1. Einleitung
Das unweit von Bremen gelegene Worpswede und Ahrenshoop an der Ostsee
(nordöstlich von Rostock) dürften wohl die bekanntesten Künstlerkolonien in
Deutschland sein. Es gab aber auch einige in Süddeutschland. Zu Unrecht nicht so
bekannt ist Schreiberhau im damaligen Schlesien, wo seinerzeit einige
faszinierende Winterbilder entstanden sind.
Blickt man über das damalige Deutsche Reich hinaus, kommen noch Barbizon
(südwestlich von Paris), das als „die“ und als erste Künstlerkolonie überhaupt
angesehen wird, und der Monte Veritá (bei Ascona im Tessin/Schweiz) als heute
sehr bekannte hinzu.
Sucht man in einschlägigen populärwissenschaftlichen Kunstlexika und
Handbüchern (willkürlich im eigenen Bücherschrank: Gaede 2008, Stadler/Wiench
1994) nach dem Stichwort „Künstlerkolonien“ so wird man erstaunt feststellen,
dass es dort dazu keine Einträge gibt. Nur in Olbrich et. al 2004 findet sich ein
Eintrag. Literatur zu einzelnen KünstlerInnen, zu Künstlerfreundschaften und
Künstlerehepaaren gibt es sehr viele, zu Künstlerkolonien jedoch vergleichsweise
wenig.
Dies ist erstaunlich, sind doch Künstlerkolonien nicht zu vernachlässigende Orte
künstlerischer Produktion, und somit aus der europäischen Kulturgeschichte nicht
wegzudenken. Einige, wie etwa Worpswede sind heute sehr bekannt und viele
haben sich, nicht zuletzt aus touristischen Zwecken in EuroArt
zusammengeschlossen. EuroArt, die Vereinigung der europäischen
Künstlerkolonien, wurde 1994 in Brüssel unter der Schirmherrschaft des
Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission gegründet, um ein
Netzwerk von Künstlerkolonien, Künstlerdörfern und Künstlerorten in Europa zu
schaffen. EuroArt hat zurzeit 76 Mitglieder aus 41 Künstlerkolonien in 14
Ländern1. Die Mathildenhöhe Darmstadt z.B. ist Mitglied bei EuroArt und wird
prominent präsentiert.
1
Vgl. http://www.euroart.eu/, [abgefragt am 21.12.2016]
1
2. Stand der Forschung
Künstlerkolonien gibt es ab 1820, ihren Höhepunkt finden sie zwischen 1875 und
1910, bzw. unübersehbar von 1890 bis 1910. Ahrenshoop beginnt ab ca. 1880,
Worpswede ab 1889und Hiddensee z.B. ab ca. 1900. Sie sind Orte der „Flucht aus
der Stadt“ und der aus den konservativen Kunstakademien - und somit eine kleine
Utopie und für einige auch ein kleines Stück (neue) Heimat. Meist siedeln sich
zuerst einige PionierInnen an, die dann andere KünstlerInnen oder auch
SchülerInnen nach sich ziehen. Die Kolonien sind aber nur teilweise Protest gegen
etablierte Strukturen, denn viele werden von gut ausgebildeten Künstlern oder
Kunstprofessoren geprägt, wenn nicht gegründet.
Die Forschung zu Künstlerkolonien hat erst in den letzten Jahren einen
Aufschwung erfahren, was dann vielleicht auch erklärt, warum dieser Topos in den
teilweise aus den 1990ern stammenden Lexika nicht auftaucht. Wietek legte 1976
eine erste grundlegende Publikation vor (Wietek 1976), 1998 folgte eine
umfangreiche Ausstellungspublikation (Städtische Galerie Karlsruhe 1998); 2001
dann die erste wissenschaftliche Publikation als Resultat eines umfangreichen und
grundlegenden Forschungsprojektes des Germanischen Nationalmuseums (Pese
2001). 2015 erscheint dann eine weitere, klassische Ausstellungspublikation
(Blübaum/Eiden 2015) und 2016 eine weitere, die auch wissenschaftlichtheoretische Beiträge enthält, darunter auch solche, die die Forschung zu
Künstlerkolonien auf einer Meta-Ebene selbst reflektieren und historisieren
(Andratschke 2016). Die einführenden (vier) Artikel zur Künstlerkolonieforschung
in Andratschke 2016 sind, da fundiert und reflektiert, sehr lesenswert. Im
Katalogteil tritt dann eine eigentümliche Spannung zutage: Diese vier genannten
Artikel kritisieren und problematisieren das, was dann die Mehrheit der
nachfolgenden Aufsätze tut: Die Kolonien idealisieren, oder sich in der Forschung
verkürzend auf Biografien und persönliche Anekdoten als Quellen stützen. Neben
Pese 2002 ist diese umfangreiche Publikation das Standardwerk der neueren
Forschung zum Thema. Angekündigt ist Bröhan 20172.
2
Laut Verlagsankündigung scheint Bröhan den „Blauen Reiter“ als Künstlerkolonie zu definieren
[http://www.parthasverlag.de/buch/kuenstlerkolonien-217.html, abgefragt am 13.1. 2017].
2
3. Was sind Künstlerkolonien?
Künstlerkolonien, von denen es wohl an die drei Dutzend allein in Deutschland
gab, sind ein Phänomen vor allem der beiden Jahrzehnte um die Wende vom 19.
zum 20. Jahrhundert. KünstlerInnen entfliehen, so die lange Zeit gängige
Geschichtsschreibung, damals den Akademien (und den Städten allgemein) und
lassen sich in vergleichsweise abgelegenen Dörfern nieder. Dies geschieht
entweder auf Dauer, in dem sie dort ihren Wohnsitz nehmen, gar Häuser bauen,
oder sich über längere Zeiträume temporär, meist im Sommer, dort aufhalten. An
etlichen Orten (etwa Dachau, Schwaan und Ahrenshoop) gibt es zudem die
Möglichkeit privaten Malunterricht zu nehmen, was vor allem von Frauen
wahrgenommen wird und mit dazu beiträgt, dass sich Künstlergemeinschaften
bzw. Künstlerkolonien herausbilden.
Diese MalerInnen nehmen nun die Landschaft anders und neu wahr, bilden sie
nicht (mehr) nur ab, sondern versuchen ihr inneres Erleben vor der Landschaft in
ihren Bildern auszudrücken. Sie idealisieren (dadurch) aber auch das „Landleben“.
Unter Künstlerkolonien versteht Wietek, dass Maler sich als Fremde an einem
ländlichen Ort zu immer wiederkehrenden Aufenthalten oder für eine längere Zeit
niederließen. Sie suchten, so Wietek weiter, in diesen unberührten Landschaften
und Orten nach einer Ursprünglichkeit, die sie als Voraussetzung für ihre
künstlerische Freiheit in Abkehr von der akademischen Lehre betrachteten. Sie
verbinde keine künstlerische Schulbildung, sondern eine gewisse
Übereinstimmung im Verhältnis zu bestimmten Orten und Landschaften als
Voraussetzung ihrer Kreativität (Wietek 1976, paraphrasiert nach Baumstark
1998:71).
Der noch stark vom DDR-Duktus geprägte Eintrag in Olbrich et al. 2004
umschreibt Künstlerkolonien auch als „Erscheinung der sog. Heimatkunst“ und als
„Streben nach einer unmittelbaren Begegnung mit der Natur, infolge einer
kleinbürgerlichen Zivilisationsflucht“ (Olbrich 2004:146).
3
Künstlerkolonien sind also zu unterscheiden von Künstlergruppen (wie etwa der
„Brücke“) und erst recht von den Künstlervereinigungen oder Sezessionen, die
vorrangig berufspolitische oder andere Ziele verfolgen.
Das bedeutet, dass etwa das (eh erst 1919 gegründete) Bauhaus keine
Künstlerkolonie ist, ebenso wenig die Mathildenhöhe in Darmstadt.
Zusammenschlüsse von KünstlerInnen, wie etwa die bei Gründung 1905 aus vier
Personen bestehende „brücke“ oder der drei Jahre später gegründete „Blaue
Reiter“, fallen ebenfalls nicht unter diese sicher nicht ganz eindeutige
Kategorisierung.
Der Aufenthalt auf dem Land veränderte auch die Kunstauffassung: Nun wurde en
plein air (also direkt in der Natur) statt im Atelier gemalt, nicht aus der Erinnerung
oder dem Skizzenbuch sondern sozusagen live, und auch die Motive wurden
andere. Die Landschaft und die „einfachen Leute“ treten in den Mittelpunkt.
Zuletzt präsentierte das Landesmuseum Hannover Künstlerkolonien in einer
großen Ausstellung3. Dort wurden in den vielen Kolonien entstandene Werke
präsentiert, die nahezu durchgängig Natur- und Landschafts- bzw. maritime
Motive zeigen. Die unterschiedliche farbliche Gestaltung der Wände in der
Ausstellung (anhand der einzelnen Künstlerkolonien) konnte als anregend erlebt
werden. Es wird spürbar, dass dort gemeinsame künstlerische Impulse wirkten, sei
es durch die typische Topographie der Landschaft (Berge, Meer) oder durch die
angewendeten künstlerischen Mittel (Fläche, Stimmungshaftigkeit, Zeichnung). Es
schälen sich in einigen Kolonien auch jahreszeitliche Schwerpunkte heraus
(Winter, Vorfrühling), die dann durch die Häufung der Bilder zu dieser Thematik
zum Betrachten einladen.
Die Bedeutung der verschiedenen Kolonien für die Ausprägung der Kunst der
klassischen Moderne ist aber sehr unterschiedlich.
3
Parallel zur Erstellung dieser Arbeit präsentiert das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm (Westfalen) in
einer Sonderausstellung "Lieblingsorte - Künstlerkolonien" (18. Dezember 2016 bis zum 21. Mai 2017).
Eine Publikation dazu liegt nicht vor. Soweit die Internetdarstellung ein Urteil erlaubt, werden dort aber
die bekannten Klischees über Künstlerkolonien nicht kritisch problematisiert.
4
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass die Motivik eher traditionell wirkt:
Landschaften, Orte, Bäume, Jahreszeiten, Menschen aus den mit den Händen
arbeitenden Schichten (und deren Angehörige). Der Stil war meist eher klassischnaturalistisch, also nicht Avantgarde.
Nicht zuletzt sind Künstlerkolonien auch von Lehrer-SchülerInnen-Verhältnissen
und deren Einflüsse auf das Kunstgeschehen geprägt - waren doch die Gründer von
ihren Lehrern geprägt und prägten dann selbst wiederum nachfolgende
Generationen.
5
4. Konkrete Beispiele
Im Folgenden werden nun zwei Kolonien näher vorgestellt. Dafür wurde nicht
Ahrenshoop oder Worpswede (Groth/Herrmann 2014) ausgesucht. Die Auswahl
erfolgte zum einen danach, etwas Neues kennenzulernen und dann v.a. anhand von
forschungsökonomischen Gesichtspunkten, etwas was den Zugang zu Literatur
angeht. Eine Rolle spielte auch, dass der Verfasser das Museum in Schwaan im Jahr
2015 und 2016 die genannte Ausstellung in Hannover besuchte.
4.1. Dachau4
Dachau liegt 18 Kilometer nordwestlich von München an der Amper und ist seit
1867 mit dem Zug von München erreichbar. 1890 hat es 3000 Einwohner.
Wichtige Personen sind Adolf Hölzel (1853-1934), Ludwig Dill (geboren 1848, der
1894 ein Haus in Dachau kauft) und der bereits 1901 früh verstorbene Arthur
Langhammer (geboren 1854).
Die Landschaftsmaler der Münchener Kunstakademie waren schon Mitte des 19.
Jahrhunderts in der Münchner Umgebung umhergestreift. Ein bekannter Name ist
Wilhelm von Diez, bei dem z.B. Hans am Ende, Mackensen, Slevogt und eben Adolf
Hölzel studierten. Aber erst ab 1890/92 wird im Rahmen des Akademiestudiums
auch vor der Natur gemalt. 1887 macht sich Hölzel in Dachau sesshaft, dann folgen
Dill 1894 und Langhammer. 1888 gründet Hölzel eine private Malschule, die vor
allem von Frauen besucht wird, da an der Akademie in München ja nur Männer
studieren dürfen. 1895-1905 gelten als die wichtigsten Jahre der Künstlerkolonie
Dachau. Dill ist von 1894-1898 Präsident der 1892 gegründeten Münchner
Secession und erhält 1899 einen Ruf an die Akademie in Karlsruhe. Hölzel verlässt
Dachau erst 1905, als er einen Ruf an die Akademie in Stuttgart erhält. Dort malt er
dann auch abstrakt und z.B. wird Johannes Itten einer seiner Schüler.
1905 wird in Dachau bereits ein Museum eröffnet und 1908 eine Gemäldegalerie.
4
Das folgende meist nach Boser 1998. Auf Einzelnachweise wird verzichtet.
6
4.2. Schwaan5
Schwaan liegt in Mecklenburg-Vorpommern, südlich von Rostock. Die dortige
Künstlerkolonie liegt – zu Unrecht - etwas im Schatten der Aufmerksamkeit, die –
zu Recht - jenen in Hiddensee und Ahrenshoop zukommt.
Der in Schwaan geborene Maler Franz Bunke studierte seit 1878 in Weimar und
wurde an dieser damals relativ fortschrittlichen Kunsthochschule 1884 Dozent,
schließlich 1910 sogar Professor. Der 1875 in Hamburg geborene Alfred Heinsohn
baut 1902 in Schwaan ein Haus, die einheimischen Maler wohnen in ihren
Elternhäusern. Zu diesen gehören neben Bunke vor allem Peter Paul Draewing und
der 1872 geborene Rudolf Bartels. Bunke kommt bis zu seinem Tod 1939
regelmäßig nach Schwaan, er und Draewing sind relativ erfolgreich, Heinsohn und
auch Bartels nicht. Ein weiterer Maler der Kolonie ist Otto Tarnogrocki.
Schwaan ist somit die einzige Künstlerkolonie, die stark von dort geborenen
Künstlern geprägt wird.
5
Angaben nach Jürß/ Brunner 2010 und Jürß 2016. Auf Einzelnachweise wird verzichtet.
7
5. Diskussion
Künstlerkolonien in Deutschland sind auch eine Begleiterscheinung der sozialen
und ökonomischen Umbrüche, die sich im deutschen Reich ab ca. 1870 ereigneten:
Industrialisierung, Landflucht, Bevölkerungswachstum, Urbanisierung. Viele
KünstlerInnen reagierten darauf auch mit einer Idealisierung vorindustrieller
Zustände, egal ob jene – imaginiert - im ländlichen Raum oder in der Südsee
anzutreffen wären. Paul Gauguin schrieb im September 1890, kurz bevor er seine
Reise in die Südsee antrat:
„Eine furchtbare Zeit wird in Europa für die kommende Generation kommen:
Das Reich des Geldes. Alles ist verfault, die Menschen wie die Künste. Dort
unten wenigstens, unter einem winterlosen Himmel, auf einem Boden von
wunderbarer Fruchtbarkeit braucht der Tahitianer nur den Arm zu heben,
um seine Nahrung zu pflücken. Darum arbeitet er nie. Während in Europa
(…) kennen die Tahitianer, glückliche Bewohner der unbekannten Paradiese
Ozeaniens, nur die Annehmlichkeiten des Lebens“ (zitiert nach RödigerDiruf 1998:39).
Dieser Fluchtgedanke und der damit verbundene Eskapismus findet sich viel
früher, Mitte des 18. Jahrhunderts, bereits bei Jean Jacques Rousseau, der
postulierte, dass die Errungenschaften der Zivilisation den Menschen verderben
würden (ebd.: 40). Die geistesgeschichtliche Vorstellung des Ländlichen,
Abgeschiedenen als Gegenwelt zur Stadt und als Projektionsraum einer heilen
Welt findet ihren Ausdruck auch in den Künstlerkolonien (und später in der
Jugendbewegung der 1910er Jahre oder auch der Alternativbewegungen der
Spätmoderne der 1970er und 1980er Jahre).
Diese Vorstellung ist jedoch kritisch zu sehen, da auch die Existenz der
Künstlerkolonien nur möglich war aufgrund der technischen (Eisenbahn,
Tubenfarbe, usw) und kulturellen (überregionaler Kunstmarkt, Fachzeitschriften
etc.) Errungenschaften ebendieser Zivilisation. Dass Künstlerkolonien schnell von
den „Segnungen“ der Zivilisation eingeholt wurden, zeigte sich schon in Barbizon,
das schnell zu einem touristischen Ort wurde, der von einigen Künstlern als
8
überlaufen erlebt wurde. Eine Tatsache, die sich bereits damals in
zeitgenössischen Karikaturen niederschlägt.
Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass KünstlerInnen den Gang aufs Land exakt zu
dem Zeitpunkt antreten, an dem die Landflucht der Bauern und Bäuerinnen in
vollem Gange ist.
Die Künstler und wenigen Künstlerinnen der Kolonien sind von einem lokalen,
individuellen, spontanen und unmittelbaren Gestus geprägt, wie er mehrheitlich
an den Akademien nicht gelehrt wurde. Insofern sind die entstandenen Werke eine
Relativierung, wenn nicht Abkehr vom klassizistisch-akademischen Naturbegriff.
Man suchte nicht das (idealisierte) Abbild der Natur, sondern malte seine Bilder
als Ausdruck des inneren Erlebens vor und in der Landschaft und Natur.
Ob die Bilder in ihrer Abkehr von den gängigen Regeln der Akademie zur
Bildgestaltung nun stilgeschichtlich sozusagen als vor-impressionistisch
anzusehen sind, muss hier offen bleiben.
Die Künstler blieben schlussendlich „Kolonisten“. Allein in diesem Begriff schwingt
mit, dass sie anders sind, bzw. Fremde bleiben.
9
6. Schluss
Rainer Maria Rilke schreibt bereits 1903 kritisch über die Künstlerkolonie in
Worpswede. Er fragt:
„Und was wollen die Maler unter diesen Menschen? Darauf ist zu sagen, daß
sie nicht unter ihnen leben, sondern ihnen gleichsam gegenüberstehen, wie
sie den Bäumen gegenüberstehen und allen den Dingen, die umflutet von der
feuchten, tonigen Luft, wachsen und sich bewegen.
Sie kommen von fernher. Sie drücken diese Menschen, die nicht
ihresgleichen sind, in die Landschaft hinein; und das ist keine
Gewaltsamkeit. (…) Sie wollen das Beste erreichen und sie sind Kinder
geworden. Sie sehen alles in einem Atem, Menschen und Dinge. Wie die
eigentümliche farbige Luft dieser hohen Himmel keinen Unterschied macht
und alles, was in ihr aufsteht und ruht, mit derselben Güte umgiebt, so üben
sie eine gewisse naive Gerechtigkeit, indem sie, ohne nachzudenken,
Menschen und Dinge, in stillem Nebeneinander, als Erscheinungen derselben
Atmosphäre und als Träger von Farben, die sie leuchten macht, empfinden.
Sie tun niemandem Unrecht damit.
Sie helfen diesen Leuten nicht, sie belehren sie nicht, sie bessern sie nicht
damit. Sie tragen nichts in ihr Leben hinein, das nach wie vor ein Leben in
Elend und Dunkel bleibt, aber sie holen aus der Tiefe dieses Lebens eine
Wahrheit heraus, an der sie selbst wachsen, oder, um nicht zu viel zu sagen,
eine Wahrscheinlichkeit, die man lieben kann.“ (Rilke 1987:40)
In diesem Zitat drückt sich die ganze Widersprüchlichkeit der Künstlerkolonien
aus, deswegen wird es hier so umfangreich dokumentiert. Diese
Widersprüchlichkeit durchzieht das Thema Künstlerkolonien. Sie diskutierten
zwar Themen wie „Ökologie“, Tourismus oder auch die Geschlechterproblematik
als solche, zeitlich weit früher als die Mehrheitsgesellschaft. Weiter erneuerten die
Kolonien sicherlich die Kunst, und bieten auch Frauen Freiräume, die jene sonst in
der Kunst nicht hatten. Ihre Umgebung nahmen die Angehörigen der Kolonien vor
10
allem als Kulisse und Projektionsfläche ihrer inneren Empfindungen wahr. Sie
malten die Bauern oder Fischerinnen - soziale Tatsachen oder Strukturen, also ob
und wie lange z.B. deren Kinder zur Schule gingen, waren für sie kein Thema. Ihr
Blick war ein ästhetischer, gelegentlich bis hin zur Weltfremdheit, was aber
wiederum die Qualität und Aussagekraft ihrer Kunst nicht zwangsläufig
beeinträchtigt.
Die Künstlerkolonien sind zusammengefasst Orte einer auf Naturerfahrung
konzentrierten, nachromantischen Kunst. Diese Reise in die Natur, die in der
„Realität“ beim Reisen aus der Stadt zu den Kolonien, wie in den Motiven ihrer
Bilder stattfindet, ist auch eine idealisierende, in die Vergangenheit weisende. Die
Kolonien waren eben keine Wildnis, sondern wurden zu einem Arkadien
zurechtfantasiert. Und bald zu Orten eines teilweise turbulenten Tourismus. Ihre
Existenz ist daneben der Erfindung der Tubenfarbe zu verdanken, die es
ermöglichte im Freien zu malen – und der der Eisenbahn, die die MalerInnen
schnell von den Metropolen in die Dörfer oder an die Küsten brachte.
Künstlerkolonien sind nicht zuletzt ein relativer Freiraum für Künstlerinnen.
Die Maler und wenigen Malerinnen in den Kolonien waren nicht vom Lauf der Welt
abgeschieden (auch so eine Legende über Künstlerkolonien) und sie malten nicht
das, was sie vor sich hatten, sondern das, was sie durch ihre Wünsche und Fantasie
sehen wollten; und das, von dem sie vermuteten, dass ihre Kunden in den Städten
es dann auf den Bildern gerne hätten.
Für viele ihrer Gründer waren sie eine Durchgangsstation zu ihrer auch
akademischen Etablierung. Insofern ist das Bild von der anti-akademischen
Ausrichtung der Künstlerkolonien kritisch zu hinterfragen.
11
7. Dokumentation
[Eine typische Ankündigung einer Sonderausstellung über Künstlerkolonien6]
Lieblingsorte – Künstlerkolonien von Worpswede bis Hiddensee
Die große Sonderausstellung "Lieblingsorte - Künstlerkolonien" lockt vom 18. Dezember bis zum
21. Mai 2017 ins Gustav-Lübcke-Museum. Das Haus versammelt erstmals sieben Kolonien zu einer
umfassenden Überblicksschau.
„Ich glaube, daß ich nie eine angeregtere, reichere Zeit erlebt habe, Bildersehen, Kunstgenuß,
Musik, Literatur, Spaziergänge, glückliche Arbeit…“. So begeistert beschreibt der Maler Otto
Modersohn das Lebensgefühl in der Künstlerkolonie Worpswede. Um 1900 gründeten sich
vielerorts solche Malerkolonien. Künstler zogen aufs Land, um in der Gemeinschaft Gleichgesinnter
zu leben und zu arbeiten. Ihre Erfahrungen waren so beglückend, dass die Künstlerkolonien bald zu
Lieblingsorten der Maler wurden, wo sie die Sommer verbrachten oder sich sogar dauerhaft
niederließen. Auch rund 100 Jahre später haben die Künstlerkolonien nichts von ihrer
Anziehungskraft verloren. Die Bilder der weiten Landschaften, die in den Kolonien entstanden sind,
faszinieren Kunstliebhaber noch immer. Auch vor Ort ist das Interesse ungebrochen: Viele der
ehemaligen Künstlerkolonien sind heute touristische Ausflugsziele und damit Lieblingsorte der
Besucher.
(…) Das Haus versammelt erstmals sieben Kolonien zu einer umfassenden Überblicksschau. Der
Fokus liegt dabei auf den Künstlerkolonien Norddeutschlands, da zu ihnen die bedeutendste
deutsche Kolonie gehörte: Worpswede. Im Vergleich mit sechs weiteren Kolonien, darunter
bekanntere wie Hiddensee und unbekanntere wie Heikendorf, entsteht so ein Panorama der
schönsten Motive. Rund 40 Maler mit insgesamt etwa 80 Bildern sind in der Schau vertreten.
Voraussetzung für alle Koloniegründungen war übrigens die Erfindung der Farbtube. Ohne dieses
einfache Hilfsmittel hätten die Freilichtmaler nicht mit ihren Staffeleien über Land ziehen können.
Auch die geistige oder örtliche Nähe zur Großstadt mit ihren Kunsthochschulen, einem
interessierten Publikum und Ausstellungsmöglichkeiten war für viele Kolonien wichtig. Die
Blütezeit der meisten Künstlerkolonien ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende, als sich durch die
politischen Umbrüche neue Gesellschaftsformen etablierten.
Jede der sieben Malerkolonien aus der Ausstellung hat ihren eigenen Charakter: Die Worpsweder
feierten mit ihren Moorlandschaften internationale Erfolge, die Schwaaner besannen sich auf die
Schönheit ihrer Heimatstadt. Hiddensee wurde zum Treffpunkt der Künstler und in besonderem
Maße fanden Malerinnen dort eine Wirkstätte. Nidden faszinierte durch die wechselnden
Eindrücke von Meer, Stadt und Dünen, der Expressionismus brach sich Bahn. In Ahrenshoop wurde
früh eine akademische Ausbildung möglich und der Ort auf dem Darß wurde deutschlandweit
bekannt, während Heikendorf lange ein Geheimtipp blieb. Die Havelländische Malerkolonie
schließlich versprach Erholung vom Großstadtleben, Bilder der Sommerfrische zeugen davon.
Neben allen regionaltypischen Unterschieden gibt es dennoch Verbindendes: Bestimmte Faktoren
haben die Gründung einer Künstlerkolonie begünstigt – die scheinbar unberührte Natur,
wechselnde Lichtstimmungen, die Nähe zum Wasser, die Ruhe und Abgeschiedenheit, malerische
Ausblicke. Die Künstler, die sich dort niederließen, haben in den Kolonien ihre Lieblingsorte
gefunden, die für ihr Werk prägend sein sollten. Ob Boote, Häuser, Bäume oder das Meer – die
Lieblingsorte lieferten vielfach auch Lieblingsmotive. Für die Maler jedenfalls gab es kaum
Schöneres. Vielleicht vermag Paula Modersohn-Becker dieser Begeisterung stellvertretend
Ausdruck zu verleihen, wenn sie über Worpswede schreibt: „Es ist ein Wunderland, ein
Götterland!“
6
http://www.hamm.de/kultur/kultureinrichtungen/gustav-luebcke-museum/detailseiten-gustavluebcke-museum/newsdetail/artikel/lieblingsorte.html [abgefragt am 25.1.2017]
12
8. Literatur
Thomas Andratschke (Hrsg.): Mythos Heimat. Worpswede und die europäischen
Künstlerkolonien, Dresden 2016 [Ausstellungskatalog Landesmuseum Hannover]
Brigitte Baumstark: Querverbindungen. Zu den Kontakten der Kolonien untereinander, in:
Städtische Galerie Karlsruhe 1998, S. 71-92
Doris Blübaum/Maximilian Eiden (Hrsg.): Aufbruch ins Freie? – Künstlerkolonien in
Deutschland um 1900, Ravensburg 2015 [Ausstellungskatalog Schloss Achberg]
Elisabeth Boser: Von München nach „Neu-Dachau“. Eine Künstlerkolonie und ihre
Voraussetzungen, in Städtische Galerie Karlsruhe 1998, S. 201-213
Nicole Bröhan: Künstlerkolonien. Ein Führer durch Deutschland, die Schweiz, Polen und
Litauen, Berlin 2017 (in Vorbereitung)
Peter–Matthias Gaede/Bibliographisches Institut/Brockhaus AG): GEO Themenlexikon,
Kunst und Architektur, Band 24, Gou-Orm, Mannheim 2008
Katharina Groth/Björn Herrmann (Hrsg.): Mythos und Moderne. 125 Jahre Künstlerkolonie
Worpswede, Köln 2014
Lisa Jürß: Die mecklenburgische Künstlerkolonie Schwaan, Fischerhude o.J.
Lisa Jürß: Deutsche Künstlerkolonien an der Ostsee. Hiddensee, Ahrenshoop, Schwaan, in
Andratschke 2016, S. 417-443
Lisa Jürß/Heiko Brunner: Kunstmuseum Schwaan, Rostock 2010
Museumsverein Dachau / Horst Heres (Hrsg.): Dachauer Gemäldegalerie, Dachau 1985
Olbrich et. al. (Hrsg): Lexikon der Kunst; Leipzig 2004 [Seemann Verlag, 6 Bände, hier Band
4, zweite Auflage auf dem Stand der Auflage von 1992]
Eva Rödiger-Diruf: Sehnsucht nach Natur. Zur Entwicklungsgeschichte der Künstlerkolonien
im 19. Jahrhundert, in Städtische Galerie Karlsruhe 1998, S. 39-70
Klaus Pese (Konzeption): Künstlerkolonien in Europa – im Zeichen der Ebene und des
Himmels Nürnberg 2001 [Ausstellungsband Germanisches Nationalmuseum Nürnberg]
Rainer Maria Rilke: Worpswede, Frankfurt/Main 1987 [zuerst Bremen 1903]
Wolf Stadler/Peter Wiench: Lexikon der Kunst, Erlangen 1994, 12 Bände
Städtische Galerie Karlsruhe: Deutsche Künstlerkolonien 1890-1910, Karlsruhe 1998
Gerhard Wietek (Hrsg.): Deutsche Künstlerkolonien und Künstlerorte, München 1976
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Datum, Ort und Unterschrift
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