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«Anders als die anderen». Eine neue Biografie zu Ludwig Hohl

2014, Neue Zürcher Zeitung, 14.11.2014

Ich bin anders als die anderen Zwei Biografien zu Ludwig Hohl sowie die Neuauflage seiner Werke zeigen den bekanntesten der verborgenen Dichter in neuem Licht Das Werk des Schriftstellers Ludwig Hohl erlebt derzeit eine Renaissance. Neben dem fortdauernden Interesse an seinem Leben und Schaffen steht dahinter auch die Sehnsucht nach dem Originalgenie. Zwei neue Biografien begegnen diesem Anspruch auf sehr unterschiedliche Weise. Sabine Haupt Es gibt literarische Werke, da ist die Rezeptionsgeschichte noch spannender als das Werk selbst. Und dieses Kuriosum verdankt sich keinem Zufall, sondern gewissen, in den Texten selbst angelegten Merkmalen und Strukturen, Selbststilisierungen und Haltungen des Autors. Hinzu kommt meistens eine exotisch anmutende Vita, sowie eine Reihe von bizarren bis exzentrischen, doch irgendwie anrührenden und zu Herzen gehenden Charaktereigenschaften des Autors. Nach und nach und im Zuge einer gewissen Legendenbildung, anekdotischen Verbrämungen und Mythisierungen erhält das Werk sodann eine ganz spezielle Aura, während sein Autor mehr und mehr in die Rolle einer quasi fiktionalen Identifikationsfigur schlüpft. Auf den Schweizer Erzähler und Aphoristiker Ludwig Hohl (1904–1980) treffen diese Kriterien in ganz besonderem Masse zu. Seit den frühen 1960er Jahren wird Hohl als der grosse unbekannte, ja verkannte Dichter aus Genf rezipiert, als «bedeutender Unbekannter», wie Ernst Nef 1980 formulierte, als Autor, der sein umfangreiches Prosawerk in grosser Einsamkeit und unter schwierigen materiellen Bedingungen verfasste, dann aber zehn Jahre lang mit seinem Verlag um die Veröffentlichung des zweiten Teils seiner fast tausend Seiten umfassenden «Notizen» prozessieren musste. Seine Aufzeichnungen, Texte und Briefe sind voller Klagen über die missliche Publikationssituation, über die Ignoranz von Verlegern, Lesern und Kritikern, über die Schwierigkeit, als nahezu ungedruckter Autor finanziell zu überleben. Erst mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und seiner Rückkehr in die Schweiz erscheinen Ende der 1930er und zu Beginn der 1940er Jahre in den Zürcher Verlagen Oprecht und Morgarten die ersten Bücher. «Verehrt, verpönt und kaum gelesen», auf diese Formel bringt noch 2013 eine Hohl gewidmete Publikation des Schweizerischen Literaturarchivs die Rezeptionsgeschichte seines Werkes. Seit dem Ende der 1950er Jahre pilgerten Generationen von Schweizer Schriftstellern, darunter auch zahlreiche Romands, zu Hohls Genfer Domizil, jenem legendären Keller im Arbeiter-Quartier «La Jonction», der mit seiner vielfach auch fotografisch dokumentierten Manuskript-Wäscheleine zum Sinnbild eines unabschliessbaren Schreibprozesses wurde. Mit gutem Gewissens und als mit philologischer Berechtigung und ohne ironischen Dünkel könnte man diesen Prozess als «geniale Verzettelung» bezeichnen. Die jungen Hohl-Verehrer rühmen mit Peter Bichsel den «grossen Dichter ohne Talent», preisen mit Max Frisch dessen «abseitig-gegenwärtiges», ja «unberühmtes» Werk und bemühen sich, allen voran Adolf Muschg, um einen optimalen Publikationsort, der 1971 dann mit dem Suhrkamp-Verlag und seinem in Sachen Hohl sehr engagierten Verleger Siegfried Unseld gefunden ist. «Hohl ist notwendig. Wir sind zufällig», schreibt Friedrich Dürrenmatt 1969 in der in Genf erscheinenden «Revue de Belles Lettres». Hohl sei der einzige Schriftsteller, dem gegenüber er ein «schlechtes Gewissen» habe, bekennt der damals im Zenit seiner Popularität stehende 48-Jährige im selben Artikel. Ein erstaunliches Statement, war Dürrenmatt im Übrigen doch durchaus überzeugt von der Legitimität seines Erfolgs. Marginalität und literarisches Aussenseitertum bzw. das berühmte, von Dieter Fringeli Anfang der siebziger Jahre geprägte Bonmot des «Schweizer Dichters im Abseits» wurden lange Zeit geradezu als konstitutives Merkmale der modernen Schweizer Dichtung in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gehandelt. Es erstaunt darum kaum, dass Ludwig Hohl mit seinen «hereinbrechenden Rändern», wie er seinen zu Lebzeiten nur unvollständig publizierten «Stoffkreis» nannte, den Nerv einer Epoche traf, die versuchte, jenseits von «Landigeist» und «Reduit»-Mentalität eine spezifisch schweizerische Identität zu behaupten. Aus dem pädagogisch ambitionierten Bürgerschriftsteller, wie ihn die schweizerische Literaturgeschichte aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert her kennt, wird nun der «Aussenseiter» und «Verweigerer», der, um mit Paul Nizon zu sprechen, dem «Diskurs in der Enge» entflieht und an den «Rändern» der Gesellschaft, oftmals auch im Ausland, gewissermassen eine neue, alternative Schweizer Identität erprobt. Innerhalb dieses Paradigmenwechsels spielt Hohl eine ganz zentrale Rolle. Als Markenzeichen für genieästhetische Umtriebe garantiert Ludwig Hohl, dass die Schweizer Literaturgeschichte anderes zu bieten hat als biederen Realismus. Heute mag sein Werk zudem so etwas wie eine Mahnung sein, dass noch eine Literatur existiert, der das merkantile Schielen aufs Publikum fremd ist, weil sie sich selbst als «sperrig» oder «schwierig» definiert. Denn Hohl verstand sein Schreiben als Arbeit, nicht als Spiel. Damit erfüllt seine Haltung sozusagen einen doppelten Auftrag: sie entspricht konservativen Werten, ohne jedoch ins bildungsbürgerliche Fahrwasser zu geraten. Doch ist Ludwig Hohl deswegen nun tatsächlich, wie der vielstimmige Chor seiner Anhänger und Apologeten nahelegt, ein Stiefkind der Schweizer Literaturgeschichte, ein vom Literaturbetrieb zu Unrecht Vergessener, ja Verdrängter? Das Gegenteil scheint der Fall: Von allen «bedeutenden Unbekannten» der Schweiz ist Hohl inzwischen der bekannteste. Darüber darf man sich nicht nur wundern, sondern getrost auch freuen. Auch 34 Jahre nach seinem Tod geniesst sein Œuvre nach wie vor grosse Beachtung. Diverse Institutionen, allen voran das Schweizerische Literaturarchiv sowie die 1985 gegründete Ludwig-Hohl-Stiftung, haben in den letzten 25 Jahren eine geradezu vorbildliche Nachlasspflege betrieben. Mit einer gewissen Berechtigung liesse sich heute sogar von einer Art «Hohl-Revival» sprechen, das initiiert und getragen von einem kleinen, aber rührigen Kreis von Hohl-Adepten in den letzten Jahren zahlreiche neue Publikationen hervorgebracht hat. Das neue Interesse an Hohl begann vor zehn Jahren mit mehreren Ausstellungen, Kolloquien und Publikationen zum hundertsten Geburtstag. Es folgte die Herausgabe des Pariser Tagebuchs aus den frühen 1920er Jahren sowie zweier Briefsammlungen und einer Hohl-Nummer der Zeitschrift «Quarto». In diesem Jahr nun steigert sich diese begrüssenswerte, doch ziemlich überraschende Entwicklung zu einer regelrechten Hohl-Renaissance: Suhrkamp bringt eine Neuauflage seiner vergriffenen Werke heraus, wodurch nun – mit Ausnahme der «Nachnotizen» und des Jugendtagebuchs – das Gesamtwerk wieder vollständig im Handel ist. In der prestigeträchtigen französischen Literaturzeitschrift «Europe» erscheint demnächst eine Doppelnummer zu Max Frisch und Ludwig Hohl, die Hohl gewiss auch in Frankreich bekannter machen wird (zumal seit der grossartigen Übersetzung von Hohls wohl bester Erzählung, «Nächtlicher Weg», durch Philippe Jaccottet aus dem Jahr 1979 inzwischen alle wichtigen Texte gut und kompetent ins Französische übertragen sind). Und unter dem Thema «Wiederentdeckungen» widmete eine kürzlich erschienene Ausgabe der Zeitschrift «die horen» auch Ludwig Hohl einen Aufsatz aus der Feder der Berliner Schriftstellerin Ulrike Draesner. Das ganz Besondere an dieser Konjunktur aber sind zwei neue Biografien. Bereits im letzten Jahr kam «Hohls Weg» des frühen Hohl-Spezialisten Johannes Beringer heraus, der mit seinem 1981 bei Suhrkamp erschienenen «Materialien»-Band wertvolle Pionierarbeit in der Hohl-Philologie geleistet hatte. Anfang Oktober erschien nun auch «Ludwig Hohl. Unterwegs zum Werk», die überaus bemerkenswerte Biografie der Berner Literaturkritikerin Anna Stüssi, eine Darstellung, die in der Rezeptionsgeschichte des Werkes völlig neue Massstäbe setzt. Es sind Biografien wie sie gegensätzlicher kaum denkbar sind. Johannes Beringer schreibt die wohlbekannte Legende vom grossen, doch leider verkannten Dichter und Denker fort. Er geht dabei zwar auch auf problematische biografische Details ein wie etwa das schwierige Verhältnis Hohls zu seiner Mutter oder seinen ausufernden «Notierzwang». Mit allgemeinen Bemerkungen über Ästhetik und Moral, Nietzsche und Bachofen demonstriert er aber einmal mehr, in welchem Ausmass Hohl als Projektionsfläche für die jeweils persönliche «Philosophie» dient. Demgegenüber unternimmt Anna Stüssi den mühevollen, oft auch heiklen Versuch einer kritischen, doch stets fairen und differenzierten Darstellung dieses durchaus nicht nur beispielhaften Dichterlebens. Das Novum und der Mehrwert ihrer akribischen Recherche- und Bewertungs- arbeit lässt sich auf einen klaren Nenner bringen: Entmythisierung. So konterkariert die Biografin, die womöglich nicht umsonst im Nebenberuf als Psychologin arbeitet, den Kult ums verkannte Genie mit allen relevanten Informationen und räumt dabei mit so manch lieb gewonnenem Klischee, beispielsweise mit der Vorstellung, Hohl habe kaum Unterstützung erhalten, radikal auf. Es ist geradezu erschütternd zu lesen, wie nicht nur Verwandte und Schriftstellerkollegen, sondern auch immer wieder die jeweiligen Lebensgefährtinnen von Hohl um sein finanzielles und seelisches Wohlbefinden besorgt waren, während Hohl – in der Überzeugung, als Genie ein unbegrenztes Recht auf Zuwendungen aller Art zu haben – mit herrischem Stolz und grosser narzisstischer Empfindlichkeit die Liebe und Geduld seiner insgesamt durchaus wohlwollenden Umwelt aufs Äusserste strapazierte. Ein weiterer zentraler und in der Hohl-Forschung bisher vernachlässigter Aspekt ist die konsequente Kontextualisierung seines Werks. So recherchiert Stüssi die genauen, teilweise bereits bekannten Umstände der Aufenthalte in Paris, Wien und in den Niederlanden und zeigt bei dieser Gelegenheit, wie sehr Hohl doch stets in einem engen Zirkel von meist Schweizer Bekannten verharrte. Gleichzeitig wird offenkundig, dass die weltpolitischen und bei Hohl oftmals nur ganz am Rande erwähnten Ereignisse einen starken Einfluss auf sein Leben hatten. Daneben kommen auch zahlreiche, den Entstehungsprozess seines Werks betreffende Details zur Sprache, wie etwa seine sehr persönliche Goethe-Rezeption, seine Kontakte zu dem Berner Schriftsteller und Maler Alfred Fankhauser oder seine homosexuell getönte Beziehung zu dem österreichischen Schriftsteller Eduard Zak. In einem Brief an seine Partnerin Gertrud Luder schreibt er im Januar 1929: «Denn ich bin anders als die anderen u. auf mich darf man nicht mit menschlich-kritischem Auge schauen, denn ich habe zu viele Fehler. – Auf mich darf man nur mit blindem Glauben auf den Geist schauen, denn ich habe genug Erfüllungen.» Eine entwaffnende Selbsteinschätzung, die den ungeheuren Anspruch, aber auch das besondere – über den Tod hinaus wirkende – Charisma dieses Künstlers offenbart. Anna Stüssis hochinteressante, auch für Nichteingeweihte lesenswerte Biografie zeigt eines ganz deutlich: Man tut Werk und Autor keinen Gefallen, indem man sie idealisiert. Erst das kritisch-differenzierte und abwägende Verständnis wird einem «schwierigen» Autor wie Hohl tatsächlich gerecht. ....................................................................................................... Sabine Haupt ist Autorin und Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg. Im Frühjahr erscheint ihr Erzählband «Blaue Stunden. Kleine Quadratur der Liebe» im Offizin-Verlag, Zürich.