahren sich allmählich verdichtende und heterogener
werdende Verkehr auf den Strassen rief einen Regelungsbedarf hervor. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei die Gruppeninteressen
unterschiedlich, wenn nicht widersprüchlich waren. Vor allem dort,
wo es um die Finanzierung der Regelungsmassnahmen ging. Eine davon war die von den Radfahrerverbänden geforderte Entflechtung des
Verkehrs durch den Bau von Radwegen. Die in dieser Sache zuständigen Kantone gingen zumeist den Weg des geringsten Widerstandes
und postulierten eine Fahrradsteuer, verbunden mit der Herausgabe
von Nummernschildern für die Velos. Dabei ging es jedoch nicht um
die kleinen Velonummernschilder, die man später als Nachweis für die
Haftpflichtversicherung kannte. Anscheinend ging es viel mehr um Immatrikulationsschilder wie bei den Motorfahrzeugen, die ein leichtes
Identifizieren der Velofahrer ermöglicht hätten.
Als solche Forderungen 1925 ihren Niederschlag im Entwurf zu einem eidgenössischen Automobil- und Fahrradgesetz fanden, weckte
dies den unmissverständlichen Widerstand des ARB. Für ihn war es
inakzeptabel, dass Radfahrer besteuert werden sollten. Und die Einführung von Nummernschildern für Fahrräder wurde abgelehnt, weil
es «die Radfahrer zum Freiwild der Strasse» machen würde. Zudem
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wurden im Gesetz konkrete Massnahmen über den Bau von Radfahrwegen vermisst. Der Zentralvorstand streckte die Fühler zum bürgerlichen Schweizerischen Radfahrer-Bund (SRB), aber auch zu den beiden Arbeiterparteien aus und erntete dabei geteiltes Echo. Es war
bald klar, dass von der Sozialdemokratischen Partei bei einem allfälligen Referendum wenig bis keine Unterstützung zu erwarten war. Die
Einbindung der SP-Führung in den bürgerlichen Staat war bereits so
fortgeschritten, dass ihre Mandatsträger in Parlament und Kantonsregierungen zum Teil vehemente Verfechter des neuen Gesetzes waren.
Dafür versuchte die Kommunistische Partei um so entschiedener in
die Bresche zu springen und bot ihre Unterstützung beim Referendum gegen das Gesetz an. Der ZV mochte sich allerdings, nach aussen auf strikte Parität zu den beiden rivalisierenden Arbeiterparteien bedacht, nicht auf eine enge Aktionsgemeinschaft mit der KP einlassen. Anders sah die Zusammenarbeit mit dem SRB aus. In diesem
Fall zog man an einem Strick, wiewohl die Haltungen der beiden Verbände zur Besteuerung der Radfahrer differenziert waren. Der SRB
war bereit, sich mit einer Steuer für die Radfahrer abzufinden, sofern diese Mittel zum Ausbau der Radwege benutzt würden. Der ARB
war aber ohne Wenn und Aber dagegen. Seiner Meinung nach sollte
die Erstellung von Radwegen durch den motorisierten Verkehr finanziert werden, schliesslich ging es ja darum, die Radfahrer vor dem
Motorfahrzeug zu schützen und nicht umgekehrt. Unbesehen dieser
Differenz war man sich unter den beiden Radfahrerverbänden in der
klaren Ablehnung dieses Gesetzes einig. Das Referendum kam mit 95
000 Unterschriften zustande (nötig waren damals 30 000). 12 000 Unterschriften trug der ARB dazu bei.
Im Vorfeld der Volksabstimmung über das Gesetz im Jahr 1927 publizierte die SPS in ihrer Parteipresse einen «Aufruf an die radfahrende
Arbeiterschaft» zur Unterstützung des Gesetzes. Als gewiefter Taktiker nutzte Zentralpräsident Iseli diese Provokation dazu, von der SPFührung um Robert Grimm ein wichtiges Zugeständnis abzuringen.
An eine Aussprache mit einer SP-Delegation brachte er den Bürstenabzug einer Gegendarstellung mit, welche das Verhalten der sozialdemokratischen Führungsgarnitur scharf geisselte. Der Text war für den
Abdruck im «Arbeiter-Radfahrer» bestimmt und wäre wohl auch vom
«Kämpfer» und vom «Vorwärts», den beiden kommunistischen Zeitungen, mit äusserstem Wohlwollen abgedruckt worden. In der Mitgliedschaft des ARB hätten die Sozialdemokraten damit keine Loorbeeren
ernten können. Nachdem die Delegation des ARB sich bereit erklärte, dem Text einige «Giftzähne» (Grimm) zu ziehen, sicherte die SP-
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Delegation ihrerseits zu, dafür zu sorgen, dass die Geschäftsleitung
dem Parteivorstand für die Volksabstimmung Stimmfreigabe beantrage.
Diese Neutralisierung der sozialdemokratischen Einflussnahme auf
die linke Wählerschaft war ein enormer Pluspunkt für das Referendum, zum grossen Ärger sozialdemokratischer Würdenträger, die sich
dafür mit der Mitarbeit in Pro-Komitees revanchierten. Der ARB führte einen Abstimmungskampf, der seine noch immer auf Nebenamtlichkeit basierenden Ressourcen beinahe bis zur Erschöpfung beanspruchte. Es gelang ihm aber, die Arbeiterbewegung in der Ablehnung
des Gesetzes um sich zu scharen. Im Abstimmungskomitee beider Basel zum Beispiel, beteiligten sich restlos alle Arbeiterorganisationen
ausser den beiden SP-Kantonalparteien. Vom «Arbeiter-Radfahrer»
wurden für die Abstimmung 3 Sondernummern gedruckt, eine davon
in einer Grossauflage zu 70 000 Exemplaren. Sie wurde an den 1.-MaiKundgebungen verteilt; eine darin abgedruckte Karikatur zeigte einen Polizisten, der einem Radfahrer den Fuss in den Nacken drückt.
Das Abstimmungsresultat vom 15. Mai 1927 war eindeutig: Das Gesetz wurde mit 343 387 Nein zu 230 387 Ja abgelehnt.
Das Resultat beflügelte die Abstimmungssieger. Gemeinsam mit
weiteren Verbänden wurde eine Strassenverkehrsliga gegründet, die
sogleich die Lancierung einer Volksinitiative an die Hand nahm. Die-
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se Initiative führte erneut zu Diskussionen mit «der Partei». Die SPFührung wandte sich gegen die Initiative, sie sei aussichtslos und
wenig überdacht. Grimm versprach dem ARB dafür die Lancierung
einer SP-Initiative, welche die 3 Hauptforderungen des ARB beinhalten sollte, also: 1. Bundesgesetz, das für alle Strassenbenützer gilt,
2. vollständige Beseitigung der Fahrradkontrollschilder, 3. Aufhebung
jeglicher Fahrradsteuer. Da von der SP in dieser Sache in der Folge
nichts mehr zu hören war, beschloss der ARB,weiter auf die Initiative der Verkehrsliga zu setzen. Diese kam bereits am 12. Mai 1929
zur Abstimmung, wurde allerdings mit 248 350 Ja gegen 420 082 Nein
abgelehnt. Auch diesmal war die KPS wieder die einzige Partei, welche das Anliegen der Radfahrerverbände unterstützt hatte. Immerhin schien die Initiative soweit Druck erzeugt zu haben, dass die Räte 1932 ein Automobil- und Fahrradgesetz verabschiedeten, dem der
ATB seine Zustimmung nicht mehr vorenthalten wollte. Wohl war mit
dem Gesetz das Thema Abschaffung der Velosteuern noch nicht abgehakt, aber über die Bundesgesetzgebung nicht zu lösen, da es in
die Kompetenz der Kantone fiel. Hingegen war die Einführung von
Velonummernschildern definitiv vom Tisch.
Der harte Kampf um ein Gesetz, das die Rechte der Radfahrer respektiert, machte den ARB in der Öffentlichkeit bekannt und verschaffte ihm Respekt bei den andern Verkehrsverbänden sowie ein verkehrspolitisches Profil. Es blieb aber nicht der einzige politische Erfolg in
diesen Jahren. Bereits 1923 gelang es dem ARB bei der Suval durchzubringen, dass Unfälle beim Reigen- und Saalsport als Nichtbetriebsunfall anerkannt werden. Gemeinsam mit dem SRB machte der ARB
1927 eine Einsprache gegen eine geplante Zollerhöhung für Fahrradbestandteile und hatte damit auch Erfolg; die Zollerhöhung wurde ad
acta gelegt.
2.5. Festigung der Strukturen
Es ist naheliegend, dass sich das starke Wachstum der Organisation
früher oder später auf die Strukturen auswirken musste. Der Verband
hatte inzwischen eine Grösse angenommen, die es nicht mehr erlaubte, ihn ad hoc zu verwalten, quasi von der Privatwohnung des Zentralpräsidenten aus, wie dies in den ersten Jahren der Fall war. 1919
wurde daher in Bern ein Büroraum angemietet sowie eine Schreibmaschine angeschafft. Noch wurde aber alle Arbeit ehrenamtlich erledigt, auch als man 1922 ein grösseres Büro im Gebäude der Unionsdruckerei, der Druckerei des Presseorgans, bezog. Die Zentralvor-
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Eine Sektion stellt sich an einem Bezirksfest für den Sektionswettkampf auf. Bewertet wurde dabei das disziplinierte Fahren in Zweierund Einerkolonne nach dem Signal des Fahrwartes.
standsmitglieder leisteten ein immenses Pensum. Im Dezember 1927
zum Beispiel fand sich der ZV zu 8 Abendsitzungen zusammen, und
keine endete vor 24 Uhr.
Dazu kamen noch Delegationen, vor allem an die Bezirkstage. Diese fanden niemals ohne eine Vertretung des Zentralvorstandes statt.
Einerseits ging es darum, an Ort und Stelle etwas über die Situation im Bezirk und seinen Zustand zu erfahren, und anderseits mussten sich die ZV-Vertreter den Fragen der Bezirksdelegierten stellen,
was oftmals kein «Sonntagsspaziergang» war, obwohl diese Versammlungen durchwegs am damals einzigen arbeitsfreien Wochentag stattfanden. Die Berichterstattung über diese Besuche der Bezirkstage
nahmen an den ZV-Sitzungen viel Raum ein und waren oft Anlass
für kritische Kommentare der Sitzungsteilnehmer. Die Statuten auferlegten den Bezirksvorständen eine Aufsichtsfunktion über die Sektionen des Bezirks, aber auch die Pflicht, die ihnen vom Zentralvorstand überwiesenen Aufträge zu erfüllen. Der ZV hatte das statutarische Recht, «nachweisbar unfähige Bezirkspräsidenten» abzusetzen, wovon er auch Gebrauch machte. Der Verband gab ein «Handbuch für Bezirks-Funktionäre» ab, wo diese in Tabellen alle möglichen
Kennzahlen sowie Eckdaten über ihre Bezirksorganisation nachtragen mussten.
Der Zentralvorstand befasste sich ausserdem mit allerlei Zuträgereien und Klagen über Mitglieder, die aus den eigenen Reihen oder
auch von aussen zu ihm gelangten. Die SP-Sektion Köniz beklagte
sich zum Beispiel beim ZV darüber, dass die Reigenmannschaft der
ARB-Sektion Gurten an einem bürgerlichen Musikfest in Köniz aufgetreten war. Der ZV lud darauf beide Parteien zu einer Aussprache ein,
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aber keine erschien. Die Sektion Wattwil wollte wissen, ob sie einen
«unorganisierten Meisterssohn» in den Bund aufnehmen müsse, den
sie im Verdacht hatte, nur zwecks Auslandsreisen mit dem Motorrad
beitreten zu wollen. Die Antwort war nein. Die Sektion Brügg meldete, dass der Austritt eines Mitglieds zu spät erfolgte, ersuchte jedoch,
ihn trotzdem vollziehen zu dürfen, «da er ein Wirtshaushocker und
ohnehin kein Geld von ihm zu erhalten» sei. Die Sektion Papiermühle
fragte gar an, ob auch Schwerhörige aufgenommen werden dürfen,
was vom ZV selbstverständlich bejaht wurde.
Die von den Sektionen beschickten Bundestage, abgesehen von der
Urabstimmung oberstes Organ des Verbandes, fanden zwar ordentlicherweise nur alle 2 Jahre statt, wurden aber in den Zwischenjahren
häufig, gerade in der Anfangszeit, auch ausserordentlich einberufen.
Sie wurden bis 1929 immer über Ostern durchgeführt. Am Karfreitag
fand jeweils zum Auftakt eine Bezirkspräsidentenkonferenz statt, und
ab Samstag ging der Bundestag über die Bühne, der, je nach Traktandenfülle und Wortmeldungen, bis Montag mittag dauern konnte.
Die Belastung der ZV-Mitglieder wuchs 1927 mit dem Referendumskampf um das Auto- und Fahrradgesetz und der darauf folgenden
Lancierung der Volksinitiative nochmals massiv an. Und nicht zu vergessen: Die ganze Administration musste ebenfalls auf nebenamtlicher Basis vom Zentralvorstand bewältigt werden. Dazu gehörte der
Versand von allerlei Artikeln, Jahrbüchern, Strassenatlanten, ARBMützen, Abzeichen usw., der im Umfang stetig zunahm. Irgendwann
war der Punkt erreicht oder wohl schon überschritten, wo dies nicht
mehr ehrenamtlich zu bewältigen war. So war die Anstellung eines
vollamtlichen Sekretärs wohl überfällig, als am 1. November 1929 Genosse Riesen diese neue Aufgabe antrat. Und gleichzeitig wurde ein
Abonnement auf einen Telefonanschluss gelöst.
Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass dieser bedeutungsvolle Schritt mit einem Zeitpunkt zusammenfiel, wo der Verband in eine
neue Phase trat. Einerseits nahm die Sporttätigkeit im Verband stetig
zu, und sie wurde vor allem systematischer betrieben. Und anderseits
war man definitiv in die Ära des Motorfahrzeugs eingetreten, wofür
die Namensänderung in Arbeiter-Touring-Bund nur äusseres Anzeichen war. Der ARB war am Übergang ins neue Jahrzehnt auf 14 710
Mitglieder angewachsen. Und Zentralpräsident Iseli konnte mit Fug
und Recht betonen, dass «wir unsern Bund durch den Kampf für unsere Rechte gross und stark gemacht haben».
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3. Konsolidierung in der Vorkriegszeit
Die Umbenennung in Arbeiter-Touring-Bund im Jahre 1930 war nach
der stürmischen Entwicklung in den zwanziger Jahren Auftakt zu einem Jahrzehnt der Konsolidierung. Nach den schweren Kämpfen auf
dem Feld der Bundespolitik für die Rechte der Radfahrer folgte jetzt
eine Zeit, in der sich der ATB mehr mit sich selbst beschäftigte. Neben
dem neuen Phänomen der Motorisierung ist die Zeit vor dem zweiten
Weltkrieg auch dadurch geprägt, dass die Sporttätigkeit institutionalisiert und reglementiert wurde. Der ATB wurde in den Dreissigern
aber auch wie die andern Arbeiter-Kultur- und -Sportorganisationen
von den Auseinandersetzungen zwischen den beiden Arbeiterparteien tangiert, verhielt sich dabei aber – mindestens formal – neutral,
indem er sich nicht für die Ausgrenzungspolitik der Sozialdemokraten einspannen liess, und so auch eine Spaltung der Organisation zu
verhüten wusste.
3.1. Prozess wegen der Namensänderung
Die Umbenennung in Arbeiter-Touring-Bund (ATB) am Bundestag von
1930 in Basel war wenig umstritten und ging mit 143 Ja zu 20 Nein
glatt über die Bühne. Es bestand ein Konsens darüber, dass im Namen irgendwie zum Ausdruck kommen muss, dass zur Organisation
nicht mehr nur Radfahrer gehören. Zur Diskussion gestanden waren
ursprünglich auch die Namen Arbeiter-Motorfahrer- und -RadfahrerBund (AMB) sowie Rad- und Motorfahrer-Bund (RMB). Beides konnte
jedoch nicht befriedigen, im einen Fall, weil die Radfahrer in der Abkürzung untergingen, und im andern, weil das Identität stiftende «Arbeiter» verloren ging. Der Name Arbeiter-Touring-Bund hatte zudem
den Vorteil, dass er sich sehr gut in die französische Sprache umsetzen liess mit Union du touring ouvrier (UTO). Wie das Abstimmungsresultat zeigt, war der neue Name auch intern nicht völlig unbestritten.
Die Sektion Wiedikon verlangte eine Urabstimmung über den neuen
Namen, zog den Antrag später aber mangels Rückhalt wieder zurück.
Kaum aber erhielt der Name nach dem Rückzug des Urabstimmungsbegehrens Rechtskraft, meldete sich der Touring-Club der
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Schweiz und verlangte unter Androhung gerichtlicher Schritte, der
Name sei wieder zu ändern, weil das Wort «Touring» ihm allein gehöre
und eine Verwechslungsgefahr bestehe. Als sich der Zentralvorstand
nicht einschüchtern liess und auch der Vorschlag des TCS, er übernehme die Kosten für den Neudruck der Briefpapiere, nichts fruchtete, landete der Fall tatsächlich beim bernischen Obergericht, wo
im November 1931 mit den Zeugeneinvernahmen begonnen wurde.
Das Gericht wollte dabei von leitenden Persönlichkeiten verschiedener Strassenverkehrsverbände erfahren, ob es stimme, dass, wie vom
TCS behauptet, der Name des ATB zu Verwechslungen Anlass gebe.
Der ATB konnte belegen, dass der Begriff «Touring» nicht als Monopol des TCS betrachtet werden kann, da mehrere Hotels und auch ein
Moto-Club in Basel, die nichts mit dem TCS zu tun haben, diesen Namen trugen. Ausserdem wurden eine Schokolade und Textilprodukte
mit dem Markenname Touring ausfindig gemacht. Am 18. März 1932
wies das Obergericht die Klage des TCS eindeutig ab und verurteilte
ihn dazu, für die Parteikosten des ATB aufzukommen. Eine vom TCS
angestrengte Appellation ans Bundesgericht endete mit einem weiteren Fiasko des Touring-Clubs. Für den ATB nahm damit eine mehr als
2 Jahre dauernde Ungewissheit ein Ende. Froh, nun definitiv den Namen ATB führen zu können, war man auch, weil inzwischen die alten
Initialen ARB dem jungen Arbeiter-Radiobund der Schweiz (später
Arbus) überlassen wurden.
3.2. Gründung von Motorradfahrersektionen
Die ersten Motorräder tauchten gegen Ende der zwanziger Jahre in
der Organisation auf. Zuerst bildeten sich in den Sektionen Untergruppen für Motorradfahrer. Bald entstand aber der Wunsch nach Motorradfahrersektionen. Am Bundestag von 1928 in Thalwil wurde einem
Antrag, es seien Motorradfahrersektionen zu schaffen, zugestimmt.
Schon im Juni wurde der Antrag in Zürich mit der Gründung einer
Arbeiter-Motorfahrer-Sektion (AMS) umgesetzt, wenig später in Biel
und bald einmal gab es schon ein Dutzend AMS-Sektionen.
Am 24. Juli 1928 wurde eine Sternfahrt der Motorfahrer nach Aarburg organisiert, an der 79 Bundesgenossen teilnahmen. Dort veranstaltete man eine Korsofahrt durch den Tagungsort und hörte sich anschliessend ein Referat eines Vertreters der «Winterthur» über Versicherungsfragen an. Die Tagungsteilnehmer beschäftigte vor allem der
fehlende Versicherungsschutz für Familienangehörige, welche im Seitenwagen oder auf dem Sozius mitfahren. Die energisch vorgetragene
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Kritik an diesen Versicherungsausschlüssen parierte der Referent, indem er den anwesenden Motorfahrern empfahl, auf ihren Ausfahrten
(«und nur für diese») einfach die Frauen auszutauschen. Auf dem Sozius oder im Seitenwagen eines andern Fahrers seien sie dann ja durch
dessen Haftpflichtversicherung geschützt. Die 2. Sternfahrt der Motorradfahrer 1929 zählte dann bereits 459 Teilnehmende! Unterdessen wurden AMS auch in Genf und in La Chaux-de-Fonds gegründet.
Die Mitgliederstatistik des Bundes wies zu jener Zeit 625 Motorradfahrer und Automobilisten aus, was sich aber bei insgesamt gelösten
12 985 Mitgliedkarten noch bescheiden ausnahm.
Die Zunahme der Motorradfahrer im Bund erforderte eine Ausweitung der Dienstleistungs- und der Interessenpolitik des ATB, die bisher auf die Radfahrer ausgerichtet war. So wurden sogenannte Triptyks abgegeben, die für den einmaligen Grenzübertritt mit Motorfahrzeugen benötigt wurden. Ein wichtiger Themenkreis waren aber
die enorm hohen Versicherungsprämien für Motorradfahrer. Man unterstellte dem eidg. Versicherungsamt, gegenüber dem Drängen der
Versicherungsgesellschaften allzu nachgiebig zu sein. Der ATB war
massgebend bei der Organisation einer öffentlichen Motorradfahrerversammlung beteiligt, an der 1933 Vertreter des Versicherungsamtes
Red und Antwort stehen sollte. Es schien unter den etwa 500 anwesenden Motorradfahrern hoch zu- und hergegangen zu sein. Sie verliehen «ihrem Unwillen in unverfälschter Muttersprache Ausdruck»,
wie Zentralpräsident Iseli später feststellte. Da die Vertreter des Versicherungsamtes in einer etwas unangenehmen Situation waren, bestellte die Tagung einen Ausschuss, der die strittigen Fragen mit dem
Versicherungsamt weiter diskutieren sollte. Viel scheint in der Folge
nicht herausgeschaut zu haben. Ernüchtert notierte Iseli: «Wir waren 10 Verbandsvertreter und wehrten uns mit aller Energie, aber
erfolglos. Die Herren fühlten sich in ihren Bureauräumen wieder gestärkt und von der ‹wohlwollenden Prüfung›, welche uns in Biel angesichts der eindrucksvollen Motorfahrerversammlung zugesichert worden war, bemerkten wir nichts mehr.»
1935 wurde auf Verlangen des ATB eine weitere Konferenz aller Motorradverbände einberufen, nachdem eine Benzinzollerhöhung um 6
Prozent in Kraft getreten war. Das wirkte sich nicht nur auf die Situation der Motorradfahrer aus, sondern auf die ganze Branche. Im
Juli 1935 wurden 18 000 Motorräder abgemeldet. Verbandsübergreifend wurde ein «Komitee zur Wahrung schweizerischer Motorfahrinteressen» gegründet und die Schaffung einer Haftpflichtversicherung
auf genossenschaftlicher Grundlage erwogen. Als diese Bestrebungen
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im Sande verliefen, wurde den Motorfahrern an ihrer Delegiertenversammlung von 1936 in Thun eine verbandsinterne Lösung für die Einführung einer Unfalltodversicherung vorgelegt, die jedoch überwältigend abgelehnt wurde. Ein Delegierter meinte, man müsse «ja Versicherungsprämien bezahlen bis zur Unterernährung». Erst an ihrer
Delegiertenversammlung im September 1939 in Langenthal stimmten
die Motorradfahrer der Unfalltodversicherung zu. Bald traten jedoch
andere Probleme in den Vordergrund. Das Thema «Ersatzbrennstoffe»
stand im Zentrum eines Referates an der Delegiertenversammlung
1940 in Olten. Um die Treibstoff-Alternativen Holzvergaser, Heizkohlen und Karbidbetrieb ging es da. Den anwesenden Motorradfahrern
wurde allerdings geraten, noch keine Umbauten an ihren Fahrzeugen
vorzunehmen. Auf dem Markt sei noch nichts Zweckdienliches «und
für den Arbeiter Erschwingliches» vorhanden. Jedenfalls war es jetzt
für längere Zeit vorbei mit dem Motorradsport. Die letzte MotorfahrerSternfahrt hatte kurz vor Kriegsausbruch am 2. Juli 1939 auf der Lueg
im Emmental stattgefunden.
3.3. Sporttätigkeit erhält neue Qualität
Die Arbeiter-Radfahrer-Bewegung entstand nicht als Sportorganisation, sondern als Selbsthilfeorganisation radfahrender Arbeiter. Wohl
werden schon von Anfang an Freizeitaktivitäten gepflegt. Diese beschränken sich zunächst auf gemeinsame Ausfahrten an Sonn- und
Feiertagen. Man besucht Patensektionen, macht Badetouren oder verbindet die Ausfahrt unter Umständen mit einer Bergtour. Gefahren
wird diszipliniert in Zweierkolonne, verantwortlich sind ein 1. und ein
2. Fahrwart, die mit einem schalmeiartigen Signalhorn ausgerüstet
sind. Nicht fehlen darf die Sektionsfahne oder ein ATB-Wimpel, die
der Fähnrich auf seinem Rad aufgeplanzt hat und der noch von 2 Fahnenwachen (häufig Frauen) begleitet ist. Und es versteht sich, dass
diese Funktionsträgerinnen und -träger alljährlich an der Generalversammlung in ihre Ämter gewählt werden. Und man nimmt natürlich
an den Frühjahrs- sowie Herbstausfahrten des Bezirks teil. Es kommt
auch vor, dass 3 Bezirke gemeinsam regionale Sternfahrten organisieren.
Aus dem Korsofahren an Aufmärschen wie zum Beispiel zum 1. Mai,
wo in Formation fahrend die politischen Parolen manifestiert wurden,
entwickelte sich wohl das Reigenfahren, zunächst noch auf Tourenrädern. Schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg gibt es die ersten Saalsportaktivitäten. Man will auch im Winter, wenn keine Touren durch-
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Gesamtvorführung im Reigenfahren am 5. Bundesfest in Oerlikon
geführt werden können, gemeinsame Aktivitäten entfalten. Turn- oder
Sporthallen waren damals noch eine Seltenheit, und wo es solche gab,
standen die Turnvereine als Nutzer im Vordergrund und nicht die Radfahrer. Übliche Trainingslokale der Radfahrer waren daher Saalbauten von Gastwirtschaften, von denen es früher noch sehr viel mehr
gab als heute. Dort wurden die Tische zusammengeschoben; um auf
dem frei werdenden Parkett die Runden drehen zu können. Eine ideale
Unterlage war das nicht immer. Es zirkulierten verschiedene Rezepte, um die Adhäsion des Reifengummis auf dem mehr oder weniger
gewienerten Saalparkett zu verbessern. Verbreitet war das Einreiben
des Gummis mit Bier. Zu dieser Zeit kommen spezielle, handgefertigte Kunstfahrräder auf mit starrer 1:1-Übersetzung, gedrungen gebautem Rahmen, gerader, um 360 Grad drehbarer Vorderradgabel und
besonders ausgeformtem Sattel. Diese sogenannten Saalmaschinen
erweiterten den Einsatz im Saalsport und bereiteten dem Kunstradfahren, das mehr auf Ästhetik und Anmutung denn auf Manifestationswirkung zielte, den Weg.
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurden die neuen Sportarten zusehends in die Treffen eingebaut: Frühjahrs- und Herbstbezirksausfahrten mit Kunst- und Reigenfahren sowie Radball. Oder es
werden dazu schon besondere Radsporttage organisiert. Je regionaler
oder gar überregionaler die Sportaktivitäten werden, umso notwendiger wird eine Reglementierung. 1932 erarbeitet deshalb der Technische Ausschuss des Bundes (TAdB) unter der Leitung von Johann Baumann, Basel, in Zusammenarbeit mit Arnold Bachmann, Zürich, ein
rotes «Handbuch für den Sport im ATB». Es handelte sich um einen
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verbindlichen Leitfaden für den Sektionswettkampf im Hindernisfahren, im Kunst- und Reigenfahren und im Radball. Das strapazierfähig
verarbeitete Handbuch war nun für eine ganze Epoche unverzichtbares Brevier für die Sektionswettkämpfe am Bezirks- oder Bundesfest.
Im Sektionswettkampf hatte man sich in verschiedenen Disziplinen
zu messen:
In einer Art Reigenfahren auf Tourenrädern trat man im Freien zu 8,
16, 24, 32 oder 40 Fahrern an. Die Platzgrösse wurde auf die Stärkeklasse abgestimmt.
Taktische Übung wurde der Teil des Wettkampfes genannt, in dem die
Sektion zum Signalfahren auf der Strasse antrat. Mit dem Dreiklanghorn gab der Fahrwart Komandos für: aufsitzen, absteigen, zu zweien
fahren, zu einem fahren, langsamer fahren oder schneller fahren, das
diszipliniert auszuführen war.
Im Kunst- und Reigenfahren galt generell, dass die Bilder eine halbe Runde gezeigt werden mussten. Im Einzelwettkampf waren 5 obligatorische und 20 freiwillige Bilder gefordert, im Duett 4 obligatorische und 16 freiwillige, im Trio 3 obligatorische und 12 freiwillige. Bei
den Reigen gab es einen Einführungsreigen Niederrad, einen leichten
Kunstreigen Niederrad (teilweise freihändig) sowie einen schweren
Kunstreigen Niederrad, vorwärts freihändig und rückwärts. Die Fahrzeit war bei diesen Reigen generell auf 7 Minuten festgelegt, und es
waren stets Sechserreigen am Start. Als weitere Disziplin war noch
ein Steuerrohr-Reigen möglich; ein im Reglement ebenfalls vorgesehener Sattelsteigerreigen kam nie zur Austragung.
Eine Reglementierung mit messbaren Kriterien wird erst seit 1930
angewendet. Vorher erfolgte die Bewertung gefühlsmässig und war
nur schätzbar. 10 war die Höchstnote. 1936 ergänzte der TAdB das rote Handbuch mit einem Reigenleitfaden, der die Vereinheitlichung des
Reigenfahrens im Bunde weiter förderte. 1937 offenbarte ein BundesReigen- und -Radballtag in Biel ein beeindruckendes Leistungsniveau
der Saalsportler des ATB. Bilder von diesem Anlass wurden auch
im Organ der tschechoslowakischen Schwesterorganisation veröffentlicht. Hochburgen im Kunstradfahren sind in jener Zeit Herisau und
Uzwil sowie Biel und Umgebung. Als weitere gute Sektionen gelten
Bern Freiheit, Langenthal, Wetzikon und Frauenfeld.
So wurde aus anfänglich informellen Freizeitaktivitäten mit den
Jahren ein normierter Sportbetrieb. Ab 1931 steigerten insbesondere die Bundesfeste oder Bundes-Radsporttage, die in den Jahren zwischen den zweijährlich stattfindenden Bundestagen veranstaltet wurden, den Stellenwert des Sports im ATB. Die Grossanlässe stärkten bei
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den Sportlern die Identifikation mit dem Bund. Imposante Massenreigen setzten an den Bundesfesten einen markanten Schlusspunkt.
3.4. Der ATB zwischen SPS und KPS
Der ATB war in den Zwischenkriegsjahren wie alle Arbeiterorganisationen tangiert von der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung.
Diese geht auf das Versagen der sozialdemokratischen Führungen
beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurück. Statt, wie an einer Konferenz der Sozialistischen Internationale 1912 vereinbart, im Falle einer Kriegserklärung in allen Ländern unverzüglich den Generalstreik
auszurufen und so Kriegshandlungen zu verhindern, fielen opportunistische Führungsleute der Sozialdemokratie in den meisten Ländern
um. Ihre Parlamentsfraktionen stimmten den Kriegskrediten der Regierungen zu und waren somit mitverantwortlich, dass ein grosser
Teil einer Arbeitergeneration der kriegführenden Länder im grausamen imperialistischen Krieg hingeschlachtet wurde. Die dadurch völlig diskreditierte zweite Sozialistische Internationale sollte durch eine neue, dritte und unbelastete ersetzt werden, die Konsequenzen
aus der verhängnisvollen Erfahrung von 1914 ziehen sollte. Das wurde noch während des Weltkriegs an internationalen Konferenzen in
Zimmerwald und Kienthal besprochen und von der Mehrheit in der
schweizerischen Sozialdemokratie ebenso mitgetragen wie dies auch
in andern Ländern der Fall war. Als dann aber massgebende Persönlichkeiten der Sozialdemokratischen Partei, die den Zimmerwalder
Prozess ursprünglich mittrugen, umschwenkten, sich gegen eine neue
Internationale stellten und so einen Beitritt der SPS vereitelten, kam
es 1921 zur Spaltung der Partei. Die Verfechter einer neuen, nicht vom
Verrat von 1914 belasteten Internationale fanden sich in der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) wieder. Es gab nun 2 Arbeiterparteien. Und den Arbeiter-Radfahrern stellte sich wie den anderen
Kulturorganisationen der Arbeiterbewegung die Frage, wie sie sich
zu den beiden Parteien stellen sollen.
Delikat wurde die Situation vor allem, als sich das Klima zwischen
den beiden Parteien schon bald nach der Spaltung vergiftete. Die
SPS versuchte, in der Arbeiterbewegung mit allen Mitteln eine hegemoniale Stellung zu ergattern und die Arbeiterkulturorganisationen
wie die Gewerkschaften für ihre Ausgrenzungspolitik gegenüber den
Kommunisten zu gewinnen – mit unterschiedlichem Erfolg. Die meisten Gewerkschaften, insbesondere der Metallarbeiterverband, schlugen nach dem Ersten Weltkrieg einen betont sozialpartnerschaftli-
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Kunstradfahrer der ATB-Sektion Freie Radfahrer Wetzikon bei einem
6er-Reigen (Ende 1940er-Jahre)
chen Kurs ein und schlossen Mitglieder, die nicht damit einverstanden waren, reihenweise aus. Bei den Arbeiterkulturorganisationen tat
der Schweizerische Arbeiter-Turn- und Sportverband (Satus) ein Gleiches; er amputierte sich sogar um ganze Unterverbände. Der ATB hingegen verfolgte unter der Führung von Zentralpräsident Ernst Iseli
von Anfang an eine Politik der strikten Parität zu den beiden Arbeiterparteien. Obwohl strammer Sozialdemokrat, liess er sich von keiner Seite instrumentalisieren. Und der von Iseli energisch verfochtene und verteidigte Organisationszwang basierte auf der Anerkennung
der Mitgliedschaft beider Parteien. Zu den Bundestagen wurde stets
je ein Vertreter beider Parteien eingeladen, die sich mit einem nicht
zu kurzen Grusswort an die Delegierten wandten. Ein Wahlaufruf des
Bezirks 6 für eine Stimmabgabe zugunsten der SP wurde von der Redaktion des «Arbeiter-Radfahrers» mit Verweis auf die Parität unumwunden abgelehnt.
Brennpunkte der politischen Auseinandersetzung waren vor allem
die Städte Basel und Zürich. In beiden Städten wurden die ATBSektionen von Kommunisten dominiert, oder sie hatten doch wichtige Funktionen inne. In Basel hatte die KP die Mehrheit an der Delegiertenversammlung des Gewerkschaftskartells, was dazu führte,
dass der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) das Basler Kartell wegen dieser Mehrheitsverhältnisse nicht mehr anerkannte. Als
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nun der SGB 1928 den ATB-Zentralvorstand ersuchte, bei den Basler
Sektionen darauf hinzuwirken, dem 1.-Mai-Aufruf des Basler Gewerkschaftskartells keine Folge zu leisten, blieb der ZV auch diesmal bei
seiner Paritätspolitik und liess sich nicht weiter auf die Anmassung
des SGB ein. Den Sektionen wurde lediglich empfohlen, den Besuch
der angefochtenen Maifeier nicht obligatorisch zu erklären.
1930 traf sich Zentralpräsident Iseli mit einer Delegation der Basler SP und der Redaktion der «Basler Arbeiter-Zeitung». Grund waren Klagen der Basler ATB-Sektionen, dass die SP-Zeitung von ihnen
keine Einsendungen aufnähme und dass sie sich zudem für die Erstellung einer Radrennbahn stark mache. Die AZ-Redaktion wiederum
begründete ihr Verhalten damit, dass in diesen Einsendungen «kommunistische Propaganda» gemacht werde. Und für die Rennbahn sei
man «nur der Mentalität der Menge folgend». Aufschluss über die hegemonialen Ansprüche der Sozialdemokratie ergibt sich aus den bei
dieser Aussprache gemachten Äusserungen der SP-Vertreter, wie sie
von Zentralpräsident Iseli notiert wurden. Sie verlangten vom ATB
ohne Wenn und Aber, dass er sich «wie der Satus» klar zu einer Richtung bekennen müsse. «Nur die Vernichtung der einen oder andern
Partei» könne Ruhe bringen. Iseli verbat sich diese Einmischung und
betonte, dass der ATB von niemand Direktiven entgegennehme, vor
allem nicht «von Genossen, die schon mehrmals das Parteibuch gewechselt» hätten. Gezielt war diese Spitze auf die Basler SP-Grösse
Friedrich Schneider, der eine Zeit lang KPS-Mitglied war und die
Sitzung nach dieser Äusserung sofort verliess. Der Standpunkt des
Arbeiter-Radfahrer-Bundes sei, wie man präzisierte, «dass beide Parteirichtungen in unserm Arbeitersportverband Platz» hätten. Im Jahr
zuvor hatte der ZV die Gründung einer Arbeiter-Motor- und Radfahrersektion Basel abgelehnt. Da sie nur für SP-Mitglieder offen stand,
befand der ZV die Parität nach den Statuten nicht einwandfrei gewährleistet. 1930 unternahmen SP-Mitglieder einen neuen Versuch, mit
Basel «Freundschaft» eine Sektion zu gründen, in der Sozialdemokraten unter sich waren. Eine Sektionsvorstände-Konferenz des Bezirks
nahm ablehnend Stellung zur Aufnahme dieser Sektion, weil sie nicht
notwendig sei und den Frieden auf dem Platz Basel störe. Diesmal
aber gab der ZV grünes Licht für die Aufnahme der neuen Sektion
und musste dafür viel Kritik aus Basel entgegennehmen. Iseli hatte
den ZV-Entscheid an einem ausserordentlichen Basler Bezirkstag zu
rechtfertigen, war dann aber ziemlich peinlich berührt, als ausgerechnet die Bezirkstags-Delegierten dieser Sektion am Mittag «verdufteten und am Nachmittag der Versammlung nicht mehr beiwohnten».
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Als die «Freundschaft» wenig später gegen den Bezirksvorstand polemisierte und ihm, sekundiert von der «Basler AZ», unterstellte, er
habe ein Inspektionsfahren für das Bundesfest absichtlich auf das Datum einer Tagung der sozialistischen Oberrhein-Internationale gelegt,
war es der ZV, welcher der Sektion eine Rüge erteilte. Und der AZ wurde beschieden, dass sie sich nicht in die inneren Angelegenheiten des
ATB zu mischen habe.
In Zürich spitzte sich die Lage 1933 zu, als die kommunistische
Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit alle Sportorganisationen
zur 1. Landesspartakiade in Zürich aufrief. Ziel der Veranstaltung war
eine mächtige Kundgebung des antifaschistischen Schulterschlusses
von unten, dem sich die Sportler aller Verbände, auch der bürgerlichen, anschliessen sollten. Die verschiedenen Verbandsleitungen legten diesem Vorhaben aus einem antikommunistischen Reflex heraus
grosse Hindernisse in den Weg. Aber die Spartakiade fand statt. Viele ATB-Genossen nahmen als Einzelpersonen teil, die Sektionen Zürich 6 und Thalwil sogar mit ihren Sektionsfahnen. Der ZV geriet nun
unter Druck, da von sozialdemokratischer Seite gewaltig Stimmung
gemacht wurde, vor allem aus dem Vorortsbezirk 6 (Bern). Ein energisches Durchgreifen, das heisst der Ausschluss aller Teilnehmer an
der Spartakiade, wurde gefordert. Bei so viel Aufhebens an der «Heimatfront» liess sich der ZV dazu hinreissen, ein Exempel zu statuieren
und den Vorstand der Sektion Zürich 6 auszuschliessen wegen Verletzung der Bundesstatuten. Denn an der Spartakiade wurde auch ein
Rennen ausgetragen, was gegen das Rennverbot in den ATB-Statuten
verstiess. Mit diesem Vorgehen manövrierte der Zentralvorstand den
ATB in eine heikle Zerreissprobe. In der Sektion Zürich 6 wie auch bei
andern Zürcher Sektionen gab es eine breite Solidarisierung mit dem
ausgeschlossenen Sektionsvorstand. Der ZV entschied sich jedoch dafür, hart zu bleiben und sprach bei den sich solidarisierenden Sektionsmitgliedern 40 weitere Ausschlüsse aus, selbst unter Inkaufnahme
einer Ausblutung der Sektion. Für diese musste vom Bezirk eine Verwaltungskommission bestellt werden, damit sie wenigstens auf dem
Papier weiter bestand. Die Ausgeschlossenen und sich mit ihnen solidarisierende Nichtausgeschlossene gründeten eine neue Sektion Zürich Nord. Natürlich war beim ZV zu dieser Zeit kein Hang zu verspüren, die neue Sektion in den ATB aufzunehmen. Sie schloss sich
daher der Kampforganisation für rote Sporteinheit an. Der Vorstand
hatte noch vor dem Ausschluss Gerät, darunter einige Saalmaschinen,
der neuen Sektion geschenkt, damit die übergetretenen Mitglieder ihren Sport weiter betreiben konnten. Daraus wurde ein Gerichtsfall, in
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dessen Folge die neue Sektion Zürich Nord zur Zahlung von 240 (statt
der geforderten 810) Franken an die Sektion Zürich 6 verurteilt wurde. Auch als sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, weigerte sich
der ZV, das zahlungsunfähige Zürich Nord in den ATB aufzunehmen,
solange die 240 Franken nicht bezahlt waren, auch nicht als eine Anzahlung von 50 Franken geleistet wurde. Erst als die Sektion Zürich
Nord 1936 endlich in der Lage war, die Restzahlung zu leisten, wurde
sie wieder in den Bund aufgenommen. Der ATB verzichtete so lange
auf eine kompakte Sektion mit 80 klassenbewussten Radfahrern.
In den Strudel der innerlinken politischen Auseinandersetzungen
drohte zuweilen auch der von Basel gestellte Technische Ausschuss
des Bundes (TAdB) zu geraten. Wie der Vororts-Bezirk 4 war er kommunistisch dominiert. Das passte antikommunistischen Gemütern
nicht, weshalb immer wieder dafür plädiert wurde, den TAdB in einen
andern Vorort zu verlegen. Auch in diesem Fall waren es vor allem
Stimmen aus dem Bezirk 6. Im Zentralvorstand machten sich ebenso
mehrere Mitglieder dafür stark. Zentralpräsident Iseli stemmte sich
allerdings dagegen, so dass der TAdB in Basel blieb.
3.5. Der Organisationszwang bewegt die Gemüter
An den Bundestagen der dreissiger Jahre führten vor allem zwei Fragen zu grossen Debatten: Der gewerkschaftliche bzw. politische Organisationszwang sowie das Rennverbot. Beides wurde vom Zentralvorstand unter der Führung von Ernst Iseli mit Herzblut gegen Angriffe von innen und aussen verteidigt. Gewerkschaftlich organisiert und
möglichst auch Mitglied der Arbeiterpartei zu sein, galt bei den Arbeiterradfahrern schon immer als Selbstverständlichkeit. 1922 beschloss
der Bundestag, dass Beitretende sich zwingend über eine gewerkschaftliche Organisation oder mindestens über die Mitgliedschaft in
einer der – inzwischen – zwei Arbeiterparteien ausweisen müssen.
Ob dieser Beschluss auch wirklich flächendeckend umgesetzt wurde, ist zu bezweifeln. Vieles spricht dafür, dass vor allem in den Landsektionen nicht alles so heiss gegessen wurde, wie es von «Bern» angerichtet wurde. Im Zweifelsfalle wollte man wohl lieber ein Mitglied
behalten als es wegen des Organisationszwangs zu verlieren. Umso
mehr als der Organisationszwang nur für Neubeitritte ab 1922 galt;
wer vorher schon Mitglied war, hatte sich der Bestimmung nicht zu
unterwerfen.
Aufgeheizt wurde die Situation, als am Bundestag 1936 in Luzern
eine Basler und vier zürcherische Sektionen gemeinsam einen Antrag
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einbrachten mit dem Ziel, den starren Organisationszwang etwas aufzuweichen. Bei Aufnahmen wäre demnach dem Klassenstandpunkt
des Arbeiter-Touring-Bundes nach wie vor Rechnung zu tragen gewesen. Als Mitglied einer proletarischen Partei oder einer Gewerkschaft
hätten sich Beitretende aber nur noch «in der Regel» ausweisen müssen. Und schliesslich wurde im Antrag noch festgehalten: «Werden
Unorganisierte aufgenommen, so ist darauf Bedacht zu nehmen, sie
baldigst den Organisationen der Arbeiterklasse einzufügen. Zu Funktionären dürfen Unorganisierte nicht gewählt werden.» Die doch ziemlich moderate Formulierung in diesem Antrag schien im Land herum
eine gewisse Wirkung nicht zu verfehlen. Die Rapporte, die im Zentralvorstand über die Bezirkstage abgegeben wurden, gaben nun doch
für einige Beunruhigung Anlass, was die Chancen des Antrags betrifft.
Selbst in Bezirken, die dem ZV gegenüber als besonders loyal galten,
mehrten sich die Signale für eine Zustimmung zur Aufweichung des
Organisationszwangs. Der Bezirkstag 9 sprach sich mit grosser Mehrheit für den Lockerungsantrag aus. Im nordostschweizerischen Bezirk 12 trat zwar der Vorstand für Ablehnung des Antrags ein, aber
in der Diskussion überwiegten die Stimmen für eine Annahme, was
ein dort anwesendes ZV-Mitglied zur Äusserung veranlasste, dass nun
selbst dieser Bezirk «nicht mehr sauber» sei. Der Sektionspräsident
von Ebnat-Kappel im Toggenburg zeigte sich ungehalten, weil ihm Beitrittskarten von Unorganisierten zurückgeschickt wurden. Er vermutet in einem Protestschreiben, dass auf den Bundestag hin wohl noch
etwas Druck ausgeübt werden soll, und hofft, dass die Delegierten das
ändern werden. Und sogar im Vororts-Bezirk 6 fand man Argumente
für eine Lockerung des Organisationszwanges. Am Bezirkstag weist
ein Delegierter aus dem Emmental stolz darauf hin, wie sie es «angekehrt haben, eine anständige Sektion hinzubekommen». Sie hätten
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dem Votanten ins Gericht und droht, für die Sektion eine Organisationskontrolle anzuordnen. Ein weiteres ZV-Mitglied sekundiert, bei
15 000 SP-Mitgliedern im Kanton Bern sei das Potenzial für Neuwerbungen gross genug, ohne dass man sich «um loses Gesindel» kümmern müsse.
Zentralpräsident Iseli schwor den Zentralvorstand darauf ein, «mit
aller Strenge am Organisationszwang festzuhalten». Nur ein ZVMitglied wagte den Einwand, manch ein Organisierter trete nicht aus
Überzeugung in den ATB ein, sondern weil er sich davon bestimmte
Vorteile erhoffe. Es gebe dagegen viele Unorganisierte, die moralisch
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sauberer dastünden als gewisse Organisierte. Auf die Ausarbeitung eines Gegenantrags für den Fall, dass es knapp werden könnte, glaubte
Iseli verzichten und dafür voll auf eine Ablehnung des Antrags setzen
zu können. Wahrscheinlich vertraute er, mit Recht, auf seine Fähigkeit
als gewiegter Debattierer, als der er sich am Bundestag fast allein einer langen Liste von Antragsbefürwortern entgegenstellte. Auffallend
war, dass der Antrag mit besonderer Vehemenz von den Basler und
Zürcher Sektionen, wo der kommunistische Einfluss gross war, vertreten wurde. Das hatte seinen Grund: Durch die antikommunistische, in
Massenausschlüsse mündende Repression der Gewerkschaften hatten viele ATB-Mitglieder ihren Organisationsausweis verloren. Und
nachdem mehrere Städte und Kantone für Mitglieder der Kommunistischen Partei ein Anstellungsverbot ausgesprochen hatten, waren
diese genötigt, aus der Partei auszutreten, wollten sie ihre Arbeit
nicht verlieren. So konnten sie weder als Gewerkschafts- noch als
Parteimitglied die im ATB verlangte Organisationspflicht erfüllen. Die
Redner, die den Antrag vertraten, verwiesen auch auf die grosse Arbeitslosigkeit als Folge der Wirtschaftskrise. Viele Schulentlassene
und Studienabgänger hätten keine Chance, ins Berufsleben treten
zu können und konnten so gar nicht zu einem Gewerkschaftsausweis
kommen. Da sei es doch sinnvoller, sie für den ATB zu gewinnen und
sie nachher den Gewerkschaften und proletarischen Parteien zuzuführen. Die Befürworter betonten immer wieder, dass auch ihnen eine
klassenbewusste Mitgliedschaft wichtig ist. Aber es sei ebenso wichtig, «die Fühlung mit der Arbeiterschaft nicht zu verlieren durch zu
starres Festhalten am Prinzip, dass wir nur Organisierte aufnehmen».
Schliesslich würden die SP und die Gewerkschaften ihre Mitglieder,
die in bürgerlichen Vereinen Sport treiben oder singen, auch nicht
rauswerfen. Unorganisierte würden kaum in Massen dem ATB zuströmen, falls der Organisationszwang fällt. Dagegen gebe es in vielen
Sektionen «senkrechte Arbeiter, die sich nicht organisieren können,
um ihre Existenz nicht zu verlieren oder weil sie die Geldmittel dazu nicht besitzen, arbeitslos oder krank sind. Auch andere ArbeiterKulturorganisationen wie der Satus oder die Naturfreunde würden
nur eine Soll-, keine Muss-Bestimmung über die Organisation ihrer
Mitglieder kennen. Auch ohne Organisationszwang garantiere man
dafür, dass die Eintritte gut kontrolliert und nicht alles mögliche aufgenommen werde. Die kolportierte Befürchtung, der ATB könnte von
Fröntlern unterwandert werden, wenn der Organisationszwang fällt,
wurde geschickt pariert, indem darauf hingewiesen wurde, dass die
Gewerkschaft SMUV erwiesenermassen Faschisten nicht als Mitglie-
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der ablehne, die also auf diesem Wege jetzt schon dem ATB beitreten
könnten. Wie jedermann wisse, seien schon bisher vom Organisationszwang viele Ausnahmen gemacht worden; insofern würde der Antrag
nur eine Anpassung an die Praxis bedeuten.
In seiner Replik gab Iseli der Befürchtung Ausdruck, dass bei Zustimmung zum Antrag in kurzer Zeit die Nichtorganisierten in vielen
Sektionen die Mehrheit hätten. «Wollt ihr dann mit dieser Mehrheit
von Gelben den Schlepperdienst für die Partei machen?» appellierte
Iseli an die Delegierten und sprach damit die früher gängige Praxis an,
im Kampf um jede Stimme säumige Stimmbürger am Sonntagmorgen
an die Urne zu schleppen. Die Feststellung, dass Arbeitslose nicht in
der Lage wären, den Gewerkschaftsbeitrag aufzubringen, liess Iseli
nicht gelten. Irgendwo könne er das Geld immer «einsparen, wenn er
ein nützliches Glied der Arbeiterorganisation» bleiben wolle. Der Zentralpräsident bestritt, schon jetzt Ausnahmen zuzulassen und bezeichnete es als Schmach für den Bundestag, sollte er es fertigbringen,
«den gesündesten Eckpfeiler unseres Baues niederzureissen», womit
er die Gewerkschaftsbewegung meinte. Es sei eine Illusion, Nichtorganisierte an einer Versammlung oder einer Ausfahrt organisieren zu
können, wenn es bei der gemeinsamen Arbeit auf dem Bauplatz oder
am Schraubstock schon nicht gelinge. Nach langer Debatte beschloss
der Bundestag am Ende mit 79 zu 146 Stimmen, den Abtrag abzulehnen und somit den Organisationszwang beizubehalten.
3.6. Ringen um das Rennverbot
Ganz ähnliche Fronten wie bei der Frage des Organisationszwangs
hatten sich zwei Jahre vorher bereits am Bundestag in Winterthur bei
einem Antrag zur Lockerung des Rennverbots ergeben. Radrennen
waren bei den Arbeiter-Radfahrern seit jeher geächtet. Der Rennwettkampf wurde als typisch bürgerliche Sportform abgelehnt, da sie statt
Solidarität «Egoismus, Neid, Hass, scharfe gegenseitige Bekämpfung
der Sportler und Missgunst zwischen wie innerhalb der Sektionen»
säe. Ein Vergehen gegen das Rennverbot wurde umgehend mit Ausschluss geahndet. In dieser Frage herrschte lange Zeit ein Konsens
bei den Arbeiter-Radfahrern.
Das änderte sich erst, als Anfang der 30er Jahre der Radrennsport
einen Aufschwung erlebte und sich zunehmender Popularität erfreute. Das zeigte sich zum Beispiel in der Faszination, welche die Tour
de Suisse auf die Bevölkerung ausübte, die ab 1933 vom bürgerlichen
Konkurrenzverband SRB auf die Beine gestellt worden war. Dass sich
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Lehrer mit ihren Schulklassen an den Strassenrand stellten, wurde
beim ATB übel vermerkt. Und in Oerlikon war das Hallenstadion mit
der Rennbahn in Planung. Interessanterweise war es der kommunistische Rot-Sport, der in dieser Frage nicht so orthodox dachte wie die
grosse Mehrheit des ATB und dessen Führung. In der Kampforganisation für rote Sporteinheit (KRS) begann man Rennen zu organisieren
und stellte dabei einen Publikumserfolg fest, der mit den angestammten Sportarten nicht erreicht wurde. Nahliegend also, dass die Anträge auf Lockerung des Rennverbots aus Sektionen in Basel und Zürich kamen, die der KRS angehörten. Weil der Radrennsport auch von
den «organisierten Proleten», wie man auf der Rennbahn in Oerlikon
beobachtet haben will, grossen Zulauf hatte, wollte man dieses Feld
nicht den Bürgerlichen oder gar der frontistischen Rechten überlassen. Die Festreden an den Grossanlässen würden nämlich nicht von
«Arbeitervertretern, sondern von ausgesprochenen Militaristen und
Faschisten» gehalten. Es gehe also darum, ob die Arbeiterjugend «für
unsern Bund» gewonnen werden kann oder dem SRB überlassen werden soll.
Die harte, gegen den Rennsport gerichtete Linie des Zentralvorstands mit Ernst Iseli an der Spitze wurde den Antragstellern nicht
gerecht, wenn diesen vorgeworfen wurde, sie würden mit der Opferung eines alten Grundsatzes der Arbeiter-Radfahrer und einer Kopierung des SRB den ATB zur Gleichschaltung reif machen. Oder mit
dem Rennsport würden sie die Jugend von den realen politischen Problemen ablenken und dem Klassenbewusstsein junger Arbeiter entgegenwirken. Die Antragsteller hatten, wie ihren Voten zu entnehmen ist, keineswegs im Sinn, den bürgerlichen Rennsport zu kopieren. Vielmehr trachteten sie danach, neue Elemente in den Radrennsport einzubringen, die mit der ATB-Losung «Solidarität» im Einklang
standen. Im ATB sollte nach ihren Vorstellungen der Rennsport nicht
elitär betrieben, sondern zum Massensport ausgebaut werden. Dazu
wollte man unter anderem das Mannschaftsfahren und das Stafettenfahren fördern. Die Frage dürfe nicht lauten: «Wollen wir rennen?»,
sondern: «Wie wollen wir rennen?» Das Rennverbot wurde als Bevormundung der sporttreibenden Sektionen bezeichnet, hinter der neben dem Zentralvorstand «alte Köpfe und Graubärte» stünden, die
mit dem Sport nichts mehr zu tun haben. Von den 360 ATB-Sektionen
würden zwischen 100 und 200, deren Mitglieder nur wegen der Versicherung dabei sind, keinen Sport betreiben, wurde behauptet. Und
bei etwa 100 weiteren Sektionen beschränke sich der Sport auf eine
jährliche «Mostfahrt» im Sommer. Es sei doch «gescheiter, man fährt
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Fototermin auf einer Ausfahrt im Tösstal. Man beachte das Signalhorn
des Fahrwarts.
mit 30 km/h über Land, als im 15-km-Tempo von einer Wirtschaft zur
andern». Eine Ausweitung der Aktivitäten dränge sich auch aus sportlicher Sicht auf. Den Sektionen, die gewillt sind, Sport zu treiben, soll
daher «kein Radschuh mehr unterlegt werden».
Einige Brisanz hatte der Umstand, dass als Hauptredner der Antragsteller niemand anders als Johann Baumann auftrat, der Leiter des
Technischen Ausschusses des Bundes, also eine Art oberster Sportwart des ATB. In dieser Funktion hatte er Verbindung mit seinem Kollegen des tschechischen Arbeiter-Radfahrer-Bundes, der 1933 gegen
beachtliche innere Widerstände das Rennverbot aus seiner Satzung
gekippt hatte. Baumann konnte so von den in der Tschechoslowakei
gemachten ersten Erfahrungen berichten, die positiv seien; das sportliche Programm im tschechischen Bund sei durch die Aufnahme des
Rennsports, der keiner «Kanonenzüchterei» huldige, sondern als Breitensport betrieben werde, «beliebter und vielseitiger» geworden.
Für die Beibehaltung des Rennverbots machten sich zwei Vertreter
des ZV stark, unter ihnen auch Zentralpräsident Iseli. Sie warnten
vor allem vor den finanziellen Rückwirkungen auf die Unfallversicherungen. Davon könne der SRB ein Lied singen. Der bürgerliche Konkurrenzverband sah sich wegen der starken Zunahme von Unfällen
gezwungen, die Maximalleistung bei Unfällen auf 50 Franken zu re-
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duzieren. Beim ATB stehe die oberste Limite dagegen bei 195 Franken.
Es gehe daher nicht an, «unsere Institutionen, die als Schutz der Mitglieder geschaffen worden sind, zu opfern». Zudem wirke der Sportbetrieb beim Rennen auf Geist und Körper ruinierend. Dem ATB begegne man in der Verkehrspolitik deshalb mit so viel Respekt, weil
«unsere Statuten jegliches Rennen verbieten, wir also die Strasse in
richtiger Weise benützen». Der Vororts-Bezirk 6 habe den grössten
Anteil Jugendmitglieder im Bund, und das ohne Rennsport. Da könnten sich die Bezirke, die für eine Aufhebung des Rennverbots sind, ein
Beispiel nehmen. Mit 214 zu 34 Stimmen sprach sich der Bundestag
nach der Debatte für die Beibehaltung des Rennverbots aus.
Das Rennverbot wurde erst 1954, nach der Ära Iseli, aus den Statuten entfernt. 1938 sah sich der ZV auf Veranlassung des Genfer
Bezirks 11 genötigt, beim Genfer Regierungsrat Léon Nicole zu intervenieren. Die SP-Zeitung «Le Travail» trat als Organisatorin von
Strassenrennen auf, die den Zweck hatten – so die Einschätzung von
Zentralpräsident Iseli – die Popularität Nicoles zu steigern. Eine Aussprache von Zentralpräsident Iseli mit Nicole sowie einem Redaktor
des «Travail» und im Beisein einer Vertretung des Bezirksvorstandes
brachte keine Einigung. Für den Rat Nicoles an den ATB, die Bundesstatuten in bezug auf das Rennverbot «der heutigen Zeit anzupassen
und abzuändern», hatte Iseli, wie man sich denken kann, wenig übrig.
Eine dem Rennverbot verwandte Frage betraf die Abgabe von Kränzen an den Sportfesten. Diese wurden 1924 vom Bundestag abgeschafft, im Einklang mit andern Arbeiter-Kulturorganisationen. Die
Arbeiter-Sportler sollten sich mit schlichten Leistungsblättern als Erinnerungsstücke an ihre Leistungen begnügen und auf mehr oder weniger protzige Ehrenzeichen verzichten. Die Furcht, mit dem Rennsport würde mit Pokalen und dergleichen der Kranzbeschluss revidiert, war ein wesentliches Motiv für die Gegnerschaft zu den RennWettkämpfen. Allerdings kam 1936 auch von den Saalsportlern her
der Wunsch, doch mindestens ein Diplom als Anerkennung guter Leistungen, die nur mit unermüdlichem und hartem Trainieren zu vollbringen sind, abzugeben.
3.7. Der ATB als Teil der Arbeiterkulturbewegung
Der ATB war lange Zeit ein eigenwilliger, für nicht wenige seiner
Partner vielleicht oft auch als eigensinnig wahrgenommener Teil der
schweizerischen Arbeiterkulturbewegung. Da war einmal die Militanz, mit der man für die politische und gewerkschaftliche Sache der
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Arbeiterschaft eintrat und die in dieser Konsequenz wohl in keiner
der andern Arbeiterkultur-Organisationen anzutreffen war. Die Festlegung des Organisationszwangs in den Statuten war nur ein Ausdruck
davon, die Solidarität ein anderer, etwa in Arbeitskämpfen. Die Fahnenfabrik Heimgartner in Wil zum Beispiel wurde mit einem Boykott
belegt, bis diese 1924 ihren Widerstand gegen Verhandlungen mit der
zuständigen Gewerkschaft aufgab.
Das Verhältnis des ATB zur grössten der Arbeiterkulturorganisationen, dem Schweizerischen Arbeiter-Turn- und -Sportverband (Satus), war zeitweise ein eher gespanntes. Der Satus drängte den ATB
wiederholt zur einer Fusion und begründete dies mit mehr Gewicht
des Arbeitersports gegenüber den Behörden. Am Bundestag des ARB
von 1926 in Bern war über einen Antrag zu befinden, der die Fusion mit dem Satus verlangte; er wurde mit 141 zu 23 Stimmen deutlich abgelehnt. Vom Tisch war die Frage damit noch nicht. 1928 traf
man sich mit Vertretern des Satus und der Naturfreunde zu einer Sitzung zur Vorbereitung eines gemeinsamen Auftritts der ArbeitersportOrganisationen an der Ausstellung «Sport und Hygiene». Der SatusVertreter benutzte dabei «wieder einmal» die Gelegenheit, die Verschmelzung der Organisationen zu thematisieren. Ein Vorgehen, das
von der ARB-Delegation unwirsch als «Schlangenfängerei» bezeichnet wurde. Die ARB-Vertreter machten aus ihrer Abneigung kein Hehl,
erklärten jedoch, dass man für die Bildung eines Spitzenkomitees
für koordinatorische Aufgaben im Arbeitersport durchaus offen sei.
1931 kommt es dann zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft schweizerischer Arbeitersport- und -Kulturorganisationen (Asask), wobei der
Beitritt des ATB nicht ganz gradlinig verläuft. Der Antrag des ZV für einen Beitritt des ATB zur Asask wurde am Bundestag 1930 in Basel mit
96 gegen 80 Stimmen abgelehnt. Von linker Seite wurde befürchtet,
die Asask sei nur ein Instrument der sozialdemokratischen Führung,
um die Kommunisten auch in der Arbeiter-Sport-Bewegung ausgrenzen zu können. Die Sektion Uzwil sowie der Bezirksvorstand 6 wollten
darauf die Asask-Frage einer Urabstimmung unterbreiten. Mit 111
zustimmenden Sektionen wurde das dazu nötige Quorum von 107 erreicht. Im Oktober stimmten die Mitglieder in der Urabstimmung mit
2288 Ja gegen 1503 Nein dem Beitritt zur Asask zu. An der ersten
Sitzung der Asask herrschte keine Euphorie: «Genosse St. vom Satus
vertrat die neue Richtung mit Blick nach rechts und Anlehnung an den
bürgerlichen Sport», resümiert Iseli und konstatiert, der Satus sei im
Begriff «eine Wendung» einzuleiten. Argwöhnisch verfolgte man im
ZV des ATB, wie der Satus nach und nach bisherige Grundsätze des
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Arbeitersports, wie es den Anschein machte, über Bord warf. Mit einiger Entrüstung berichtete ZV-Mitglied Hohl, der 1941 an den SatusVerbandstag delegiert war, dass dort unter den offiziellen Gästen auch
ein Oberst als Vertreter des Eidg. Militärdepartments anwesend war.
Noch mehr als die Ansprache des Obersts ärgerte ihn, dass der SatusZentralpräsident wie der SPS-Repräsentant Gemeinderat Freimüller
sich seiner Meinung nach in ihren Reden dem uniformierten Gast anpassten. Und dann gab es noch eine Ansprache eines Oberleutnants,
die «ohne weiteres ebenfalls als nach rechts gerichtet zu bezeichnen»
sei. Die gehaltenen Reden waren für Hohl ein solcher Absteller, dass
er wie auch die Abgesandten anderer Arbeiterkulturorganisationen
darauf verzichtete, den Kongress auch noch am zweiten Tag zu verfolgen.
Eine abweichende Haltung von jener des Satus nahm der ATB auch
gegenüber dem Anfang der 40er Jahre eingeführten Eidg. Sportabzeichen und dem militärischen Vorunterricht ein. Das Sportabzeichen
stand im Widerspruch zu den im Arbeitersport verpönten Auszeichnungen, da man ja auf Breitensport aus war und nicht auf das Züchten von Kanonen, wie oft betont wurde. Man hielt nichts davon, nicht
zuletzt aus Furcht, dass so durch die Hintertüre der Rennsport Einzug halten könnte. Den Erwerb des Abzeichens zu verbieten, wagte
man allerdings auch nicht, weil sonst junge Mitglieder an den Satus
verloren gehen könnten. Man hoffte aber, dass es sich dabei nur um
eine vorübergehende Mode handle, die sich von selbst regelt.
Wir erinnern uns, dass 1916 der Antrag des Bezirks Zürich zur Loslösung vom reichsdeutschen Arbeiter-Radfahrer-Bund einen Passus
enthielt, wonach internationale Verbindungen beibehalten werden sollen. In den Kriegsjahren konnte dieser Passus nicht erfüllt werden. Als
dann 1927 von Deutschland aus Anstrengungen für die Gründung einer Internationalen der Arbeiter-Radfahrer angeregt wurde, begrüsste man das im Zentralvorstand. Zentralpräsident Iseli kommentierte
dies mit der Bemerkung, ein solcher Beitritt «hätte auch den Vorteil,
dass die Ideen einer Fusion mit dem Satus vom Tisch wären». Die Bildung einer eigenen Internationalen der Arbeiter-Radfahrer zerschlugen sich jedoch, weil die Schwesterverbände in den meisten Ländern
sich einer der beiden Arbeitersport-Internationalen anschlossen, entweder der 1920 in Luzern gegründeten Sozialistischen ArbeitersportInternationalen (Sasi) oder der kommunistisch ausgerichteten Roten
Sport-Internationale (RSI). Ein Beitritt zu einer der beiden Internationalen hätte im ATB den inneren Frieden gefährdet, weshalb der
ZV beschloss, sich keiner der beiden Internationalen anzuschlies-
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sen. Das vertrug sich schlecht mit dem gerade bei den ArbeiterRadfahrern tief verankerten internationalistischen Bewusstsein. Bis
1931 konnte man sich noch darauf berufen, dass auch der Elsässische Arbeiter-Radfahrerbund keiner der beiden Internationalen angehört. Das änderte dann aber, als die Elsässer entschieden, sich der
RSI anzuschliessen. Das nagte am internationalistischen Selbstverständnis vieler Genossen, was immer wieder zu Interventionen führte.
Bei der Beratung der Verbandsrechnung an einem Bundestag wurde
schon mal gerügt, dass so hohe Beiträge an die Strassenverkehrsliga bezahlt werden, während man noch nicht mal einer ArbeitersportInternationalen angehöre.
Mit der Zerschlagung der deutschen Arbeiterorganisationen am
2. Mai 1933 durch die Nazis und der österreichischen 1934 nach dem
Februar-Aufstand der Arbeiterschaft gegen das austrofaschistische
Dollfus-Regime waren die zwei bedeutendsten Arbeiter-RadfahrerVerbände ausgeschaltet, und die nie aufgegebene Hoffnung, sich dereinst doch noch einer Internationalen der Arbeiterradfahrer anschliessen zu können, musste endgültig begraben werden.
3.8. Der ATB und der Antifaschismus
Der Untergang der deutschen und der österreichischen Schwesterorganisationen war für die schweizerischen Arbeiter-Radfahrer eine
Erfahrung, die zu Diskussionen und Debatten Anlass gab und auch
in Überlegungen einfloss, wie hierzulande der Gefahr begegnet werden soll, das gleiche Schicksal erleiden zu müssen. Dabei spielte die
Beobachtung des Versagens der sich auf den Legalismus versteifenden Führungen der deutschen wie der österreichischen Sozialdemokratie eine Rolle. Sie räumten den Faschisten kampflos das Feld, obwohl die Arbeiterschaft darauf brannte, den Kampf aufzunehmen –
und in Österreich auch trotz dem Zaudern der Führung auch aufnahm.
Das liess die Kommunisten auf eine Taktik breiter antifaschistischer
Bündnisse von unten einschwenken. Den Sozialdemokraten wurden
Aktionsbündnisse für eine antifaschistische Einheitsfront und Listenverbindungen bei den Wahlen angeboten, auf die aber von der SPFührung nur in den wenigsten Fällen eingegangen wurde. Diese Einschätung der Lage war mit ein Grund, weshalb sich die Kommunisten
ab 1933 im ATB dafür einsetzten, das formale Korsett des Organisationszwangs abzustreifen, um eine breitere Basis für die angestrebte
Einheitsfront zu finden. Zentralpräsident Iseli hielt von dieser Strategie nichts. Dazu führte er just das Beispiel der deutschen Arbeiter-
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Radfahrer an. Denen habe es auch nichts genützt, dass sie keinen Organisationszwang hatten und sich mit 250 000 Mitgliedern stolz als
stärkste Sportorganisation der Welt brüsten konnten. Hitler habe sie
trotzdem weggewischt «samt ihrem Geld».
An der antifaschistischen Gesinnung des damaligen Zentralvorstands ist nicht zu zweifeln. Er sorgte dafür, dass deutsche und österreichische Emigranten Grenzkarten erhielten, damit sie sich ungehindert nach Frankreich begeben konnten. Zurückhaltend war er
aber bei öffentlichen Stellungnahmen gegen die faschistischen Regierungen, weil er befürchtete, sich damit Probleme mit den Zollfreischeinen für Deutschland, Österreich und Italien einzuhandeln. Um solche Schwierigkeiten mit Italien zu vermeiden, wurde 1927 dem Radfahrerkartell Basel empfohlen, den beabsichtigten Beitritt zum örtlichen Antifaschistischen Komitee nicht zu vollziehen. Auch als am
Bundestag 1934 ein Resolutionsantrag eingereicht wurde, mit dem
gegen die Verhaftung des KPD-Führers Ernst Thälmann und die blutige Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Österreich durch die
Dollfus-Regierung protestiert werden sollte, wurde vom ZV vor Retorsionsmassnahmen der beiden Regierungen gewarnt. Ein Delegierter
meinte, ein klassenbewusster Arbeiter habe zurzeit in diesen Ländern
sowieso nichts zu suchen. Zentralpräsident Iseli argumentierte, Antifaschismus praktiziere man nicht mit Resolutionen, sondern mit Taten,
und stellte einen Gegenantrag, der illegalen österreichischen Kinderhilfe eine Unterstützungssumme zukommen zu lassen, und konnte so
die Annahme der Resolution abfangen.
3.9. Der ATB und der SRB
Zu den Partnern des ATB gehörte auch seine bürgerliche Konkurrenz,
der Schweizerische Radfahrer-Bund (SRB), in jüngerer Zeit Swiss Cycling. Wir hatten gesehen, dass die beiden Verbände in den Auseinandersetzungen um Verkehrsfragen der 20er- und 30er-Jahre ziemlich
eng zusammenarbeiteten, wobei der ATB offensichtlich die Avantgarde gespielt hatte. Diese Kooperation kann aber nicht über die scharfe
Rivalität der beiden Verbänden hinwegtäuschen.
Für böses Blut sorgten Übertritte ganzer Sektionen. 1927 trat ein
Veloclub «Adler» geschlossen vom SRB in den ARB über. 1931 beschloss auch der Veloclub im freiburgischen Bösingen den Austritt
aus dem SRB und den Beitritt zum ATB. Nur ein Mitglied stimmte dagegen und lief dann zu einem Anwalt. Dieser fand heraus, dass ein
Übertritt nicht möglich sei, weil der Zweckartikel der Sektionsstatu-
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ten dem Zweckartikel der Bundesstatuten des ATB widerspräche, und
drohte mit Klage. Auf einen Gerichtshandel auf freiburgischem Boden
wollte man sich jedoch nicht einlassen und versuchte, eine gütliche
Einigung anzustreben. Bei der Teilung des Sektionsvermögens und inventars erhoben die SRB-Anhänger vor allem Anspruch auf Becher
und Pokale, auf denen der alte Clubname eingraviert war. Eine entsprechende Abtretungsurkunde zu unterzeichnen, stellte für den Zentralvorstand alles andere als ein schmerzlicher Verzicht dar. Als dann
aber noch weitere Kniffe versucht wurden, gründete man kurzerhand
eine neue Sektion ATB «Freiheit», um allen weiteren Problemen aus
dem Wege zu gehen. Aber es gab auch Übertritte von ATB-Sektionen
zum SRB, z. B. in Oensingen. Zu einem Gerichtsfall kam es auch bei
Wirren um die Sektion Gossau Ende der zwanziger Jahre. Sie hatte auf
Betreiben christlichsozialer Mitglieder, wie man im ZV vermutete, an
einer Versammlung beschlossen, aus dem ARB auszutreten und in den
SRB zu wechseln. Der ZV verweigerte den Austritt, nachdem er Unregelmässigkeiten beim Austrittsentscheid festgestellt hatte. Mit seiner
Klage erlitt er vor dem örtlichen Gericht allerdings Schiffbruch.
1923 strengte der Zentralvorstand sogar eine Ehrverletzungsklage
gegen ein SRB-Mitglied aus Murgenthal an, weil es den ARB in einem
öffentlichen Lokal übel verleumdet hat. Dem sollte ein für allemal ein
Riegel geschoben werden. Die aargauische Justiz trat allerdings auf
die Klage gar nicht ein mit der Begründung, nur eine natürliche Person, nicht aber ein Verband verfüge über eine Ehre, die verletzt werden könne.
Sportlich gab es zwischen den beiden Verbänden bis zum Zweiten
Weltkrieg und noch einiges darüber hinaus wenig Berührung. Die
Schwerpunkte der sportlichen Aktivitäten waren in den beiden Verbänden unterschiedlich, und dort, wo es Gemeinsamkeiten im Sportbetrieb gab, im Saalsport, arbeitete man mit unterschiedlichen Reglementen und führte separate Meisterschaften durch. Die Verbandsleitung des SRG massregelte sogar Mitglieder, wie ein Fall in St. Gallen
zeigt, nur weil sie Plausch halber gegen ATB-Radballer spielten. Erst
in den 70er Jahren gingen die beiden Verbände eine sportliche Zusammenarbeit ein, wie noch zu sehen sein wird.
3.10. Gut gewappnet in die Kriegsjahre
«Genossen, wir stehen in einer schweren Zeit; es ist an jedem, an
seinem Ort das Bestmögliche zu leisten.» So steht es im Protokoll
vom 22. September 1939 der ATB-Sektion Kreuzlingen. Die Arbeiter-
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Radfahrer der Thurgauer Grenzstadt waren nicht erst mit Kriegsausbruch von den Vorgängen im Nachbarland betroffen. Sie hatten vor
1933 enge Beziehungen zu ihren Konstanzer Genossen gepflegt. Nach
der Zerschlagung aller Arbeiterorganisationen Deutschlands durch
die Nazi-Faschisten übten sie Solidarität. So nahmen sie 1934 Mitglieder der Konstanzer Arbeiter-Radfahrer in ihre Sektion auf und
versuchten, ihnen auf diesem Wege Grenzübertrittsscheine für die
Schweiz zu verschaffen. Das Zentralsekretariat wurde ersucht, dazu
mit der Oberzolldirektion Verhandlungen aufzunehmen. Im ZV war
man davon offenbar nicht begeistert, so dass die Antwort an die Kreuzlinger nicht gerade ermunternd ausfiel. Jedenfalls schreiben sie der
Zentrale etwas aufgebracht: «Wenn die Stadt Bern an der Nordgrenze
liegen würde, hätte das Schreiben jedenfalls einen andern Inhalt.» Es
sei dann doch nicht jeder Deutsche «vom Nazigeist beeinflusst». Man
kenne in Konstanz viele frühere Arbeiter-Radfahrer, die «seelisch unter dem jetzigen Regime schwer leiden und noch voll Hoffnung auf
das baldige Nahen der Erlösung» seien. Der ZV sei vom Irrtum befallen, wenn er sich das ganze deutsche Volk bis ins Innerste des Geistes
gleichgeschaltet vorstelle. Als an der Versammlung der Brief des ZV
vorgelesen wurde, waren die zwei anwesenden Vertreter der Konstanzer Arbeiter-Radfahrer sehr enttäuscht gewesen. Aber auch die eigenen Genossen hätten die Schreibweise des Zentralvorstands gerügt.
Man sei jetzt um eine Erfahrung reicher und müsse feststellen, dass
das Gerede vom Internationalismus nur Bluff sei, wenn nicht mehr Gefühle für leidende Genossen aufgebracht würden. Diese Antwort führte in Bern anscheinend doch noch zum Einlenken, was dann auch zu
versöhnlicherer Stimmung in Kreuzlingen gegenüber dem ZV führte.
Albert Grob, Präsident der Sektion Kreuzlingen, betont im Post Scriptum eines Antwortbriefes nach Bern, man wolle eben «das Möglichste
getan haben, damit die bedauernswerten früheren Arbeiter-Radfahrer
Deutschlands doch noch von einer internationalen Solidarität etwas
spüren».
Als der Bundesrat im September 1939 die Generalmobilmachung
anordnete, war man im Zentralvorstand darauf vorbereitet. Da die
Gewitterwolken am europäischen Himmel schon längere Zeit unübersehbar waren, hatte der ZV für den Fall einer Mobilmachung seine
Aufgaben vorsorglich auf die nicht dienstpflichtigen Mitglieder aufgeteilt. Ein Teil des Vermögens wurde vom Bankbüchlein geholt und an
sicherem Ort verwahrt, wohl wissend dass es die Faschisten, ob braun
oder schwarz, in Deutschland wie in Österreich bei der Auflösung der
Arbeiterorganisationen jeweils in erster Linie auf deren Aktiven abge-
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sehen hatten. Der ZV war bestrebt, den Betrieb auf der Geschäftsstelle auch unter den erschwerten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Die
Sektionen wurden per Brief aufgefordert, ebenfalls Vorkehrungen zu
treffen und für wichtige Funktionen Stellvertreter ohne Militärdienstpflicht zu bezeichnen. Man nahm sich ferner vor, das Presseorgan
weiterhin regelmässig erscheinen zu lassen, um dieses Verbindungsglied in der Organisation intakt zu halten. An dieser strategischen Entscheidung wurde festgehalten, als bereits 1940 erste Anzeichen einer
Kriegsteuerung auftraten und nach Sparmassnahmen riefen. Sowohl
Umfang und Erscheinungsweise des «Arbeiter-Tourings» liess man unverändert. «Die geistige Verbindung durch das Organ muss bestehen
bleiben», heisst es dazu im Protokoll, und: «Wir verfechten ein geistiges Gut, und das wiegt die einigen Tausend Franken Einsparung wohl
auf.» Auch am «Jungen Radler», der damals die ansehnliche Auflage
von gut 5000 Exemplaren hatte, wurde nicht gespart.
Die finanzielle Situation war im ersten Kriegsjahr insofern etwas
ungünstig, weil 1939 als Teil einer geplanten Mitgliederwerbekampagne eine Beitragssenkung beschlossen wurde. Wegen des Kriegsausbruchs kam jedoch die Werbeaktion nicht mehr richtig zum Tragen, so
dass man auf den Einnahmenausfällen sitzen blieb und ein Defizit von
6000 Franken einfuhr. Zudem liessen die Forderungen aus den Sektionen, Wehrmännern die Beiträge zu reduzieren, nicht lange auf sich
warten. Darauf konnte der Zentralvorstand nicht eingehen, verwies
aber auf die sozialen Einrichtungen des ATB, die jetzt eine neue Wertschätzung erfuhren. Mit Genugtuung hält Zentralpräsident Iseli im
Rückblick fest: «Viele Bundesgenossen, die früher herablassend unsern Bund als ,Versicherungsinstitution verlachten, waren jetzt froh,
dass diese oft verschmähten Einrichtungen zur Linderung der Not in
den Arbeiterfamilien der ATB-Mitglieder vorhanden waren.» Zufrieden erwähnt er auch, dass «seit der Mobilmachung kein einziges Unterstützungsgesuch, das mit Militärdienst oder wo die Notlage als dessen Folge angegeben wurde, abgelehnt worden ist». Allein an einer
einzigen Sitzung des ZV im Jahr 1941 wurden 491 Franken an Notunterstützungen bewilligt, was zu jener Zeit ein erklecklicher Betrag
war. Es waren über 5000 Franken, die im ersten Halbjahr 1941 an etwa 200 Genossen ausbezahlt wurden. Besonders stolz war man, dass
der ATB als einziger Verband mit seiner Versicherung Radunfälle im
Militärdienst ebenfalls anerkannte.
Die Kriegswirtschaft erfordert zusätzliche Schwerpunkte in der Verfechtung der Mitgliederinteressen. Alarmiert wurde der Zentralvorstand 1941 durch Gerüchte, die von einigen Medien verbreitet wur-
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den. Demnach hätten wegen Gummimangels ein Sonntagsfahrverbot
für Velos sowie Requirierungen von Velopneus bevorstehen sollen.
Statt der benötigten 700 000 Velopneus konnten, so wurde verbreitet,
jährlich nur 300 000 produziert werden. Auch stellte man eine Zunahme von Velodiebstählen wegen der Pneus fest. Man machte sich im
ATB sogleich Gedanken, welche Forderungen für den Fall von Zwangsmassnahmen aufzustellen sind, damit es dabei auch gerecht zu- und
herginge. Erste Priorität hatte bei den ATB-Forderungen, dass Fahrräder, die für den Arbeitsweg benutzt werden, von allen Massnahmen
verschont bleiben. Im Falle von Beschlagnahmungen sollte in erster
Linie auf Vorräte und bereits aufmontierte Reifen bei Velohandlungen
sowie in Warenhäusern zurückgegriffen werden. Erst danach auf unbenutzte und stillgelegte Reifen von Privaten. Requirierungen bei Privaten könnten nach den Vorstellungen des ATB nur im Notfall in Frage kommen und dann in erster Linie, wenn es sich um Zweiträder
handelt. Mit dieser Forderungsliste gewappnet, trat eine Delegation
unter Leitung von Zentralpräsident Iseli an einer Konferenz des zuständigen kriegswirtschaftlichen Amtes auf und brachte dort ihre Bedenken gegen allfällige Massnahmen vor. Die zuständige Amtsstelle
liess schliesslich verlauten, dass es sich bei den befürchteten Requirierungen wirklich nur um ein Gerücht handle.
Der Zentralvorstand sah sich dann allerdings durch eine andere
kriegsbedingte behördliche Massnahme herausgefordert, als einige
Städte wegen der Verdunkelung für Radfahrer ein Nachtfahrverbot
ab 22 Uhr erliessen. Bei den betreffenden Stadtbehörden wurde interveniert und erreicht, dass diese Nachtfahrverbote wieder aufgehoben
wurden.
In den Maitagen 1940 kam die Frage des Organisationszwangs in
einem neuen Zusammenhang wieder aufs Tapet. Spuren des Defätismus, wie er vor dem Hintergrund der Blitzkrieg-Erfolge der deutschen Wehrmacht verbreitet war, konnten auch in den Arbeiterorganisationen ausgemacht werden. Jedenfalls glaubte der Zentralpräsident
ein entsprechendes Unbehagen in Briefen aus Sektionen und Bezirken feststellen zu können: «Teilweise spürte man sogar so etwas wie
Angst, den Arbeiterorganisationen beigetreten zu sein.» Vorsichtige
sprachen sich daher dafür aus, wenigstens die Organisationspflicht
aufzuheben. Die Antwort des Zentralvorstands auf solche Stimmen
war, dass man nicht daran denke, denn der ATB sei ein Glied der organisierten Arbeiterschaft, mit der er stehe oder falle.
Eine Ausnahmeregelung zur Organisationspflicht der ATB-Mitglieder wurde notwendig, nachdem der Bundesrat im November 1940
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die Kommunistische Partei der Schweiz verboten hatte, um den Berliner Machthabern zu gefallen. Durch das Verbot konnten die bisher der KPS angehörenden ATB-Mitglieder der Organisationspflicht
nicht mehr nachkommen. Um diese Mitglieder nicht zu verlieren, wurden sie von der Organisationspflicht befreit. Nicht akzeptiert wurde
jedoch, diese Ausnahmeregelung auf bisherige KP-Mitglieder anzuwenden, die neu dem ATB beitreten wollten. Nach dem Verbot der
Kommunistischen Partei hatte die Sozialdemokratische Partei das lange angestrebte Ziel der Hegemonie in den Arbeiterorganisationen
erreicht, vorerst zumindest. Damit war aber die Unzufriedenheit in
der Arbeiterschaft über die Burgfriedenspolitk der Gewerkschaften
und der SP nicht beseitigt. Der ZV hatte sich mit einem Konflikt in
der Sektion Herzogenbuchsee zu befassen, nachdem sich der Präsident über den Vizepräsidenten und andere Vorstandsmitglieder beklagt hatte. Sie würden «ganz gewaltig kommunistische Propaganda» treiben und über die Verständigungspolitik der Sozialdemokratischen Partei schimpfen. Dabei sei auch das Wort «Bonzen» gefallen.
Aber selbst Zentralpräsident Iseli nahm keinen guten Eindruck vom
Parteitag der SPS, den er in Zürich als Vertreter des ATB besuchte,
mit nach Hause. Er sei äusserst langweilig verlaufen. Es fehle der
Partei einfach an Rasse. Es scheine im alten Trapp weiterzugehen.
Und für die versprochenen Bemühungen, Partei, Gewerkschaften und
Arbeiter-Sportverbände zu besserem Zusammenarbeiten zu bringen,
habe gar nichts herausgeschaut. Im Gegenteil: Zu jener Zeit wurden
die lokalen Arbeiterunionen, wo bis anhin die örtlichen Parteisektionen, Gewerkschaftssektionen und Sektionen der Arbeitersport- und
-kulturorganisationen gleichberechtigt vertreten waren und gemeinsam die Arbeitersekretariate trugen, aufgelöst. Es wurde offenbar als
zu riskant angesehen, wenn an den Arbeiterunionsversammlungen SPoder Gewerkschaftsdelegierte aus dem Munde eines klassenbewussten Vertreters einer Arbeitersport- oder -kulturorganisation Argumente vernommen hätten, die sich gegen die Verständigungspolitik der SPund Gewerkschaftsführungen mit dem Bürgertum richteten.
In so etwas wie Gewissensnot geriet der Zentralvorstand, als das
Migros-Unternehmen Hotelplan im «Arbeiter-Touring» 1941 einen
grossen Inseratauftrag platzieren wollte. Darin wurden den ATBMitgliedern günstige Ferienmöglichkeiten in 200 verschiedenen Hotels angeboten. So verlockend der Einstieg in den aufkommenden Sozialtourismus war, so schwierig war es für den Zentralvorstand, das
Angebot politisch auf die Reihe zu kriegen. Das Dilemma war umso
grösser, als der SRB für seine Mitglieder bereits eine Übereinkunft
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mit Hotelplan getroffen hatte. Konnte man dieses Angebot den Mitgliedern vorenthalten und zudem noch auf Inserateinnahmen verzichten, nur weil man «dem Duttweiler nicht Vorschub leisten» wollte?
Auf dieses Angebot dürfe man auf keinen Fall eintreten, hiess es im
Zentralvorstand, und die Sache müsse grundsätzlich betrachtet werden: «Wenn wir das Vorgehen des Duttweiler in Betracht ziehen, sollte für uns eigentlich die Frage entschieden sein!» Das sahen alle ZVMitglieder mehr oder weniger ähnlich. Nur der Inserateakquisiteur
hatte keine Freude an der Ablehnung, die ihn um einen fetten Auftrag
brachte. Man hoffte, dass dafür mit der kurze Zeit vorher gegründeten
Reisekasse ein Arrangement zu treffen sein könnte. Später beteiligte man sich am Reisebüro Popularis, des Verbandes Schweizerischer
Konsumvereine VSK, heute Coop Schweiz. Man verliess sich vielleicht
darauf, dass die Gewerkschaften über Ferienwerke verfügten und die
ATB-Mitglieder auf diesem Wege von günstigen touristischen Angeboten profitieren konnten.
Trotz Krieg schaffte es der ATB im Juli 1941, in Bern seinen
5. Bundesreigen- und Radballtag durchzuführen, an dem je 26 Reigenund Radballmannschaften teilnahmen. Da sie nicht in einer Hochburg
der Saalsportarten stattfand, wurde die Veranstaltung eine gelungene Demonstration sportlicher Leistungen vor der staunenden Berner
Bevölkerung. Zentralpräsident Iseli flocht den Mannschaften aus der
Ostschweiz ein besonderes Kränzchen, weil sie es sich trotz den grossen Bahnspesen und erschwerter Verpflegung (zu Zeiten der Rationierung) nicht nehmen liessen, am Berner Bundes-Reigen- und Radballtag ihr hohes sportliches Können zu zeigen.
Und nur einen Monat später gab es nochmals einen zentralen Anlass: Der ATB feierte, ebenfalls in Bern und in Verbindung mit einer Veteranentagung, sein 25-Jahr-Jubiläum. Im festlich geschmückten Volkshaussaal hielt Fritz Meier, Roggwil, der im ganzen Vierteljahrhundert im ATB wichtige Chargen bekleidet hatte, eine Jubiläumsansprache, in der er die Entwicklung der Organisation seit ihrer Verselbständigung im Jahre 1916 würdigte. Dem schloss sich der Auftritt
einer Reigenmannschaft an, die nur aus Veteranen bestand. In einem
zweiten Teil ging der Zentralpräsident auf die Entstehungsgeschichte des Arbeiter-Radfahrer-Bundes «Solidarität» bis zur Gründung des
schweizerischen Bundes ein, dem ein reger Gedankenaustausch der
versammelten 217 Bundesveteranen anschloss. Der legendäre Genosse Hager aus Wil, einer aus der Einwanderergeneration, die die Idee
der Arbeiter-Radfahrer einst aus Deutschland in die Schweiz gebracht
hatte, im ganzen Bund bekannt, nicht zuletzt wegen seiner Bundes-
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tagsvoten, und von allen nur liebe- wie respektvoll «Papa Hager» genannt, hatte an diesem Fest mit der Darbietung eines eigenen Gedichts nochmals einen Auftritt. In den Kriegsjahren mit der weitgehenden Lahmlegung des privaten Motorfahrzeugverkehrs hatte im
ATB das Fahrrad vorübergehend wieder seine ursprüngliche TotalDominanz zurückerobert. Die politische Lobby-Arbeit für das Velo ruhte aber weitgehend. Zwar begann der hartnäckige Kampf der Radfahrerverbände für den Bau von Radwegen langsam Früchte zu tragen,
und in mehreren Kantonen waren entsprechende Gesetze und Verordnungen unterwegs. Aber der Krieg rief nach anderen Prioritäten. Investitionen in die Infrastruktur wurden generell auf die Zeit nach dem
Krieg verschoben, um in der dann erwarteten Beschäftigungskrise Arbeitsbeschaffungsprojekte zu haben. Der Umstand, dass es auf den
Strassen fast keinen Motorfahrzeugverkehr mehr gab, hatte sich in
den Augen der ATB-Verkehrspolitiker negativ auf das Verhalten der
Strassenbenutzer ausgewirkt. Der Bezirksvorstand 3 ersuchte die Polizeidirektion des Kantons Zürich mit einer Eingabe, eine «Aktion zur
Hebung der Verkehrsdisziplin» zu unternehmen. Denn seit der Abnahme des Verkehrs der Motorfahrzeuge habe «eine gewaltige Disziplinlosigkeit in den Reihen aller Strassenbenützer eingesetzt».
Bemerkenswert ist, dass der ATB die Kriegsjahre trotz all den
Schwierigkeiten übers Ganze gesehen ohne grösseren Aderlass überstand. Wohl war zu Beginn des Krieges ein gewisser Einbruch in der
Mitgliederentwicklung zu verzeichnen. Es gab vereinzelte reine «Versicherungsmitglieder», die ihre Karte zurückgaben, weil sie ihr Motorfahrzeug nicht mehr benutzen konnten, oder bei einzelnen Velofahrern wurde etwa der Pneumangel als Grund angeführt. Zählte der ATB
Ende 1939 23 207 Mitglieder, sank die Zahl bis Ende 1940 auf 19 834.
Aber bereits Ende Juni 1941 erholte sie sich auf 20 811 Mitglieder in
344 Sektionen. Am Kriegsende waren es 21 259 Mitglieder. Dies ist
wohl vor allem das Verdienst von Zentralpräsident Ernst Iseli. Er war
es, der im Zentralvorstand vorausschauend dafür gesorgt hatte, dass
die Organisation auch in diesen Jahren voll betriebsfähig blieb und
keine kurzsichtigen Einsparungen bei den Leistungen vorgenommen
wurden.
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4. Nachkriegszeit: Mitgliedermässig auf dem
Höhepunkt
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die Mitgliederzahlen weiterhin aufwärts. 1950 erreichte er mit über 26 000
Mitgliedern in 350 Sektionen mitgliedermässig den Höhepunkt seiner Geschichte. Das Leben nach Kriegsende normalisierte sich nicht
in jeder Beziehung gleich. Als 1946 Velopneus noch immer nicht freigegeben waren, während der Gummi für Auto- und Motorradreifen
schon lange wieder verfügbar war, erhob sich lauter Protest in den
Sektionen und Bezirken. Es wurde gefordert, dem Bundestag eine Resolution wegen der Nichtfreigabe der Veloreifen vorzulegen. Davon
hielt der Zentralvorstand indessen gar nichts. Fakt war zwar, dass für
dringenden Bedarf noch immer an die 800 000 Veloreifen fehlten. Der
ZV schätzte nun aber die Lage so ein, dass im Falle einer Freigabe gewisse Leute die Pneus aufkaufen und damit spekulieren. Wegen des
Unterangebots würden die Preise nach oben geschraubt. «Der Leidtragende wäre wieder der Arbeiter», wird im Zentralvorstand festgestellt. Deshalb scheint es ihm klüger, nichts gegen die Rationierung
zu unternehmen, solange der Bedarf an Pneus nicht gedeckt ist. Umso
mehr als der Zentralvorstand vom «Gummiamt» die Zusicherung hatte, dass bei Bewilligungserteilungen Arbeiter von den Amtsstellen bevorzugt behandelt werden, damit sie ihr Fahrrad für den Arbeitsweg
zur Verfügung haben. Zwei Drittel der übrigen Gesuchsteller müssten
laut Amt abgewiesen werden.
4.1. Konflikt im Vorort
Gleich im ersten Nachkriegsjahr wurde das Leitungsgremium des ATB
von einer Krise heimgesucht, in deren Zentrum ein Konflikt zwischen
Zentralpräsident Ernst Iseli und Zentralsekretär Arnold Riesen stand.
Ausgangspunkt war die Wahl von Riesen zum Präsidenten der Vorortsektion Bern «Freiheit». Riesen präsidierte damit just jene Sektion,
die als Vorort den Zentralvorstand, also seine direkten Vorgesetzten,
zu wählen hatte. Der ZV, unterstützt von der GPK, bestand darauf,
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dass es für Angestellte nicht zulässig ist, ein solches Amt zu übernehmen, umso mehr als der Arbeitsvertrag einen entsprechenden Passus
enthielt. Man räumte Riesen jedoch eine Frist ein bis zur nächsten
Generalversammlung der Sektion, um das Amt wieder niederzulegen.
In der Sektion hatte man jedoch den Eindruck, dass Riesen wegen dieser Doppelfunktion von höchster Stelle bedrängt wird und verlangte
eine Aussprache mit dem ZV im Beisein des Bezirksvorstandes. Die
Aktien des Zentralpräsidenten standen zu dieser Zeit in seiner eigenen Sektion nicht besonders hoch. Man nahm ihm übel, dass er eine
Bewerbung der Sektion für die Organisation eines Bundestages nicht
unterstützt hatte. Der Zuschlag ging an Unterseen. Iseli hatte gute
Argumente für sein Verhalten. Er fand es aus Prinzip nicht gut, dass
die Vorortssektion einen Bundestag ausrichtet. Wenn schon in Bern,
hätte dies seiner Meinung nach das Radfahrerkartell als Zusammenschluss aller örtlichen Sektionen übernehmen müssen. Ein Ausspruch
Riesens an die Adresse von Iseli, man werde bei Gelegenheit an seine Haltung bei der Vergabe des Bundestages denken, fasste der Zentralpräsident als Drohung auf, und er vermutete gar ein Kesseltreiben gegen ihn in seiner Sektion, was von den Vertretern von Bern
«Freiheit» energisch in Abrede gestellt wurde. Nun hatte der Zentralpräsident aber Riesen schon länger in Verdacht, regelmässig Interna
des ZV nach aussen zu tragen und die Zentralvorstandsmitglieder bei
den Sektions- und Bezirksfunktionären im Land herum schlecht zu
machen. Der Verdacht schien sich durch einen Zufall zu erhärten. Ein
Brief Riesens an ein Mitglied kam wegen Unzustellbarkeit in Abwesenheit des Verfassers aufs Sekretariat zurück. Riesens Sekretärkollege Heinrich Madliger, der den Brief öffnete, erkannte die Brisanz des
Briefinhalts und legte das Schreiben in den Giftschrank, sprich seinen
Kassentresor. Erst jetzt, 8 Jahre später, nachdem die Sache eskalierte,
nahm er das Schreiben, in dem ZV-Mitglieder angeschwärzt werden,
wieder hervor. Der Fall nahm mehrere ausgedehnte Sitzungen in Anspruch. Sie endeten damit, dass Riesens Anstellung ins Provisorium
versetzt wurde. Ein Jahr später, 1947, endete sein Anstellungsverhältnis. Als Quintessenz aus dem Fall wurde später die Vororts-Funktion
dem Arbeiter-Radfahrerkartell Bern anstelle der Sektion Bern «Freiheit» übertragen.
4.2. Soziale Kämpfe in der Nachkriegszeit
Die ersten Nachkriegsjahre waren politisch eine bewegte Zeit. Die
Niederringung des Faschismus durch die Alliierten, wobei die Rote
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Kunstradfahrer-Paar der ATB-Sektion Freie Radfahrer Wetzikon an
einem Bezirksfest in Netstal
Armee den wesentlichen Anteil daran hatte und weitaus die grössten
Opfer brachte, gaben der sozialistischen Linken Auftrieb und weckten in den Massen Hoffnungen auf eine Verbesserung der sozialen Lage. Das machte sich in den Jahren bis 1950 unter anderem mit einer
Zunahme von Arbeitskämpfen bemerkbar. Wenn im Protokoll des ATBZentralvorstandes 1946 zu lesen ist, dass aus der Sektion Wetzikon eine Anzahl Unterstützungsgesuche vorliegen, denn «unsere Mitglieder
stehen dort im Streik und leiden naturgemäss unter dem Lohnausfall»,
passt das gut. Das war auch die Zeit, wo sich zum Beispiel die vorher schlecht entlöhnten Belegschaften der chemischen Industrie zu
einer der bestbezahlten Branchen vorkämpften. Der Beitritt des ATB
zur Gesellschaft Schweiz–Sowjetunion ist wohl auch Ausdruck dieser
Stimmung. Ebenso schlug sich der soziale Aufbruch in der schweizerischen Parteienlandschaft nieder. Noch während des Krieges, 1944,
wurde die Partei der Arbeit (PdA) gegründet, von ehemaligen Mitgliedern der 1940 verbotenen Kommunistischen Partei sowie von Sozialdemokraten, die mit der Burgfriedenspolitik ihrer Partei unzufrieden
waren. Die PdA begann rasch Boden in den Gewerkschaften zu finden,
vermochte zudem viele Kulturschaffende in ihren Bann zu ziehen. Sie
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wuchs in kurzer Zeit auf 20 000 Mitglieder an, erzielte bei Wahlen
in die Parlamente vieler Kantone und Städte sensationelle Resultate, überholte zum Teil die Sozialdemokraten. 1947 zog sie auf einen
Schlag mit 7 Nationalräten in die grosse Kammer ein. Diese Erfolge
der PdA liessen plötzlich ganz viel möglich werden, zum Beispiel die
Einführung der AHV mit einer einmalig sozialen Ausgestaltung; nie
mehr war dies später bei einer andern Sozialversicherung so möglich.
Diese Veränderungen wirkten sich auch auf die parteipolitischen Beziehungen des ATB aus, da es jetzt wieder zwei linke Parteien gab.
Ab 1946 wurde neben der SP auch die PdA offiziell zu den Bundestagen eingeladen und den Vertretern beider Parteien Redezeit für ein
Grusswort eingeräumt. Der Zentralvorstand achtete wieder – wie das
vor dem Verbot der KPS der Fall war – auf strikte Parität zu den beiden Linksparteien. Die Nichtaufnahme von Wahlaufrufen der SP im
«Arbeiter-Touring» wurden mit dieser Paritätspflicht begründet.
4.3. Neue alte Kontakte über die Grenzen
Schon bald nach Einkehr der Friedenszeit versuchten vor allem Sektionen nahe der Landesgrenze, alte Kontakte ins benachbarte Ausland, die durch den Krieg unterbrochen waren, wieder aufleben zu
lassen. Die Sektion Kreuzlingen konnte an ihrer Generalversammlung Genossen der Konstanzer Arbeiter-Radfahrer begrüssen. Der
Konstanzer Genosse Harder befand in seinem Grusswort, angesichts
der Kriegsverschonung der Schweiz hätte er erwartet, dass die Sektion Kreuzlingen mitgliedermässig besser dastünde. Der ATB Kreuzlingen organisierte eine Sammelaktion, die über den ganzen Thurgau
ausgedehnt wurde, zugunsten des Konstanzer Genossen Grosshans.
Die Sammlung sollte ihm, dessen Gesundheit nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Konzentrationslager ruiniert war, einen zweimonatigen Kuraufenthalt in der Schweiz ermöglichen. Aber auch sportliche
Begegnungen über die Grenze wurden wieder angebahnt, wobei es
in den ersten Jahren überwiegend um Besuche in der Schweiz ging,
da bei den kriegsversehrten Nachbarn die Infrastruktur noch fehlte und oft auch das Gerät. Vor allem Emil Stump, der Präsident des
Ostschweizer Bezirks 1, war eifrig bestrebt, frühere Kontakte in die
vorarlbergische Nachbarschaft, wieder aufzunehmen. Die Genossen
der österreichischen Arbeiter-Radfahrer, deren Sektionen sich nach
den langen 13 Jahren des schwarzen und braunen Faschismus wieder formierten, wurden zu Bezirksausfahrten oder zur Teilnahme an
Bezirksfesten eingeladen. 1946 nahmen 48 Bregenzer Radfahrer an
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einer Bezirksausfahrt teil, und zum Bezirkstag im gleichen Jahr konnten gar 84 Gäste aus Vorarlberg begrüsst werden. Dabei waren für
diese Kontakte hohe Hürden zu überwinden. Für die österreichischen
Teilnehmer am Bezirkstag musste der Bezirk 1 (d. h. wahrscheinlich
Stump und andere Genossen persönlich) eine Bürgschaft für 10 000
Franken unterschreiben, damit die Österreicher überhaupt einreisen
durften. Stump schrieb dem Zentralvorstand, das sei ein unhaltbarer
Zustand und es sollte bei den Behörden auf Bundesebene endlich etwas dagegen unternommen werden. Der Zentralvorstand nahm dies
zur Kenntnis mit einem Kommentar von Zentralpräsident Iseli: Da die
84 Personen ja wohl «bei unsern Genossen übernachten mussten»
sorgte er sich, «ob ihnen das mit der Zeit nicht zuviel wird?» Die
doch ziemlich reservierte Haltung des Zentralvorstandes gegenüber
Auslandkontakten bekam auch der Vorstand des Bezirks 2 zu spüren,
als er zur Radballmeisterschaft Gastsektionen aus dem Ausland einladen wollte und den ZV bat, ihm bei der Kontaktnahme zu helfen.
Der ZV antwortete, dafür sei es noch zu früh, und: «Wenn wir solche
Sektionen einladen, wollen wir doch wissen, mit wem wir es zu tun haben.» Trotz der diesbezüglichen Funkstille aus Bern liessen sich die
Ostschweizer nicht beirren. An der Radball-Meisterschaft in St. Gallen wurden Länderspiele ins Programm aufgenommen. Ernst Kobler,
13-maliger Bundesmeister im Radball und langjähriges Mitglied der
Sportkommission aus St. Gallen, erinnert sich, dass kurz nach dem
Krieg die Arbö-Sektion Bregenz-Vorkloster nach Goldach eingeladen
wurde. Dort wurde auf einem Schulhausplatz ein Velo-Zubehör-Markt
aufgezogen, der bei den vorarlbergischen Gästen aufgrund des Mangels in der dortigen Nachkriegswirtschaft überwältigenden Anklang
fand. Der Anlass war für diese Arbeiter-Radfahrer-Sektion ein enormer Werbeerfolg. Sie konnte damit 150 neue Mitglieder werben.
4.4. Die Basis geht im Internationalismus voran
Die Zurückhaltung des Zentralvorstands gegenüber Auslandskontakten, zumal ins ehemalige Reichsgebiet, betraf nicht nur die Kontakte
der Basisgliederungen. Die bald nach Friedensschluss aus Sektionen
und Bezirken an den ZV gelangende Forderung nach Beitritt zu einer neuen Arbeitersport-Internationalen trafen vor allem beim Zentralpräsidenten nicht auf Enthusiasmus. Dazu seien «die Verhältnisse
im ausländischen Arbeitersport noch sehr unklar». Es bestehe auch
kaum eine Möglichkeit, mit ausländischen Genossen in Verbindung
treten zu können; an den meisten Orten könne man zudem noch gar
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keinen richtigen Sport treiben. Dem wird von Basismitgliedern entgegengehalten, dass es deshalb umso wichtiger sei, die Genossen im
Ausland beim Neuaufbau zu unterstützen.
Emil Stump ergriff auch in dieser Hinsicht die Initiative, als er bei
seinen Kontakten nach Vorarlberg vernahm, dass in Österreich der
Arbeiter-Radfahrer-Bund wieder in Gründung begriffen ist und bereits wieder 7000 Mitglieder zähle. Er drängte den ZV, beim Aufbau
des wiedergegründeten österreichischen Bundes tatkräftig zu helfen.
Er stellte sich unter anderem vor, dass den Österreichern eine Anzahl Handbücher gratis überlassen werden könnten. Ausserdem sollte sich der Zentralvorstand nach Meinung von Stump unbedingt an
einem in Wien anberaumten Bundestreffen vertreten lassen. «Die Kosten sollten in einem solche Falle keine Rolle spielen», meinte er, und
verhungern werde man sicher auch während der paar Tage in Wien
nicht. Der ZV ist auf diese Intervention hin bereit, den Vorarlberger
Genossen 3 Handbücher zu schenken. Sie mussten allerdings von Emil
Stump eigenhändig über die Grenze geschafft werden, weil zu jener
Zeit nur Briefe mit höchstens 30 Gramm Gewicht über die Grenze spediert wurden. Von einer Teilnahme an der Tagung in Wien wollte der
Zentralvorstand dagegen auch nach erneuter brieflicher Intervention
von Emil Stump nichts wissen. Dieser beschloss darum kurzerhand,
selbst und auf eigene Rechnung nach Wien zu fahren, was jedoch
wegen eines Spitalaufenthalts ins Wasser fiel. Stump konnte aber
noch veranlassen, dass ein Vertreter der Kinderfreunde, die ebenfalls
am Wiederanbahnen von Kontakten zu ihren österreichischen Genossen waren und der sich zu diesem Zwecke gerade in Wien aufhielt,
stellvertretend Grüsse der schweizerischen Arbeiter-Radfahrer überbrachte. Inzwischen hatte die Initiative Stumps dazu geführt, dass
an der schweizerisch-österreichischen Grenze noch 1946 bereits 5
Grenzübergänge für zollfreien Übertritt für Fahrräder definiert wurden. Sie funktionierten wegen willkürlicher Anordnungen der französischen Besatzungsbehörden allerdings schlecht.
4.5. Neue Kontakte auch ins Elsass
Eine Initiative grenzüberschreitender Solidarität an der französischen Grenze hatte der Zentralvorstand etwas bereitwilliger aufgenommen als dies im Osten der Fall war. Die wiederentstandene
Arbeiter-Velosektion St-Louis vor den Toren Basels gelangte im ersten
Nachkriegsjahr an den Bezirk 4 mit der Bitte um Hilfe beim Wiederaufbau. Es mangelte ihnen vor allem an Saalmaschinen. Der Bezirk
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leitete das Hilfeersuchen an den Zentralvorstand weiter, der darauf
schweizweit eine Sammelaktion unter dem Titel «Elsässer-Hilfe» in
die Wege leitete. Die Sammlung ergab in den Sektionen um die 2100
Franken, die noch um 300 Franken aus der Zentralkasse aufgestockt
wurden. Da das Geld der Gesamtheit der Elsässer Arbeiter-Radfahrer
und nicht nur den Genossen von St-Louis zugutekommen sollte, eine Organisation als Ansprechpartner jedoch noch fehlte, legte der
Zentralvorstand die Spendengelder vorerst auf einem Bankbüchlein
an. Als nun die Arbeiter-Velosektion St-Louis erfuhr, dass auf einem
Schweizer Bankbüchlein für das Elsass bestimmte Sammelgelder auf
die Verteilung warten, wandten sie sich wiederum an die Basler Genossen. Sie wurden aber enttäuscht, weil der ZV die Spendengelder erst
auszahlen wollte, wenn im Elsass ein neuer Bund gegründet ist, der
für eine gerechte Verteilung sorgen sollte. Die Arbeiter-Radfahrer von
St-Louis stellten dem ZV trotzdem ein Gesuch. Die Sektion sei, schreiben sie, im Grossen und Ganzen wieder beisammen, auch die Radballer. Aber die Reigenfahrer könnten nichts unternehmen, weil sie
keine Maschinen haben. Da sie nun Gelegenheit hätten, 8 gebrauchte
Saalmaschinen zum Preis von 1500 Schweizerfranken zu erwerben,
ersuchen sie, dass man ihnen 1000 Franken aus dem Spendengeld
überlässt und ein Darlehen von 500 Franken gibt. Letzteres könnten
sie zurück erstatten, sobald ihnen eine Kriegsschadenentschädigung
ausbezahlt wird, auf die sie wegen der seinerzeitigen Beschlagnahme
ihrer Räder durch die deutschen Besatzer Anspruch hätten. Der ZV
sieht sich indessen nicht berechtigt, die treuhänderisch verwalteten
Spendengelder in diesem Umfang einer einzigen Sektion zu übergeben. Die Genossen von St-Louis mussten sich schliesslich mit 400
Franken aus dem Spendentopf zufriedengeben.
4.6. Unnachgiebigkeit in der Lizenzpolitik
Schon bald nach dem Weltkrieg wurde eine Bodensee-Meisterschaft
der Arbeiter-Saalsportler aufgezogen. Angefangen hatte es mit den
Sektionen im direkten Bodensee-Umkreis. Mit der Zeit wurde die Beteiligung aber weiter ausgedehnt bis Ravensburg und Villingen. Den
ATB-Saalsportlern war es aus Lizenzgründen verwehrt, als Gastsektionen an Arbö-Konkurrenzen teilzunehmen. Der Arbö hatte weniger
Berührungsängste mit dem bürgerlichen Verband und daher schon
seit langem mit einem Lizenzabkommen dafür gesorgt, dass ihren
Saalsportlern eine Teilnahme an verbandsübergreifenden und internationalen Treffen möglich war. Der Arbö war dadurch verpflichtet,
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an seinen Konkurrenzen nur Fahrer mit der Lizenz des internationalen Verbandes antreten zu lassen. Über eine solche verfügten die ATBSportler jedoch nicht. Der Saalsportbeauftragte Svoboda des ArbeiterRadfahrer-Bundes Österreichs (Arbö) wandte sich daher 1949 an das
ATB-Zentralsekretariat, es möge doch für einige ATB-Sportler aus
dem Bezirk 1, die an einem Arbö-Turnier teilnehmen möchten, eine
Lizenz des SRB besorgen. Im Antwortschreiben des Zentralsekretariates an Svoboda wird mit überheblich wirkendem Unterton darauf
aufmerksam gemacht, «dass der ATB, sehr im Gegensatz zu unserem
österreichischen Bruderverband, keine Beziehungen zu bürgerlichen
Sportverbänden unterhält und damit auch nicht an den SRB gelangen
kann». Der ATB pflege «den guten Radsport» und widme ein Hauptaugenmerk der «anständigen Verkehrserziehung». Der Brief schliesst
mit: «Wir bedauern, dem Begehren um Einholung einer Lizenz beim
SRB nicht nachkommen zu können und senden Dir unsere besten Bundesgrüsse...».
4.7. Die Organisationspflicht wird relativiert
Am Bundestag von 1950 in Thun stand wieder einmal die Anpassung
von Artikel 2 der Statuten, der die Organisationspflicht regelt, auf der
Tagesordnung. Doch, während bisher Anträge zur Abschaffung des Organisationszwanges stets von Sektionen oder Bezirken kamen, war es
diesmal der Zentralvorstand selbst, der die Änderung vorschlug. Die
bisherige Formulierung, ATB-Mitglieder «müssen sich über ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, die auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes steht, oder zu einer Gewerkschaft ausweisen»
sollte gemäss Antrag ersetzt werden durch einen vergleichsweise
schwammigen und unverbindlichen Artikel, der von ATB-Mitgliedern
lediglich noch verlangt, dass sie sich «über ihre Zugehörigkeit zur
modernen Arbeiterbewegung» ausweisen müssen.
Warum nun dieser plötzliche Gesinnungswandel des Zentralvorstands, der bisher – allen voran Zentralpräsident Iseli – die Organisationspflicht gegen alle Kritik durch alle Böden hindurch verteidigt
hatte? Über die Gründe gibt ein Votum aus der Romandie Aufschluss.
In Lausanne hatte sich eine Bezirkskonferenz sowohl gegen die Statutenänderung als auch gegen die Teilhabe am militärischen Vorunterricht ausgesprochen. Offensichtlich bestand da ein Zusammenhang.
In beiden welschen Bezirken verstand man nicht, weshalb jahrzehntelang immer an diesem Statutenartikel mit dem Organisationszwang
festgehalten wurde, und nun «wegen einer kleinen Subvention des Mi-
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litärdepartements» nachgegeben werde. Es stelle sich die Frage: Sind
wir gegen oder für das Militär? Mit der Statutenänderung werde dem
Eidgenössischen Militärdepartement der kleine Finger gegeben, und
bald werde das EMD die ganze Hand wollen. Und das für jährlich gerade mal 4000 Franken. Da kommt man der Sache auf die Spur: Das
Militärdepartement hatte die Änderung der Statuten offenbar zur Bedingung für eine Subventionszahlung gemacht. Der Giftzahn, der da
gezogen werden musste, hiess «proletarischer Klassenkampf». Zentralpräsident Iseli machte den Bundestagsdelegierten das Vorhaben
mit dem Hinweis schmackhaft, dass dieses zweckgebundene Geld ermögliche, der Jugend endlich angemessene Mittel zukommen zu lassen. Dem gleichen Zweck diente der ebenfalls beantragte Beitritt zum
Schweizerischen Landesverband für Leibesübungen (SLL). Das zieht
einen Anspruch auf Toto-Gelder nach sich. Für dieses Ziel, so der
Zentralpräsident, «können wir schon eine Geste tun». Keine zehn Jahre, nachdem man sich im Zentralvorstand darüber ausgelassen hatte,
dass am Satus-Verbandstag ein hoher Offizier mit am Tisch sass und
sogar zu den Delegierten sprach, holte der ATB diesen Schritt nach.
Und bald wurde auch zu den Bundestagen des ATB ein Vertreter des
EMD eingeladen.
4.8. Motorisierung beeinflusst den Sport der Nachkriegszeit
Mit der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzenden Massenmotorisierung und den entsprechenden verkehrsmässigen Auswirkungen wurde es immer schwieriger, mit grossen Gruppen von Radfahrern auf die Strasse zu gehen. Ein Radwegnetz war damals, obwohl
schon in der Zwischenkriegszeit vom ATB und anderen Radfahrerverbänden gefordert, weitgehend inexistent. Auch Arbeiter konnten
sich zunehmend ein Motorrad oder sogar einen kleinen Wagen leisten. Das Fahrrad als Alltagsvehikel wurde zum Teil durch die ab den
50er Jahren boomenden Kleinmotorräder, die sogenannten Mopeds,
abgelöst. Gemeinsame Ausfahrten wurden jetzt schwierig. Im besseren Fall wurde ein Treffpunkt festgelegt, den man mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ansteuerte und dann dort wenigstens noch ein
paar gemeinsame Stunden verbrachte. Das alles bedeutete auf jeden
Fall das Ende des Sektionswettkampfs auf Tourenrädern, der eigentlich als die klassische Breitensportart der Arbeiter-Radfahrer gelten
konnte. Als Ersatz wurde das Gelände- und Orientierungsfahren eingeführt. Die Region Zürich und das Berner Oberland waren Hochburgen
der neuen Sportart.
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Insbesondere in der Ostschweiz nahm dafür der Saalradsport Aufschwung. Anfang der 50er Jahre gab es im Kunstradfahren Reglementsänderungen. Viele neue Bilder wurden eingeführt, z. B. der
Handstand im Duett. Neu gab es im Reigen auch eine Höchstklasse. Im Einradkunstreigen, Steigerreigen, Steuerrohrreigen und Einradreigen gab es eine Aufwärtsentwicklung, während die NiederradKategorien Einführungsreigen, leichter und schwerer Kunstreigen
stagnierten. Mit dem neuen schwarzen Handbuch für Kunstfahren
gab es ab 1956 zusätzliche Kategorien: Solo Jugend, Duett Jugend,
Solo Damen, Duett Damen, Jugendreigen. Im Nachwuchsbereich wurden gute Fortschritte verzeichnet.
In der Nachkriegszeit war der Beitritt zum Schweizerischen Verband für Leibesübungen (SLL) ein Thema. Der Zentralvorstand zeigte anfänglich keine Lust, dem SLL mit dem ganzen Bund beizutreten,
stellte es jedoch den Bezirken frei, sich kantonalen Dachverbänden
anzuschliessen. Als 1946 der ostschweizerische Bezirk 1 den Antrag
auf Beitritt zum SLL stellte, meinte Zentralpräsident Iseli: «Einige Artikel der SLL-Statuten sind nicht nach unserem Geschmack.» Der Beitritt zum SLL wurde, wie weiter oben beschrieben, erst Anfang der
50er Jahre vollzogen, nachdem mit der Statutenänderung am Thuner
Bundestag der Weg dazu geebnet worden war.
Der sportlich aktive Ostschweizer Bezirk 1 hatte 1946 den Antrag
gestellt, den Technischen Ausschuss des Bundes (TAdB) nicht mehr einem Vorort anzuvertrauen, sondern überregional aus Fachvertretern
zusammenzusetzen. Man einigte sich in der Folge auf einen Gegenvorschlag des Zentralvorstandes, der Basel im Prinzip den Vorort für
den TA belässt. Seine 5 bis 7 örtlichen, öfters tagenden Mitglieder
sind vor allem für das Organisatorische zuständig. Für die fachlichen
Belange wird der TA erweitert um je 1 Reigenfahrer, 1 Kunstfahrer, 2
Radballer, 1 Vertreter für Geländefahren, 1 Motorfahrer sowie 1 Vertreter der Romandie. In der erweiterten Form tagt das Gremium 2-mal
jährlich oder nach Bedarf. Der Vorort für den Technischen Ausschuss
blieb noch bis 1964 in Basel, weiterhin unter der Leitung von Johann
Baumann und nach dessen Rücktritt 1954 von Edwin Schönholzer.
4.9. ATB-Sektionen im Radfahrerbewusstsein gefangen
Im Motorsport zogen die Aktivitäten nach 1945 allmählich wieder an.
Die Motorfahrerkommission des Bundes (MKdB) beschloss 1946 in
Zürich, vorerst nur dezentrale Sternfahrten durchzuführen, «da doch
noch zu wenig Genossen mit dem Motorrad fahren». Grosse gesamt-
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schweizerische Sternfahrten, wie sie vor dem Krieg alljährlich durchgeführt wurden, lagen ohnehin nicht mehr im Zuge der Zeit. Im Motorsport traten jetzt Geländefahren für Motorfahrer und Geschicklichkeitsfahren in den Vordergrund.
Eine vorrangige Aufgabe der MKdB war die Agitation bei den Motorfahrern. Die Zunahme der Motorfahrzeuge sollte sich in den Mitgliederzahlen des ATB niederschlagen, wie man hoffte. Im Frühjahr
1954 wurde eine Inseratekampagne gestartet. In 8 bekannten Schweizer Tageszeitungen wurden je 2 Grossinserate platziert. Die Aktion
wurde mit ansprechenden Flugblättern flankiert, die den Sektionen
zur Verfügung gestellt wurden. 1955 lancierte man eine Agitationsprämie, um den rührigen Sektionen ihre Werbeaufwendungen zu entschädigen. «Einen wesentlichen Teil des Aufschwungs der Sparte Motorfahrer im ATB in dieser Berichtsperiode darf deshalb auf dieses
Konto gebucht werden», heisst es im Tätigkeitsbericht der Kommission. Nicht zufrieden war man damit, dass in der Berichtsperiode nur 4
Auto- und Motorfahrer-Sektionen (AMS) gegründet werden konnten.
Dabei wäre es ein Ziel der Kampagne gewesen, eine dichtere Streuung von AMS zu erreichen. Solche gab es bisher fast nur in den Städten. Auf dem Land gehen Arbeiter, die ein Motorrad anschaffen, häufig zu einem bürgerlichen Markenclub, der ihnen vom Händler empfohlen wird. So die Einschätzung der Motorfahrerkommission. Diese
Clubs böten ihren Mitgliedern nichts für ihre hohen Beiträge. Solange
der ATB auf dem Land nur mit Radfahrersektionen vertreten ist, sei
es schwierig Neu-Motorfahrer für den ATB zu werben. Da diese den
Sprung zur Motorisierung geschafft haben, wollten sie nicht einer reinen Radfahrersektion beitreten.
Das Verhältnis zwischen den Radfahrer- und Motorfahrersektionen
war 1956 Gegenstand einer Präsidentenkonferenz. Die Motorfahrerkommission wünschte sich mehr Unterstützung der Radfahrersektionen bei der Gründung von AM-Sektionen am Ort. Viele ATB-Sektionen,
die sich an sich als Radfahrersektionen verstehen, hätten 30 bis 40
Motorfahrer in ihren Reihen. «Es sollte möglich sein, aus diesen Untergruppen neue AMS zu gründen, ohne dass die Radfahrersektion
darunter leidet», hiess es von Motorfahrerseite. Leider gebe es Bezirksvorstände, die gegen die Neugründung von AM-Sektionen in ihrem Gebiet sind. Dabei gehe es doch darum, Jugendmitglieder beim
ATB zu behalten, wenn sie ein Motorrad anschaffen. 310 Radfahrersektionen gegenüber 40 AM-Sektionen sei ein schlechtes Verhältnis.
Ein Bezirkspräsident hielt den Motorfahrern dagegen vor, es seien
immer die gleichen Sektionen, die an den Bezirkstagen durch Abwe-
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senheit glänzen: die AMS. Dem wird gekontert, es sei schwierig in
den AMS Delegierte für Bezirkstage zu finden. Es heisse meistens:
«Da werden sowieso nur Radfahrerprobleme behandelt.» Ein vielerorts tief eingegrabenes Radfahrer-Bewusstsein erschwerte es dem
ATB zusätzlich, sich als Verkehrsverband zu profilieren, der ebenso
für Motor- wie für Radfahrer da ist.
4.10. Die Ära Iseli geht zu Ende
Der Zentralvorstand war alarmiert, als 1957 der Vorstand des Arbeiter-Radfahrer-Kartells Bern zu einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung mit dem einzigen Traktandum «Auflösung des Kartells» einlud. Arbeiter-Radfahrerkartelle fassten die verschiedenen
ATB-Sektionen eines Stadtgebiets zusammen; in Bern waren das 13
Sektionen. Die Kartelle hatten eine wichtige Funktion bei besonderen
Aufgaben, welche die Kräfte einer einzelnen Sektion überstiegen, z. B.
bei der Organisation eines Bundesfestes. Früher waren die Kartelle
auch stark in der Wahlagitation engagiert. Beim Arbeiter-RadfahrerKartell Bern kam noch eine Aufgabe dazu: Es war Vorort des Bundes,
seit diese Funktion von der Sektion Bern «Freiheit» auf das Kartell
übertragen wurde. Der Kartellvorstand hatte seine Hauruck-Übung
mit sinkendem Interesse der Sektionen begründet. Der Zentralvorstand sah sich veranlasst, an dieser Versammlung zu intervenieren,
ging es doch um den Fortbestand seines eigenen Wahlgremiums. ZVMitglied Hohl hob die Wichtigkeit des Kartells hervor, da es den Bezirksvorstand entlaste und im nächsten Jahr gebraucht werde, wenn
Bern «hoffentlich wieder» zum Vorort des Bundes gewählt werde. Diese Äusserung gibt einen Hinweis darauf, dass das Vororts-Prinzip im
Land herum nicht mehr unumstritten war. Die Konzentration der Verbandsleitung im Berner Vorort scheint angefochten gewesen zu sein.
Woher der Wind nach Veränderung unter anderem wehte, deutet der
folgende Ausspruch Hohls an: «Eine Auflösung des Kartells wäre eine
riesige Blamage gegenüber den Ostschweizern.»
Der Auflösungsantrag fand keine Mehrheit. Im Jahr darauf wurde
das Arbeiter-Radfahrerkartell Bern vom Bundestag erneut zum Vorort bestimmt. Iseli kündigte aber bei dieser Wahl seinen Rücktritt als
Zentralpräsident an. Wollten die Berner also den Vorort nach dem Abgang Iselis behalten, war es wichtig, rechtzeitig eine valable Nachfolge im Amt des Zentralpräsidenten präsentieren zu können. Im Sommer 1959 bereitete sich eine Kartelldelegiertenversammlung auf die
Verteidigung der Vorortsstellung vor. «Der Vorort muss in Bern blei-
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ben» war der Tenor der Versammlung, wenn es auch Redner gab, die
weniger am Vorort hingen, hingegen fanden, wichtig sei, dass die Geschäftsstelle in Bern bleibt. Die Versammlung bekundete allerdings
Mühe, einen Zentralpräsidenten zu nominieren. Klar war, dass man jemand brauche, der den ATB kennt, nicht «irgendeinen Dr. jur.» oder einen Politiker, von dem man nur für dessen eigene Zwecke missbraucht
werde. Bezirkspräsident Zurbuchen, den man gerne vorgeschlagen
hätte, winkte ab.
Und am Bundestag 1960 in Genf kam auch wirklich das Ende des
Vororts Bern. Das Vorortsprinzip für die Verbandsleitung wurde aufgehoben und die Wahl des Zentralpräsidenten durch den Bundestag beschlossen. Der Zentralvorstand wurde neu zusammengesetzt, indem
nun jeder Bezirk darin vertreten war. Er trat nur noch zweimal im Jahr
zusammen und hatte sich nicht mehr mit Tagesgeschäften zu befassen.
Diese nahm neu eine Geschäftsleitung wahr.
Damit hatte die über 40 Jahre währende Ära des Berner Vororts ein
Ende. Sie war eindeutig von der Person Ernst Iselis geprägt, einem
Mann, der kein politisches Amt ausübte, aber unweigerlich ein Homo
politicus war, der sich nicht scheute, sich auf dem bundespolitischen
Parkett zu bewegen, wenn es galt, Interessen der Arbeiter-Radfahrer
zu vertreten. Er tat dies nicht nur mit grossem Geschick, sondern
auch mit einer Cleverness sondergleichen. Mit seinem Rücktritt trat
er mitnichten von der Bühne ab, wie wir im weiteren Verlauf der Geschichte noch sehen werden. Iselis Platz nahm nach dem Bundestag
mit Max Kistler tatsächlich ein Politiker und «Dr. iur.» ein, wie es anscheinend schon an der Berner Kartelldelegiertenversammlung 1959
wie ein Menetekel an der Wand gestanden hat. Zur Zeit seiner Wahl gehörte Kistler als Luzerner SP-Volksvertreter dem Nationalrat an. Ein
Nationalrat an der Spitze des ATB, das war nun das neue «Format» für
das Präsidium, das für mehr als 30 Jahre Gültigkeit haben sollte. Welche Auswirkungen die Sozialdemokratisierung der Führung auf die
Verbandspolitik hatte, versuchen wir in den folgenden Kapiteln aufzuzeigen. Auf eine auffallende äusserliche Konsequenz dieses Wechsels
soll gleich mal vornweg hingewiesen werden. In den Protokollen ist
ab diesem Zeitpunkt das Wort «Genosse» ganz plötzlich verschwunden, sei es in der dritten Person oder in der direkten Anrede. Von nun
an wird nur von und zu «Kollegen» gesprochen.
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Ein sogenanntes Einkehrschild am Eingang von Gastwirtschaften
hat den ATB-Mitgliedern auf ihren Ausfahrten signalisiert, dass sie
hier willkommen sind. Das Schild wurde den Gastwirten von der
Geschäftsstelle des ATB für eine jährliche Abgabe von 20 Franken abgegeben. 1950 war das Schild gemäss Abrechnungsliste landesweit
an 325 Wirtschaften befestigt.
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5. Jahre der Identitätssuche
Die nächsten gut 30 Jahre mit SP-Nationalräten an der Spitze des Verbandes waren ein ständiges Suchen nach einer Identität, die sowohl
der Traditon der Arbeiterbewegung als auch dem gesellschaftlichen
Wandel gerecht werden könnte. Der Begriff «Arbeiter» im Namen ist
immer weniger ein Werbeargument. Nach 1950 begann das Klassenbewusstsein in der Arbeiterschaft zusehends zu schwinden. Zum einen war dies das Resultat einer Entmobilisierung der Arbeiterschaft
durch die schon seit den 20er Jahren verfolgte Politik der Gewerkschaftsführungen, den Klassenkampf durch die reformistische Ideologie der sogenannten Sozialpartnerschaft zu ersetzen. Veränderungen
der Arbeitsbedingungen wurden in der einsetzenden Hochkonjunktur
selten mehr durch Arbeitskämpfe entschieden, sondern von Gewerkschaftsbürokratien stellvertretend an Verhandlungstischen mit den
Arbeitgebern geregelt. Ausserdem kam es zu einer Umschichtung von
Arbeitsplätzen aus dem industriellen Wirtschaftssektor in den Dienstleistungssektor. Viele bisherige Arbeiter wurden «Angestellte» und
empfanden dies als sozialen Aufstieg. Viele der verbleibenden Arbeitsplätze in der Industrie wurden von Immigranten aus dem grossen Zustrom ausländischer Arbeitskräfte eingenommen. Ein Merkmal dieser
ständigen Identitätssuche im ATB waren wiederholte Strukturanpassungen in den nächsten 30 Jahren, immer einhergehend mit Versuchen, dem Verband einen neuen Namen zu geben, der nicht mehr auf
die soziologische Zugehörigkeit seiner Mitglieder Bezug nimmt, sondern auf ihre gemeinsamen Interessen als Verkehrsteilnehmer und
Radsportler.
5.1. Grosse Strukturreform nach dem Präsidentenwechsel
Gleichzeitig mit der Wahl des neuen Präsidenten wurden durch die
Neuaufstellung des Zentralvorstands sowie die Einsetzung einer Geschäftsleitung Weichen für zukünftige Strukturen gestellt. Dabei sollte es nicht bleiben. Die Geschäftsleitung unter Max Kistler bereitete
für den nächsten Bundestag im Jahre 1962 eine Statutenrevision vor.
Diese trug schon formal die Handschrift des Juristen Kistler. Viele Dop-
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pelspurigkeiten, die in den Bundesstatuten und den zahlreichen Reglementen vorkamen, wurden ausgemerzt. Die Statuten regelten nur
noch Grundlegendes; alles, was nicht grundsätzlich war, wurde in die
Reglemente verschoben. Nicht, dass das überall Beifall hervorgerufen
hätte; das Vorgehen wurde zum Teil als Entdemokratisierung bezeichnet, weil viele reglementarische Details damit der Zuständigkeit des
Bundestages entzogen wurden. Die grossen Streitpunkte dieser Statutenrevision betrafen jedoch materielle Änderungen. Nachdem man bereits in der Ära Iseli im Artikel 2 der Statuten die direkte Verpflichtung
zur Zugehörigkeit zu einer linken Partei oder Gewerkschaft durch die
etwas nebulöse Formulierung auf Zugehörigkeit zur «modernen Arbeiterbewegung» ersetzt hatte, sollte nun auch noch dieser Hinweis
auf die Herkunft der Organisation entfallen. Der Statutenentwurf enthielt noch eine weitere Abweichung von der bisherigen Doktrin: Ein
Rennverbot für die ATB-Mitglieder war darin nirgends mehr zu finden. Der neue Artikel 2 beschränkt sich auf eine kurze Beschreibung
der Tätigkeit des Verbandes, ohne jeden Hinweis auf eine politische
Orientierung: «Der ATB erstrebt die Erziehung seiner Mitglieder zu
verantwortungsbewussten, aufgeschlossenen Strassenbenützern; er
gewährt ihnen Schutz und wahrt ihre Interessen.» Der Statutenentwurf sieht auch einen neuen Namen vor: «Allgemeiner Touring-Bund
‹Solidarität›.» Und schliesslich sollte der Bundestag nur noch alle 3
statt alle 2 Jahre stattfinden und neu «Kongress» heissen.
Die Verbandsleitung unter Kistler wagte damit einen grossen
Schritt. Möglicherweise hatte ihn eine Begegnung im Herbst 1960
in diesem Vorgehen bestärkt. Damals führte er, gemeinsam mit Zentralsekretär Jordy, ein Gespräch mit Ueli Götsch, dessen Verlauf
in einer Aktennotiz festgehalten wurde, was zeigt, dass man dieser Unterredung eine gewisse Bedeutung zuzumessen schien. Ueli
Götsch, damals Sekretär des Verbandes der Handels-, Transport- und
Lebensmittel-Arbeitnehmer (VHTL), später SP-Sekretär und -Nationalrat, stand für einen «pluralistischen Sozialismus» und predigte in
der Sozialdemokratie die Überwindung des Klassendenkens. Das Gespräch mit Götsch wurde gesucht, weil dieser kurz zuvor Mitglied der
Verwaltungsrats des TCS wurde. Dahinter wurden «Annäherungsbestrebungen» der SP und der Gewerkschaften zum TCS vermutet bzw.
befürchtet. Götsch sprach, getreu der von ihm vertretenen Ideen, von
einem «neuen Weg», den die Gewerkschaften und die SP einzuschlagen hätten. Nichtsdestotrotz erklärte er sich bereit, bei den Gewerkschaften zu schauen, wie der ATB dort mehr Boden gewinnen könnte.
Götsch findet aber, der ATB müsse sich ebenfalls «dem neuen Zeit-
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denken» angleichen. Dazu sei eine Strukturänderung nötig. Ein erster Schritt müsste die Namensänderung im Sinne des Abgehens von
der Bezeichnung Arbeiter-Touring-Bund sein. Ein Arbeiter wolle nicht
als solcher angesprochen werden. Er selbst mache die Erfahrung, der
Untergebene, d. h. der Werktätige, möchte nicht an seinen Stand erinnert werden, wenn er sich motorisiere. In dieser Situation fühle
der Arbeiter sich eher als Bürgerlicher. Der Arbeiter und Angestellte
als Motorfahrzeugbesitzer trage das TCS-Abzeichen gerne und bei
jeder Gelegenheit, um damit nach aussen als Motorfahrzeughalter zu
erscheinen. Götsch konnte sich sogar vorstellen, dass der TCS im Bereich der Pannenhilfe, die dort stark ausgebaut werden soll, mit dem
ATB zusammenarbeiten könnte.
Zurück zur Diskussion der Statutenrevision am Bundestag 1962 in
Bern, die bereits in der Eintretensdebatte hohe Wogen warf. Wortführer der Opposition war alt Zentralpräsident Ernst Iseli. Schon im
Vorfeld hatte er im «Arbeiter-Touring» einen Artikel platziert, der streckenweise fast Züge einer Abrechnung mit der neuen Verbandsleitung
trug. Zu seiner Amtszeit hätte er das Erscheinen eines solchen Artikels im Verbandsorgan vermutlich kaum toleriert, was ihm in der Debatte auch unter die Nase gerieben wurde. Und nun sekundierte er
seinen Artikel, wortgewaltig wie eh und je: «Wir Arbeiter, als die wir
uns im ATB im Gedanken der Solidarität, der gemeinsamen Kraft aller
Arbeiterorganisationen, als Mitkämpfer fühlten, welche noch wussten,
wer für uns den Achtstundentag und jetzt die Fünftagewoche, ferner
Ferien und in nimmer aufhörendem Kampf die Besserstellung der arbeitenden Massen im Wirtschaftsleben errungen hat und uns ihnen
zu Dank verpflichtet fühlten, müssen nun feststellen, dass davon in
den neuen Statuten nichts mehr vorhanden ist». Ob denn im Ernst jemand glaube, dass der ATB mit dem Verleugnen seiner Herkunft und
mit der Loslösung seiner ideellen Verbindung ein grösseres Agitationsgebiet finden würde? Wer seine Herkunft verleugne, verwirke das
Recht auf seine Zukunft. Die Befürworter der Revision blieben nichts
an Polemik schuldig: «Wir sind doch in erster Linie für die Strassenbenützer da, oder sind wir eine Tochtergenossenschaft einer Partei?
Wir sind nicht dazu da, dass einige Herren ein paar zusätzliche Stimmen erhalten.» «Der ATB ist Mitglied des Schweizerischen Strassenverkehrsverbandes, und dieser Verband hat sich unser bis jetzt nicht
geschämt», replizierte Iseli, der auch warnte, eine Namensänderung
in Allgemeiner Touring-Bund könnte neue Rechtshändel mit dem TCS
auslösen. Es waren überwiegend Vertreter der Motorfahrer, die sich
– meist unter Hinweis auf die rückläufigen Mitgliederzahlen – für die
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Änderungen aussprachen. Es gelte, die Konsequenzen zu ziehen und
sich der neuen Zeit anzupassen. Ein grosser Teil der Arbeiter besitze
Autos, Kühlschränke, man mache grosse Reisen, was früher alles nicht
möglich war. Man habe halt heute «eine ganz andere Lebensauffassung». Eintreten auf die Statutenrevision wurde mit einem massiven
Mehr beschlossen.
Der Artikel 2 wurde auf den beantragten unpolitischen, rein tätigkeitsbezogenen Wortlaut geändert. Die von Iseli verfochtene Wiederaufnahme des Rennverbots wurde mit 71 zu 116 Stimmen deutlich abgelehnt. Hingegen hatte die von den Neuerern angestrebte Namensänderung keine Chance; ihr wurde mit 50 zu 139 Stimmen die Zustimmung klar versagt. Auch von einer Verlängerung der Verbandslegislatur um ein Jahr wollte die Mehrheit nichts wissen. Man wolle sich so häufig wie möglich treffen und nicht am falschen Ort sparen, war das Argument. Mit den neuen Statuten erhielten die Organe neue, griffige Namen. Das Wort Kongress stand jetzt neu für Bundestag. Und statt Ausschüsse gab es neu Kommissionen. Die bis jetzt
geltenden sperrigen Bezeichnungen mit kryptisch anmutenden Abkürzungen waren meist nur Insidern geläufig. Aus dem Technischen Ausschuss des Bundes (TAdB) wurde die Sportkommission (Spoko), oder
aus der Motorfahrer-Kommission des Bundes (MKdB) die Schweizerische Motorfahrerkommission (SMK).
5.2. Und immer wieder: Auseinandersetzungen um den Namen
Die Namensänderung kam in der 12-jährigen Amtszeit von Max Kistler noch zweimal aufs Tapet. Am Bundestag 1966 griff die Sektion Basel «Freundschaft» in einem Antrag auf, was bereits bei der Statutenrevision 1962 vorgeschlagen wurde: Der neue Name soll lauten «Allgemeiner Touring-Bund ,Solidarität». Die einen erhofften sich von einer Namensänderung neue Perspektiven und bessere Chancen für einen Mitgliederzuwachs, vor allem bei den Jungen; die andern fanden,
«wir müssen uns nicht schämen, Arbeiter zu sein» oder sie unterstellten gar, neue Mitglieder, die man mit einer Namensänderung gewänne, wären «die faulen Eier», die man für die Bezahlung des Mitgliederbeitrags ständig stupfen müsse. Die Befürworter verwiesen auf die
österreichische Schwesterorganisation Arbö, die sich von «ArbeiterRadfahrer-Bund Österreichs» unter Verwendung der gleichen Kurzform in «Auto- und Radfahrer-Bund Österreichs» umbenannt hat. Mit
dem gleichzeitigen massiven Ausbau seines Leistungsangebots für Autofahrer konnte der Arbö in wenigen Jahren seine Mitgliederzahl ver-
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vielfachen und war weiter auf dem Vormarsch. Trotzdem fand der Antrag auch diesmal keine Mehrheit.
1972, am letzten von Kistler präsidierten Kongress, war es die
Motorfahrer-Delegiertenversammlung, die den Antrag auf Umbenennung in «Allgemeiner Touring-Bund ‹Solidarität›» stellte. Grossfirmen
hätten, so die Begründung, ihr gesamtes Personal in den Monatslohn
übernommen und so von «Arbeiter» in «Angestellte» verwandelt. Diese Leute wollten vom «Arbeiter» nichts mehr wissen «und erst recht
nichts von einem Verkehrsverband, in dem dieses Wort an vorderster Stelle steht». Die Sektion Kirchberg reichte einen Eventualantrag
ein, der nur für den Fall, dass der Antrag der SMK eine Mehrheit
fände, diesem gegenübergestellt werden sollte. Die Kirchberger betrachteten die von der SMK beantragte Umbenennung in Allgemeiner Touring-Bund als «unnützes Opfer an Profil und Charakter». Soll
der Name schon geändert werden, dann besser in «Schweiz. Verkehrsund Sportverband ATB». So würden die Veteranen nicht vergrault, die
es nicht ertrügen, dass das A eine andere Bedeutung hätte als bisher.
Wenn man vermehrt junge Leute ansprechen wolle, wäre eine Neukonzeption mit einem neuen, soliden Image viel wichtiger. Der ATB
werde so oder so eine Organisation der Arbeiterschaft bleiben, sonst
würde er seine Existenzberechtigung verlieren. Mit 108 zu 105 Stimmen wurde der Antrag der SMK auf Namensänderung diesmal nur
noch hauchdünn abgelehnt. Da es somit beim alten Namen blieb, kam
der Antrag Kirchberg nicht zur Abstimmung. Er hätte wahrscheinlich
grössere Chancen gehabt, angenommen zu werden und nahm vorweg,
was dann 23 Jahre später die Namensänderung endlich gelingen liess.
Im Nachgang zu diesem Kongressentscheid gelangte ein Schreiben
an die Geschäftsleitung, in dem betont wurde, dass der ATB nicht mit
«charakterlosen Namensänderungen» reaktiviert werden könne. Um
mehr Autofahrer für den Beitritt zu gewinnen, wäre es wichtiger, dass
jene Sektionen, die «noch immer altmodische Namen wie ‹Radfahrerverein Eintracht›oder ähnlich tragen», sich einen zügigeren Namen
mit dem Prädikat ATB zulegten, von dem sich die Autofahrer nicht
mehr ausgeschlossen fühlten.
5.3. Diskussion um die Gliederungsstrukturen
Die Bezirksgliederung des ATB war schon seit den Gründungsjahren
immer mal wieder ein Thema. Schon anlässlich der Statutenrevision 1962 wurde ein Postulat der Sektion Bümpliz, «Der ATB ist in
Kantonal- und Landesverbände aufgeteilt», überwiesen. Die jetzige
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Struktur mit «Bezirken» erschwere die Mitarbeit in kantonalen Institutionen, lautete die Begründung. Nachdem in dieser Frage nichts
ging, war es 1966 die AMS Zürich, welche die Einsetzung einer Kommission zur Umwandlung der Bezirke in Kantonalverbände verlangte.
Der jetzige Zustand sei unhaltbar, da die Kräfte zersplittert würden
und die Vorstände der Bezirke überlastet seien. Auch dieses Postulat
wurde überwiesen. Endlich nahm 1972 die Sektion Kirchberg einen
neuen Anlauf und verlangte eine «Umorganisation dahingehend, dass
der ATB in Kantonal-, Regional und Stadtverbände gegliedert» werden sollte. Die Geschäftsleitung nahm es zur Kenntnis und gab den
Kommentar ab, im heutigen Zeitpunkt könne «diese Angelegenheit
noch nicht konkret erledigt werden».
5.4. Der Beitragseinzug wird zentralisiert
In der letzten Amtsperiode von Max Kistler wurde im administrativen Bereich eine wichtige Neuerung vollzogen: Die Umstellung auf
den zentralen Beitragseinzug. Er erleichterte den Mitgliedern dank
dem vorausgefüllten Einzahlungsschein die Beitragszahlung. Zentralsekretär Hugo Jordy zeigte sich im Tätigkeitsbericht an den Kongress
1972 überzeugt, dass die elektronische Beitragserhebung das Image
des ATB bei den Mitgliedern «beachtlich gehoben» habe. Die Umstellung bedeutete zudem eine grosse Entlastung der Sektionskassiere
und brachte dem Verband eine Kosteneinsparung im Beitragsinkasso. Ein willkommener Nebeneffekt war, dass die Beiträge «straffer»
eingingen, wie die Geschäftsprüfungskommission befriedigt feststellte. Und es war nun möglich, in Echtzeit aktuelle Mitgliederstatistiken
abzurufen. Im Augenblick des Kongresses konnte Jordy mit folgenden
Angaben über die Anteile der Mitgliedersparten aufwarten: «Radfahrer 37,6%, Mopedfahrer 3,5%, Automobil- und Motorradfahrer 31,7%,
Junioren und Schüler 12,8% und Treuemitglieder 5,2%. Werden Junioren und Schüler zutreffenderweise den Radfahrern zugezählt, rekrutieren die Letztern rund die Hälfte der Verbandsmitglieder.»
5.5. Abkommen mit Partnerorganisationen
Am Kongress 1972 in Thun trat Dr. Max Kistler nach 12-jähriger Amtszeit als Zentralpräsident zurück. Zu seinem Nachfolger wurde Nationalrat Helmut Hubacher gewählt, zu jener Zeit Chefredaktor des sozialdemokratischen Tageszeitungs-Verbunds «AZ-Ring» und Präsident
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des Gewerkschaftsbundes Basel Stadt. Obwohl Hubacher als Chefredaktor einer SP-Zeitung, sozialdemokratischer Nationalrat und Präsident eines kantonalen Gewerkschaftsbundes alles andere als ein politisches Neutrum war, wurde er einstimmig gewählt und die Wahl
enthusiastisch applaudiert, also auch von jener Hälfte der Delegierten, die in der Namensgebung für eine politisch neutrale Firmierung
des ATB votiert hatte. Diese Hochstimmung scheint nachher zum Teil
etwas gelitten zu haben. Als es 1974 um seine Wiederwahl ging, stellte er zunächst sein Amt zur Verfügung. Der Vizepräsident beklagte
Intrigenspiele gegen den Zentralpräsidenten und hoffte, dass er sich
trotzdem wieder wählen lasse. Und er wurde wiederum einstimmig
gewählt.
Da Helmut Hubacher bei der Amtsübernahme kein ATB-Insider war,
mochten einige eingefleischte «ATBler» dem sozusagen eingeflogenen Präsidenten mit Skepsis begegnet sein oder sich sogar, wie vorgeworfen, zu Intrigen hergegeben haben. Gerade der Umstand aber,
dass Hubacher persönlich unbelastet war von alten ATB-Geschichten,
gepaart mit seiner grossen Erfahrung auf dem politischen Parkett,
war er für den ATB ein Gewinn. In seine Amtszeit fallen die Verhandlungen mit dem SRB für eine Vereinbarung der Zusammenarbeit im
Hallenradsport. Sie wurden zwar hart geführt, aber wie es scheint in
einem ausserordentlich offenen Klima und mit einer sachlichen Gesprächskultur. Das war angesichts der jahrzehntelangen Rivalität mit
dem SRB und daraus sich ergebenden vielen gegenseitigen Vorbehalten nicht selbstverständlich. Nägel mit Köpfen machte Hubacher
auch in Fragen der Zusammenarbeit mit ausländischen Schwesterorganisationen. Am Kongress 1974 nahm erstmals ein Vertreter des
neu gegründeten Automobil-Clubs Europa ACE als Gast teil. Der ACE
ist ein dem Deutschen Gewerkschaftsbund DGB nahestehender Verkehrsverband. Hubacher nutzte die Gelegenheit, mit ihm und dem
Gastdelegierten des Arbö Möglichkeiten der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit zu sondieren. Eine solche ergab sich im Bereich des
Pannendienstes, die dann unter dem Nachfolger Helmut Hubachers
umgesetzt wurde. Mit dem Rad- und Kraftfahrer-Bund Deutschlands
«Solidarität» (RKBD) und dem Arbö wurde die jährliche Durchführung
eines Jugendlagers vereinbart, das bis in die 90er Jahre eine feste Institution blieb.
Intern nahm Hubacher eine Statutenrevision zuhanden des Kongresses 1976 in Angriff. Dabei spielte einmal mehr die Namensfrage eine
Rolle, zu der jetzt bald an jedem Kongress ein Antrag eingereicht wurde. So auch am vorgängigen Kongress 1974 durch den Aargauer Be-
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zirk 10, der erneut die Umbenennung in «Allgemeiner Touring-Bund
‹Solidarität›» wollte. Nachdem 1972 ein gleichlautender Antrag nur
noch hauchdünn abgelehnt wurde, konnte man sich diesmal Chancen ausrechnen. Der Bezirk 10 zog jedoch seinen Antrag im Hinblick
auf die anstehende Revision der Statuten zurück. Der nun für den
Kongress 1976 vom Zentralvorstand vorgelegte Statutenentwurf sah
denn auch eine Änderung des Namens vor. Interessanterweise liess
er den Namensteil «Arbeiter-Touring-Bund der Schweiz», dessen Änderung in den letzten 20 Jahren immer wieder und mit steigender Zustimmung verlangt wurde, unangetastet. Stattdessen wurde der Namenszusatz «Solidarität» fallen gelassen.
Der Zusatz «Solidarität» gehörte seit der Gründung zum Namen und
stellte eine Art Credo der Arbeiter-Radfahrer-Bewegung dar. Diese
Namensänderung ist deshalb nicht ohne weiteres nachzuvollziehen,
weil bisher ja immer argumentiert wurde, es sei das Wort «Arbeiter»
im Namen, das hinderlich ist in der Mitgliederwerbung, weil niemand
mehr Arbeiter sein wolle. Das wurde jetzt anscheinend nicht mehr
so hochrangig bewertet, dafür wurde mit dem Wort «Solidarität» eine inhaltliche Aussage gestrichen, die zwar in der Arbeiterbewegung
seit jeher einen fundamentalen, programmatischen Stellenwert hatte,
aber eigentlich auch ein allgemein gültiger Wert ist, an dem sich niemand stossen sollte. An den früheren Diskussionen hatte sich jedenfalls, soweit aus den Protokollen ersichtlich, nie jemand daran gestört.
Noch überraschender ist, dass diese Namensänderung am Kongress
fast keine Diskussion auslöste. Nur der betagte alt Zentralpräsident
Ernst Iseli meldete sich zu Wort, diesmal schon fast als einsamer Rufer
in der Wüste. Der ATB müsse das Wort «Solidarität» im Namen behalten. Er erinnerte an den Namensstreit mit dem TCS. In bangen Stunden hätte darum gekämpft werden müssen, dass der ATB den Begriff
«Solidarität» weiterhin benützen durfte. Da deswegen grosse Kämpfe
ausgefochten werden mussten, sollte man dieses Wort heute nicht so
leichtfertig weggeben, umso mehr als es für die Arbeiterschaft und
auch für deren Gewerkschaften eine enorme Bedeutung habe. Der
langjährige Verbandsvorsitzende kam so sehr in Fahrt, dass er wegen
Überschreitung der Redezeit gemahnt werden musste. Iseli fand kein
Gehör, sein Antrag auf Belassung des Namenszusatzes «Solidarität»
wurde abgelehnt.
An diese Statutenrevison heftete sich die Erwartung, dass jetzt endlich die schon seit Jahren diskutierte Umwandlung der Bezirke angegangen wird; schliesslich wurden an früheren Kongressen dazu bereits dreimal Postulate überwiesen. Der Statutenantrag beschränkte
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sich allerdings darauf, die etwas missverständliche bisherige Bezeichnung «Bezirk» durch «Region» zu ersetzen. Die schon fast historische
Einteilung, die sich nicht an Kantonsgrenzen orientierte, wurde dagegen nicht angetastet. Immerhin ermöglicht seither ein zusätzlicher Artikel im Bedarfsfall den Zusammenschluss der Sektionen zu Kantonalverbänden und in Ortschaften mit mehreren Sektionen zu Stadt- oder
Ortsverbänden. Eine andere, fast schicksalshafte Änderung erfuhren
die Statuten bei dieser Revision noch: Für Statutenänderungen wurde neu ein qualifiziertes Mehr eingeführt. Es war dazu also inskünftig
eine Zustimmung von zwei Drittel der Stimmenden notwendig, um einem Änderungsbeschluss Rechtskraft zu verleihen. Dies sollte in zukünftigen Namensänderungsanträgen noch eine Rolle spielen.
Helmut Hubacher gab auf den Kongress 1976 in Olten seinen Rücktritt, da er unterdessen zum Präsidenten der Sozialdemokratischen
Partei der Schweiz gewählt wurde. Zu seinem Nachfolger wählte der
Kongress den Aargauer SP-Nationalrat Max Chopard.
5.6. Aufbruch zu neuen Ufern: Der Hallenradsport wird
verbandsübergreifend
Auf den Kongress 1964 hatte Basel sein Vorortsmandat für die Sportkommission niedergelegt. Im Hinblick auf die zentrale Bedeutung dieser Kommission für den Gesamtverband wollte die Geschäftsleitung
die Zukunft der Kommission nicht dem Zufall überlassen. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf Georg Aemisegger, den Präsidenten
der Sportkommission des im Saalsport führenden ostschweizerischen
Bezirks 1. «Da das Gebiet der Ostschweiz im ATB Sportler von anerkanntem Format und weitreichendem technischen Können aufweist»,
heisst es in einem Brief von Zentralpräsident Kistler an Georg Aemmisegger, «wäre der Bezirk 1, eventuell mit Zuzug aus den Bezirken
12 und 3, prädestiniert zur Übernahme des TAdB. An der Spitze des
Ausschusses wurde immer wieder Dein Name angeführt. Wir bitten
Dich, lieber Kollege, unserem Wunsche für die Übernahme des TAdB
nicht zu entsagen und mit Tapferkeit und dem Dir eigenen Spürsinn
Umschau zu halten und für die Übernahme dieser höchsten technischen Kommission aktiv einzustehen». Nach einigen Bedenken wegen der arbeitsmässigen Belastung sagte Georg Aemisegger zu und
stellte ein Team zusammen, das im ATB in den folgenden Jahren als
Sportkommission neue Zeichen setzen sollte. Im Saalsport verzeichnete man gute Fortschritte, gleichzeitig wurde die Zahl der Kampfrichter verstärkt. 1969 wurde erstmals ein Instruktorenkurs für Spit-
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zenkunstfahrer eingebaut. «Es war verblüffend, was mit diesem Kurs
alles erreicht worden ist», resümierte Aemisegger im Tätigkeitsbericht. Die Teilnehmer im anschliessenden Kunstfahrerkurs wurden als
Hilfsleiter eingesetzt mit dem Ziel, so Leiter für Bezirkskurse heranzubilden. Die Reigenleiter lernten so, was es braucht, um eine Mannschaft für Wettkämpfe vorzubereiten. In dieser Zeit wurde auch neu
eine Jugendklasse eingeführt, was der Nachwuchsförderung Auftrieb
gab. Der Erfolg dieser Anstrengungen blieb nicht aus. Die Verbandsmeisterschaft 1971 in Frauenfeld sowie das Verbandsfest in Menziken 1973 waren punkto Beteiligung Höhepunkte in der Geschichte
der ATB-Bundesfeste.
Ab etwa 1970 verstärkten sich bei den Kunstradfahrern Bestrebungen, sportlich über den eigenen Gartenhag hinauszuschauen. Insbesondere die Ostschweizer drängten darauf, nicht mehr nur an Verbandsmeisterschaften teilnehmen, sondern sich auch mit Fahrern von
SRB-Sektionen messen zu können. Im Radball hatte sich bereits Ende
der 60er Jahre eine Zusammenarbeit mit dem SRB angebahnt. Bald
wurden auch verbandsübergreifende Turniere und Kantonalmeisterschaften durchgeführt. Im Kunstradfahren waren jedoch die Unterschiede der Reglemente zwischen ATB und SRB sehr viel grösser als
im Radball. Die zentrale Frage war: Sollen verbandsübergreifende
Turniere und Meisterschaften angestrebt werden um den Preis, dass
der ATB mittelfristig sein Reglement aufgibt und das Reglement der
International Cycling Union (UCI) übernimmt? Letzteres war eine absolute Voraussetzung für verbandsübergreifende und vor allem auch
für die Beschickung internationaler Wettkämpfe. Harte Auseinandersetzungen ob dieser Frage gab es im ATB vor allem zwischen den Bezirken 1 und 5.
Das Festklammern vieler ATB-Kunstradfahrer am eigenen Reglement war nicht nur Sentimentalität. Es fusste auf der Überzeugung
vieler, dass das eigene Reglement in mancher Beziehung besser war,
zum Beispiel weil durch das mindere Tempo die Bilder anmutiger waren. 1973 hatte man sich endlich zu einem Beschluss durchgerungen
und entschied sich für die Umstellung auf das UCI-Reglement für Einerkunstfahren und Zweierkunstfahren. Dies erforderte in den darauf
folgenden Jahren höchst intensive Anstrengungen der Sportkommission und insbesondere des Verbandstrainers Kurt Zülli im Kurswesen. Gleichzeitig mussten mit dem SRB zähe Verhandlungen geführt
werden. Bereits 1974 führte man ATB-intern einen ersten Probewettkampf nach UCI-Reglement durch. Und schon 1975 gab es die erste
gemeinsame Schweizermeisterschaft mit dem SRB; die Titel im 1er
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Junioren sowie im 4er Damen gingen an den ATB. Bis 1983 galt noch
ein Übergangsregime: Teils wurde nach ATB- und teils bereits nach
UCI-Reglement gefahren.
Mit der Einführung der gemeinsamen Meisterschaften mit dem SRB
waren die ATB-Kunstradfahrerinnen und -fahrer in verschiedenen Disziplinen fast mit einer neuen Sportart konfrontiert. Die Bilder wurden
jetzt 1 Runde (oder Wechselrunde 8) gefahren. Wegen der kürzeren
Fahrzeit war mehr Geschwindigkeit nötig, und es wurden mehr Bilder
pro Kür gefordert. Es gab 3 Schülerkategorien, und diese – ein Novum
für den ATB – für Mädchen und Knaben getrennt. Der ATB stellte beim
Nachwuchs von Anfang an eine viel grössere Beteiligung als der SRB.
Schon im ersten Jahr der ATB-Beteiligung an den Weltmeisterschaften konnte der Herren-Sechser des ATB Birsfelden aus Dänemark eine Bronze-Medaille mit nach Hause nehmen. 1987 errang Marianne
Martens vom ATB Stäfa ihren ersten WM-Titel. Hatten am Bundesreigentag 1953 gerade mal 5 Einerkunstradfahrer konkurriert, waren
am Verbandsfest 1994 in Uzwil 168 Einer, darunter 96 Mädchen und
32 Knaben, am Start. Die Zahlen und Resultate beweisen, dass die Umstellung dem ATB grossen Erfolg gebracht hat, aber auch eine enorme
Anstrengung in der Trainer-Ausbildung und dem Kurswesen im allgemeinen abverlangte. Ein Teil dieses Erfolgs geht auch auf Konto von
Jugend+Sport. Seit 1985 lotete Verbandstrainer Kurt Zülli zusammen
mit Peter Siegenthaler und Alex Heeb im Rahmen des J+S-Fachs Radtourismus gezielt die Möglichkeiten für den Hallenradsport aus. Davon war man beim SRB nicht begeistert. Umso zielstrebiger waren die
Ostschweizer vom ATB. Man liess in Magglingen nicht locker und entwickelte Leiterhandbücher. Ab 1990/91 gab es mehrere Leiter 1, vor
allem für das Kunstradfahren, Leiter 1 J+S und 2 bis 3 Leiter 1 Radball
und 1993 mit Peter Siegenthaler und Kurt Zülli auch Experten Kunstradfahren. Später gab es einen Trainer-Lehrgang in Magglingen. Der
ATB stellte ausserdem 2 Nationaltrainerinnen im Kunstradfahren: Marianne Martens (ATB Stäfa) und Daniela Keller (ATB Hombrechtikon).
5.7. Sporttätigkeit in der Krise
Die starke Steigerung des sportlichen Niveaus im Hallenradsport verstärkte wohl die Tendenz zur Spezialisierung bei den ATB-Sektionen.
Um den steigenden Anforderungen genügen zu können, spezialisierten sich die meisten Sektionen auf eine Sportart. Und zunehmend gab
es Sektionen, die den Sport aufgaben und versuchten, ihren Mitgliedern ein attraktives Freizeitprogramm zu bieten. So stellte denn die
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Sportkommission in den siebziger Jahren zur Situation in der Region
Bern fest: «Im grössten Bezirk ist die Sportbewegung nebst dem Radball auf dem Gefrierpunkt angelangt.» Symptomatisch für die zunehmende Sportabsenz in einem Teil der Sektionen sind auch die Probleme, die 1960 im kleinen Bezirk 2, das Rheintal und die Gaster umfassend, auftraten. Die einzige sporttreibende Sektion des Bezirks, Uznach, wünschte in einen Nachbarbezirk zu wechseln. Sie fühlte sich
von den übrigen Bezirkssektionen und der Bezirksleitung sportlich zu
wenig unterstützt. Die Uznacher stellten sogar die Beitragszahlungen
an den Bezirk ein. Einen Bezirkswechsel von Uznach wollte der Verband verhindern, um den Bezirk nicht weiter zu schwächen. Alfred
Schmid, der vom Verband als Emissär zur Schlichtung des Konflikts
entsandt wurde, versuchte, die Bezirksversammlung für einen Wechsel des Bezirksvororts von Landquart nach Uznach zu gewinnen, um
im Bezirk den Sport wieder etwas aufzuwerten. Die Idee stiess jedoch
auf den Widerstand der übrigen Sektionen. Schliesslich rettete der
Zürcher Emissär die Situation – zumindest einstweilen –, indem er der
Bezirksversammlung die Zusicherung abrang, in den Sektionen dem
Stellenwert des Sportes wieder mehr Bedeutung zumessen zu wollen
und eine Funktionärsschulung durchzuführen, «wobei die sportlichen
Aktivitäten im Vordergrund stehen sollen».
5.8. Geländefahren als neue Breitensportart im ATB
Als Ersatz für den früher flächendeckend betriebenen Sektionswettkampf wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, wie wir gesehen haben,
das Geländefahren und das Orientierungsfahren als neue Breitensportart eingeführt. Beim Geländefahren ging es darum, auf vorgeschriebenen Wegen eine bestimmte Zahl Posten anzufahren. Posten
wurden zwar auch beim Orientierungsfahren angefahren, aber ohne
Wegvorschriften; hier konnte man sich frei im Gelände bewegen und
so ans Ziel gelangen. Die Zeit wurde nicht bewertet. Wie früher der
Sektionswettkampf oder das Reigenfahren waren Gelände- und Orientierungsfahren als Breitensportart gedacht, die eigentlich jedem Mitglied offen standen, das ein Tourenrad fahren konnte. Ähnlich verhielt
es sich mit dem Geschicklichkeitsfahren, das in der Sportkommission
vom gleichen Ressort betreut wurde.
In den 50er und 60er Jahren wurde von der Jugendkommission, die nach populären neuen Sportarten ausserhalb der RadsportDisziplinen suchte, der Orientierungslauf im ATB eingeführt. Bis in
die 60er Jahre wurden OL-Meisterschaften, meistens parallel zu den
90
Verbandsfesten veranstaltet. Erstmals war das am Bundesfest in Menziken 1955 der Fall, wo immerhin 20 Vierergruppen am Start waren.
Das Rüstzeug holte man sich am Zentralkurs SLL für Orientierungslaufen. ATB-intern gab es Bahnlegerwettbewerbe als «Schrittmacher
für neue OL-Freunde». Diese OL-Aktivitäten führten zu Beginn zu einigen Unstimmigkeiten zwischen der Jugendkommission und dem für
den Sport zuständigen Technischen Ausschuss des Bundes, wobei der
TA den ZV um Vermittlung anging.
In den 90er Jahren stellten sich erste Vorboten des Unicycling ein,
das unterdessen eine der Hauptsportarten im ATB geworden ist. Stefan Gauler, ein Mitglied des ATB Landschlacht, brach 1992 den Weltrekord im 24-Stunden-Einradfahren und schaffte es so zu einem Eintrag
im Guinnessbuch der Rekorde. 279,27 Kilometer legte er auf seiner
Rekordfahrt zurück, 46 Kilometer mehr als der bisherige Rekordhalter. Am Verbandsfest 1994 in Uzwil nahmen über 100 Teilnehmende
in 12 Kategorien am Einradfahren teil.
5.9. Profilierungversuche als Verkehrsverband
Mit dem am Kongress von 1976 neu gewählten Zentralpräsidenten
Max Chopard prägte für die nächsten 6 Jahre ein Mann den ATB, der
Medienerfahrung in den Verband einbrachte und dem eine dynamische Art nachgesagt wurde. Eines seiner vorrangigen Ziele war es,
den ATB als Verkehrsverband in der Öffentlichkeit wahrnehmbarer
zu machen. Trotz grossen Anstrengungen beim Ausbau der Dienstleistungen für Autofahrer, war den Wenigsten bewusst, dass der ATB
ein Verkehrsverband für alle Strassenbenutzer ist. Schon seit Anfang
der 60er Jahre wurde das Leistungsangebot unter der Ägide von Zentralsekretär Jordy und ab 1973 von dessen Nachfolger Arthur Lerch
gezielt für die Motorfahrer ausgebaut, so dass es jenem der grossen
Konkurrenzverbände kaum mehr nachstand.
Defizite hatte der ATB, z. B. gegenüber dem TCS, jedoch in der visuellen Präsenz, verfügte er doch nicht über eigene Patrouillenfahrzeuge. Da bot sich nun eine Chance, wenigstens etwas Paroli bieten zu können. Durch die noch von Helmut Hubacher angebahnte
Zusammenarbeit mit dem ACE und dem Arbö kam der ATB zu eigenen Patrouillenfahrzeugen. Die Basis des ATB-Pannendienstes stellte weiterhin die Zusammenarbeit mit den verschiedenen über das
Land verstreuten Vertragsgaragen dar. Dazu kamen nun noch 2 ATBeigene Entpannungsfahrzeuge, die den Auftrag hatten, vor allem auf
der Nord-Süd-Achse zu patrouillieren. Die Fahrzeuge hatten eine ATB-
91
Beschriftung mit einem grossen Bernhardiner-Signet. Zur Verfügung
gestellt wurden sie vom ACE und vom Arbö. Die Aktion war Teil eines gemeinsamen Pannendienstkonzeptes des gewerkschaftsnahen
Automobil-Club Europa in Deutschland und des Arbö, der wie der ATB
aus der Arbeiter-Radfahrer-Bewegung hervorgegangen ist. Das Konzept sah vor, den Mitgliedern nicht nur im Inland für die Entpannung
zu Diensten zu sein, sondern auch auf ihrer Ferienreise in den Süden. Bernhardiner-Fahrzeuge des ACE und des Arbö bewegten sich
daher während der Feriensaison zusätzlich in den touristischen Gebieten Italiens und Jugoslawiens. Systematisch suchten sie dort nach
einem Turnus Zeltplätze auf, wo ihre Anwesenheit jeweils vorher angekündigt wurde.
Damit für die ACE-Mitglieder auf
dem Weg in den Süden durch
die Schweiz keine Lücke entstand,
schenkten der ACE und der Arbö
diese beiden Pannenfahrzeuge dem
ATB. Deren Aufgabe war es, vor allem auf der Nord-Süd-Achse über
den Gotthard zu patrouillieren und
abrufbereit zu sein. Das eine der
Fahrzeuge wurde im Raum Olten
und das andere im Tessin stationiert. Die Propagandakommission
unter der Leitung von Wilhelm Gubler setzte die Aufwertung des Pan- Werbekleber für den
nendienstes im ATB für Werbeaktio- Bernhardiner-Pannendienst
nen um. Trotz minimalem Budget des ATB
versuchte man das Beste herauszuholen. Der Bernhardiner-Pannendienst im ATB wurde indes nicht zur
Erfolgsgeschichte. Die Fahrzeuge wurden zwar geschenkt, aber für
die Betriebskosten hatte der ATB selbst aufzukommen, und die waren
nicht unbeträchtlich. Als die Fahrzeuge, um Kosten zu sparen, überwiegend stationär blieben und nicht mehr patrouillierten, war es mit
der visuellen Werbewirkung der Fahrzeuge nicht mehr weit her.
5.10. Mehr Öffentlichkeitsarbeit
Zu der von Max Chopard angestrebten Profilierung des ATB gehörte, sich konsequent an den Vernehmlassungen zu verkehrspolitischen Vorlagen zu beteiligen. Es standen wichtige verkehrspoliti-
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sche Weichenstellungen zur Diskussion wie die Frage der Verlagerung
des Transitverkehrs auf die Schiene und entsprechende flankierende
Massnahmen. An die Kongresse wurden Referenten eingeladen, die
in der Lage waren, Denkanstösse zu geben. So referierte am Bundestag 1978 in Thayngen zum Beispiel der Zürcher SP-Stadtrat Jürg
Kaufmann über aktuelle Verkehrsfragen innerorts. Er vertrat dabei
Thesen, die damals alles andere als Gemeingut waren und wohl von
manchem hartgesottenen Autofahrer unter den ATB-Delegierten nicht
geteilt wurden. Kaufmann empfahl innerorts den systematischen Einbau von Schwellen, um die Einhaltung der Maximalgeschwindigkeit
zu erzwingen. Denn Nichteinhaltung der Höchstgeschwindigkeit sei
eine massive Verkehrsverletzung, die den schwächeren Verkehrsteilnehmer gefährdet und die strafrechtlich geahndet werden sollte. Zum
innerstädtischen Parkplatzproblem meinte der Referent, eine Vergrösserung des Parkplatzangebotes sei der falsche Weg. Auch Detaillisten
müssten erkennen, dass sie ihre Kundschaft «nur mit charmanten, autofreien Innenstädten halten könnten, nicht mit einem aussichtslosen
Parkplatzwettbewerb mit den Supermärkten im Grünen».
Chopard führte für die Geschäftsleitung Bildungsreisen ein. Das
Gremium besuchte Brennpunkte, die etwas mit den Aktivitäten des
ATB zu tun hatten. Die Exkursionen dienten zudem dem Zweck, ausserhalb der mit Geschäften befrachteten Sitzungen die Kollegialität in
der Verbandsbehörde zu pflegen. Besucht wurden unter anderem die
Auto-Verladestationen der BLS in Kandersteg und Goppenstein oder
die Eidg. Turn- und Sportschule in Magglingen. Man liess sich dabei
vor Ort von den verantwortlichen Personen über aktuelle Probleme
dieser Einrichtungen ins Bild setzen.
Als Max Chopard 1982 seinen Rücktritt einreichte, wurde ihm von
allen Seiten bescheinigt, ein Stimulator mit vielen guten Ideen gewesen zu sein, der Schwung in die Organisation gebracht habe. Am Kongress von 1982 in Bern wurde SP-Nationalrat Ernst Eggenberg, Stadtpräsident in Thun, zum Zentralpräsidenten gewählt. An diesem Kongress nahm erstmals Alois Steinger als neuer Zentralsekretär teil; er
hatte im Vorjahr den in den Ruhestand übergetretenen Arthur Lerch
abgelöst.
5.11. Das schwache «Verkehrsbein»
Ernst Eggenberg hatte wie sein Vorgänger erkannt, dass der ATB
trotz grossen Anstrengungen bei den Dienstleistungen und einem
medienwirksameren Auftreten als Verkehrsverband mittlerweile arg
93
ins Hintertreffen geraten ist. Er sah die Ursache vor allem bei den
Strukturen und bekundete in seiner Antrittsrede seine Absicht, dort
ansetzen zu wollen. Wenn der ATB als Verkehrsverband «zwischen
Stuhl und Bank» gefallen sei, liege es vor allem daran, dass die verbandsinternen Grenzen nicht mit den politischen Territorialgrenzen
übereinstimmten. Auf diese Weise könne man nicht effizient am politischen Geschehen teilhaben, zum Beispiel mit Vernehmlassungen
und Referenden. Nachdem man sich auf gesamtschweizerischer Ebene verstärkt dieser Möglichkeiten bedient habe, müssten auf kantonalem und kommunalem Niveau ebenfalls die Voraussetzungen dafür
geschaffen werden.
Eggenberg ging zusammen mit den Exekutivgremien schrittweise
vor, um seinen Plan umzusetzen. Nach seiner ersten Amtszeit am Kongress 1984 in Baden wurde erst einmal ein Entschliessungsantrag
zur Abstimmung gebracht, als Vorstufe für eine Strukturreform. Entschieden wurde erst über deren Eckpunkte, die in einem zweijährigen
Probebetrieb getestet werden sollten, um anschliessend die damit gemachten Erfahrungen auszuwerten und am folgenden Kongress in die
neuen Statuten einfliessen zu lassen. In der Begründung benutzte Eggenberg die Metapher vom «Sportbein» und «Verkehrsbein», auf denen der ATB stehe. Während das Sportbein stark und in vieler Beziehung zum entscheidenden Standbein des ATB geworden ist, sei das
zweite Bein, der Verkehrsbereich, nur noch schlecht oder gar nicht
mehr vorhanden. Das für den zweijährigen Probebetrieb geltende Organisationsdispositiv sah dementsprechend nur noch 2 Kommissionen
vor, eine Sportkommission (Spoko) sowie eine Verkehrskommission
(Veko) anstelle der bisherigen vielen operativen Kommissionen. Die
bisherige Jugendkommission wurde in die Spoko integriert wie auch
der sportliche Bereich der bisherigen Motorfahrerkommission. Der
Veko wurde der verkehrspolitische Aufgabenbereich der SMK sowie
die Bearbeitung aller andern Verkehrsfragen übertragen. Der Kongress stimmte diesem schrittweisen Vorgehen einhellig zu.
Nach dem Kongress wurden die Beschlüsse sofort umgesetzt und
gemäss provisorischem Regime die Kommissionen auf die Spoko und
die Veko reduziert. Die damit gemachten Erfahrungen waren gut, wie
Zentralpräsident Eggenberg am Kongress 1986 resümieren konnte.
Es galt, diesen Anpassungen endgültige statutarische Kraft zu verleihen. Der Statutenentwurf ging bei den Sektionen und Regionen in
die Vernehmlassung. Der einzige Punkt der zu reden gab, war der
Antrag der Sektion Basel Stadt auf Änderung des Namens in «Allgemeiner Touring-Bund». Der Antrag wurde von der Mehrheit des
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Zentralvorstandes unterstützt. Spoko-Präsident Max Zülli führte als
Sprecher der Mehrheit an, die Änderung des Namens soll diesen Verband der Allgemeinheit öffnen, «damit jede Art von Verkehrsteilnehmer zu uns kommen kann». Der Begriff «Arbeiter» sei bei der Werbung ein Störfaktor, und das Wort habe nichts mit einem Sport- und
Verkehrsverband zu tun. Werner Möri begründete die Haltung der
ZV-Minderheit damit, dass das Wort «allgemein» nichtssagend, eine
reine Verlegenheitslösung sei. Der Duden definiere «allgemein» als
«geht nicht auf das Besondere ein». Für den Namenswechsel sprachen sich 141 Kongressdelegierte aus, 113 stimmten für Beibehaltung
des Namens «Arbeiter-Touring-Bund». Das seit 1976 für Statutenänderungen notwendige qualifizierte Mehr für eine Statutenänderung
wurde somit verfehlt. Alle anderen Änderungen genehmigte der Kongress ohne Wortmeldung. Die Frage der Neueinteilung der Regionen
bzw. Umstellung auf Kantonalverbände, die der Zentralpräsident bei
seiner Antrittsrede vor vier Jahren noch als Muss bezeichnet hatte,
wurde mit dieser Statutenrevision nicht angerührt.
Zentralpräsident Ernst Eggenberg, der von Anfang beabsichtigte,
sein Engagement auf 2 Amtsdauern zu beschränken, hatte auf diesen
Kongress seinen Rücktritt eingereicht. Dem scheidenden Zentralpräsidenten wurde bei seiner Verabschiedung am Thuner Kongress attestiert, mit grossem Geschick und Fingerspitzengefühl die Umstrukturierung des ATB vorbereitet und eingeleitet zu haben. Und so ganz
nebenbei habe er noch die Verbandskasse wieder in die schwarzen
Zahlen gebracht. Zum neuen Zentralpräsidenten wählte der Kongress
SP-Nationalrat Albert Eggli, Mitglied der Winterthurer Stadtexekutive.
5.12. ATB-Verkehrspolitik: Vom Partikularinteresse zur
Gesamtverantwortung
Die Verkehrspolitik des ATB war, seit Nationalräte den Verband führten, weitfächeriger geworden. In der Ära Iseli hatte sie sich vorwiegend auf die entschiedene Vertretung der Radfahrerinteressen und
später der Strassenbenützer im Allgemeinen beschränkt. Das geschah
vor allem über die Mitarbeit in Strassenverkehrsverbänden, wo sich
der ATB in der Stossrichtung wenig von andern Verbänden unterschied. Seine Haltung war allenfalls konsequenter, etwa wenn es galt,
drohende Belastungen für die Radfahrer zu bekämpfen, zum Beispiel
bei der in der Zwischenkriegszeit verschiedentlich geplanten Besteuerung der Radfahrer. Nachdem Nationalräte den Präsidentenstuhl ein-
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nahmen, wurde diese sich an partikularen Interessen orientierende
Politik relativiert und in eine verkehrspolitische Gesamtsicht eingebettet. Dies kam nicht zuletzt an den Grundsatzreferaten der Zentralpräsidenten an den Kongressen zum Ausdruck, wo eine Auslegeordnung
der nationalen Verkehrsprobleme gemacht wurde. Es war schliesslich
auch die Zeit, wo die Politik versuchte, das Verkehrswesen in Gesamtverkehrskonzeptionen in den Griff zu kriegen, als Rahmen für die längerfristige Planung von Grossprojekten im Verkehrsbereich.
Eine Kontroverse ergab sich innerhalb des ATB, als 1960 der Bundesrat den eidg. Räten eine Erhöhung des Benzinzolls um 7 Rappen
pro Liter zur Finanzierung des Nationalstrassenbaus beantragte. Die
Fédération routière suisse (FRS), der Dachverband der Verkehrsverbände, dem auch der ATB angehörte, drohte mit dem Referendum,
falls ein höherer Zuschlag als 3 Rappen beschlossen werde. Die Meinungen im ATB gingen in der Folge bereits um die Frage auseinander, ob ein allfälliges Referendum unterstützt werden soll oder nicht.
Das Spektrum der Meinungen lässt sich gut an der protokollierten
Diskussion in der damaligen Geschäftsleitung ablesen. Da gab es auf
der einen Seite die Pragmatiker, die davon ausgingen, dass im Nationalstrassenbau «etwas getan werden muss, und das kostet!» Es sei
nicht zu umgehen, dass finanzielle Mehrleistungen im Sinne eines
Benzinzollzuschlages denjenigen überlastet werden müssen, die die
Strassen zum eigenen Vorteil befahren. Die Motorfahrer-Seite hingegen befand den Zollzuschlag von 7 Rappen eindeutig als zu übertrieben und befürwortete eine Unterstützung des Referendums. Genau
wie der Bund das Militärwesen subventioniere und die Hotellerie unterstütze, könne man das für den Strassenbau wegen dessen volkswirtschaftlicher Bedeutung erwarten. Die einseitige Zollbelastung der
Benzinverbraucher wurde als «schreiende Ungerechtigkeit» betrachtet. Auf der andern Seite lasse man «die mit Diesel fahrenden Wagen
und Strassenmörder leer ausgehen», womit offensichtlich der Schwerverkehr gemeint war. Zentralpräsident Kistler gab zu bedenken, dass
die Alternative zur Benzinpreis-Erhöhung die Finanzierung des Nationalstrassenbaus auf dem Anleihenswege wäre. Das würde jedoch die
Preise hochschrauben und inflatorische Auswirkungen haben, worunter wiederum die Arbeiterschaft zu leiden hätte.
Am Rande der Debatte um den Benzinzoll-Zuschlag kam es zu einem Geplänkel zwischen Redaktion und Geschäftsleitung, als Nationalrat Max Weber in der Parlamentsdebatte einen Kompromissantrag
stellte und dabei erwähnte, dass der ATB sich wahrscheinlich dahinterstellen und auf ein Referendum verzichten würde. Das rief nun
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den Redaktor auf den Plan; im «Arbeiter-Touring» schrieb er: «Etwas
merkwürdig mutet es an, dass von den Verbandsbehörden keine Stellungnahme zu vernehmen war. Wir mussten aus der Tagespresse entnehmen, dass der ATB um seine Meinung angegangen wurde, welche
Nationalrat Weber im Nationalrat bekanntgab. Es wäre sehr zu wünschen, wenn unsere Mitglieder besser auf dem Laufenden gehalten
würden, wie sich unsere Verbandsbehörden zu aktuellen Tagesproblemen, wie dem Benzinzollzuschlag, stellen.» Die Geschäftsleitung
nahm dazu Stellung und wies in ihrer Antwort entschuldigend darauf
hin, dass der ATB Radfahrer und Motorfahrzeugführer unter seiner
Mitgliedschaft vereine: «Während grosse Teile davon den 7-RappenZuschlag als gerechtfertigt, notwendig und tragbar erachtet, wird besonders in den Kreisen unserer Motofahrzeughalter der Aufschlag als
ungerecht, den mutmasslichen Bauausgaben nicht angemessen und
besonders für den werktätigen Motorradfahrer als schwere Last bezeichnet.» Der Satz zeigt das ganze Dilemma auf, in dem sich die Verbandsleitung befand. Vor der Abgabe einer öffentlichen Stellungnahme zur Benzinzoll-Erhöhung wollte die GL eigentlich die MotorfahrerDV abwarten, die im Oktober in Delsberg tagte. Nationalrat Weber
hatte vom ATB nur wissen wollen, ob er sich allenfalls auf einen Kompromiss von 5 Rappen Zuschlag einlassen würde. Und offenbar hatte
die Geschäftsleitung eine vage Zusage gemacht, die nicht verbindlich
sein konnte, da sich noch kein Gremium in der Sache entschieden hatte. Man ahnte wohl nicht, dass diese Konsultation durch ein Votum in
der Nationalratsdebatte öffentlich werden könnte. Die MotorfahrerDelegiertenversammlung in Delsberg fasste, wie nicht anders zu erwarten, eine Resolution zum Benzinzoll-Zuschlag, in welcher der Zuschlag von 7 Prozent als «sehr massiv und übersetzt» bezeichnet wird.
Dem «Arbeiter-Touring» wurde vorgeworfen, er habe nicht entschieden genug gegen den Zollzuschlag geschrieben. Nun hatte die Verbandsleitung zu entscheiden. Der Zentralvorstand stellte es den Mitgliedern frei, das Referendum gegen den Benzinzollzuschlag zu unterzeichnen und beschloss im Hinblick auf die Abstimmung Stimmfreigabe. Nicht ohne den Motorfahrersektionen nahezulegen, bei ihren
Stellungnahmen im Abstimmungskampf «nicht den Eindruck zu erwecken, ihre Haltung sei rückhaltlos jene des Gesamtverbandes». Das
Referendum wurde ergriffen, und die Vorlage im März 1961 mit 54%
Nein-Stimmen-Anteil verworfen.
Die Bekämpfung der Strassenverkehrsunfälle wurde zu einem der
grossen verkehrspolitischen Themen, als 1967 die Unfälle in erschreckender Weise zunahmen. Der sogenannte «schwarze Bettag» mit be-
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sonders vielen Todesopfern auf der Strasse während eines einzigen
Wochenendes ging in die Annalen der Geschichte ein. Die öffentliche
Meinung verlangte drastische Massnahmen, womit sich der ATB in
der Notwendigkeit seiner jahrzehntelangen Bestrebungen in der Unfallverhütung bestärkt sah. Der ATB arbeitete aktiv im Vorstand der
Schweizerischen Konferenz für Sicherheit im Strassenverkehr (SKS)
mit. Der Zentralvorstand und auch die Motofahrerkommission unterstützten die Einführung von Höchstgeschwindigkeitslimiten, aus der
Erkenntnis heraus, dass überhöhte Geschwindigkeit die Hauptursache schwerer Verkehrsunfälle ist.
Pionierarbeit leistete der ATB mit seinen Initiativen für Schülerverkehrsprüfungen, die sich in vielen grösseren und kleineren Städten
bald nach dem Krieg bildeten. Meist wurden sie in Zusammenarbeit
mit anderen Verkehrsverbänden organisiert, wobei sich einige aufs
Zahlen beschränkten, der ATB aber das Personal für die aufwendige Organisation mit den vielen Posten stellte. In Zürich war das zum
Beispiel ein Grossanlass unter ATB-Ägide, der sich bis in die jüngere Zeit jährlich an einem September-Samstag in den verschiedenen
Stadtkreisen abspielte.
Überhaupt nicht einverstanden waren die ATB-Motorfahrer mit
den sogenannten Laternengaragen, zu denen 1962 mit einer eidg.
Verordnung über die Strassenverkehrsregelung die Grundlage gelegt wurde. Immer mehr Gemeinden gingen in der Folge daran, diese Bestimmung umzusetzen und eine Gebühr für nächtliches Parkieren auf öffentlichem Grund zu verlangen. Die ATB-MotorfahrerDelegiertenversammlung forderte mit einer scharfen Resolution die
dem ATB nahestehenden Vertreter in den Behörden auf, sich derartigen Massnahmen zu widersetzen. Der «Arbeiter-Touring» wurde lebhaft für diese Position eingesetzt. Diese Gebühr treffe wiederum «den
Autofahrer mit bescheidenen Mitteln, den Arbeiter, der auf sein Auto angewiesen ist und mit seinem Lohn haushälterisch umzugehen»
habe. Die chaotischen Zustände auf den städtischen Strassen würden
damit nicht behoben; da viel zu wenig Garagen zur Verfügung stünden,
würden damit die Strassen nicht frei. Die Lösung des Problems wurde daher viel mehr darin gesehen, dass die Gemeinden mit Auflagen
für die Grundeigentümer für die Erstellung von genügend Abstellplätzen und Garagen sorgten. In mehreren Städten wurde die Einführung
solcher Gebühren an Volksabstimmungen abgelehnt. Die MotorfahrerKommission des ATB rief in ihrem Tätigkeitsbericht 1970 «zur Wachsamkeit» auf und erinnerte die Sektionen an die Pflicht sich hier einzusetzen, wenn in ihrer Gemeinde Vorstösse für die Einführung solcher
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Gebühren gemacht werden, nachdem der Bieler Kongress einstimmig
gegen die Laternengaragen Stellung bezogen hatte.
1968 konnte Zentralpräsident Kistler einen politischen Erfolg des
ATB verkünden. Nach langem Kampf konnte erreicht werden, dass
Motorradfahrer auf dem Weg zur Arbeit Suva-versichert sind.
5.13. Die Mitgliederleistungen des ATB
Seit den Anfängen der Arbeiter-Radfahrer-Bewegung haben die
Dienstleistungen des Verbandes eine gewaltige Entwicklung durchgemacht. Vor allem mit der Motorisierung hatten die Versicherungsleistungen viel an Gewicht und Vielfalt gewonnen. 1960 führte der
ATB einen Kreditschutzbrief ein. Mitglieder konnten ihn für Fahrten
ins Ausland erwerben und so vermeiden, dass sie bei einem Unfall im
Ausland auf dem Trockenen sassen. Mit dem Kreditschutzbrief konnte
der ATB wieder zur Konkurrenz aufschliessen. Angesichts der starken
Zunahme der Auslandfahrten waren beunruhigende Beobachtungen
gemacht worden. Man weiss von ATB-Mitgliedern, die nur wegen des
Schutzbriefs zum TCS gewechselt sind. Mit dem eigenen Kreditschutzbrief für Fahrten ins Ausland hoffte man, wieder bessere Argumente
für die Agitation bei Autofahrern zu haben. Unumstritten war der
Schutzbrief aber nicht. Wer ins Ausland fährt, habe sich vorher zu
überlegen, ob er dazu über die nötigen Mittel verfüge, wurde etwa
im ZV gesagt. Ein Armenpfleger meldete sich zu Wort, der aufgrund
seiner beruflichen Erfahrungen im Rückzahlungsgeschäft gegen die
Einführung des Kreditschutzbriefes war und befürchtete, Mitglieder
könnten in die Schuldenfalle geraten. Der Zentralvorstand beschloss
die Einführung provisorisch bis zum nächsten Bundestag, der dann
definitiv zugunsten des Kreditschutzbriefes entschied.
1960 wurde die Pannenhilfe von 50 auf 100 Franken erhöht und
1970 auf 150 Franken. Den Pannendienst hatte der ATB in Zusammenarbeit mit dem ACS aufgezogen. Der TCS drohte gerichtliche Schritte an, weil er durch diese ATB-Leistung wieder einmal seine Monopolstellung in Gefahr sah. 1976 erfuhr der Pannendienst einen weiteren Ausbau. Er erstreckte sich jetzt zusätzlich auf das Abschleppen
nach einem Unfall. Bisherige Ausschlüsse wie Pannen wegen schadhafter Batterie oder im Auto stecken gelassener Schlüssel wurden gestrichen. Eine wertvolle Neuerung wurde beim Pannendienst auf den
Anfang des Jahres 1992 eingeführt. Vordem musste man bei einer Panne die nächstgelegene Vertragsgarage selbst ausfindig machen. Die
Liste der Garagen wurde regelmässig im Verbandsorgan publiziert;
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man schnitt das mit Vorteil aus und legte es ins Handschuhfach. Es
gab nun eine einheitliche Telefonnummer der Einsatz-Leitzentrale der
Winterthur-Versicherung. Diese sorgte dann für die Alarmierung des
nächstgelegenen Pannendienstes.
Auch im Schutzbrief gab es Verbesserungen. Die Rückfahrtentschädigung wurde auf 200 Franken erhöht und auch hier ein Beitrag an
das Abschleppen nach einem Unfall ausbezahlt. Gleichzeitig wurde
der Schutzbrief neu konzipiert. Zum Preis von 25 Franken bot er jetzt
die identischen Leistungen wie das Pendant des TCS an. Zu den Leistungen an die Motorfahrer gehörte auch noch eine Wildschädenversicherung, die später auf eine weiter gefasste Tierschädenversicherung erweitert wurde. 1988 wurde eine Marderschäden-Versicherung
eingeführt. ATB-Mitglieder der Kategorie Auto erhielten 30% der entstandenen Kosten rückvergütet, ohne dass deswegen – wie bei den
andern Verkehrsverbänden – ein Zusatzbeitrag hätte geleistet werden
müssen.
Die allgemeinen Mitgliederleistungen des ATB wurden aus Mitteln
einer 1943 gegründeten Stiftung gedeckt: Unterstützung für unverschuldet in Not geratene Mitglieder, Auszahlungen bei tödlich im Verkehr Verunfallten an die Angehörigen, Sachschadenhilfe bei Unfällen
mit dem Velo oder Mofa, Entschädigung bei Zahnschäden durch die
aktive Teilnahme an ATB-Sportanlässen.
Rechtsberatung und Rechtsschutz gehörte von Anfang an zu den
Standardleistungen im ATB. Er wurde allen ATB-Mitgliedern für Ereignisse im Zusammenhang mit dem Strassenverkehr gewährt. Neben diesem verbandsinternen Rechtschutz besteht für die Mitglieder seit 1978 die Möglichkeit, zu sehr günstigen Bedingungen eine umfangreiche Verkehrs- und Privatrechtschutz-Versicherung bei
Coop-Rechtschutz abzuschliessen. Diese Lösung gehört zu den Besten im Lande, da Coop-Rechtsschutz dank seiner Spezialisierung auf
Kollektiv-Abschlüsse, unter anderem mit den Gewerkschaften, ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis anbieten kann.
Um die Mitgliederleistungen gab es an den ATB-Kongressen ab und
zu heftige Diskussionen. Zum Beispiel 1982, als der Zentralvorstand
beantragte, das sogenannte Sterbegeld in eine Notunterstützung umzuwandeln. Die 15 000 Franken, die jährlich als Sterbegeld auszubezahlen sind, wären besser eingesetzt mit einer Leistung, die unschuldig in Not geratenen ATB-Mitgliedern zu Lebzeiten etwas bringt, lautete die Begründung für den Antrag. Eigentlich hätte der Stiftungsrat
das Recht gehabt, dies in eigener Kompetenz zu ändern. Aus verbandspolitischen Gründen wurde es aber dem Kongress vorgelegt. In der
100
Diskussion äusserten sich nur ablehnende Stimmen. Auf das Sterbegeld bestehe ein Anspruch, bei einer Notunterstützung müsse man
«betteln» gehen, was nicht jedermanns Sache sei. Mindestens müsste
man älteren Kollegen den Besitzstand sichern. Der Antrag wird mit
128 zu 93 Stimmen abgelehnt. Aufgrund des Antrages hatte es Austritte oder böse Schreiben von Veteranen gegeben. «Werte Herren
(oder darf man noch ,Genossen sagen)», begann der Brief eines Mitgliedes mit mehr als 53 Mitgliedschaftsjahren. Er könne einfach nicht
begreifen, dass das Sterbegeld, das von jeher zu den Leistungen des
ATB gehört hatte, abgeschafft werden solle. Eine Anpassung des Sterbegeldes an die Teuerung wäre nach Meinung des Veteranen eher
angepasst gewesen.
Mit der Absicht, den Mitgliederservice zu verbessern, kam die Verbandsleitung 1991 mit mehreren lokalen Gewerkschaftsbundsekretariaten überein, diesen den Status von ATB-Infostellen zu geben. Dort
konnten Schutzbriefe bezogen, Reiseversicherungen abgeschlossen
und ATB-Werbematerial bezogen werden. Die Infostellen übernahmen
auch Rechtsberatung und gaben telefonische Auskünfte. Diese Anlaufstellen in Biel, Brugg, Frauenfeld, Luzern und Winterthur wurden jedoch von den Mitgliedern schlecht benutzt, so dass sie nach einiger
Zeit wieder aufgehoben wurden.
5.14. Vom «Arbeiter-Touring» zu «Sport+Verkehr»
Liest man die Rechenschaftsberichte der Redaktion des Verbandsorgans oder auch der Redaktionskommission durch, ist ein roter Faden
erkennbar, der sich durch diese Berichte zieht: ständige Budgetprobleme. «Wir sollen eine gute Zeitung machen, aber sie darf nichts kosten», beklagte Ernst Lie 1964 das Dilemma, dem er sich als Redaktor
stetig ausgesetzt sah. Da standen einerseits die mannigfachen Informationsbedürfnisse des Verbandes und seiner Sparten und anderseits
die nicht immer rosige Kassenlage des Verbandes. Die in Gang kommende und zusehends auch die Mitglieder des ATB ergreifende Massenmotorisierung stellte zudem neue fachliche Anforderungen an den
Inhalt der Verbandszeitung, denen mit der freien und nicht immer zuverlässigen Mitarbeit von Mitgliedern, die nur für ein symbolisches
Honorar schrieben, schlecht zu begegnen war. Für den Einkauf von
Fachbeiträgen reichte das Budget nicht.
Bemühungen, die Kosten der Zeitung durch mehr Inserateinnahmen
zu dämpfen, hatten in der Hochkonjunktur der 50er- und 60er Jahre einen gewissen Erfolg. Man versuchte es mit einer Professionalisierung
101
des Inserategeschäfts. 1946 wurde mit Mosse Annoncen ein Pachtvertrag abgeschlossen. Später wurde die Inseratenregie einem freischaffenden Fachmann übertragen.
So sehr die Einnahmen aus dem Inseratengeschäft willkommen waren, war es zuweilen doch auch ein Herd der Kritik von seiten der
Mitglieder. Es war gleichzeitig eine Kritik an der Kommerzialisierung
der Gesellschaft, die nach dem Weltkrieg einsetzte und von der man
den ATB freihalten wollte. 1949 hatte den Zentralvorstand ein geharnischter Brief des Vorstands des zentralschweizerischen Bezirks 8 erreicht. Er liess sich einleitend über den «Unfug, den Textteil der Zeitungen und Fachblätter mit Inseraten zu verunstalten» aus. Anlass
zu dem Schreiben gab die Platzierung einer Reklame auf der Frontseite des «Arbeiter-Tourings». Was einst ein Privilegium zweifelhafter
Güte der Sensationspresse gewesen sei, heisst es im Brief, «ist heute mit wenigen rühmlichen Ausnahmen allgemeine Erscheinung geworden». Das mache die Sache aber nicht besser. Die Aufmachung
solcher Druckerzeugnisse seien ein «typisches Spiegelbild der verlotterten, korrumpierten und im Zerfall begriffenen kapitalistischen Zeitepoche». Nur im Zeitalter der überspitzten «Gewerbefreiheit», wo die
kapitalistische Profitgier Orgien feiere, sei diese Rücksichtslosigkeit
gegenüber Lesern und Abonnenten bzw. Mitgliedern einer Organisation denkbar und möglich. Wenn man dieser Zeiterscheinung im Allgemeinen machtlos gegenüber stehen müsse, so auf keinen Fall in der
eigenen Organisation. Die Reklame auf der ersten Seite des «ArbeiterTourings» wurde von den Briefschreibern als eine Provokation des Redaktors empfunden und eine «Missachtung seiner geistigen Arbeit,
wenn man so die kapitalistische Fratze» zeige. Der ATB stehe nun
vor der Alternative, mit der Verbandszeitung entweder ein «seriöses
Organ und geistiges Bindeglied der Mitgliedschaft» zu haben oder
«eine Dienerin irgendeiner Firma oder eines Konzerns mit mehr oder
minder guter Bezahlung für geleistete Dienste» zu sein. Der Bezirksvorstand forderte «die sofortige Abstellung der Platzierung von Reklamen auf der ersten Seite» des Organs.
Solche Interventionen, aber auch politisch motivierte Ablehnungen
von Inseratekunden durch die Verbandsbehörden, wie es schon früher
im Fall der Inserateaufträge des Hotelplans zu beobachten war, machten die Inserateakquisition für die Zuständigen nicht einfach. Die Versuchung war gross, potenziellen Inseratekunden Vorleistungen im redaktionellen Teil anzubieten, um eventuell ins Geschäft zu kommen.
Ein Unterfangen, das dann verständlicherweise bei der Redaktion keinen Anklang fand, weil sie den Platz lieber für die Informationsbedürf-
102
nisse des Verbandes und seiner Sektionen verwenden wollte, statt für
PR-Artikel. Statt sich voll für die Verbesserung der Verbandszeitung
engagieren zu können, hatte die Redaktionskommission in den 50er
Jahren einen guten Teil ihrer Zeit für die Auseinandersetzungen zwischen Inserateregie und Redaktion des Organs zu verwenden.
Hans Gasser, der den «Arbeiter-Touring» seit den Kriegsjahren redigierte, gehörte von Amtes wegen dem Zentralvorstand an, der bis
1960 das engste Führungsgremium war. So war er immer an der Quelle der Informationen. Als dann eine Geschäftsleitung an die Stelle des
Zentralvorstands als oberstes Leitungsgremium trat, fühlte sich Gasser vom Informationsfluss abgeschnitten. Seinem Gesuch, informell
zu den Sitzungen eingeladen zu werden, wurde von der Geschäftsleitung nicht entsprochen. Auf den Bundestag 1962 in Bern reichte er
seine Demission ein.
Zu seinem Nachfolger wählte der Bundestag Ernst Lie. Er hatte Pläne für den Ausbau der damals 14-täglich erscheinenden Zeitung. Zwar
müsse gespart werden; er hoffte aber, dass sich die Sektionen mit ihren Berichten disziplinierter Kürze befleissigen, um Platz zu gewinnen
für Inhalte, die alle interessieren. Zu seinen Plänen gehörte auch das
Aufziehen eines Pressedienstes, um für den ATB mehr Präsenz in der
Tagespresse zu erzielen.
Lie brachte im Unterschied zu seinen Vorgängern professionelles
Know-how ins Amt und hatte schon Erfahrung in der Arbeiterkulturbewegung. Aber bereits nach einem Jahr reichte er seinen vorzeitigen
Rücktritt ein. Grund war einerseits das Zusammenstreichen des Zeitungsbudgets durch den Zentralvorstand; es wurde um mehr als einen
Viertel von 70 000 auf 50 000 Franken gekürzt. Damit wurden seine
Ausbaupläne zunichtegemacht. Die mit diesen bescheidenen Mitteln
hergestellte Zeitung konnte seiner Ansicht nach nicht für Mitgliederwerbung genutzt werden, und es sei auch schwierig, damit Inserenten
zu finden.
Den Ausschlag für seinen Rücktritt gab aber sicher das gestörte
Vertrauensverhältnis zur Geschäftsleitung, vor allem nachdem diese
ziemlich dreist Zensur ausgeübt hatte. Es drehte sich um den Kampf
gegen die Erhöhung der Haftpflichtversicherungsgebühren für Motorfahrzeuge. Der Redaktor hatte sich im Konsens mit der Meinung der
dem ATB angeschlossenen Motorfahrer gegen die Erhöhung stark engagiert und dem Vorhaben der Versicherungen den Kampf angesagt,
um die «Interessen des kleinen Mannes» zu wahren. Die Geschäftsleitung stand in dieser Sache jedoch eher Gewehr bei Fuss. Man vermied
es, gegen die Versicherungen Stellung zu beziehen, weil es der Ap-
103
parat mit dem Vertragspartner, der Winterthurer Versicherung, nicht
verderben wollte. Öffentliche Kritik wurde deshalb nach Möglichkeit
unterdrückt, was im Fall des «Arbeiter-Tourings» bis zur Intervention
bei der Druckerei der Zeitung ging. Hinter dem Rücken des Redaktors wurden Artikel aus der zum Druck fertiggestellten Zeitung entfernt. Das Vertrauensverhältnis zwischen Redaktion und Geschäftsleitung war also gründlich gestört. Die GL akzeptierte denn auch den
Rücktritt Lies, nicht aber der Zentralvorstand. Der ZV bewog Lie zum
Bleiben, der unter einer Bedingung einwilligte. Der Missstand, der bereits beim Rücktritt des Vorgängers entscheidend war, sollte beseitigt
werden: Das entzogene Mitspracherecht in der Verbandsleitung und
die sehr lückenhafte Information über die dort besprochenen Probleme. In der Folge hatte der Hauptredaktor wieder Einsitz im engeren
Leitungsgremium des ATB.
An der Zentralvorstandssitzung vom Herbst 1963 wurde der Vorschlag gemacht, den «Arbeiter-Touring» nur noch monatlich statt 14täglich, dafür aber «in präsentablerer Form» erscheinen zu lassen.
Dieser Idee stand Redaktor Lie nicht abgeneigt gegenüber, erachtete
sie jedoch nur als halbe Lösung. Ein in kürzerer Folge erscheinendes
Bindeglied in der Mitgliedschaft sei trotzdem notwendig, kommentierte er den Vorschlag. Seiner Meinung nach nehmen die jeweils nur einen kleinen Teil interessierenden Sektionseinsendungen im «ArbeiterTouring» einen zu grossen Platz ein. Diese gehörten eigentlich eher
in die Lokalpresse, wo sie die Öffentlichkeit auf den ATB und seine
Tätigkeiten aufmerksam machten. Redaktor Ernst Lie liess sich am
Bundestag 1964 in Luzern schliesslich nochmals für eine Amtsdauer
wählen, demissionierte dann aber zwischenzeitlich. Sein Nachfolger
wird Rainer W. Walter, der diese Aufgabe während 27 Jahren ausüben
sollte.
Auch RWW, wie Rainer W. Walter seine redaktionellen Beiträge zu
zeichnen pflegte, hatte mit Budgetproblemen zu kämpfen. Umso mehr,
als die teuerungsgeplagten Jahre Ende 60 und Anfang 70 die Druckkosten in die Höhe schnellen liessen. Zusammen mit der Redaktionskommission war er stets bemüht, den Sachzwang Einsparungen derart zu bewältigen, dass der «Arbeiter-Touring» möglichst nicht auf
Kosten der Qualität ging. Eine der Massnahmen war in den siebziger Jahren die Umstellung auf monatliche Erscheinungsweise, wie es
früher schon vorgeschlagen wurde. Die längeren Erscheinungsintervalle hatten den Vorteil, dass mehr Zeit vorhanden war für die Vorbereitung der Ausgaben. Der grössere Umfang der einzelnen Ausgabe
ermöglichte auch eine bessere spartenmässige Ausgewogenheit des
104
Inhalts. 1982 stellte die Sektion Frauenfeld den Antrag, auf 2 Ausgaben pro Monat auszubauen. Die dazu berechneten Mehrkosten von
100 000 Franken liess das Vorhaben aber von Anfang an illusorisch
bleiben. Die Flucht nach vorne ergreifen wollte ein Zürcher Antrag,
es sei vom «Arbeiter-Touring» jährlich zweimal eine Grossauflage von
100 000 Exemplaren zu drucken, die von den Sektionen zu Werbezwecken verteilt werden könnten und dank der hohen Auflage zusätzliche
Inserateinnahmen bringen würde. Berechnungen zeigten indes, dass
die Zusatzeinnahmen niemals mit den Mehrkosten Schritt halten oder
von diesen sogar übertroffen würden.
Als der seit 1940 erscheinende Junge Radler ab 1960 nicht mehr regelmässig erschien und 1963 ganz eingestellt wurde, arbeitete man
vorerst an einem Ersatzprojekt namens «Freie Fahrt». Die schlechte Ausführung des Vorschlags, wie die Redaktionskommission befand,
vermochte jedoch nicht zu befriedigen. Es wurde wohl auch wegen
der Kosten nichts daraus. Indessen wurde im «Arbeiter-Touring» eine
Jugendspalte geführt.
In den Beziehungen zwischen Geschäftsleitung und Redaktionskommission hing 1969 der Hausfrieden etwas schief, als der französischsprachige Redaktor Pohl nach dessen Kündigung zu ersetzen war. Die
Stelle wurde ausgeschrieben. Die Geschäftsleitung hielt sich bei der
Stellenbesetzung nicht an den Vorschlag der Redaktionskommission,
worauf diese energischen Protest einlegte. Neuer Redaktor für die
Seiten der Romandie wurde Claude Naef.
Im Rahmen der Statutenrevision am Kongress 1976 stellte die Sektion Bern Stadt den Antrag, dass der Redaktor des Verbandsorgans
nicht der Geschäftsleitung angehören darf. Begründet wurde er von
alt Zentralpräsident Iseli, der mit der Gewaltentrennung argumentierte. Der Redaktor soll eine von der Geschäftsleitung unabhängige Stellung haben, was nicht der Fall sei, wenn er dem Gremium selbst angehört. Der Antrag fand bei den Kongressdelegierten keine Unterstützung.
Rainer W. Walter hat in den 27 Jahren seines Wirkens am «ArbeiterTouring» bzw. «Sport+Verkehr» die Redaktion des Verbandsorgans
ausserordentlich geprägt. In einer Würdigung dieses Einsatzes wird
in der Ausgabe 1/92 von «Sport+Verkehr» festgehalten, dass er das
Niveau der Zeitung über die Ansprüche eines gewöhnlichen Verbandsorgans weit hinausgehoben hat und sie auch für andere Aspekte des
gesellschaftlichen Lebens offen hielt. Zu einem eigentlichen Markenzeichen seiner Schriftleitung wurde die Pflege eines sorgfältigen und
kulturbasierten Reisejournalismus. Und dies längst bevor das Schlag-
105
wort vom «alternativen Reisen» auftauchte. Er hat mit der Vielfalt des
«Arbeiter-Tourings» und später im «Sport+Verkehr» vorgelebt, dass
sich der ATB nicht nur als eine Sport- und Verkehrs-, sondern auch als
eine Kulturorganisation zu verstehen hat.
Mit der Übernahme der Redaktion des Verbandsorgans durch Peter
Berger Anfang 1992 verband sich eine grundlegende technische Änderung in der Herstellung der Zeitung, deren Produktion schon einige
Jahre vorher von Bern nach Biel verlegt worden war. Die Druckvorstufe für den deutschsprachigen Teil erfolgte jetzt nicht mehr in der Druckerei. Das Layout wurde neu im Digitalsatz von der Redaktion selbst
erledigt. Damit konnte Zeit im Ablauf gewonnen werden, ausserdem
boten sich so neue Möglichkeiten im Einsatz grafischer Mittel an. Und
vor allem konnte realisiert werden, was im Bestreben, den Platzbedarf zu reduzieren, schon seit Jahren immer wieder vorgeschlagen
wurde: Die Sektionseinsendungen und die Ranglisten wurden in kleinerer Schrift gesetzt, was deren Platzbedarf wesentlich reduzierte.
Mit dem konventionellen Satz hätte eine kleinere Schrift wegen des
höheren Seitenpreises keine Ersparnis gebracht.
5.15. Aussensicht auf den ATB ist gefragt
In seiner ersten Amtszeit war der 1986 zum Zentralpräsidenten gewählte Albert Eggli bestrebt, die vom Kongress beschlossene Neustrukturierung zu konsolidieren. Was die Spoko betrifft war das kein
Problem, weil dort unter der Leitung von Verbandsvizepräsident Max
Zülli ein seit Jahren eingespieltes Team am Werk war. Hingegen hatte
die Veko andauernd Probleme, personell ihren Sollbestand zu erreichen. Die Vakanzen in den Ressorts erschwerten die Erfüllung des
erklärten Ziels, sich an allen verkehrspolitischen Vernehmlassungen
des Bundes und wenn möglich auch der Kantone zu beteiligen. In einer Bilanz seiner ersten Amtszeit stellte Albert Eggli fest, dass mit den
in den neuen Statuten verankerten effizienteren Strukturen allein das
Stagnationsproblem des ATB nicht zu lösen ist. Auf der Suche nach tiefer gelegenen Ursachen kam die Geschäftsleitung zum Schluss, dass
man nicht weiterkommt, wenn die internen Probleme lediglich aus
der Innensicht der in die tägliche Verbandsarbeit Involvierten gesehen wird. So schien es sinnvoll, aussenstehende Fachleute beizuziehen, um sich einen Spiegel vorhalten zu lassen. Man bestellte bei der
Berner Firma BVM Beratergruppe für Verbands-Management eine Offerte und erteilte ihr dann den Auftrag für eine Studie. Im ATB machten die BVM-Leute ein «symbiotisches Wirken» unterschiedlicher Ak-
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tivitätsgruppen aus, was sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche
des Verbands sein könne. Und dazu kämen gewisse innere Widersprüche im politischen Selbstverständnis. Das Institut hatte dazu die Regionen sowie die Kommissionen befragt, was allerdings kein einheitliches Bild der Meinungen ergab, immerhin aber einige interessante
neue Gedanken zum Vorschein kommen liess. Aufgrund seiner Nachforschungen kam das Institut zum Schluss, dass der ATB seine Bereiche Sport und Verkehr beibehalten und diese 2-säulige Struktur
noch konsequenter anwenden solle. Im Sport empfahl das B’VM sich
auf das Kunstradfahren und den Radball, seine beiden «Perlen», zu
konzentrieren. Im Verkehr gehe es vordringlich darum, sich eine soziologische Mitglieder-Zielgruppe zu definieren und sich dann konsequent auf diese zu konzentrieren. Aufdrängen würde sich dabei, da
bei einem grossen Teil der Mitglieder diese Bindung ohnehin schon
vorhanden ist, eine Profilierung als Verkehrsverband der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Es müsste deshalb nach neuen Wegen
gesucht werden, das grosse Potenzial der Gewerkschaftsmitglieder
zu erschliessen. Dazu wäre es wertvoll, neue, originelle Leistungen
für Verkehrsteilnehmende zu finden. Vor dem Hintergrund zunehmender Probleme bei der Rekrutierung ehrenamtlicher Vereinsfunktionäre stellte die B’VM auch die Sektion als unterste Basiseinheit in Frage.
Eine mögliche Lösung sah B’VM darin, regionale Organisationseinheiten als Basisgliederungen zu schaffen.
Mitten im Abarbeiten der Studie erfolgte die Kündigung von Alois
Steinger als Zentralsekretär. An seine Stelle trat 1990 Walter Dellsperger, der sich nun in kurzer Zeit in diese Zukunftsdiskussionen einzuklinken hatte. Einige Monate vor dem Ablauf seiner Amtszeit stellte
Albert Eggli sein Mandat zur Verfügung, da er an einer Zentralvorstandssitzung im Oktober 1991 feststellen musste, dass ein Teil der
Regionen sich nicht mit dem nötigen Ernst mit der Studie befasste
und einen leichtfertigen Umgang mit den Fristen pflegt, so dass das
Ziel, bis zum Kongress 1992 konkrete Massnahmen vorschlagen zu
können, gefährdet war. Es habe sich an dieser Sitzung gezeigt, dass
einige Funktionäre «annehmen, man könne im alten Trott weiterfahren». In seinem Rücktritt sah er die einzige Chance, die Blockierung
der Verbandsarbeit aufzuheben.
Verbandsvizepräsident Max Zülli übernahm das Präsidium interimistisch und setzte im Januar 1992 eine Zentralvorstandssitzung an,
die sich mit den nicht in allen Punkten ganz neuen BVM-Vorschlägen
befasste. Sehr kritisch wurde die angeregte Aufhebung der Sektionsebene betrachtet. Als bessere Alternative wurde die Fusionierung von
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Sektionen, vor allem in städtischen Bereichen, ins Spiel gebracht. Der
ZV beauftragte eine 7er-Kommission mit dem Ausarbeiten von Vorschlägen für das weitere Vorgehen.
1991 konnte der ATB sein 75-Jahr-Jubiläum feiern. Das Fest fand
zusammen mit der Verbandsmeisterschaft in Lengnau statt. Jubiläumsredner war Nationalrat Fritz Reimann, langjähriger Präsident des
Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.
Am Kongress 1992 in Olten stand ein Antrag des Kantonalverbandes Zürich, Schaffhausen und Umgebung für eine Namensänderung
zur Diskussion. Er schlug die Umbenennung in «Verband für Verkehr,
Sport und Freizeit VST» vor. Die Geschäftsleitung machte einen Gegenvorschlag: «ATB Verband für Verkehr, Sport und Freizeit», worauf
die Zürcher ihren Antrag zurückzogen. Beim Kongress fand jedoch ein
Antrag die Mehrheit, der die Namensfrage auf einen nächsten Kongress vertagen wollte, wo ohnehin in Umsetzung von Erkenntnissen
aus der BVM-Studie eine Statutenrevision notwendig sein wird. Somit wurde die Umbenennung nochmals um 3 Jahre verschoben. In
Olten wird auf Antrag des ZV und der Geschäftsprüfungskommission beschlossen, zur Unterstützung der GPK eine professionelle Treuhandstelle zu beauftragen. Max Zülli wird an diesem denkwürdigen
Kongress zum neuen Zentralpräsidenten gewählt. Damit endeten die
mehr als 30 Jahre, in denen SP-Nationalräte den ATB führten.
108
6. Auf dem Weg zum Sportverband
Bereits 1982 hatte Max Zülli als Präsident der SpoKo ein Leitbild
des ATB-Sports initiiert. In der Vorarbeit wurde der Ist-Zustand des
Sports im ATB analysiert, dem Ideal-Zustand gegenübergestellt und
daraus als Synthese realistische Ziele abgeleitet. Diese Zielvorgaben
wurden schliesslich zur Grundlage des Leitbildes für den ATB-Sport.
Das Image des ATB-Sports wurde in Fachkreisen als gut, hingegen
in der Öffentlichkeit als weitgehend nichtexistent taxiert. Dem sollte gemäss Leitbild Abhilfe geschaffen werden mit konsequenter Abwicklung der Trainerausbildung über Jugend+Sport. Dazu sollten alle
Radsportarten des ATB auf J+S-Grundlagen aufgebaut und die Priorität auf die Jugendleiterausbildung gesetzt werden. Hatte man bei
der Aufnahme des Ist-Zustandes festgestellt, dass der grösste Teil der
Sektionen überhaupt keinen Sport betreibt, sollte sich dies in Zukunft
ändern. Jede ATB-Sektion sollte ein Top-Veloclub sein und mindestens
Geländesport, möglichst aber noch eine Hallenradsportart betreiben.
Zudem soll die Einführung neuer Sportarten, die vor allem für die Jugend attraktiv sind, wie etwa Fahrrad-Trial, eine Art Hindernisfahren,
geprüft und die Führungsrolle des ATB im Einradrenngeschehen ausgebaut werden. Es wurde ferner daran gedacht, auf regionaler Basis
die Jugendsternfahrten mit den dazugehörenden Wettkämpfen wieder
zu reaktivieren, um bei jungen Mitgliedern die Sportbegeisterung anzufachen. Das Leitbild postulierte auch mehr Mitsprache im verbandsübergreifenden Hallenradsport durch eine beratende Stimme in der
Fachkommission Saalsport des SRB. Im Radball setzte das Leitbild
zum Ziel, den Leistungsrückstand gegenüber dem SRB zu vermindern
durch die Schaffung zusätzlicher Spielmöglichkeiten in den unteren
Ligen und gleichzeitiger Förderung der Nachwuchsleiter- und Spielleiterausbildung. So sollte der ATB sich im Radball an die Spitze vorarbeiten; mittelfristig setzte man sich zum Ziel, mit 3 ATB-Mannschaften
in der Nationalliga A vertreten zu sein und längerfristig gar mit deren
6.
Das Leitbild für den ATB-Sport von 1982 diente in den Folgejahren
als Grundlage für die grossen Anstrengungen der Sportkommission
für den Aufbau des Sportsektors, vor allem auch – wie schon an anderer Stelle erwähnt – unter gezielter Ausnutzung von Jugend+Sport für
109
die im ATB gepflegten Radsportarten. Rückblickend darf festgehalten
werden, dass es das Leitbild und die darauf basierende Aufbauarbeit
war, die den ATB zumindest im Hallenradsport vorwärts gebracht hat.
Max Zülli, am Oltner Kongress 1992 als erklärter Reformpräsident
angetreten, hatte mit der Geschäftsleitung die Arbeit für eine Neugestaltung des ATB zügig an die Hand genommen. Dazu wurden 6
Thesen erarbeitet und den Sektionen und Regionen zur Vernehmlassung unterbreitet. Die Thesen wurden zudem in der Verbandszeitung
publiziert und die Mitglieder aufgerufen, sich dazu zu äussern. «Komplett anders und offener» müsse der ATB werden, heisst es in These 1, «Die ATB-Neuorientierung». Zu erreichen sei das mittels Verbandsmanagement und Qualität der Funktionäre sowie einem «lebendigen, familienfreundlichen Angebot für die Freizeit». Die These «Das ATB-Grundangebot» erklärt zufriedene Verkehrsteilnehmer,
gesunden Breitensport und sinnvolle Freizeitgestaltung» zum Programm des ATB. Zum Thema «ATB und Politik» bestätigen die Thesen,
was schon seit 1976 in den Statuten steht: Der Verband ist konfessional neutral und politisch unabhängig. Zum zukünftigen Verbandsnamen sprechen sich die Thesen für eine neue Verbandsbezeichnung
unter Beibehaltung des ATB-Kürzels aus. Die These «Gliederung des
ATB» strebt ein «gut organisiertes Zentralsekretariat», eine kleine Geschäftsleitung und einen effizienten Zentralvorstand» an. Das Regionalsystem soll beibehalten, die Gliederung und Sektionszuteilung jedoch überprüft werden. Nicht lebensfähige, inaktive Sektionen sind
zu fusionieren. Ein «kontrolliertes, langsames, aber stetiges Wachstum, aber nicht um jeden Preis» setzt sich eine letzte These zum Ziel.
Das Ganze soll schliesslich dazu führen, dass der ATB möglichst viele,
zufriedene, begeisterte Mitglieder hat, die auf ihre Verbandszugehörigkeit stolz sind. Gleichzeitig mit der Verabschiedung der 6 Thesen
setzte der Zentralvorstand eine Projektkommission ein mit dem Auftrag, an den Thesen weiterzuarbeiten und für den nächsten Kongress
eine Statutenrevision vorzubereiten.
6.1. Eine gründlich vorbereitete Verbandsreform
Der Aufruf zur Diskussion der Thesen blieb nicht ungehört. In der Verbandszeitung «Sport+Verkehr» meldeten sich mehrere Stimmen. Die
Spanne der Meinungen ging von möglichst wenig ändern und vor allem nicht am Namen bis zur Forderung nach Auflösung. Seiner linken
Ausrichtung habe der ATB seine Entstehung zu verdanken und der
soll er auch treu bleiben und den geraden Weg gehen, hiess es in einer
110
der Stellungnahmen. Wenn der Verband «gesund und sauber geführt»
werde, sei die politisch linke Ausrichtung kein Hindernis, mit Erfolg in
die Zukunft zu gehen. Politisch nicht weit entfernt lagen andere, die
aber zu einem alternativen Schluss kamen. Der ATB habe keine eigene
Identität und kein Profil mehr. Er biete nichts an, was nicht in andern
Kulturorganisationen der Arbeiterbewegung bestens aufgehoben wäre. Deshalb sollte sich der ATB auflösen, seinen Sportbereich dem Satus übergeben und den Freizeitbereich den Naturfreunden. Zwischen
diesen beiden Extremansichten gab es die Stimmen, die auf der Linie
der Reformthesen lagen und sich dafür aussprachen, den Verband an
die Bedingungen einer sich stark veränderten Freizeitgesellschaft anzupassen, ohne aber seine Vergangenheit und traditionellen Werte zu
verleugnen. Worauf die Verbandsreform mit fortschreitender Diskussion hinauszulaufen begann, fasst Max Zülli in einem Interview in der
Verbandszeitung zusammen: «Da wir eine offene, aufgeschlossene Organisation sein wollen, soll durch den Namen des Verbandes niemand
davon abgehalten werden, zu uns zu stossen. Massgebend soll sein,
ob sich jemand mit den Idealen der Organisation identifizieren kann.
Hingegen müssen wir die drei Buchstaben ATB beibehalten. Sie geben
uns die notwendige Identität und erinnern uns an die Herkunft der Organisation. Wesentlich beim Ganzen ist, dass die Inhalte stimmen, und
da habe ich oft den Eindruck, dass es vielen vehementen Gegnern einer Namensänderung mehr auf das Äussere ankommt. Wir tun aber
den Vorkämpferinnen und Vorkämpfern im Arbeiter-Touring-Bund das
grössere Unrecht, wenn wir einfach die Fassade unter Denkmalschutz
stellen, anderseits aber die Inhalte und Grundsätze der Arbeiterbewegung vernachlässigen.» Das kulturelle Erbe der Arbeiterbewegung
und ihr Grundsatz der Solidarität gelte es weiter zu pflegen und aufrechtzuerhalten.
Nach einer ausgiebigen, halbjährigen Diskussionsphase in den Sektionen und Regionen, die 55 Änderungsvorschläge am Statutenentwurf auslöste, zeigte am Anfang des Kongressjahres 1995 die Verbandsreform ihre klaren Konturen: Kern der Reform ist die Schaffung eines leistungsfähigeren Exekutivorgans. Dazu wird der bisherige, aus Regionsvertretern zusammengesetzte Zentralvorstand durch
einen verkleinerten Verbandsvorstand ersetzt, dessen Zuständigkeitsbereiche in Fachressorts unterteilt sind. Das Gremium kann so häufiger tagen und wird dadurch handlungsfähiger. Anstelle des bis anhin im 3-Jahr-Turnus tagenden Kongresses gibt es neu eine alljährlich
stattfindende, weiterhin von den Sektionen beschickte Delegiertenversammlung. Von der nun jährlich tagenden Delegiertenversamm-
111
lung erhofft man sich mehr sachbezogene Arbeit und weniger Tagungsrituale. Die Spitze wird also schmaler, dafür handlungsfähiger.
Da neu jedes Jahr vor dem obersten Organ Rechenschaft abgelegt werden muss, wird die Verbandsdemokratie gestärkt. Die Verbindung der
Verbandsleitung zu den Regionen soll neu durch ein Konsultativorgan,
die Konferenz der Regionspräsidenten, gewährleistet werden. Und zudem gibt es im neuen Verbandsvorstand ein Ressort «Betreuung der
Regional- und Kantonalverbände», das sich proaktiv um die Regionen
kümmert. Weggefallen sind in der neuen Struktur die Sport- und die
Verkehrskommission; sie sind jetzt Ressorts im Verbandsvorstand, wobei der Hallenradsport, der Geländeradsport sowie Jugend+Sport je
ein eigenes Ressort bilden. Dann war da noch die Namensfrage. Sie
trat bei dieser Statutenrevision bei weitem nicht mehr so in den Vordergrund wie das früher der Fall war. Der Schwerpunkt der Reform
lag eindeutig auf den Strukturen. Der neu beantragte Name «ATB
Verband für Verkehr, Sport und Freizeit» wurde sowohl jenen Mitgliedern gerecht, die sich in der Verbandsbezeichnung mit ihrer Aktivität
wiederfinden möchten, als auch jenen, welche darin noch einen Hinweis auf die Herkunft der Organisation wünschten. Letzteres wurde
in den neuen Statuten sogar noch verstärkt. Erstmals seit der Revision von 1962 wird im Zweckartikel mit dem Satz «Der ATB ist ein Teil
der schweizerischen Arbeitersport- und -Kulturbewegung» wieder eine konkrete Aussage zur Herkunft der Organisation gemacht.
Die gründliche Vorbereitung der Reform und die breit angelegte
Diskussion in einem Prozess ohne Zeitdruck zahlte sich aus. Die Zustimmung zu den neuen Statuten fiel am Kongress in Biel mit 197 Ja
bei 200 Stimmenden fast einstimmig aus. Ein wichtiger Schritt auf
dem Weg zu einem handlungs- und leistungsfähigen Verband war damit vollzogen. Ob die Reform am Ende auch gelingt, hing jetzt davon
ab, ob es gelingen würde, die Ressorts gut zu besetzen. Eine weitere
Voraussetzung war es, den professionellen Verbandsapparat wieder
komplett und kompetent zu besetzen, da zu jener Zeit die Stelle des
Zentralsekretärs vakant war. Dass es nicht einfach war, für die Ressorts ausgewiesene Personen zu finden, zeigte sich an der Delegiertenversammlung 1996 in Herisau, wo der neue Verbandsvorstand zu
bestellen war. Gleich 3 Ressorts blieben an der DV vakant, darunter
zwei so wichtige wie Finanzen und Verkehr. Ein Zustand, der mittelfristig nicht behoben werden konnte. Dafür gelang es 1996, mit Lilo
Fröhlin eine ausgewiesene Geschäftsleiterin zu engagieren, der dank
ihrer Kompetenz und ihrem Engagement in der Mitgliedschaft wie in
den Gremien rasch grosse Anerkennung zuteil wurde.
112
6.2. Die Umsetzung der Verbandsreform
Für die Umsetzung der Verbandsreform wurden grosse Anstrengungen gemacht. In den Folgejahren regelmässig durchgeführte 2-tägige
Magglinger Symposien des Verbandsvorstandes wurden dazu benutzt,
um die Reform zu vertiefen und nach Problemlösungen zu suchen.
Öffentlichkeitsarbeit und Informationspolitik war eines der Themen,
das dort beschäftigte. Es wurde festgestellt, dass die für die interne Kommunikation unverzichtbare Verbandszeitung einen zu grossen
Teil der zur Verfügung stehenden Mittel verschlingt, die dann für die
nach aussen gerichtete Informationsarbeit fehlten. Einmal mehr wurde versucht, mit Inserateinnahmen das Zeitungsbudget zu entlasten,
um so Mittel für einen Pressedienst freimachen zu können. Öffentlichkeitsarbeit wurde unter anderem mit Auftritten an Messen gepflegt.
Schon seit den 80er Jahren zeigte der ATB an der Zweirad-Messe in
Oerlikon mit einem eigenen Stand Präsenz. Dieses Engagement ging
auf eine Initiative von Zürcher Mitgliedern zurück. Diese und andere Messepräsenzen wurden in den 90er Jahren auf den Prüfstand
gestellt. Die Teilnahme an der 2-Rad-Messe wurde trotz nicht unbeträchtlichen Standkosten als wichtig eingestuft, um den ATB in Erinnerung zu rufen. Weniger lohnend empfand man Schaufahren an
Messen, wie sie zum Beispiel an der BEA in Bern vorgeführt wurden. Meist müsse dort mit unzureichenden Platzverhältnissen Vorlieb
genommen werden, und auch sonst sei die Messeatmosphäre nicht
unbedingt günstig, um anspruchsvolle Sportarten zu demonstrieren.
Als einer der ersten schweizerischen Verbände überhaupt ging der
ATB im Dezember 1996 mit einer eigenen Website ins Internet. Zunächst für ergänzende und aktualisierte Informationen zum Verbandsorgan «Sport+Verkehr» und zusehends auch mit allgemeinen Informationen zum Verband. Zur Finanzierung der Öffentlichkeitsarbeit
wurde ein Werbefonds eingerichtet. Man stellte sich vor, dass Regionen, die in vielen Fällen finanziell besser dastanden als der Zentralverband, sich so an den Aufwendungen für die Öffentlichkeitsarbeit beteiligen könnten. Aber es waren vor allem viele Einzelmitglieder, die
mit kleineren und grösseren Beiträgen zum Gedeihen dieses Fonds
beitrugen. Im Sportbereich entwickelte sich der Hallenradsport in
diesem Jahrzehnt höchst erfreulich weiter. Die positiven Auswirkungen der Durchführung verbandsübergreifender Aktivitäten waren nun
spürbar. Vor allem im Kunstradfahren machten die ATB-Sportlerinnen
und -Sportler bei regionalen, nationalen und internationalen Konkurrenzen sehr gute Figur. Ob den Erfolgen an der Spitze gab es al-
113
lerdings auch warnende Stimmen, man dürfe die Pyramide nicht zu
schmal werden lassen und müsse unentwegt auch an der Breite arbeiten. Man machte sich auch Gedanken über eine Neukonzeption der
Verbandsfeste. Das Verbandsfest von 1994 in Uzwil sollte das letzte
dieser Art, mit der Austragung von Verbandsmeisterschaften, gewesen sein. Statt ATB-interne Meisterschaften durchzuführen, so wurde an einem Workshop in Magglingen befunden, soll man sich besser
auf die gemeinsamen Meisterschaften ATB-SRB konzentrieren. Allfällige zukünftige Verbandsfeste müssten eher Festival-Charakter haben
mit Demonstrations-Wettkämpfen und möglichst breiter Beteiligung.
Es kam jeodch zu keinem Verbandsfest mehr. Die Verbandsfeste, die
im Leben der ATB-Sportler über Jahrzehnte eine so wichtige Rolle
spielten und stark zur Identitätsbildung beitrugen, hatten sich offensichtlich überlebt. Mit dem heutigen überlasteten Wettkampfkalender,
der im seriös betriebenen Sport intensive Aufbau- und Wettkampfphasen erheischt, wäre es gar nicht mehr denkbar, ein Verbandsfest mit
ATB-internen Meisterschaften durchzuführen. Mit dem Verbandsfest
in Uzwil 1994 und seiner Rekordbeteiligung hatte dieses Kapitel der
ATB-Geschichte indessen einen äusserst würdigen Abschluss gefunden.
Im Geländeradsport, das in Velo-Orientierungsfahren umbenannt
wurde, war in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eher eine Stagnation
festzustellen. Einst dafür gedacht, im ATB die Rolle des früheren Sektionswettkampfes als Breitensportart zu übernehmen, wurde es nie in
dem Masse angenommen, wie man es sich gewünscht hätte. Als schöne und interessante Sportart, die weniger die Muskeln als den Kopf
forderte, ermöglichte es vor allem auch ATB-Mitgliedern, die sich vom
Leistungssport zurückzogen, weiter Sport zu treiben. Die 5000 Volksorientierungsfahrer und 500 Leistungssportler, die man sich im Leitbild 1982 zum mittelfristigen Ziel gesetzt hat, wurden nie nur annähernd erreicht. Es war schwierig, auf Sektionsebene genügend Trainingsmöglichkeiten bereitzustellen, da die Vorbereitung sehr aufwendig war. So wurde meist nur vor Meisterschaften intensiver trainiert.
Dafür hatte der Einradsport weiter Aufschwung genommen. 1997
kamen die Teilnehmenden an den Einrad-Europameisterschaften in
Nyon mit 10 Gold-, 11 Silber- und 8 Bronzemedaillen nach Hause,
sämtliche in den Renndisziplinen erzielt. 1998 führte man Meisterschaften in den Spieldisziplinen Einradhockey und Einrad-Basketball
ein. Dank den Aktivitäten im Unicycling kam der ATB zu einigen neuen
Sektionen. Dem Velotourismus, der in den 90er Jahren durch Veloland
Schweiz kräftigen Auftrieb erhielt, wurde in der Verbandszeitung mit
114
Tourenbeschreibungen verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Es wurden
ausserdem überregionale Velotouren und Veloferien organisiert, die
bis heute ihren Liebhaberkreis haben.
6.3. Das Verkehrsbein wird immer schwächer
Ein Sorgenkind blieb der Verkehr. Das Ressort hätte viele Aufgaben,
wenn es nicht verwaist wäre: Mit verkehrspolitischen Stellungnahmen den ATB mehr ins Gespräch bringen, Koordination und fachspezifische Betreuung der Regionen in kommunalen und kantonalen Verkehrsfragen. Wie schon seit Jahren stellte man fest, dass der Verkehr
wieder zu einem stärkeren Bein des ATB werden müsste; aber es
war schwierig, ein Rezept zu finden. Das Thema Verkehr spielte sich
weitgehend in der Verbandszeitung ab. Dort konnte immerhin über
eine aktive Motorradgruppe berichtet werden. Noch bis Anfang der
neunziger Jahre wurden mit Unterstützung eines vom ACE zur Verfügung gestellten Prüffahrzeuges Abgas- und Lichtkontrollen angeboten. Die Fahrzeuge waren professionell besetzt mit jungen Ingenieuren, die am Anfang ihrer Karriere standen. Oft wurden die Kontrollen
im Areal einer Autogarage durchgeführt, wo Kleinersatzteile bezogen
und so Mängel gleich behoben werden konnten. Dort, wo diese Aktionen durchgeführt wurden, hatten sie Erfolg. Da jedermann sein Fahrzeug kostenlos prüfen konnte, kam es vor, dass mehr TCS- als ATBMitglieder die Kontrollmöglichkeit in Anspruch nahmen. Es lag also
nicht an der Nachfrage, dass es mit der Aktion haperte. Es fanden sich
nur immer weniger Sektionen, welche dieses Angebot abriefen. Eine
gute Imagewerbung für den ATB wurde brach liegen gelassen. Definitiv eingestellt wurde der Service schliesslich, nachdem die Schweizer
Behörden begannen, beim Grenzübertritt des Prüffahrzeuges Probleme zu machen.
Der Aktivität der Auto- und Motor-Sektionen wurden schon länger
immer mehr Grenzen gesetzt. Die früher intensiv gepflegten Motorsportarten wie Gelände-, Orientierungs- und Zuverlässigkeitsfahren
entsprachen immer weniger dem Zeitgeist. Sie wurden Opfer des Umstandes, dass der Motofahrzeugverkehr zunehmend politischen Anfechtungen ausgesetzt war. So wurde es immer schwieriger, bei den
an den Wettbewerben angefahrenen Gemeinden eine Bewilligung zu
erhalten. Das wurde bei den Motorsportlern mit Enttäuschung aufgenommen, hatten doch ihre auch intellektuell anspruchsvollen Sportarten überhaupt nichts zu tun mit Kilometerfresserei, sondern einen
hohen verkehrserzieherischen Wert.
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1996 entschied der Verbandsvorstand, aus dem Strassenverkehrsverband Fédération routière suisse (FRS) auszutreten. Der ATB war
dessen Vorgängerorganisation 1940 beigetreten. Schon seit einiger
Zeit bekundete man Mühe mit der FRS-Politik, die sich nicht mehr
um einen verkehrspolitischen Konsens bemühte und sich zunehmend
für Partikularinteressen in die Schanze warf. Das Fass zum Überlaufen brachte, als die FRS dem Druck des Schwerverkehr-Verbandes
Astag nachgab. Die FRS hatte sich nämlich die Astag-Forderung
auf Schonung des Schwerverkehrs bei der Finanzierung der NeatTransversalen zu eigen gemacht.
Fatal wirkte sich Ende der 90er Jahre aus, als sich im Zuge der Liberalisierung im Versicherungswesen der Konkurrenzkampf der Versicherungen verschärfte. Im Kampf um ihre Kunden begannen die
Versicherungsanbieter, bei Versicherungsabschlüssen Leistungen wie
Entpannung oder Schutzbrief als Dreingabe abzugeben. Der ATB, der
bisher den motorisierten Verkehrsteilnehmenden ein konkurrenzfähiges Leistungspaket anbieten konnte, sah sich durch diese Entwicklung vor unlösbare Probleme gestellt. Ihm war es nicht möglich, wie
die Versicherungen eine Mischrechnung zu machen, so dass er keine
Chance hatte, mit den Dumpingangeboten der Versicherer mitzuhalten. Das viel bemühte «Verkehrsbein», das schon Jahre zuvor als zu
schwach taxiert wurde, drohte nun noch ganz einzubrechen. Besonders als dann 2010 auch noch die Velovignette abgeschafft wurde. Der
Sport wurde nun endgültig zum massgebenden Standbein im ATB, das
noch eine Zukunft hatte.
6.4. Fusion als Ausweg?
Wenig Entwicklungsmöglichkeiten im Verkehrsbereich, bessere im
Freizeitbereich und sehr gute im Sport, analysierte man an der
Magglinger-Tagung 1999. Wie könnte unter diesen Bedingungen die
Zukunft des ATB aussehen? Als aussichtsreiche Lösung sah man eine
engere Zusammenarbeit mit einer anderen Organisation. Als Partner
im Vordergrund standen die Naturfreunde. Sie haben ihre Wurzeln
wie der ATB in der Arbeiterkulturbewegung. Berührungspunkte der
beiden Organisationen gab es im Freizeitbereich, wo Synergien zu
mobilisieren wären, wie man hoffte. Für den Sportbereich wären längerfristig spezifische, auf dessen Bedürfnisse zugeschnittene Strukturen vorzusehen. Noch im laufenden Jahr suchte man das Gespräch
mit den Naturfreunden, und im März 2000 wurde von ATB und Naturfreunden eine gemeinsame Präsidentenkonferenz nach Bern einberu-
116
fen. Hoch motivierte Funktionäre unterbreiteten einen ehrgeizigen
Zeitplan für die Fusion, der einen Vollzug auf den 1. Januar 2001 vorsah. Die Projektgruppe ging davon aus, dass der neue Verband den
Namen «Naturfreunde» trägt, der Begriff ATB hingegen nur noch in
den Bezeichnungen der Sektionen weiterlebt. Im Mai führten beide
Verbände Delegiertenversammlungen durch, wo den Exekutiven der
formelle Auftrag zu Fusionsverhandlungen erteilt wurde. Als erstes
Experimentierfeld der zukünftigen Zusammenarbeit wurden die Verbandsorgane zusammengelegt. Im April 2000 erschien die letzte Ausgabe von «Sport+Verkehr». Dafür erhielten die ATB-Mitglieder vorerst den «Naturfreund», wo dem ATB 8 Seiten für die Information
seiner Mitglieder zur Verfügung standen.
Auf den Oktober 2000 wurde zu einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung eingeladen, um den Zusammenschluss mit den Naturfreunden endgültig unter Dach zu bringen. Doch im August ging
der ATB-Verbandsvorstand über die Bücher und nahm zur Kenntnis,
dass – da der Teufel bekanntlich im Detail steckt – bei den Einzelheiten
des Zusammenschlusses noch zu vieles offen war, um bis im Oktober
spruchreif zu sein. Die ausserordentliche Delegiertenversammlung
wurde abgesagt und den Naturfreunden mitgeteilt, dass man sich
mehr Zeit lassen müsse, wolle man die Fusion zu einem guten Ende
bringen. Inzwischen kamen in einzelnen ATB-Regionen nach der anfänglichen Begeisterung zunehmend Bedenken am Zusammenschluss
zum Tragen. Man wurde allmählich gewahr, dass nach einer Fusion
der Name ATB auf Verbandsstufe verschwinden und nur noch von den
Naturfreunden die Rede sein wird. Diese Einbusse ihrer bisherigen
Verbandsidentität war es, die vielen ATB-Mitgliedern zunehmend zu
schaffen machte. Ähnliches vollzog sich bereits im Mai, als man den
«Naturfreund» an Stelle von «Sport+Verkehr» erhielt. Die Zeitschriftenfrage entwickelte sich ohnehin zu einer der massgeblichen Knacknüsse der beabsichtigten Fusion. Hier machten sich die unterschiedlichen Kulturen und Bedürfnisse der beiden Verbände besonders bemerkbar. Wettkampfkalender und Wettkampf-Ranglisten waren Inhalte, die man in der Zeitschrift der Naturfreunde bisher nicht kannte und fast als Fremdkörper wahrgenommen wurden. Für die ATBSportler waren sie jedoch genau das, was sie von ihrer Verbandszeitung erwarteten. So befriedigten die paar Ausgaben der gemeinsamen
Zeitschrift keine der beiden Seiten. An mehreren Sitzungen befasste
man sich mit der Zeitungsfrage, wobei man sich von seiten der Naturfreunde überrascht zeigte, dass bei der ATB-Mitgliedschaft das Thema Zeitung einen so hohen Stellenwert hat. «Die Leute vom ATB sind
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durchaus selbstbewusst», stellte eine Naturfreunde-Funktionärin fest,
nachdem sie an einer Versammlung der ATB-Region 6 eine Diskussion
miterlebt hatte. Die ATB-Verbandsleitung entschloss sich ab Dezember 2000 auf einen im Naturfreund integrierten ATB-Teil zu verzichten und stattdessen in eigener Regie separat etwas zu drucken, das
dann für die ATB-Mitglieder dem «Naturfreund» beigelegt wird.
Die Diskussionen um das Verbandsorgan scheinen der ganzen Fusion etwas den Schwung genommen zu haben. Ein wesentlicher Unterschied in den beiden Verbandskulturen trat aber auch noch an einem
andern Ort zu tage: Im ATB haben aus seiner Tradition als Verkehrsverband heraus Mitgliederdienste eine sehr viel grössere Bedeutung
als dies bei den Naturfreunden der Fall ist. Über die Dienstleistungen ergeben sich beim ATB eine Menge direkte Kontakte zwischen
Mitgliedern und Verbandssekretariat. Eine «unterschiedliche Auffassung über die Wertschätzung der Mitglieder» scheint daher auch ein
Punkt gewesen zu sein, der es erschwerte, sich unter dem gleichen
Dach zu finden. Auf Seiten der Naturfreunde kam man zum Schluss,
dass eine «Fusion der Verbände offenbar keine organisatorische, von
Delegationen zu bestimmende Massnahme» sei. Es müssten auf beiden Seiten vermehrt die Verbandsbehörden und dann auch die Mitgliedschaft in den Prozess einbezogen werden. Als neuer Fusionshorizont wurde nun der 1. Januar 2002 in Aussicht genommen. Mit einem
gemeinsamen Workshop beider Vorstände am 13. Januar 2001 wurde, unter Assistenz einer externen Begleitung, ein Neustart des Fusionsprozesses versucht. Gemeinsam wurden Punkte erarbeitet, die
für oder gegen ein Zusammengehen sprechen, ohne dass aber der
entscheidende Funke gezündet worden wäre, der ein neues Fusionsfeuer entfacht hätte. Schliesslich entschloss man sich zu einem Unterbruch, um der ATB-Delegation die Gelegenheit zu geben, sich zu
beraten. Dabei zeigte sich, dass der anfängliche Enthusiasmus bei
den ATB-Leuten einer Frustration gewichen ist. Mehrere Stimmen gingen davon aus, dass ein Zusammenschluss den ATB-Mitgliedern mehr
Nach- als Vorteile brächte. Man fühlte sich auch nicht mehr als gleichwertiger Partner. Viele sprachen von einem «unguten Gefühl», wenn
sie an die Fusion dächten. Eine Konsultativabstimmung in der ATBDelegation ergab mit 14 zu 1 Stimme ein sehr deutliches Nein zur Fusion. Zentralpräsident Max Zülli teilte dem Plenum diesen Entscheid
mit, betonte aber, dass diese Absage an eine Fusion auf Verbandsebene das Verhältnis zwischen Naturfreunden und ATB nicht belasten und
einer Fortsetzung der bisherigen Zusammenarbeit nicht im Wege stehen soll. Immerhin habe man sich im Zuge der Fusionsverhandlungen
118
besser kennengelernt, neben den Unterschieden auch viele Gemeinsamkeiten entdeckt und sei sich so näher gekommen. Man sei zwar
um eine Vision ärmer, aber um eine Erfahrung reicher geworden. In
einem gemeinsamen Brief an die Mitglieder wird die Hoffnung ausgedrückt, dass die Zusammenarbeit zwischen Naturfreunde- und ATBSektionen, wie es alte Tradition ist, weiter gepflegt wird.
6.5. Konzentration auf das Zukunftsfähige
So blieb der ATB auch für die restlichen 15 Jahre seines Zentenariums
eine eigenständige Organisation. Die von Zentralpräsident Max Zülli
eingeleitete und ab 1996 umgesetzte Verbandsreform verschaffte dem
Verband, wie sich seither erwies, gut angepasste und elastische Strukturen. Sie trug der durch die Erosion des Verkehrsbereichs bedingten Redimensionierung des Verbandes ebenso Rechnung wie der weitern Entfaltung und Förderung des Hallenradsportes und des Aufbaus
einer Einradsparte. Max Zülli trat auf die Delegiertenversammlung
2001 als Zentralpräsident zurück. In mehr als 20-jährigem Einsatz im
Zentralverband hatte Max, zuerst als SpoKo- und dann als Zentralpräsident – ein paar Jahre sogar in Doppelfunktion – die Grundlagen dazu
gelegt. Max Zülli durfte sich bei seinem Rücktritt 2001 also in zweierlei Hinsicht grosse Verdienste für den Verband zuschreiben, einmal
durch seine Weitsicht als SpoKo-Präsident und zweitens mit der überfälligen Durchsetzung einer zukunftsgerichteten Strukturreform.
Nach dem Scheitern der Fusion mit den Naturfreunden war die Weiterexistenz des ATB allerdings während eines Moments ungewiss. Es
gab gewichtige Stimmen, die sich für eine Auflösung des Verbandes
aussprachen. Sie setzten sich aber nicht durch. Für die Mehrheit war
Weitermachen die Devise, nur fehlte dazu vorerst der Mann oder die
Frau im Präsidium. Schliesslich konnte Markus Müller dafür gewonnen werden. Mit ihm übernahm ein Mann, der den ATB von innen
kennt. Er konnte während vieler Jahre Erfahrung sammeln mit Funktionen in seiner Motorfahrersektion und in der Region 6. Vor allem
aber als langjähriges Mitglied der Geschäftsprüfungskommission hatte er viel Wissen über den ATB gewonnen. Unter seiner Leitung nahm
sich der Zentralvorstand grosse Mühe, bei allen Sportveranstaltungen, an denen der ATB beteiligt war, Präsenz zu zeigen. Irritationen,
die zum Teil als Folge der Auflösungsdiskussion vorhanden waren, wichen so allmählich neuer Zuversicht, so dass der ATB wieder Tritt gefasst hatte, als im Jahre 2005 Martin Borter das Präsidium übernahm.
Dass mit dem Radballer Martin Borter ein Sportler durch und durch
119
an die Verbandsspitze trat, ist symptomatisch für die Transformation
des ATB zu einem Verband mit deutlicher Sport-Priorität. Dem wird
2006 mit einer Umstellung im Namen Rechnung getragen, indem es
mit neuer Wortfolge heisst «ATB Verband für Sport, Freizeit und Verkehr». Gleichzeitig wird in den Statuten die Ethik-Charta von Swiss
Olympic Association und im Zentralvorstand ein Ressort Ethik eingerichtet. 2011 wird eine statutarische Kommission Ethik und Konflikte
geschaffen, die neben der Erfüllung der Ethik-Charta auch die Aufgaben des bisherigen Schiedsgerichtes übernimmt.
Im Sportbereich hat sich der Hallenradsport auf dem Weg, wie er
vor genau 40 Jahren mit der Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwischen ATB und SRB begonnen wurde, weiter entwickelt. Dies
zum grossen Nutzen des Radballs und des Kunstradfahrens als Sportarten wie auch im direkten Interesse der Sporttreibenden. Der Einradsport hat sich zu einem wichtigen Zweig im ATB gemausert. Er
wird inzwischen mit grosser Ernsthaftigkeit betrieben, und mit dem
Weltmeistertitel im Einradhockey haben die Schweizer Einradsportler
ihr hohes Niveau bewiesen. Der ATB unternimmt Anstrengungen, bei
Swiss Olympic die Einstufung des Einradsports als anerkannte Sportart zu erreichen, um endlich zu öffentlichen Fördermitteln zu kommen. Ein eigenes Ressort Verkehr gibt es im ATB nicht mehr. Den
verbliebenen Verkehrsmitgliedern werden aber nach wie vor die klassischen Dienstleistungen Pannendienst, Schutzbrief usw. angeboten.
Der Fachbereich «Freizeit + Senioren» bemüht sich mit der Koordination der entsprechenden Sektionsaktivitäten und versucht, diesen
Impulse zu geben. Momentan ist man zudem daran, für die Mitglieder
zentrale Angebote im Freizeitbereich aufzuziehen.
Der enorme Wandel, den der ATB punkto Strukturen und Aktivitätsschwerpunkten in den letzten 20 Jahren gemacht hat, ist erstaunlich,
gemessen an der doch ausgeprägten Traditionstreue im ATB. Sie ist
das Resultat der von Max Zülli Anfang der 90er Jahre zielstrebig eingeleiteten Verbandsreform. Frühere Anläufe sind, wie wir gesehen
haben, mehrmals unternommen worden, aber die Umsetzung scheiterte immer wieder an der «Macht des Faktischen». Wobei mit dem
Faktischen in diesem Falle das Beharrungsvermögen eines grossen
Teils der Mitglieder und Funktionäre gemeint ist. Dadurch hat die Organisation möglicherweise zu spät auf die äusseren Fakten des gesellschaftlichen Wandels reagiert. Einer der am Anfang von Max Zülli aufgestellten Thesen war, der ATB benötige ein Verbandsmanagement. Mit dem Engagement von Lilo Fröhlin konnte dieser Anspruch
auf das Hervorragendste erfüllt werden. Sie hat als Geschäftsfüh-
120
rerin die grossen Veränderungen und Herausforderungen in dieser
Zeit mit grosser Professionalität, aber auch mit aufopferndem Einsatz gestaltet und begleitet. Wenn die Transformation des ATB vom
ursprünglichen Verkehrsverband zur heutigen Organisation spezialisierter Sportarten schliesslich als gelungen bezeichnet werden kann,
ist das zum nicht unwesentlichen Teil das Verdienst von Lilo Fröhlin.
121
122
Teil III.
Nachwort
123
Wir haben uns bemüht, von der insgesamt fast 120-jährigen Geschichte des ATB ein möglichst lückenloses Bild zu zeichnen. Ob es
gelang, ist eine andere Frage. Es werden vielleicht Teilaspekte der
ATB-Geschichte vermisst werden. Etwa zum Thema «Der ATB und die
Frauen»? In den Protokollen des Zentralvorstandes und auch der Bundestage sind bis weit in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts keine Voten von Frauen vermerkt. Dabei hatten die Frauen schon früh
Anteil an den Aktivitäten im ATB. Tourenberichten aus der Zwischenkriegszeit ist zu entnehmen, dass Frauen auf den Ausfahrten mit von
der Partie waren. Es gab zu jener Zeit bereits erste Sektionspräsidentinnen. Beim Kunst- und Reigenfahren wurde im Duett den Frauen zunächst nur der obere Part zugemutet; eine Steuerrohr-Position wurde
als dem weiblichen Geschlecht nicht angemessen betrachtet. In der
Gleichbehandlung im Kunstradfahren zeichneten sich die KunstradSektionen der westlichen Schweiz als Pioniere aus; die im Kunstradfahren sonst den Ton angebenden Ostschweizer waren da konservativer. Die Frauen eroberten nachher rasch das Terrain und dominieren
bis heute den Kunstradsport. Mit Marianne Martens stellt der ATB
eine zweifache Weltmeisterin im Einer-Kunstradfahren, und auch der
Damen-Vierer aus Uzwil mit Eliane Zeller, Petra Storchenegger, Jeanette Schneider und Sabine Lenherr holte zweimal WM-Gold. In den
30er und 40er Jahren kam auch schon mal die Gründung von Damensektionen zur Sprache, was jeweils auf beträchtliche Skepsis stiess
und jedenfalls nie zur Realität wurde.
Bei der Entstehung des ATB hatte die Migration von Arbeitskräften
in die Schweiz eine wichtige Rolle gespielt. Wie war das, als später die
Migration von Arbeitskräften aus dem Süden einsetzte? War der ATB
an ihrer Integration beteiligt? Darüber ist nichts Auffälliges in den
Archiven zu finden. Immerhin gab es mehrere Italienersektionen im
ATB. Verbürgt sind gemäss Mitglieder-Etat von 1949 die Sektionen
San Gallo italiano, Birsfelden italiano und Zugo italiano. Es ist gut
möglich, dass es weitere Gründungsversuche von Italienersektionen
gab.
Man könnte darüber spekulieren, wie sich der ATB entwickelt hätte,
wenn 1919 der Vorortsentscheid zugunsten Zürichs statt Berns ausgefallen wäre. Gut möglich, dass da einiges etwas anders gelaufen wäre.
In der Aufbauphase kam es vor allem darauf an, die Strukturen und
die Organisation zu festigen. Und dann benötigte man bald einmal
eine Geschäftsstelle, die den Mitgliedern bei Rechtsschutzfragen und
in Notsituationen zu Diensten war. Da Bern gemeinhin etwas eher mit
dem Begriff «solide Verwaltung» in Verbindung gebracht wird als Zü-
125
rich, dem dafür mehr Dynamik zugeschrieben wird, könnte die Wahl
Berns zum Vorort zu diesem Zeitpunkt die richtige Wahl gewesen sein.
Vor allem in Verbindung mit der Person von Ernst Iseli, der auch die
räumliche Nähe zum Bundeshaus für das Ansehen des Verbandes, etwa in Fragen der Verkehrspolitik, auszunutzen vermochte. Für die
Ausbreitung des ATB in die Romandie und dann vor allem für die Betreuung der welschen Sektionen und Mitglieder dürfte Bern als Vorort
wohl ebenfalls vorteilhaft gewesen sein. Positiv hat sich für den ATB
unter Umständen auch ausgewirkt, dass Bern im Gegensatz zu Zürich
Ende der zwanziger und in den dreissiger Jahren nicht im Zentrum
der harten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Linksparteien stand und so die Einheit in der Organisation besser gewahrt werden konnte. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass sich im letzten Teil
der 40 Jahre dauernden Berner Phase Erstarrungstendenzen bemerkbar machten. Das zeigte sich etwa im doktrinären Umgang der Verbandsleitung mit der Organisationspflicht und dem Rennverbot. Mit
dem sturen Festhalten am Organisationszwang, auch nachdem längst
klar war, dass weder die Gewerkschaften noch die Sozialdemokratie
Gegenrecht halten würden, hat sich der ATB Chancen vergeben für
die Öffnung gegenüber Menschen, die (noch) nicht politisch sensibilisiert waren. Ähnlich verhält es sich mit dem Rennverbot. Mit etwas
mehr Flexibilität in dieser Frage hätte man auf die Entwicklung des
Radrennsportes einen positiven Einfluss nehmen können, was ja auch
das erklärte Ziel der zumeist kommunistischen Befürworter der Streichung des Rennverbots war.
Dem ATB ist es nie gelungen, sich im Zuge der Massenmotorisierung zu einem grossen Verkehrsverband aufzuschwingen. Anders
etwa als seine österreichische Schwesterorganisation Arbö. Diese
war bis in die sechziger Jahre ebenfalls ein ursprünglicher ArbeiterRadfahrer-Verband, der sich um einen Motorfahrzeugsektor erweitert
hatte, und zählte ähnlich viele Mitglieder wie der ATB. Dann ist es
dem Arbö gelungen, sich innert weniger Jahre um das Mehrfache
zu vergrössern und sich den zunehmend zu Autobesitzern werdenden Arbeitnehmern als die gewerkschaftsnahe Alternative zum bürgerlichen Verband einzuprägen. Heute zählt der Arbö über 450 000
Mitglieder. In der Schweiz war diese Möglichkeit nicht gegeben, da
es mit dem Touring-Club der Schweiz (TCS) einen Verband gab, der
sich einerseits vom eher elitären Automobil-Club der Schweiz (ACS)
unterscheidet und deshalb nie als ausgesprochen bürgerlich wahrgenommen wurde. Umso mehr als es immer wieder sozialdemokratische
Mandatsträger gab, die sich in TCS-Gremien wählen liessen. Und En-
126
de der siebziger Jahre wurde der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS)
gegründet, der dem ATB zusehends die Nähe zur politischen Linken
streitig machte. Der VCS profilierte sich gegenüber den übrigen Verkehrsverbänden, indem er die damals allmählich kritischer werdende Wahrnehmung des motorisierten Verkehrs bediente. Dies zu einer
Zeit, wo im ATB das Verhältnis zum Auto noch weitgehend unkritisch
war und es bei vielen noch immer als Symbol des sozialen Aufstiegs
der Arbeiterschaft betrachtet wurde. Der ATB fiel damit wirklich – wie
es einmal an einem Kongress festgestellt wurde – zwischen Stuhl und
Bank, was seine Chancen als Verkehrsverband der Motorfahrer betrifft.
Und der neue Velo-Boom ab den 80er Jahren? Der ATB stand an sich
nicht abseits, sondern unterstützte die Veloland-Initiative, mit der das
Land mit einem dichten Radwegnetz überzogen wurde, was eine uralte ATB-Forderung war. Aber der velotouristische Boom wurde vorab
kommerziell ausgebeutet, so dass im Allgemeinen für die Freizeitverbände wenig dabei herausschaute.
Der ATB hat seine grosse Zeit gehabt, die nicht wieder herbeigezaubert werden kann. Das Umfeld hat sich zu sehr verändert. Im Schosse des ATB sind aber mit dem Hallenradsport aparte und attraktive
Sportarten entstanden. Wenn der ATB dazu beitragen kann, diesen
Sportarten, die es als Randsportarten immer schwerer haben, die Zukunft zu sichern, hat er das Entscheidende getan, um sein Erbe wach
zu halten.
127
128
Teil IV.
Anhang
129
6.6. Gliederung des ATB: zuerst Bezirke, später Regionen
Im ATB wurden die regionalen Untergliederungen lange Zeit «Bezirk»
genannt, erst ab 1972 wurde dazu der Begriff «Region» verwendet.
Die ursprüngliche, in der Schweiz eher unübliche Bezeichnung für die
Untergliederungen eines Verbandes ist wohl ein Erbe aus der Zeit, als
die Arbeiter-Radfahrer noch Teil der deutschen Organisation war. In
Deutschland ist es heute noch gebräuchlich, dass Organisationen in
«Bezirke» unterteilt sind. Die «Bezirke» im ATB hatten also nichts mit
der gleichnamigen Verwaltungsgliederung der Schweizer Kantone zu
tun. Sie deckten sich territorial auch nicht mit politischen Grenzen.
Oft erstreckten sie sich auch über Teile mehrerer Kantone. Möglicherweise war bei der Einteilung der Bezirke die gute Erreichbarkeit mit
dem Rad bei Veranstaltungen wie Bezirkssternfahrten ein Kriterium
für deren maximale Ausdehnung. Dass sich die Untergliederung nicht
mit den Kantonen deckten, wurde später zu einem praktischen Problem, als die Kantone begannen, die Sporttätigkeit und die Jugendarbeit mit Subventionen zu fördern. Diese sind in der Regel an die
Bedingung geknüpft, dass sie nicht ausserkantonalen Empfängern zu
gute kommen. Trotzdem konnte sich diese überlieferte Struktur bsi
vor wenigen Jahren so halten.
Da sich die ATB-Bezirke (und später die Regionen) meist nicht
an kantonalen oder historischen Gebietsbezeichnungen festmachen
liessen, kam intern deren Nummer eine grosse Bedeutung zu. ATBInsider gingen deshalb ziemlich virtuos mit den Nummern der Bezirke
bzw. Regionen um. Man sprach zum Beispiel vom Bezirk 3, und man
wusste: Damit ist der Bezirk mit den Zürcher Sektionen westlich des
Irchels gemeint. Geographisch waren die 13 Bezirke folgendermassen
aufgeteilt:
1 St. Gallen, Fürstenland, Toggenburg, Appenzell, Oberthurgau
2 Bündnerland, St. Galler Oberland, Gaster, Ft Liechtenstein
3 Zürich ohne Ostteil
4 Nordwestschweiz
5 Biel, Berner Seeland und oberer Teil des Kantons Solothurn
6 Berner Mittelland, Emmental, Deutsch-Freiburg
7 Berner Oberland
8 Zentralschweiz
9 Oberaargau (BE), unt. Teil Kanton Solothurn, Bez. Zofingen (AG)
10 Aargau ohne Fricktal und Bezirk Zofingen
11 Waadt, Genf, Bulle FR
131
12 Winterthur, Tösstal, Weinland, Kanton Schaffhausen, Unter- und
Mittelthurgau
13 Kanton Neuenburg, Jura, Freiburg Stadt
6.7. Die Sektionen der Schweizer Arbeiter-Radfahrer
Die nachfolgende Liste der jemals bestehenden ATB-Sektionen zeigt,
wie stark die Organisation in ihren besten Zeiten lokal verankert war.
Die fett gedruckten Sektionen bestehen aktuell noch (Stand 2016). In
Klammer die Region, welcher die Sektion zugeteilt ist oder war.
Aadorf (12)
Aarau (10)
Aarberg (5)
Aarburg (9)
Aarburg AMS (9)
Aarwangen (9)
Adliswil (3)
Aegerten (5)
Aesch AMS (4)
Aesch BL (4)
Aetingen SO (5)
132
Affoltern a. A. (3)
Allschwil (4)
Altdorf (8)
Altstätten SG (1)
Amriswil (1)
Andelfingen (12)
Arbon (1)
Au SG (1)
Baar (8)
Baar AMS (8)
Baden (10)
Bannwil (9)
Bäretswil (3)
Basel Alte Sektion (4)
Basel AMS (4)
Basel Augst (4)
Basel Breite (4)
Basel Flügelrad (4)
Basel Freundschaft
(4)
Basel «Frisch auf»
(4)
Basel Gundeldingen
(4)
Basel Horburg-Kleinhüningen
(4)
Basel Stadt (4)
Basel Solidarität (4)
Bätterkinden (6)
Bätterkinden AMS
(6)
Beinwil am See (10)
Belp (6)
Belp AMS (6)
Bern Abstinentia (6)
Bern AMS (6)
Bern Beundenfeld (6)
Bern Elite-AMS (6)
Bern Flügelrad (6)
Bern «Freiheit» (6)
Bern Holligen (6)
Bern Länggasse (6)
Bern Motorfahrer (6)
Bern Nord (6)
Bern Ost (6)
Bern Stadt (6)
Bern Süd (6)
Bettlach (5)
Biberist (5)
Biberist AMS (5)
Biel (5)
Biel AMS (5)
Biel Bözingen (5)
Biel Madretsch (5)
Biel Mett (5)
Biel «Vorwärts» (5)
Binningen (4)
Birmenstorf (10)
Birsfelden (4)
Birsfelden italiano
(4)
Bischofszell (1)
Bösingen FR (6)
Boudry NE (13)
Bremgarten AG (10)
Brienz (7)
Brugg AG (10)
Brügg BE (5)
Brunegg AG (10)
Brunnen (8)
Brüttisellen (3)
Buchs AG (10)
Buchs SG (2)
Bülach (12)
Bulle FR (11)
Bümpliz Bethlehem
(6)
Büren a. A. (5)
Burgdorf (6)
Burgdorf AMS (6)
Busswil (5)
Bützberg (9)
Carouge (11)
Carouge-Motos (11)
Cham (8)
Charrat VS (11)
Chur (2)
Couvet NE (13)
Deitingen (5)
Delémont (13)
Densbüren-Asp (10)
Derendingen (5)
Diessenhofen TG (12)
Dietfurt-Bütschwil
(1)
Dotzigen (5)
Dübendorf (3)
Dulliken (9)
Dürnten (3)
Ebnat-Kappel (1)
Effretikon (12)
Einigen BE (7)
Emmenbrücke (8)
Emmenbrücke
Einradclub (8)
Eriswil (9)
Fahrwangen (10)
Fehraltorf (3)
Felsenau-Neubrück
(6)
Feuerthalen (12)
Flawil (1)
Flums (2)
Frauenfeld (12)
Frenkendorf (4)
Fribourg (13)
Frutigen (7)
Furttal (10)
Genève Les
Casse-Rayons (11)
Genève Châtelaine
(11)
Genève Chêne-Bourg
(11)
Genève Eaux-Vives
(11)
Genève Jonction (11)
Genève Plainpalais
(11)
Genève-Motos (11)
Gerlafingen (5)
Goldach SG (1)
Goldau SZ (8)
Gontenschwil AG
(10)
Gossau SG (1)
Gränichen (10)
Grenchen (5)
Grindelwald (7)
Gümligen (6)
Gümmenen (6)
Gurten-Köniz (6)
Gurzelen (7)
Halenbrücke (6)
133
Härkingen (9)
Hasle-Rüegsau (6)
Heerbrugg (1)
Heimberg (7)
Herisau (1)
Herzogenbuchsee (9)
Hettiswil (6)
Holligen-Bümpliz
(6)
Hombrechtikon (3)
Horgen (3)
Horn TG (1)
Horw LU (8)
Hünibach (7)
HuttwilLangenthal
(9)
Kallnach (5)
KC Einrad Bern (6)
Kehrsatz (6)
Kirchberg (6)
Klus-Balsthal (9)
Koblenz (10)
Konolfingen (6)
Koppigen (6)
Kreuzlingen (12)
Kriens (8)
Küsnacht ZH (3)
Küssnacht a. R. (8)
La Chaux-de-Fonds
cyclistes (13)
La Chaux-de-Fonds
motos (13)
Landschlacht (12)
Landquart Rätia (2)
Langenthal AMS (9)
Langnau i. E. (6)
Laupen (6)
Lausanne (11)
Lengnau AG (10)
Lengnau BE (5)
134
Lenzburg (10)
Liestal (4)
Littau (8)
Le Locle (13)
Lostorf (9)
Lotzwil-Madiswil
(9)
Luzern (8)
Luzern AMS (8)
Luzern Flügelrad (8)
Luzern Frischauf (8)
Luzern Solidarität (8)
Lyss (5)
Matten b. Interlaken
(7)
Meilen (3)
Melchnau (9)
Mellingen AG (10)
Mels (2)
Menziken AG (10)
Merligen (7)
Meyrin-Vernier (11)
Mittelhäusern BE (6)
Möhlin AG (4)
Möriken-Wildegg
(10)
Moudon (11)
Moutier (13)
Müllheim TG (12)
Münchenbuchsee (6)
Münchenstein (4)
Münchenstein AMS
(4)
Münsingen (6)
Murgenthal (9)
Muttenz (4)
Netstal (2)
Neuchâtel (13)
Neuenegg-Flamatt
(6)
Neuhausen (12)
Neukirch-Egnach (1)
La Neuveville (5)
Nidau (5)
Niederbipp (9)
Niederwangen BE (6)
Niederglatt ZH (3)
Nyon-Rolle (11)
Oberaargau Einrad
Team (9)
Oberburg (9)
Oberdiessbach (7)
Oberendingen (10)
Oftringen (9)
Olten Dreitannen
(9)
Orpund (9)
Ostermundigen (6)
Ostermundigen AMS
(6)
Othmarsingen (10)
Papiermühle BE (6)
Pfäffikon ZH (3)
Pfungen-Neftenbach
(12)
Pieterlen (5)
Porrentruy (13)
Port (5)
Pratteln (4)
Ramsen (12)
Rapperswil SG (3)
Recherswil (5)
Reinach (10)
Renens (11)
Rheinfelden (4)
Richterswil (3)
Rickenbach SO (9)
Riedholz SO (5)
Riehen (4)
Riggisberg (6)
Rikon-Tösstal (12)
Roggwil (9)
Rohr AG (10)
Rohrbach (9)
Romanshorn (1)
Root-Perlen (8)
Rorbas ZH (12)
Rorschach (1)
Rorschach AMS (1)
Rorschacherberg (1)
Rothrist (9)
Rüti GL (2)
Rüti ZH (3)
Rütschelen (9)
Rüttenen SO (5)
Schaffhausen (12)
Schaffhausen AMS
(12)
Schenkenberg (10)
Schlieren (3)
Schönenwerd (9)
Schüpfen (6)
Schwarzenburg (6)
Schwarzenegg BE
(7)
Seeberg BE (6)
Seuzach (12)
Siggenthal-Turgi (10)
Solothurn (5)
Spiez (7)
St-Blaise (13)
Radballclub St.
Gallen (1)
St. Gallen AMS (1)
San Gallo italiano (1)
St. Gallen West (1)
St. Margrethen (1)
St. Stephan BE (7)
Stäfa (3)
Stans (8)
Steckborn (12)
Steffisburg (7)
Steinach (1)
Studen (5)
Subingen (5)
SV
Seon-Niederlenz
(10)
Tavannes (13)
Thal SG (1)
Thalheim AG (10)
Thalwil-Langnau a.A.
(3)
Thayngen (12)
Thörishaus (6)
Thierachern BE (7)
Thun AMS (7)
Thun Lerchenfeld (7)
Thun Pferdewärter
(7)
Thun Solidarität (7)
Thun Strättligen
(7)
Toffen BE (6)
Tramelan (13)
Twann (5)
Uetendorf (7)
Unterlimmattal AMS
(3)
Unterseen BE (7)
Ursenbach BE (9)
Uster (3)
Uttigen (7)
Utzenstorf (6)
Uznach (2)
Uzwil (1)
Vevey (11)
Villmergen (10)
Wädenswil (3)
Wald ZH (3)
Waldstatt AR (1)
Walliswil-Wangen BE
(9)
Wangen a. A. (9)
Wangental AMS (6)
Wattenwil (7)
Wattwil (1)
Wettingen (10)
Wetzikon (1)
Wiedlisbach (9)
Wiesendangen (12)
Wil SG (1)
Windisch-Brugg
(10)
Winterthur (12)
Winterthur AMS (12)
Winterthur Seen (12)
Winterthur Töss (12)
Winterthur Veltheim
(12)
Winterthur
Wülflingen (12)
Oberwinterthur (12)
Wilen ATB Einrad
(1)
Winznau (9)
Wohlen AG (10)
Wohlen-Uettligen (6)
Wolhusen (8)
Wollerau (3)
Worb (6)
Worb AMS (6)
Worben BE (5)
Wynau BE (9)
Wynental AMS (10)
Yverdon-les-Bains
(11)
Yverdon-Motos (11)
Zollbrück (6)
Zollikofen (6)
Zuchwil EC
Beavers (5)
Zug (8)
Zugo italiano (8)
135
Zürcher Limmattal
(3)
Zürich 2 (3)
Zürich 6 (3)
Zürich Affoltern (3)
Zürich
Albisrieden-Industrie
(3)
Zürich Alte Sektion
(3)
Zürich Altstetten (3)
Zürich
Zürich
(3)
Zürich
(3)
Zürich
Zürich
Zürich
(3)
Zürich
Zürich
AMS (3)
Eisenbahner
Freiheit AMS
Höngg (3)
Industrie (3)
Neumünster
Nord (3)
Oerlikon (3)
Zürich
Schwamendingen (3)
Zürich Seebach (3)
Zürich VBZ (3)
Zürich «Vorwärts»
(3)
Zürich Wiedikon (3)
Zürich Wollishofen
(3)
Zurzach (10)
Zweisimmen (7)
Die Sektionen hatten weitgehend einen örtlichen bzw. geografischen Bezug. Nur wenige Sektionen gruppieren sich nach Betrieben.
Dazu gehören die Eisenbahner-Sektionen mit dem Beinamen «Flügelrad» oder die Sektion der Verkehrsbetriebe Zürich. Wegen ihrer betrieblich bedingten unregelmässigen Arbeitszeiten waren sie darauf
angewiesen, dass ihre Dienstpläne auf gemeinsame Sektionsaktivitäten ausgerichtet waren. Gleiches trifft wohl auf die Sektion Thun Pferdewärter zu. Ihre Mitglieder waren wahrscheinlich in den umfangreichen Stallungen des Waffenplatzes Thun berufstätig.
6.8. Das Vorortssystem
Das Vorortssystem war früher in sehr vielen Verbänden verbreitet.
Zentrale Aufgaben wurden dabei nicht einem sich landesweit zusammengesetzten Personenkreis übertragen. Vielmehr hatte eine einzelne Sektion diese Aufgabe zu übernehmen und dabei meist das Recht,
die Chargen autonom zu besetzen. Das System hatte bei der eingeschränkten Mobilität zu jener Zeit den Vorteil, dass sich die Gremien, ohne einen grossen Weg zurücklegen zu müssen, häufig treffen
konnten. Um trotzdem einen regionalen Ausgleich zu gewährleisten,
wurden die statutarischen Organe unterschiedlichen Vororten übertragen. So wurden zum Beispiel vom ATB-Bundestag 1936 die Bundesorgane folgenden Orten zugeteilt: Zentralvorstand der Sektion Bern
«Freiheit» , die Geschäftsprüfungskommission der Sektion Langenthal, die Beschwerdekommission den Zürcher Sektionen, der Technische Ausschuss der Sektion Basel, die Redaktionskommission den
Sektionen Roggwil, Bern «Freiheit» und Bern «Flügelrad».
136
6.9. Anschluss an einen ausländischen Verband
Die Zugehörigkeit der schweizerischen Arbeiter-Radfahrer zu einer
ausländischen Organisation war in der internationalistisch denkenden Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg überhaupt keine Exklusivität. Wir haben bereits auf das Parallelbeispiel der Naturfreunde
hingewiesen. Auch die schweizerischen Arbeiter-Schachklubs gehörten zum deutschen Arbeiter-Schachbund bis zu dessen Zerschlagung
durch die Nazis.
Auch Sektionen der Sozialdemokratischen Partei waren in der
Schweiz zum Teil organisatorisch nicht der SPS, sondern der SPD
angeschlossen. Solche Fälle gab es vor dem Ersten Weltkrieg vorwiegend in katholisch-konservativen Gegenden, wo es, vielleicht ausser
vereinzelten Bundesangestellten, kaum ein einheimischer Arbeiter
wagte, sich offen zur Sozialdemokratie zu bekennen. Damit hatten
aber die deutschen Arbeitsimmigranten kein Problem; sie gründeten
einen SPD-Ortsverein. Gleiches ist bei italienischen Arbeitsmigranten
bis heute der Fall. Wenn am Standort einer Diaspora-Sektion der SPD
keine SPS-Sektion vorhanden war, konnte es vorkommen, dass vereinzelt klassenbewusste Einheimische der SPD-Sektion beitraten; als
Schweizer Sozialdemokraten verfügten sie dann über ein Parteibuch
der SPD.
6.10. Die Signalordnung im ATB
Die Arbeiter-Radfahrer haben für sich in Anspruch genommen, vorbildliche Verkehrsteilnehmer zu sein. Ihre Sektionsausfahrten spielten sich mangels eines Radwegnetzes im gemischten Verkehr auf den
üblichen Strassen ab. Der Fahrwart gab mit seinem Dreiklanghorn mit
Lang- oder Kurztönen die Anweisungen für das koordinierte Fahren in
Formation. An den Bundes- und Bezirksfesten musste das Können in
einem Sektionswettkampf in einer «taktischen Übung» unter Beweis
gestellt werden. Im ATB galt die folgende Signalordnung:
lang = Achtung!
lang-lang-kurz = Aufsitzen oder Absitzen
lang-kurz-kurz = zu Einem fahren
lang-kurz-kurz = zu Zweien aufschliessen
kurz-kurz = langsam fahren
kurz-kurz-kurz = schneller fahren
lang-lang-lang = Signal zur Sammlung
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6.11. Die Organisationen der Asask
Die Arbeitsgemeinschaft der Arbeiter-Sport- und -Kulturorganisationen (Asask) wurde 1931 gegründet zur Interessenbündelung der Arbeiterkulturorganisationen und zur Koordination gemeinsamer Aktivitäten. Sie vereinigte in ihren Blütezeiten etwa 200 000 Aktive. Zum
Teil waren die Sektionen dieser Verbände in den Städten in lokalen
Arbeiter-Sport- und -Kulturkartellen zusammengefasst. Der Asask gehörten folgende Organisationen an:
Schweiz. Arbeiter-Turn- und -Sportverband (Satus)
Schweizerischer Arbeiterschützenbund (SASB)
Arbeiter-Touring-Bund der Schweiz (ATB)
Schweiz. Touristenverein «Die Naturfreunde» (TVN)
Arbeitnehmer- Radio- und Fernsehbund (Arbus)
Schweiz. Arbeiter-Sängerverband (SAS)
Schweiz. Arbeitermusik-Verband (SAMV)
Schweiz. Arbeiter-Jodlerverband (SAJV)
Schweiz. Arbeiter-Schachbund (SASB)
Sozialistischer Abstinentenbund der Schweiz (SABS)
Arbeiter-Samariterbund der Schweiz (ASBS)
Landesverband Schweiz. Kinderfreunde-Organisationen (Lasko) mit
den Kindergruppen «Rote Falken»
6.12. Arbeiter-Radfahrer-Musik
Auch das hat es gegeben: eine Arbeiter-Radfahrer-Musik, und zwar in
Basel. Sie war aber nicht mit den üblichen Blechblasinstrumenten ausgerüstet, sondern mit Schalmeien, sogenannten Martinstrompeten,
benannt nach ihrem Hersteller. Die Mehrklanghörner entsprachen
vom Bau her den Signalhörnern, die von den Fahrwarten der ArbeiterRadfahrer für ihre Kommandotöne verwendet wurden. Die Instrumentierung der Schalmeikapellen umfasst mehrere Register von Sopran
bis Kontrabass.
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Die Genossenschaft Fahrradhaus des ATB bemühte sich um den Vertrieb der Instrumente. Ausser in Basel hat sich in der Schweiz, soweit
bekannt, jedoch keine weitere Arbeiter-Radfahrer-Musik gebildet. In
Deutschland gab es dagegen viele davon. Die Schalmeien-Kapellen
waren vor allem in der kommunistischen Bewegung beliebter als die
in der militärischen Tradition stehende Blech-Blasmusik. Die Schalmeien eigneten sich vortrefflich zum Begleiten revolutionärer Arbeiterlieder. 1933 verboten die Nazi-Faschisten die Schalmeikapellen.
Besonders in der DDR lebte diese Art der Instrumentierung von Musikkapellen wieder auf; die Verbreitung ist da noch heute gross.
6.13. Quellenhinweise
• Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, Archivbestand des ATB
Verband für Sport, Freizeit und Verkehr sowie der Naturfreunde Schweiz
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• Kleine Geschichte der schweizerischen Arbeiter-Sport- und -Kulturbewegung, Autorenkollektiv, 1972 herausgegeben von der
ASASK
• Chronik des Arbeiter-Radfahrer-Bundes «Solidarität» 1896–
1977, Ralf Beduhn, Lit-Verlag 1981
• «Der ATB im Werden», Ernst Iseli, 1942
• «Sport+Verkehr», verschiedene Ausgaben des Verbandsorgans
• Interviews mit ATB-Mitgliedern
• Fotos: Sozialarchiv Seiten 18, 32, 34, 41, 52, 78, 92, 138. Übrige
von ATB-Mitgliedern zur Verfügung gestellt.
6.14. Jubiläumsschrift
Diese Geschichte des Arbeiter-Touring-Bundes der Schweiz ist 2016
zu dessen 100-Jahr-Jubiläum als Buch erschienen, 160 Seiten, reich
illustriert und mit einer Zusammenfassung in französischer Sprache.
Das Buch im Format 225x245 mm kann zum Preis von sFr. 25.– bei der
Geschäftsstelle der Nachfolge-Organisation «Swiss Indoor- & Unicicling» bezogen werden:
Swiss Indoor- & Unicicling
Farbhofstrasse 21
CH-8048 Zürich
www.swiss-iuc.ch
[email protected]
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