1027: Gründung des Speyerer Domes
Orientierung – Achsknick – Erzengel Michael
Von Erwin REIDINGER
Mit dem Bau des Speyerer Kaiserdomes wurde, so die landläufige Meinung, um 1030 begonnen1; urkundliche Schriftquellen sind jedoch nicht
überliefert. Zielsetzung des vorliegenden Beitrages ist es, das Gründungsdatum aufgrund der geknickten Kirchenachse (Achsknick), die sich vor allem aus der schiefwinkligen Lage des Querhauses erkennen lässt2, zu bestimmen. Kirchen mit Achsknick sind in der Regel nach der aufgehenden
Sonne orientiert. Dabei war die Wahl der Orientierungstage ein wesentlicher Teil der Planung. „Was am heiligen Tage geschieht, ist in besonderem
Maße teilhaft des göttlichen Schutzes, des himmlischen Segens“3. Durch
ihre Festlegung im Bauwerk, die durch Beobachtung des Sonnenaufganges
erfolgte, ist eine Zeitmarke verewigt, die noch heute unter bestimmten Voraussetzungen naturwissenschaftlich erforscht werden kann. Konkret handelt es sich um die Nachvollziehung einer „heiligen Handlung“, deren
Folge die getrennte Orientierung von Langhaus und Chor ist. Dazu sind
Kenntnisse in Bauplanung, Geodäsie und Astronomie erforderlich. Die jeweiligen Lösungen stehen im interdisziplinären Kontext zur Geschichtsforschung und Liturgiewissenschaft.
Als Orientierungstage, die der Anlage des Kaiserdomes zu Speyer zugrunde gelegt wurden, konnte für das Langhaus Montag, 25. September
1027 und für den Chor Freitag, 29. September 1027 (Fest des Erzengels Michael) ermittelt werden. Dass die Achsen des Domes dorthin zeigen, wo an
den genannten Tagen die Sonne aufging, ist eine naturwissenschaftliche
Lösung (ein Befund). Durch die Behauptung, dass es sich bei den ermittelten Tagen, die im Grundriss des Gebäudes eingeschrieben sind, um keinen
Zufall, sondern um Planungsabsicht handelt, entsteht erst die These (das
Gutachten), die durch eine Vielfalt von Vergleichsbeispielen untermauert
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Hans AMMERICH vertritt die Ansicht, dass die Gründung vor 1030 stattfand. Der Dom zu
Speyer, hg. Dombauverein Speyer e.V. Speyer 42010, S. 2 f.
Achsknick bedeutet nicht unbedingt, dass die Längsachse einer Kirche (zwischen Langhaus und Chor) geknickt sein muss, es genügt, wenn die Achse Triumphpforte nicht im
rechten Winkel auf die Achse Langhaus steht.
Hans Martin SCHALLER, Der heilige Tag als Termin mittelalterlicher Staatsakte. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 30 (1974) S. 1–24, hier S. 23.
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ERWIN REIDINGER
wird. Das Forschungsergebnis kommt der Wiederentdeckung verlorenen
Wissens gleich und könnte neue Impulse erfahren. Bereits vor 100 Jahren
bemerkte Heinrich Nissen zur Orientierung: „Auch bei Kirchenbauten
müssen die Festlegung der Achse und die Legung des Grundsteins als getrennte Handlung angesehen werden. Im Laufe der Zeit ist jene, die ursprünglich die Hauptsache gewesen war [die Orientierung], in den Hintergrund gedrängt und vergessen worden“4.
KIRCHENORIENTIERUNG
Orientierung
Die Beziehung zwischen Kirchenorientierung und Sonnenaufgang versinnbildlicht die Auferstehung Christi5. Dabei ist die Sonne als Metapher
für Christus zu verstehen. Die Orientierung von Heiligtümern nach der
aufgehenden Sonne ist nicht eine Eigenart christlicher Kirchen, sondern
bereits aus dem Altertum bekannt. Beispiele sind der Große Tempel Ramses II. (1279 bis 1213 v. Chr.) in Abu Simbel6 und der Tempel des Salomo in
Jerusalem (15. Nissan/Pessach 957 v. Chr.)7. Ein frühes Beispiel einer zweifachen Orientierung eines Heiligtums stellt der muslimische Felsendom in
Jerusalem dar (Zentralbau, Baubeginn 686)8. Letzteres Beispiel weist darauf hin, dass der Ursprung der zweifachen Orientierung wahrscheinlich
bei den frühchristlichen Kirchen des Orients zu suchen ist.
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Heinrich NISSEN, Orientation. Studie zur Geschichte der Religionen, Heft 3. Berlin 1910,
S. 406.
Maria FIRNEIS und Herta LADENBAUER, Studien zur Orientierung mittelalterlicher Kirchen. In: Mitteilungen der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ur- und Frühgeschichte 28/1 (1978) S. 1–12, hier S. 1.
Manfred GÖRG, Die Beziehung zwischen dem alten Israel und Ägypten: Von den Anfängen bis zum Exil. Darmstadt 1991, S. 25.
Erwin REIDINGER, Die Tempelanlage in Jerusalem von Salomo bis Herodes aus der Sicht
der Bautechnischen Archäologie. In: Biblische Notizen. Beiträge zur exegetischen Diskussion 114/115 (2002) S. 89–150, hier S. 136, 137 und 147; Erwin REIDINGER, The Temple
Mount Platform in Jerusalem from Solomon to Herod. An Re-Examination. In: Assaph 9
(2004) S. 1–64; Erwin REIDINGER, Die Tempelanlage in Jerusalem von Salomo bis Herodes.
Neuer Ansatz für Rekonstruktion durch Bauforschung und Astronomie. Wiener Neustadt
2005; Erwin REIDINGER Der Tempel in Jerusalem, Datierung nach der Sonne. In: Biblische
Notizen. Aktuelle Beiträge zur Exegese der Bibel und ihrer Welt NF 128 (2006) S. 81–104;
Erwin REIDINGER, Die Tempelanlage in Jerusalem von Salomo bis Herodes. Rekonstruktion der Planung, Orientierung und Vermessung; vgl. die Homepage des Verfassers:
http://erwin-reidinger.heimat.eu (Stand 19.11.2010, abgerufen 10.05.2011), hier Pläne.
Diese zweifache Orientierung führt im Grundriss zur Verdrehung zwischen Oktogon
und Rotunde um 2.8°. Der Orientierungstag Oktogon entspricht dem Sonnenaufgang am
Tag der Himmelfahrt des Propheten Mohammed (Mi’radsch, 16. Ramadan 66/14. April
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Im Allgemeinen spricht man bei solchen Kirchenorientierungen von Ostung. Darunter ist aber nicht die genaue geographische Ostrichtung gemeint, sondern die Ausrichtung nach dem tatsächlichen Sonnenaufgang,
der sich im Laufe eines Jahres zwischen Sommer- und Wintersonnenwende bewegt. Diese Aussage stützt sich auf exemplarische Messungen an
45 Kirchen im Raum um Wiener Neustadt, Niederösterreich9. Nur zwei
von diesen Kirchen waren nicht nach einem Sonnenaufgang orientiert.
Deshalb lautet die allgemeine Regel: Ostung im Kirchenbau bedeutet Orientierung nach dem tatsächlichen Sonnenaufgang.
Sollte eine Kirche genau nach geographischem Osten orientiert sein, dann
heißt das noch lange nicht, dass ihre Ausrichtung wegen der Tag- und
Nachtgleiche so festgelegt wurde. Vielmehr ist hier nach christlichen Anlässen zu suchen. Bei diesen Betrachtungen ist der jeweilige Kalender maßgebend, der im 12. Jahrhundert durch die Julianische Zeitrechnung bestimmt war10. Zwischen dem heutigen Gregorianischen und dem damals
gültigen Julianischen Kalender gibt es z. B. im Zeitabschnitt von 1100 bis
1300 eine Zeitverschiebung von sieben Tagen11. So entsprach zu jener Zeit
das Datum der Tag- und Nachtgleiche dem 14. September (gregorianisch
21. September), an dem das Fest der Kreuzerhöhung12 gefeiert wurde.
Gleiche Betrachtungen gelten auch für die Sonnwendtage, so zum Beispiel
für Weihnachten.
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686) und jener der Rotunde der Nacht der Macht (Lailat al Qadr, 23. Ramadan 66/21.
April 686). Es ist anzunehmen, dass es christliche Bauleute waren, die hier entsprechend
dem Achsknick christlicher Kirchen so geplant haben; Erwin REIDINGER, Tempel Salomo
– Felsendom – Templum Domini. In: Blätter Abrahams 9 (2010) S. 13–78 (auch Homepage des Verf., wie Anm. 7, Abhandlungen); Erwin REIDINGER, Jerusalem, Felsendom,
Plan M 1:200, Niederösterreichische Landesbibliothek, Kartensammlung, Sign.: Kl
4612/2009 (NÖLB); Erwin REIDINGER, „Jerusalem, Felsendom“ (Homepage, Pläne).
Erwin REIDINGER, Planung oder Zufall. Wiener Neustadt 1192. Wiener Neustadt 1995,
hier 2. erweiterte Aufl. Wien 2001, S. 363.
Kalenderreform von 1582, bei der der Julianische Kalender vom Gregorianischen Kalender abgelöst wurde. Auf den 4. Oktober folgte sogleich der 15. Oktober 1582. Die Schaltungen wurden so festgelegt, dass erst nach 3000 Jahren vom Lauf der Sonne um einen
Tag abgewichen wird. Beim Julianischen Kalender waren es bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zehn Tage, weil das Julianische Jahr um 0,0078 Tage zu lang war. – Zur mittelalterlichen Zeitrechnung und den Kalenderreformen: Hermann GROTEFEND, Taschenbuch
der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Hannover 131991.
Hermann MUCKE, Vom Reigen himmlischer Lichter. In: Der Sternenbote. Österreichische
astronomische Monatsschrift 44 (537/2001) Heft 4, S. 66–77, hier S. 69.
Kreuzerhöhung: Fest am 14. September 335 zur Erinnerung an die erstmalige Verehrung
des wiedergefundenen Kreuzes am Tag nach der Weihe der Grabeskirche in Jerusalem.
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ERWIN REIDINGER
Ab dem 16. Jahrhundert (Konzil von Trient) hat die Orientierung nach der
Sonne (Gebetsostung) ihre Bedeutung eingebüßt. Seither entspricht jeder
geweihte Altar, ganz gleich in welche Himmelsgegend er ausgerichtet ist,
den kanonischen Erfordernissen13.
Die schriftlichen Quellen über die Orientierung mittelalterlicher Kirchen
sind spärlich und beziehen sich meistens auf Klöster oder Stifte. So stellt
der im 13./14. Jahrhundert entstandene Bericht14 über die 939 erfolgte
Gründung des Kanonissenstiftes Schildesche bei Bielefeld fest: Im Jahr 939
[...] stellten verständige Kunstfertige des Maurerhandwerks [...] den Mittagspunkt fest, schlugen um diesen einen ebenmäßigen Kreis15 und legten den Punkt
des tatsächlichen Sonnenaufganges fest. Von jenem aus vermaßen sie das Sanktuarium, das im Halbkreis gerundet war [...].
Achsknick
In vielen mittelalterlichen Kirchen weist das Langhaus eine andere Orientierung auf als der Chor; dies wird als „Achsknick“ bezeichnet16. Der
Achsknick ist von der Bauepoche und dem Rang einer Kirche unabhängig;
er ist bei Domen genauso anzutreffen wie bei Dorfkirchen oder Burgkapellen. Die Richtung des Achsknicks kann von der Achse Langhaus sowohl
nach Süden als auch nach Norden abweichen. Beispiele dafür sind: Dom
St. Stephan zu Passau17, Dom zu Wiener Neustadt18, Pfarrkirche Muth-
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NISSEN, Orientation (wie Anm. 4), S. 413.
Günther BINDING und Susanne LINSCHEID-BURDICH, Planen und Bauen im frühen und hohen Mittelalter nach den Schriftquellen bis 1250. Darmstadt 2002, S. 153 und 155.
Weitere Übersetzungsvorschläge: machten darum einen viergeteilten Kreis, auch: machten
mit dem Kreis ein Viereck. – Nach einem Gespräch mit dem Astronomen Hermann MUCKE
dürften auch diese Übersetzungsvorschläge nicht den Inhalt treffen, weil offensichtlich
damit eine Konstruktion zur Bestimmung der genauen Ostrichtung gemeint ist. Beim
Mittagspunkt handelt es sich um die Südrichtung (Methode der korrespondierenden
Höhen) und bei fraglicher Konstruktion um die Bestimmung der Ostrichtung, die senkrecht auf die Südrichtung steht. Die lateinische Wortfolge lautet: circulo exin quadrato. –
Zum Stift, zu seiner Gründung und zur Quellenlage: Ulrich ANDERMANN (Hg.), Stift und
Kirche Schildesche 939–1810. Festschrift zur 1050-Jahr-Feier. Bielefeld 1989.
Erwin REIDINGER, Mittelalterliche Kirchenplanung in Stadt und Land aus der Sicht der
„Bautechnischen Archäologie“: Lage, Orientierung und Achsknick. In: Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 21 (2005) S. 49–66.
Erwin REIDINGER, Passau, Dom St. Stephan 982, Achsknick = Zeitmarke. In: Der Passauer
Dom des Mittelalters, hg. von Michael Hauck und Herbert W. Wurster (= Veröffentlichung des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen der
Universität Passau 60). Passau 2009, S. 7–32, hier S. 18 und 27; Homepage (wie Anm. 7),
Pläne.
REIDINGER, Planung (wie Anm. 9), S. 344–360.
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mannsdorf, Niederösterreich19 und die Burgkapelle Emmerberg in Winzendorf, Niederösterreich20. Gelegentlich wird ein „übertriebener“ Achsknick vorgetäuscht, zumeist dann, wenn die Achsen von Langhaus und
Chor seitlich versetzt sind, wie das z. B. bei der Kirche Maria am Gestade
in Wien der Fall ist.
Die Erklärungen für einen Achsknick sind mannigfach: Er sei entstanden
bei Chorerneuerungen oder durch eine ungenaue Anwendung des Kompasses; symbolisch wird er als geneigtes Haupt Christi am Kreuz gedeutet
oder wird auf eine Änderung des Patroziniums zurückgeführt. Nach meinen bautechnischen Forschungen steht hinter der geknickten Kirchenachse
nichts anderes als ein zweistufiger Vorgang bei der Absteckung des Kirchengrundrisses, dem eine getrennte Orientierung von Langhaus und
Chor nach der aufgehenden Sonne zugrunde liegt. Vermutlich geht diese
getrennte Orientierung auf eine kanonische Anforderung zurück, die ganz
deutlich zwischen den Orientierungstagen von Langhaus und Chor unterscheidet. Das Langhaus entspricht im Kirchengebäude dem irdischen und
der Chor dem himmlischen Bereich; Schnittstelle ist die Achse Triumphpforte. Dadurch wird im Bauwerk die Hinführung vom irdischen
zum himmlischen (ewigen) Leben symbolisiert; der Knickpunkt kann als
Grenzpunkt zwischen Tod und Auferstehung verstanden werden. Der
Umbau von Kirchen erfasste häufig den Chor, seltener das Langhaus. Generell fällt auf, dass im Mittelalter die Orientierungen des Vorgängerbaus
als „heilige Linie“ geachtet und deshalb bei baulichen Veränderungen
meist beibehalten wurden.
Die Zusammenhänge zwischen Orientierung, Achsknick und Sonne lassen
sich gut mit einer Uhr vergleichen, die „Orientierungsuhr“ genannt wird
(Abb. 1)21. Im Mittelpunkt steht die Kirche, das Zifferblatt bildet der natürliche Horizont der Landschaft und der Zeiger ist die Verbindungslinie zur
aufgehenden Sonne. Bei einem derartigen Zeiger handelt es sich um einen
„Tageszeiger“, der sich nach dem jahreszeitlichen Lauf der Sonne zwischen Sommer- und Wintersonnenwende bewegt, von Sonnenaufgang zu
Sonnenaufgang springt und diesen Weg zweimal pro Jahr zurücklegt. Jahreszeiger gibt es dabei leider keinen. Symmetrieachse des Zifferblattes ist
die geografische Ostrichtung, von der die Sonnwendpunkte in Mitteleuropa je nach Horizont bis ca. ±37° entfernt liegen, woraus ein Öffnungswinkel von rund 74° resultiert.
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Pläne und Berechnungen beim Verfasser.
Pläne und Berechnungen beim Verfasser.
REIDINGER, Kirchenplanung (wie Anm. 16), S. 51–53.
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Abb. 1: „Orientierungsuhr“ mit Welt- und Himmelszeiger
Wenn nun dem Langhaus und dem Chor ein derartiger Tageszeiger zugeordnet wird und diese „Weltzeiger“ und „Himmelszeiger“ genannt werden, lässt sich damit der Achsknick astronomisch beschreiben. Werden die
Zeiger an den Orientierungstagen festgehalten, dann geben die Zeigerstellungen die getrennten Ausrichtungen von Langhaus und Chor an, deren
Differenz als Achsknick im Kirchengebäude verewigt ist. Ob dieser Achs-
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knick augenscheinlich zum Ausdruck kommt, hängt von der Größe des
Knickwinkels ab. Aus verschiedenen Rekonstruktionen geht hervor, dass
am Grundriss gelegentlich Korrekturen vorgenommen wurden, damit der
Achsknick zu keiner ästhetischen Störung führt. In einzelnen Fällen wurde
nur die Achse Triumphpforte schief gestellt und auf den Knick in der
Längsachse verzichtet, wie das z. B. im Kaiserdom zu Speyer zur Ausführung kam22. Ziel ist es, nicht den Achsknick zur Schau zu stellen, sondern
die Orientierungstage im Gebäude zu verewigen.
Für die Zeigerstellungen ist außerdem die Reihenfolge aufschlussreich, denn
der Weltzeiger (Langhaus) wurde stets vor dem Himmelszeiger (Chor) festgelegt, sodass pro Jahr nur eine Lösung möglich ist. Steht der Himmelszeiger
nördlich (links) vom Weltzeiger, dann erfolgte die Orientierung vor der Sommersonnenwende (Sonne wandert nach Norden). Im anderen Fall, wenn der
Himmelszeiger südlich (rechts) vom Weltzeiger steht, wurde die Orientierung nach der Sommersonnenwende vollzogen (Sonne wandert nach Süden). Orientiert wurde in der Regel innerhalb einer Woche. Die veränderlichen Richtungen des Achsknicks im Laufe der Jahreszeiten zeigt Abb. 2.
Der geometrische Wert des Achsknicks wird „Knickwinkel“ genannt; die
dazugehörige Zeit „Knickzeit“, die als Zeitdifferenz zwischen den Orientierungstagen definiert ist. Sie war für die Absteckung des Grundrisses mit
Festlegung des „Knickpunktes“ in der Achse Triumphpforte notwendig.
Erst nach dieser Vorbereitung konnte der Chor orientiert werden. Nach
meinen Beobachtungen ist anzunehmen, dass der Orientierungsvorgang
mit direktem Blick zur Sonne erfolgte. Das musste in ein bis zwei Minuten
geschehen, weil die Sonne rasch weiter wandert – ein absolut einfacher
Vorgang, für den nur der Orientierungstag gewählt werden musste. Berechnungen waren jedenfalls nicht erforderlich. Ob der erste Sonnenstrahl,
die halbe oder ganze Sonnenscheibe dem Orientierungsvorgang zugrunde
gelegt wurde, könnte entweder von der angestrebten Lichtgestalt der
Sonne oder vom Grad der Blendung abhängig gewesen sein. Für den Fall
eines bedeckten Himmels kann man sich vorstellen, dass auf Grund vorhergegangener täglicher Beobachtungen die Orientierung (der Sonnenaufgang) des gewünschten Tages extrapoliert wurde.
Die „Tagesschritte“ (Winkeländerungen) der Sonnenaufgänge sind jahreszeitlich unterschiedlich. Das bedeutet, dass gleich große Knickwinkel unterschiedlichen Knickzeiten (Anzahl von Tagen) entsprechen können. Im Bereich der Tagundnachtgleichen erreichen die Tagesschritte ihr Maximum mit
etwa 0,6°/Tag, während diese im Bereich der Sonnenwenden den Wert 0°
22
Erwin REIDINGER, Speyer, Kaiserdom; vgl. Homepage (wie Anm. 7), Pläne.
16
ERWIN REIDINGER
Abb. 2: Achsknick im Laufe der Jahreszeiten
durchwandern (Abb. 2). Daraus kann man schließen, dass Kirchen ohne
sichtbaren Achsknick auch zweifach orientiert sein können.
Der natürliche Horizont ist ebenfalls ein wichtiger Parameter für die Orientierung nach dem Sonnenaufgang. Hier kann es Probleme geben, wenn
der Horizont sehr nahe liegt und nicht mehr exakt nachvollzogen werden
kann (Wald, Bebauung). Gute Bedingungen sind dann gegeben, wenn der
Horizont weit weg liegt und scharf begrenzt ist (z. B. entferntes Hügelland,
wie beim Dom zu Speyer mit Blick über die Oberrheinische Tiefebene).
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
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Absteckung von Kirchengrundrissen
Nach der Festlegung der Orientierungstage für Langhaus und Chor sind
die Voraussetzungen für die „orientierte Absteckung“ am Bauplatz gegeben (Abb. 3). Zuerst wird am Orientierungstag Langhaus vom Absteckpunkt „A“ die Richtung nach der aufgehenden Sonne festgelegt (Achse
Langhaus). In der nächsten Stufe wird entsprechend dem Bauplan der Absteckpunkt „X“ für den Chor bestimmt und von ihm aus am Orientierungstag der Chor wieder nach der aufgehenden Sonne orientiert (Achse
Chor). Weil zwischen den Orientierungstagen von Langhaus und Chor ein
oder mehrere Tage vergangen sind und in dieser Zeit die Sonnenaufgangspunkte weiter wanderten, ergibt sich der bereits bekannte Achsknick „α“.
Wie auf dem Bauplatz die Absteckung des Kirchengrundrisses vollzogen
wurde, zeigt das Schema (Abb. 3) an zwei charakteristischen Beispielen.
Das erste bezieht sich auf einen Achsknick α in der Längsachse und das
zweite auf einen Achsknick α, der nur in der Querachse (Achse Triumphpforte) umgesetzt wurde. Es gibt eine Vielfalt von Kombinationen,
wie z. B. den häufigen Fall des Achsknicks in der Längs- und Querachse.
Dabei ist es, wie schon betont, belanglos, ob es sich um eine Burgkapelle,
Dorf- oder Stadtpfarrkirche handelt, die Methode ist dieselbe.
In Diskussionen taucht oft die Frage auf, warum man nicht mit einer Orientierung, also ohne Achsknick, das Auslagen gefunden hat. Meine Antwort darauf ist stets, dass man dies offensichtlich nicht wollte, weil sich
Langhaus und Chor durch die Wahl der Orientierungstage in ihrer Heiligkeit deutlich unterscheiden sollten.
Orientierungs-, Gründungs- und Weihetage
Wie bereits erwähnt, gab es für die Orientierungstage offensichtlich eine
kanonische Rangordnung, nach der der Orientierungstag des Chores dem
Himmel (dem Auferstandenen) näher steht als jener des Langhauses. Nach
dieser Regel wurden das Langhaus und der Chor des Gotteshauses (Abbild des himmlischen Jerusalem) durch den Sonnenaufgang in das Universum (den Himmel) eingebunden. Grundregel ist also, dass der Grad der
Heiligkeit vom Langhaus zum Chor steigen muss (Kurzbezeichnung:
„Orientierungskriterium“). Einfache Beispiele: gewöhnlicher Wochentag –
Sonntag, Gründonnerstag – Ostersonntag.
Während sich das Datum der Orientierungstage meist bestimmen lässt, ist
die Ermittlung des Jahres nicht so einfach. Hier sind schriftliche Quellen
von besonderer Bedeutung. Bei Angabe historischer Rahmenbedingungen
kann die Zuordnung zu beweglichen Festen hilfreich sein. Dies kann z. B.
für Ostern zutreffen (Achsknick nach Norden), wenn der Orientierungstag
18
ERWIN REIDINGER
Abb. 3: Orientierung und Absteckung von Kirchengrundrissen
A Beobachtungspunkt für Orientierung Langhaus
X Beobachtungspunkt für Orientierung Chor = Knickpunkt
t–t Teilungslinie zwischen Langhaus und Chor = Achse Triumphpforte
α Winkel des Achsknicks (Knickzeit in Tagen)
Schematische Darstellung mit Achsknick in Längsachse und Achsknick in
Querachse (Achse Triumphpforte)
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
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des Chores innerhalb der Ostergrenzen (22. März bis 25. April) liegt und
die Bedeutung der Kirche bzw. Anlage (Gründungsstadt, Kloster) das vermuten lässt. Die Orientierungstage von Langhaus und Chor gab vermutlich der Bauherr vor. Der Sonntag dürfte für den Chor in der Häufigkeit an
erster Stelle stehen23, weil er als „erster Tag der Woche“, als „Tag des
Herrn“, dem Tag der Auferstehung (Wiederholung des Osterfestes) entspricht.
Der Ostersonntag stellt demnach den absoluten Höhepunkt eines Orientierungstages dar. Beispiele dafür sind die Stadtpfarrkirchen von Marchegg
(1268)24, Linz (1207)25 und Laa an der Thaya (1207)26, deren Achse Langhaus überdies mit der Geometrie der jeweiligen Stadt verknüpft ist. Hier
offenbart sich die Absicht der Heiligung einer politischen Handlung (z. B.
Stadtgründung mit Pfarrkirche), indem sie an einem heiligen Tag
stattfand27. Gleiches gilt ebenso für alle anderen Feste, wie z. B. Palmsonntag, Pfingstsonntag oder Heiligentage. Die Bedeutung des Ostersonntags
als Orientierungstag für besondere Heiligtümer haben auch die Kreuzfahrer wahrgenommen, indem sie das „Templum Domini“ in Jerusalem am
Ostersonntag 1115 (18. April) nach der aufgehenden Sonne orientierten28.
Meine erste Begegnung mit einer geknickten Kirchenachse war im Dom zu
Wiener Neustadt (Patrozinium: Mariä Himmelfahrt und hl. Rupert)29. Die
astronomische Auswertung ergab die Orientierungsfolge: Pfingsten 1192
(24. Mai) – Pfingsten 1193 (16. Mai). Zu Pfingsten 1192 wurde Herzog Leopold V. von Kaiser Heinrich VI. mit der Steiermark belehnt, zu der damals
das Gebiet um Wiener Neustadt gehörte (Georgenberger Vertrag). Der Belehnungstag hat hier in die verknüpfte Stadt- und Kirchenplanung Eingang gefunden. Auf Grund meiner Forschung wurde das Gründungsjahr
23
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SCHALLER, Heiliger Tag (wie Anm. 3), S. 21.
Erwin REIDINGER, Marchegg – Ostersonntag 1268. In: Der Sternenbote. Astronomische
Monatsschrift 45 (551/2002) Heft 6, S. 102–106; Pläne und Berechnungen beim Verfasser.
Erwin REIDINGER, Mittelalterliche Stadtplanung am Beispiel Linz. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2001 (Linz 2003), S. 11–97, hier S. 89–94; Pläne beim Verfasser und im
Archiv der Stadt Linz (Plansammlung: Pläne Reidinger).
Erwin REIDINGER, NÖ Landesbibliothek, Kartensammlung: Laa an der Thaya (Sign.: Kl
3695/2010): Rekonstruktion der mittelalterlichen Stadtanlage M 1:1000 (2010), Rekonstruktion der Planung, Absteckung und Orientierung der Stadtpfarrkirche St. Vitus M
1:100 (2010); Erwin REIDINGER, Laa an der Thaya, Stadtpfarrkirche St. Vitus, vgl. Homepage (wie Anm. 7), Pläne.
SCHALLER, Heiliger Tag (wie Anm. 3), S. 3.
Templum Domini: Bezeichnung der Kreuzfahrer für den muslimischen Felsendom, in
dem sie eine Kapelle zu Ehren der Mutter Gottes einbauten; REIDINGER, Tempel (wie
Anm. 8), S. 48.
REIDINGER, Planung (wie Anm. 9), S. 332–355.
20
ERWIN REIDINGER
von Wiener Neustadt von 1194 (800-Jahrfeier) auf richtig 1192 korrigiert30.
Wiener Neustadt ist aber ein Sonderfall, weil die Orientierungen in zwei
aufeinander folgenden Jahren vorgenommen wurden, um den Pfingsttag
mit der Stadtplanung verknüpfen zu können31.
Die Pfarrkirche von Marchegg, Niederösterreich (Patrozinium: hl. Margaretha) ist „das Musterbeispiel“ für eine Kirche mit Achsknick und besonderen Orientierungstagen. Die Achse Langhaus wurde am 5. April und
jene des Chores am 8. April nach der aufgehenden Sonne orientiert32. Da
Marchegg 1268 von König Ottokar gegründet wurde und es sich um eine
verknüpfte Stadt- und Kirchenplanung handelt, stellt sich die Frage nach
dem Orientierungsjahr der Kirche nicht, es ist ebenfalls 1268. Die beiden
Orientierungstage entsprechen daher zufolge des bekannten Gründungsjahres eindeutig dem Gründonnerstag und Ostersonntag. In benachbarten
Jahren wären es gewöhnliche Wochentage gewesen.
Bei der Untersuchung der Schottenkirche in Wien haben sich für die Orientierung des Chores zwei gleichwertige Lösungen ergeben, nämlich die
Palmsonntage 1155 und 1160. Beim Schottenstift handelt es sich um eine
Gründung Herzogs Heinrich II. Jasomirgott, der seine Residenz von Regensburg nach Wien verlegte. Die Wahl des Palmsonntags könnte als Einzugsmotiv (wie Jesus in Jerusalem) verstanden werden. Der Mediävist
Helmut Flachenecker, Würzburg, hat sich für das Gründungsjahr 1155 ausgesprochen33.
Bei den Orientierungstagen sind viele Kombinationen möglich, aber das
Grundprinzip der Steigerung der Heiligkeit bleibt grundsätzlich verbindlich. Der Kirchenpatron ist, gegenüber einer häufigen Auffassung, eher selten mit einem Orientierungstag verknüpft (Tab. 1); sein Tag ist jener der
Kirchweihe.
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Dehio Niederösterreich südlich der Donau, Teil 2, Kapitel Wiener Neustadt. Wien 2003,
S. 2598 und 2602.
REIDINGER, Planung (wie Anm. 9), S. 372–377. 1192 Festlegung der Achse und des Absteckpunktes Dom (Portalpunktes). 1193 Absteckung des Kirchengrundrisses und Festlegung der Achse Chor.
REIDINGER, Marchegg (wie Anm. 24), S. 106.
Erwin REIDINGER, Die Schottenkirche in Wien: Lage – Orientierung – Achsknick – Gründungsdatum. In: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 61 (2007) Heft
2/3, S. 181–213, hier S. 210–212; Erwin REIDINGER, Wien, Schottenkirche 1155, Plan
M 1:100 (NÖ Landesbibliothek, Kartensammlung, Sign.: KI 3888/2006, NÖLB); Homepage (wie Anm. 7), Abhandlungen und Pläne.
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1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
Tab. 1: Beispiele, bei denen sich der Orientierungstag Chor vom Tag des
Patroziniums unterscheidet
Kirche
Orientierungstag Chor
Patrozinium
Passau, Dom
982, 2. Fastensonntag (12. März)
St. Stephanus
Jerusalem, Templum Domini
1115, Ostersonntag (18. April)
Maria Mutter Gottes
Speyer, Dom
1027, Erzengel Michael (29. Sept.)
Mariä Himmelfahrt
Muthmannsdorf, NÖ, Pfarrkirche
1136, 9. So. nach Pfingsten (19. Juli)
St. Peter und Paul
Wien, Schottenkirche
1155, Palmsonntag (20. März)
Unsere liebe Frau
Grünbach, NÖ, Pfarrkirche
12. Jh., Fest der Kreuzerhöhung (14. Sept.) St. Michael
Wiener Neustadt, Stadtpfarrkirche
1193, Pfingstsonntag (16. Mai)
Mariä Himmelfahrt
Laa an der Thaya, Stadtpfarrkirche
1207, Ostersonntag (22. April)
St. Veit
Linz, Stadtpfarrkirche
1207, Ostersonntag (22. April)
Mariä Himmelfahrt
Marchegg, Stadtpfarrkirche
1268, Ostersonntag (8. April)
St. Margaretha
Maria Kirchbüchl, NÖ, Wallfahrtskirche
15. Jh., Maria Lichtmess (2. Februar)
Mariä Geburt
Prinzipiell stellt sich die Frage nach der Definition des Gründungsdatums.
Ist es die Gründungsurkunde, der Orientierungstag oder der Tag der
Grundsteinlegung? Mit anderen Worten: Willenskundgebung, Planung,
Absteckung (Vermessung) oder Baubeginn.
Die erste Aktivität am Bauplatz war die Orientierung nach der aufgehenden Sonne. Wenn diese für den Chor z. B. an einem Ostersonntag vollzogen wurde, kann dieser Tag in seiner Heiligkeit von keinem anderen Tag
im Jahr mehr übertroffen werden. In dieser heiligen Handlung der Orientierung zeigt sich der spirituelle Höhepunkt bei der Anlage einer Kirche
(eines Klosters), der sich im Gebäude wieder findet (Achsknick)34. Aus dieser Sicht erachte ich den Orientierungstag Chor als eigentlichen Gründungstag. Im Unterschied dazu stand am Tag der Grundsteinlegung der
göttliche Segen für die Ausführung im Vordergrund35.
Von der Stiftskirche in Klosterneuburg ist z. B. der Tag der Grundsteinlegung
bekannt, die am Freitag, dem 12. Juni 1114, einem gewöhnlichen Wochentag,
vollzogen wurde36.
34
35
36
NISSEN, Orientation (wie Anm. 4), S. 406.
Monika SELLE, Grundsteinlegung. In: LThK 4, 31995, Sp. 1077.
Heinrich FICHTENAU und Heide DIENST (Bearb.), Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich, IV/1 (= Publikationen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 3/4/1) Wien 1968, S. 48 Nr. 615 von 1114 Juni 12, Klosterneuburg.
22
ERWIN REIDINGER
Die Orientierung der Kirche zeigt aber in eine Richtung, die im Bereich der
Wintersonnenwende (vielleicht Weihnachten) zu suchen ist. Hier unterscheidet sich eindeutig der Tag des Sonnenaufganges in der Kirchenachse (Orientierungstag?) von jenem der Grundsteinlegung.
Wie schon angedeutet, ist die Bestimmung der Orientierungstage, im Unterschied zu den Jahren, in der Regel kein Problem. Der Idealfall liegt dann
vor, wenn das Orientierungsdatum mit Angabe des Jahres bekannt ist. So
einen Fall kenne ich bisher jedoch nicht. Von der Gründungsstadt Lodi
(Lodi Nuovo) in Italien (Provinz Milano) ist das Gründungsdatum mit 3.
August 1158 überliefert37. Meine Vermutung, dass es sich bei diesem Tag
auch um den Orientierungstag des Domes (seines Chores) handeln könnte,
hat sich nach einer Voruntersuchung bestätigt. Ein wichtiges Beispiel für
die Verewigung wichtiger politischer Handlungen (hier Stadtgründung)
im Grundriss (der Orientierung) eines Domes38.
Ein umfangreiches Kollektiv für die Forschung nach dem Achsknick sind
nicht nur die Dome, sondern auch die Kirchen auf dem Lande. Das konnte
ich an zahlreichen mittelalterlichen Kirchen im südlichen Niederösterreich
durch Beobachtungen und Vermessung mit bauanalytischer Auswertung
feststellen39. In Landstrichen mit höherem Wohlstand wurden alte Kirchen
häufig durch Neubauten (insbesondere in der Barockzeit) ersetzt und auf
diese Weise Informationen über das Gründungsdatum der Kirchen zerstört.
Ein interessantes Anwendungsbeispiel für die Bedeutung von Orientierungstagen ist der Urkundenstreit zwischen den Pfarreien Muthmannsdorf und Waldegg in Niederösterreich. Beide Pfarren beanspruchen nach
einer Pfarrerrichtungsurkunde des Adalram von Waldegg das Gründungsjahr 1136 für sich. Sollte mit der Pfarrei gleichzeitig eine Kirche gegründet
worden sein, dann wäre die Angelegenheit einfach zu lösen, indem man
die Orientierungstage beider Kirchen für das Jahr 1136 bestimmt und bewertet40. Ich konnte feststellen, dass für Muthmannsdorf (Patrozinium: Pe-
37
38
39
40
Johann Friedrich BÖHMER, Regesta Imperii IV. Lothar III. und ältere Staufer 1125–1197,
2. Abt.: Die Regesten des Kaiserreichs unter Friedrich I. 1152 (1122)–1190, 2. Lief. 1158–
1168, bearb. von Ferdinand OPLL und Hubert MAYR. Wien 1991, Nr. 571 und 572. Der
3. August ist das Fest der Auffindung der Gebeine des hl. Stephanus.
Ein Vergleich mit Wiener Neustadt ist angebracht, weil sich dort in der Orientierung des
Domes der Belehnungstag von Herzog Leopold V. mit der Steiermark am Pfingstsonntag
1192 wieder findet; REIDINGER, Planung (wie Anm. 9), S. 372–381.
Bad Fischau, Leobersdorf, Petronell, Unter-Waltersdorf, St. Egyden am Steinfelde, Saubersdorf, Würflach/Blasiuskapelle, St. Lorenzen am Steinfelde, Scheiblingkirchen, Maiersdorf, Muthmannsdorf, Dreistetten, Grünbach, Waldegg, Gutenstein u. a.
Pläne und Berechnungen beim Verfasser.
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
23
ter und Paul) im Jahr 1136 die Orientierungsfolge Langhaus – Chor: Peter
und Paul (29. Juni.) – 9. Sonntag nach Pfingsten (19. Juli) gilt. Für Waldegg
(Patrozinium: Jakobus der Ältere, 25. Juli) ergab sich für dasselbe Jahr die
Orientierungsfolge: Dienstag 3. März – Mittwoch 4. März. Da die „Heiligkeitsbedingung der Steigerung“ nur für Muthmannsdorf zutrifft (Chor ein
Sonntag) und es sich bei Waldegg um gewöhnliche Wochentage handelt,
wäre die Lösung (beim Vergleich der Kirchen) Muthmannsdorf 1136.
Ganz gleich, ob Beispiele in Italien (Dom zu Brixen41, Dom zu Lodi42), der
Schweiz (St. Pierre in Genf)43, in Deutschland (Münster zu Freiburg/
Brsg.44, Dom zu Passau45, Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode46), in England (Southwark Cathedral in London47), in Frankreich (Kathedrale SaintCorentin in Quimper48), in Portugal (Kathedrale von Braga49) oder in Österreich herangezogen werden, tritt bei sorgfältiger Beobachtung50 mittelalterlicher Kirchen der Achsknick häufig entgegen. Daraus ist zu erkennen,
dass es sich hier um eine von der Bauepoche unabhängige christliche Bautradition handelt, deren Grenzen nach Raum und Zeit noch nicht ausreichend systematisch erfasst sind.
KAISERDOM ZU SPEYER
Bauanalyse
Die Basis der hier vorgelegten Forschung bildet der Baubestand aus der
Gründungszeit (Bau I). Die im Laufe der Zeit vorgenommenen Änderungen sind bekannt und werden berücksichtigt. In der Krypta entspricht der
Innenraum der Apsis noch der ursprünglichen Anlage, während die runde
Außenseite und die darüber liegende Apsis einem frühen Umbau (Bau II)
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
Beobachtung des Verfassers.
Mitteilung von Ferdinand OPPL, Wien (Plan und Fotos).
Franz GLASER, Frühes Christentum im Alpenraum: Eine archäologische Entdeckungsreise. Graz 1997, S. 106: Knick nach Norden (aus Plan ersichtlich).
Beobachtung des Verfassers.
REIDINGER, Passau (wie Anm. 17), S. 18 und 27.
Klaus VOIGTLÄNDER, Die Stiftskirche St. Cyriakus zu Gernrode (= DKV-Kunstführer 404).
München 72002; Knick nach Süden (aus Plan ersichtlich), Lokalaugenschein durch Verfasser 2010.
Beobachtung des Verfassers 2006: Knick nach Süden.
Mitteilung von Gerhard ENGELHARD (Plan).
Mitteilung von Peter NEUGEBAUER (Foto).
Beobachtungsvorgang: Aufstellen in der Achse Langhaus (meist beim Westportal) und
Prüfung der Symmetrie des Chores in Bezug auf die Achse Langhaus. Asymmetrie deutet auf Achsknick hin.
24
ERWIN REIDINGER
Abb. 4: Der Kaiserdom zu Speyer, Grundriss mit Verlauf der Achsen von Langhaus
und Chor mit Angabe der Richtungen (geodätisch) und Orientierungen (geographisch)
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
25
entsprechen. Über die Bauanalyse besteht ein Plan, der aufgrund des Umfanges und Größe hier nicht gezeigt werden kann. Er ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil dieser Forschung und kann im Internet auf der Homepage des Verfassers aufgerufen werden51. Grundlage der Planung und
Ausführung ist die Längeneinheit von 1 Fuß = 0,301m52.
Für die Erreichung des Zieles dieser Arbeit, die Bestimmung des Gründungsdatums des Domes, sind nur seine Richtungen bzw. Orientierungen
von Langhaus und Chor erforderlich (Abb. 4). Das bedeutet die Rückführung des Baubestandes auf seine Achsen und somit auf den Zustand seiner
Absteckung (Vermessung) vor Baubeginn an den Orientierungstagen.
Der Achsknick α des Speyerer Domes kommt durch die Schiefstellung der
Achse Triumphpforte gegenüber der Senkrechten auf die Achse Langhaus
zum Ausdruck, weil sie um 2,31° nach Süden (nach rechts) verdreht ist. Im
Vergleich zu Abb. 3 entspricht diese Ausführung dem Fall „Knick in der
Querachse“. Das hat zur Folge, dass der Grundriss östlich der Achse Triumphpforte einem schiefwinkligen System entspricht, in dem der Winkel
des Achsknicks integriert ist, wie das z. B. aus dem Planausschnitt im Bereich der Türme (Bau I) des Chorquadrats und Apsis zu erkennen ist
(Abb. 5). Der Grundriss des NO-Turmes entspricht einem Quadrat (30 x 30
Fuß)53, jener des SO-Turmes einem rechtwinkligen Trapez. Die Seiten beider Türme, die das Chorquadrat begrenzen, liegen in ihren Fluchten symmetrisch zur Achse Langhaus. Sie konvergieren in beiden Fällen um den
Winkel des Achsknicks nach Osten, weil sie nach innen verdreht sind. Daraus erklären sich die geometrisch unterschiedlichen Grundrisse der
Türme. Wegen dieser Schiefstellung entspricht die dem Chorquadrat vorgelagerte Vierung einem Parallelogramm; das gleiche gilt auch für den
Nord- und Südflügel des Querhauses.
Hervorzuheben ist noch der harmonische Übergang vom rechtwinkligen
System des Langhauses zum schiefwinkligen System des Chores, der in den
östlichen vier Jochen des Langhauses fächerförmig, durch sukzessive Verdrehung der Pfeilerachsen, umgesetzt wurde (Abb. 4, Übergangsbereich).
51
52
53
Erwin REIDINGER, Kaiserdom zu Speyer, Plan M 1:200, NÖ Landesbibliothek, Kartensammlung, Sign.: Kl 4693/2008 (NÖLB) und im Archiv des Bistums Speyer; vgl. Homepage (wie Anm. 7).
Die Erforschung der historischen Maßeinheit (Fuß) ist notwendig, weil die Planung und
Ausführung mit ihr erfolgte. Das heute verwendete Metermaß dient hier als Hilfsmaß.
Die Umwandlung der Abmessungen von Meter in Fuß lässt erst den Plan deutlich werden. So entspricht z. B. die Seite des quadratischen NO-Turmes mit 9,03 m dem runden
Planungswert von 30 Fuß.
Das Quadrat des NO-Turmes entspricht dem schiefwinkligen System.
26
ERWIN REIDINGER
Abb. 5: Das schiefwinklige System im Bereich der Türme (Bau I), des Chorquadrats und
der Apsis mit dem integrierten Winkel des Achsknicks α von 2,31° (1 Fuß = 0,301m)
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
27
Abb. 6: Ostansicht des Speyrer Domes mit sichtbarem Achsknick durch den seitliche Versatz von den Mittelfenstern der Krypta (Bau I) und der Apsis (Bau II); aus:
Hans WEIGERT, Die Kaiserdome am Mittelrhein. Speyer, Mainz und Worms. Berlin
1933, Foto von Walter Hege
28
ERWIN REIDINGER
Der Achskick α des Domes ist auch an der Ostansicht seiner Apsis ablesbar
(Abb. 6). Es ist deutlich zu erkennen, dass die Lotlinien durch die Mittelfenster der Krypta (Bau I) und der Apsis (Bau II) voneinander abweichen.
Das Fenster der Krypta ist in Achse Langhaus, jenes der Apsis entsprechend des Achsknicks (von ihrem Mittelpunkt aus) südlich davon situiert.
Dieses Beispiel zeigt die Übernahmen der Achse Apsis aus Bau I, weil sie
als heilige Linie geachtet und deshalb beim Umbau (Bau II) übernommen
wurde. So gesehen kommt der Achskick im Dom entsprechend Abb. 3
auch als „Knick in der Längsachse“ vor. Für diese Forschung stütze ich
mich aber auf die schiefe Lage der Triumphpforte, weil sie eindeutig der
Gründungsplanung (Bau I) entspricht.
Tab. 2: Richtungen (geodätisch) und Orientierungen (Azimut, geographisch) der Achsen von Langhaus und Chor
1
2
3
4
5=2+4
Achse
Richtung
(geodätisch)
Achsknick
Meridiankonvergenz54
Orientierung
(Azimut)
(geographisch)
Langhaus
94,23°
Chor
96,54°
93,81°
2,31°
– 0,42°
96,12°
Archäoastronomie
In Tab. 2, Spalte 5 ist die Herleitung, der für die astronomische Untersuchung erforderlichen Orientierung (des Azimuts) der Achsen von Langhaus und Chor, dargelegt. Meridiankonvergenz ist der Korrekturwert, der
vom geodätischen System zum geographischen System führt. Mit der astronomischen Untersuchung wird die Zeit als vierte Dimension in die Betrachtung eingeführt. Der geodätische Begriff „Richtung“ wird durch den geographischen Begriff „Orientierung“ ersetzt55, der in der Astronomie „Azimut“ genannt wird. Der Höhenwinkel der Sonne heißt einfach nur „Höhe“.
Azimut und Höhe bestimmen die Position der Sonne am Himmel, die stets
mit einem konkreten Zeitpunkt verbunden ist. Sind von diesen drei Wer54
55
Meridiankonvergenz ist der Korrekturwert, der vom geodätischen System zum geographischen System führt.
Friedrich KLUGE, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 22 (1989) S. 519:
Orientieren ist eine Ableitung von frz. „orient“ (Sonnenaufgang, Osten, Orient). Die Bedeutung als Verallgemeinerung von „die Position nach der [aufgehenden] Sonne bestimmen“. Der Orient ist bezeichnungsmotivisch das Land des Sonnenaufganges.
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
29
Abb. 7: Idealfall einer SonnenaufgangLösung als Schnittpunkt von Achse
Langhaus bzw. Achse Chor mit dem natürlichen Horizont und der maßgeblichen Tagesbahn der Sonne
ten (Azimut, Höhe und Zeit) zwei bekannt, dann ist auch der dritte bestimmt. Eine Lösung für die Orientierung nach der aufgehenden Sonne
liegt dann vor, wenn sich die Tagesbahn der Sonne, die Kirchenachse und
der natürliche Horizont etwa in einem Punkt schneiden (Abb. 7).
Für die astronomische Berechnung wird ein Rechenprogramm verwendet,
das die Sonnenaufgänge so zeigt, wie man sie damals nach dem Julianischen Kalender gesehen hat56. Bei nach der Sonne orientierten Heiligtümern wurden vom Altertum bis ins Mittelalter keine astronomischen Berechnungen angestellt. Der jährliche Sonnenlauf war jedermann vertraut.
Die Orientierung der Achsen von Langhaus und Chor erfolgte nur durch
Beobachtung an den dafür vorgesehenen Tagen. Meine Aufgabe ist die
Nachvollziehung des Beobachtungsvorganges, die heute durch Berechnung möglich ist. Grundlage dafür sind die damals nach der aufgehenden
Sonne orientierten Achsen, die im Bauwerk verewigt sind und durch die
Bauanalyse bereits bestimmt werden konnten (Tab. 2, Spalte 5).
Orientierungstage
Als Zeitpunkt der Orientierung nach der aufgehenden Sonne kommt für
den Dom zu Speyer nur eine Lösung nach der Sommersonnenwende in
Frage. Nach der Regel: Orientierung Langhaus vor Chor, ist dafür die
Richtung des Achsknicks α entscheidend, die hier nach Süden abweicht
(Sonne wandert nach Süden, Abb. 2).
56
Michael PIETSCHNIG und Wolfgang VOLLMANN, Himmelkundliches Softwarepaket Uraniastar 1,1. Wien 1998.
30
ERWIN REIDINGER
Abb. 8: Gemeinsame Darstellung der Sonnenaufgänge in den Achsen von Langhaus und Chor im Jahre 1027 (Knickzeit 4 Tage)
Eine Übersicht meiner Lösungen für die Sonnenaufgänge in den Achsen
von Langhaus und Chor ist in Abb. 8 wiedergegeben. Weil ohne Jahr keine
astronomische Berechnung möglich ist, bin ich vorerst vom Jahr 1027 ausgegangen, weil es das Jahr der Kaiserkrönung war57. Der für die Sonnenaufgänge maßgebliche natürliche Horizont befindet sich östlich der Oberrheinischen Tiefebene im Kraichgauer Hügelland. Er konnte aufgrund seiner großen Entfernung von etwa 20 km sehr genau bestimmt werden58.
Die jeweiligen Schnittpunkte zwischen den Tagesbahnen der Sonne, den
Achsen von Langhaus und Chor und dem natürlichen Horizont ergeben
die gesuchten Orientierungstage: für das Langhaus Montag 25. September
und für den Chor Freitag 29. September (Tag des Erzengels Michael).
57
58
Kaiserkrönung in Rom zu Ostern 1027 (26. März).
Beim natürlichen Horizont unterscheidet der Verf. zwischen den Werten ohne bzw. mit
Wald (Annahme 30 m Baumhöhe). Die für den Horizont maßgebliche Höhe beträgt in
der Achse Langhaus 0,22° bzw. 0,31° und in der Achse Chor 0,14° bzw. 0,22°. Aufgrund
der großen Entfernung der Horizontpunkte (20420 m bzw. 21300 m) erfolgte deren Bestimmung unter Berücksichtigung von Refraktion (Lichtbrechung) und Erdkrümmung.
Die Höhe ist somit die Tangente an den beim Beobachter eintreffenden gekrümmten
Lichtstrahl vom jeweiligen Horizontpunkt.
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
31
Abb. 9: Detaillierte Darstellung des Sonnenaufganges in der Achse Langhaus am
25. September 1027 mit den Tagesbahnen für die Jahre 1020 bis 1035 (Schwankungen innerhalb der Schaltjahre, gilt sinngemäß auch für den Chor)
Um die Sonnenaufgänge in den Achsen von Langhaus und Chor genauer
bewerten zu können, werden sie hier detailliert dargestellt (Abb. 9 und 10).
Grundsätzlich kann die Lichtgestalt der Sonne an den Orientierungstagen
als etwa gleich angesehen werden59. Abb. 9 zeigt den Sonnenaufgang in
der Achse Langhaus mit den Schwankungen der Tagesbahnen aufgrund
59
Die Lichtgestalt der Sonne beim Orientierungsvorgang in Achse Langhaus bzw. Chor
ergibt sich durch die unterschiedliche Höhe (der Höhendifferenz) der Schnittpunkte
von Tagesbahnen Sonne und natürlichem Horizont (Abb. 9 und 10). Unter Berücksichtigung des scheinbaren Durchmessers der Sonne (0,52°) berechnet sich der Stich des
sichtbaren Sonnensegments für beide Fälle mit etwa 0,10°, was einem Fünftel der ganzen Sonnenscheibe entspricht.
32
ERWIN REIDINGER
Abb. 10: Detaillierte Darstellung des Sonnenaufganges in der Achse Chor am 29.
September 1027 (Erzengel Michael) mit den Tagesbahnen der Nachbartage (gilt
sinngemäß auch für das Langhaus)
der Schaltjahre, die sich im Rhythmus von vier Jahren wiederholen. Die
sonst für das Kalenderwesen eher unangenehme Einfügung von Schaltjahren ist hier von Vorteil, weil zwischen den einzelnen Jahreslösungen unterschieden werden kann. Dies eröffnet einen Zugang für die Suche nach
dem Orientierungsjahr des Speyerer Domes. Aus Abb. 10 über den Sonnenaufgang in der Achse Chor geht hervor, dass die Nachbartage mit Sicherheit als Orientierungstage ausscheiden und keinen Einfluss auf die jeweilige Lösung haben.
Tab. 3 gibt die astronomische Berechnung für den Sonnenaufgang in der
Achse Chor wieder (Azimut 96,12°, scheinbare Höhe +0,06°).
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
33
Tab. 3: Berechnung des Sonnenaufganges in der Achse Chor am Freitag,
dem 29. September 1027 (Computerausdruck)
Orientierungsjahr
Nach Ermittlung der Orientierungstage geht es hier um die entscheidende
Frage nach dem Orientierungsjahr (Gründungsjahr) des Kaiserdomes zu
Speyer. Weil dieses noch nicht bekannt ist, stelle ich meine Untersuchungen für einen Zeitrahmen von 1025–1033 Jahre an, weil die Gründung
„um“ oder „vor“ 1030 erfolgt sein soll. Das Datum der Orientierungstage
bleibt in allen Jahren gleich, lediglich die dazugehörigen Tage der Woche
ändern sich. Zur Bewertung der einzelnen Jahre werden das Orientierungskriterium (Steigerung der Heiligkeit der Orientierungstage), der Sonnenaufgang und die mögliche Anwesenheit des Stifters herangezogen. Voraussetzung für die gesuchte Lösung ist die Erfüllung aller drei Kriterien.
Die Bewertung erfolgt tabellarisch (Tab. 4). In den Spalten 2 und 3 sind
jene Tage der Woche eingetragen, die im Laufe der Jahre den Orientierungstagen von Langhaus und Chor entsprechen würden. In Spalte 4 ist
die jeweilige Aussage über die Erfüllung des Orientierungskriteriums mit
ja oder nein enthalten. Wichtige Voraussetzung ist dabei die Steigerung
34
ERWIN REIDINGER
der Heiligkeit vom Orientierungstag Langhaus zum Orientierungstag
Chor. Liegt zwischen diesen beiden Tagen ein Sonntag, dann gilt das Orientierungskriterium als nicht erfüllt, weil zwischen den Orientierungstagen kein Tag mit liturgisch höherem Rang liegen soll. Ein „ja“ steht bei den
Jahren 1027, 1028, 1029, 1030, 1031, 1032, 1033. Bemerkenswert ist die Lösung des Jahres 1027 mit einem Montag als Orientierungstag. Hier kommt
deutlich zum Ausdruck, dass, dem Sonntag wegen seines hohen Ranges
ausgewichen wurde, um den Orientierungstag des Erzengels Michael noch
zu erhöhen. Die Knickzeit von vier Wochentagen ist Arbeitszeit, die für die
Absteckung (Vermessung) des Orientierungspunktes „X“ für den Chor auf
der Achse Langhaus zur Verfügung stand (Abb. 4). Spalte 5 enthält die
Aussage, ob es in den angeführten Jahren in den Achsen von Langhaus
und Chor einen Sonnenaufgang gab. Grundlage der Bewertung ist Abb. 9
mit den schwankenden Tagesbahnen der Sonne im Rhythmus der Schaltjahre. Mit der Frage nach dem Wald am Horizont habe ich mich intensiv
auseinander gesetzt und bin zur Auffassung gelangt, dass es aufgrund des
Flurnamens „Eichteich“ mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Wald am Horizont gegeben hat. Trotzdem habe ich die Fälle Sonnenaufgänge „ohne
Wald“ ausgewiesen. Eindeutige Sonnenaufgänge (mit Wald) gibt es in den
Jahren 1027 und 1031 (Abb. 9).
Auf eine mögliche Anwesenheit des Stifters Konrad II. zumindest bei der
Orientierung des Chores nimmt Spalte 6 Bezug. Für das Jahr 1027 steht einer Teilnahme des Kaisers zwischen seinem Aufenthalt in Frankfurt (deutsche Generalsynode am 23. und 24. September) und dem Hoftag in Tribur
ab 19. Oktober nach Anton Doll nichts entgegen60. Aus der Gesamtbewertung in Tab. 4 ergibt sich als Orientierungsjahr für die Absteckung des Kaiserdomes zu Speyer das Jahr 1027, weil nur in diesem Jahr allen drei Kriterien (Orientierung, Sonnenaufgang und mögliche Anwesenheit des Stifters) entsprochen wird.
60
Ludwig Anton DOLL, Überlegungen zur Grundsteinlegung und zu den Weihen des
Speyerer Domes. In: AmrhKG 24 (1972) S. 9–25, hier S. 17.
35
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
Tab. 4: Bestimmung des Orientierungsjahres des Speyerer Domes nach den
Kriterien: Orientierung (Steigerung der Heiligkeit der Orientierungstage),
Sonnenaufgang und mögliche Anwesenheit des Stifters Konrad II. für den
Zeitrahmen 1025 bis 1033
1
2
3
Jahr
Orientierungstag, Langhaus
25. September
Orientierungs- Orientierungs- Sonnenauf- Anwesenheit
tag, Chor
kriterium
gang
des Stifters
29. September erfüllt?
(vgl. Abb. 9) möglich?
4
5
6
7
Gesamtbewertung
(kanonisch, naturwissenschaftlich,
historisch): Lösung
1025 Samstag
Mittwoch
nein
nein
keine Quellen
nein
1026 Sonntag
Donnerstag
nein
ja
nein
(ohne Wald) (Italienfeldzug)
1027 Montag
Freitag
ja
ja
ja (am 23./
24. Sept.
in Frankfurt)
1028 Mittwoch
Sonntag
ja
nein
nein
(29. Sept.
in Pöhlde)
nein
1029 Donnerstag
Montag
nein
nein
nein
(Feldzug
gegen Polen)
nein
1030 Freitag
Dienstag
nein
ja
nein (Sept./
(ohne Wald) Okt. in Franken)
nein
1031 Samstag
Mittwoch
nein
ja
nein (16. Sept.
Belgern,
24. Okt. Tilleda)
nein
1032 Montag
Freitag
ja
nein
nein
(keine Quellen)
nein
1033 Dienstag
Samstag
ja
nein
ja? (Feldzug
gegen Odo
von der Champagne,
Sept. Rückkehr
nach Lothringen)
nein
nein
ja
36
ERWIN REIDINGER
ZUSAMMENFASSUNG61
Die historisch-naturwissenschaftliche (ingenieurmäßige/astronomische)
Untersuchung nach dem Orientierungsjahr des Kaiserdomes zu Speyer erbrachte für den historisch maßgebenden Zeitrahmen, das Jahr 1027 als Lösung. Historisch deshalb, weil es dem Stifter, Kaiser Konrad II., nur in diesem Jahr möglich war am Orientierungstag seines Domes teilzunehmen
(nach Aufenthalt in Frankfurt, noch im Jahr der Kaiserkrönung). Naturwissenschaftlich (astronomisch) durch die Orientierung des Chores nach dem
Sonnenaufgang am Tag des Erzengels Michael (29. September 1027), der
ebenfalls deutlich für dieses Jahr spricht. Aus Letzterem ist zu erkennen,
dass es ein Anliegen des Kaisers war, dieses Gotteshaus von Anbeginn (in
den Fundamenten) unter den Schutz dieser himmlischen Macht zu stellen.
Schriftliche Quellen über das Gründungjahr gibt es nicht. Dafür gibt die
Anlage des Domes durch seine besondere Orientierung darüber Auskunft
(Abb. 11). Es sind die durch den Sonnenaufgang in das Universum eingebundenen Achsen von Langhaus und Chor, die im Gebäude als Zeitmarken verewigt sind und erforscht werden konnten. Nach der Orientierung
erfolgt die Grundsteinlegung, der Baubeginn und nach Ablauf einer entsprechenden Bauzeit die erste Weihe. Letztere ist als Teilweihe urkundlich
für das Jahr 1061 belegt. Das ist Anlass für die Ausstellung „950 Jahre
Domweihe“ im Jahr 2011. In Anbetracht des Forschungsergebnisses könnte
das Jahr 2027 zum Jubiläumsjahr „1000 Jahre Gründung des Speyrer Domes“ werden.
61
Prof. Dr. Hans Ammerich, Bistumsarchiv Speyer, wertet die vorgelegten Ergebnisse und
ihre Konsequenzen für die Stadt Speyer aus. Ihm sei herzlich gedankt.
1027: GRÜNDUNG DES SPEYERER DOMES
37
Abb. 11: Der Speyrer Dom, Rückführung auf die orientierten Achsen von Langhaus
und Chor mit Angabe der Orientierungstage im Gründungsjahr 1027.