Academia.eduAcademia.edu

Artikel "Massenkultur"

Wolfgang Fritz Haug/Frigga Haug/Peter Jehle/Wolfgang Küttler (Hg.): Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 9 / I: Maschinerie bis Mitbestimmung. Hamburg 2018, Sp. 66-79.

Im Zentrum des Artikels steht die historisch sich wandelnde und durchaus vielfältige Thematisierung der modernen kommerziellen Populärkultur durch Arbeiterbewegung, Sozialismus, kritische Linke. Deren Positionen werden eingebettet in die Entwicklung der wissenschaftlichen Analyse und gesellschaftlichen Bewertung des Phänomens wie in die Realgeschichte westlicher Massengesellschaften und ihrer Formen von Arbeit und Genuss.

65 66 Massenkultur Marx and Engels. On the Means of Communication, New Massenkultur York-Bagnolet 1980, 9-55); A.Huet, J.Ion, A.Lefebvre, B.Miège u. R.Péron, Capitalisme et industries culturelles, A: ṯaqāfat al-ǧamāhīr. – E: mass culture. Grenoble 1978; J.Keane, Public Life and Late Capitalism, New York 1989; S.Latouche, L’occidentalisation du F: culture de masse. – R: massovaja kul’tura. monde, Paris 2005; N.Luhmann, Die Realität der Massen- S: cultura de masas. – C: qúnzhòng wénhuà 群众文化 medien, Wiesbaden 1996; E.Mandel, Einführung in den Marxismus (1975), a.d. Frz. v. W.Boepple, Frankfurt/M Ohne arbeitende Massen keine M. Der Ausdruck 1979; H.Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964), wird in der zweiten Hälfte des 20. Jh. gängig und a.d. Engl. v. A.Schmidt, Frankfurt/M 1970; A.Mattelart, bezeichnet die ›massenhafte‹ Nutzung von kommer»La communication des masses: 1. La nature de la pratique de la communication dans une société dépendante« ziell produzierten Möglichkeiten zur Unterhaltung (1974), in: ders. 2015, I, 137-62; ders., »Introduction: For und Vergnügung der Vielen. Lange Zeit transportiert a class analysis of communication«, in: ders. u. S.Siegelaub er bürgerliche Kritik an vermeintlich unzivilisierten, (Hg.), Communication and Class Struggle, Bd. 1: Capita- rohen Massen. Alternative Bezeichnungen wie ›Populism, Imperialism, New York-Bagnolet 1979, 23-70; ders., lärkultur‹ und ›Popularkultur‹ stellen die Veranke»Pour une analyse des pratiques de communication des classes et des groupes subalternes« (1983a), in: ders. 2015, rung in Traditionen, Lebensformen und WunschII, 51-134; ders., »Mémorandum pour une analyse de welten subalterner Bevölkerungsschichten in den l’impact culturel des firmes transnationales« (1983b), in: Vordergrund, während ›Kulturindustrie‹ die Prägung ders. 2015, III, 221-41; ders., »Oublier la communication« durch das monopolkapitalistische System und seine (1983c), in: ders. 2015, III, 273-83; ders., L’Internationale Nivellierungsdynamik betont. Vereinfachend könnte publicitaire, Paris 1989; ders., Une anthologie en trois man Antonio Gramsci, Ernst Bloch und Walter volumes (1970-1986), hgg. v. F.Granjon u. M.Sénécal, Bd. I: Communication, idéologie et hégémonies culturelles, Bd. Benjamin als klassische Vordenker der ersten RichII: Communication, cultures populaires et emancipation, tung, Clara Zetkin und Theodor W. Adorno als Bd. III: Communication transnationale et industries de la Exponenten der zweiten bezeichnen. culture, Paris 2015; R.McChesney, Telecommunications. Auseinandersetzung mit M bedeutet bis in die Mass media and Democracy, Oxford 1995; O.Negt u. 1960er Jahre im Wesentlichen deren Ablehnung. Eine A.Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffent- Unterscheidung zwischen rechts und links, ›bürlichkeit, Frankfurt/M 1972; M.Raboy, »La ›Global Infor- gerlich‹ und ›sozialistisch‹ greift dabei nur begrenzt. mation Infrastructure‹ (GII): un projet impérial pour l’ère Eine fast uneingeschränkte Rekombination der de la mondialisation«, in: Communications et stratégies, 25. Argumente und Wertmaßstäbe charakterisiert die Jg., 1997, H. 1, 15-32; W.W.Rostow, Stadien wirtschaft- M-Kritik. Anhaltend sinkendes ästhetisches, moralilichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, a.d. Engl. v. E.Müller, Göttingen sches und intellektuelles Niveau gilt als strukturelles 1960; M.Sénécal, L’espace médiatique, Montréal 1995; Merkmal. Homogenisierung und Uniformität (im D.W.Smythe, »On the audience commodity and its work«, globalen Maßstab) bedrohe die Vielfalt kultureller in: ders., Dependency Road: Communications, Capitalism, Traditionen. Inhaltlich werden Verherrlichung von Consciousness, and Canada, Norwood 1981, 22-51; I.de Gewalt und Unmenschlichkeit angeprangert. Hinzu Sola Pool, »Le rôle de la communication dans le proceskommt Passivierung durch Konsum, die Fixierung sus de la modernisation et du changement technologique«, in: B.Hoselitz u. W.Moore (Hg.), Industrialisation et soci- von Erwartungen und Glücksvorstellungen auf Teilhabe an der Warenwelt. Aus dem Motiv heraus, die été, Paris 1963, 275-92. Michel Sénécal (PJ)  disponible Zeit, Distribution, Fernsehen, Freizeit, Gegenkultur, Gegenöffentlichkeit, Globalisierung, Hegemonie, Ideologiekritik, Ideologietheorie, Information, Informationsgesellschaft, Internet, Inwertsetzung, Kommunikation, Konsument, Konsumgesellschaft, Konsumnorm/Konsumweise, Kontrolle, Kosmopolitismus (moderner), Kultur, Kulturarbeit, Kulturimperialismus, Kulturindustrie, Kulturstudien (Cultural Studies), Manipulation, Masse, Massenkultur, Medienimperialismus, Meinung, Meinungsfreiheit, Öffentlichkeit, privat/öffentlich, Privatisierung, Produktion, Produktivkraftentwicklung, Radio, Technikdeterminismus, Technikentwicklung/ technologische Revolutionen, technischer Fortschritt, Technologie, Unterhaltung, Werbung, Zerstreuung, Zirkulation © INKRIT 2018 Subalternen sollten an den großen Leistungen der Kultur teilhaben, finden sich alle diese Befürchtungen auch auf der Linken, doch strebt sie darüber hinaus Aktivierung und Selbstbestimmung an und will das Sich-Herausarbeiten aus der Subalternität auch auf dem Feld des Kulturellen organisieren. 1. M entfaltete sich entlang der industriekapitalistischen Entwicklung. Modern war sie durch ihren dominant kommerziellen Charakter, als Teil zunehmend umfassender Vermarktlichung von Kunst und Amüsement für Publika aller Klassen und Schichten mittels innovativer Produktionstechniken und Medien. Modern war sie aber auch darin, dass die Angebote seit Ende des 19. Jh. mehrheitlich von Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten wahrgenommen wurden. HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I Massenkultur 67 Zum Verständnis der Widersprüche der M ist Marx’ Konzept des »freien Arbeiters« hilfreich – »frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen« (K I, 23/183). Mit dem Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen, korrespondiert die Freiheit in der Gestaltung ihrer Reproduktion. Das schließt die – politisch erkämpfte und ständig zu verteidigende – Freiheit ein, das zur Befriedigung der Bedürfnisse nach Rekreation, Wissen, Unterhaltung, ästhetischem Erleben und körperlich-sinnlichem Genuss Nötige, wie alle anderen Bürger, im Rahmen der eigenen Kaufkraft auf dem Markt zu erwerben. Für die Unterschichten bedeutete die Einbeziehung in den Kulturwarenmarkt einen großen Schritt heraus aus der Vormundschaft von Kirchen, Schulbehörden und Bildungsorganisationen. Sie erlangten in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft so viel individuelle Freiheit zur Gestaltung ihres Lebens diesseits der Lohnarbeit wie keine abhängige und unterdrückte Klasse zuvor. Die M ist bestimmt von den Widersprüchen in der Entwicklung der lebendigen Arbeit. Wissen und Kompetenzen, die in zunehmend verwissenschaftlichten Arbeitszusammenhängen nötig sind, werden durch die herrschaftliche Teilung von geistig-leitender und körperlich-ausführender Arbeit beschränkt. Dadurch geprägte Subjektformen begrenzen die formelle Freiheit in der Freizeit ebenso wie die Möglichkeiten, die konkreten Tätigkeiten der Reproduktion als zunehmend selbstverantwortliche »Arbeitskraftunternehmer« (Pongratz/Voss 2003) zu organisieren. Schließlich findet die Wahlfreiheit ihre Grenzen in der hegemonial regulierten Produktion von M; die Angebote tendieren zur Verfestigung des herrschenden »Normalismus« (Link 2006), wenngleich sie auf widerständige Verschiebungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Diskursformationen reagieren. In dieser Perspektive zeigt sich, dass M kein Hebel antikapitalistischer Gegenmacht sein kann. Welcher Maßstab ist aber dann aus emanzipatorischer Sicht sinnvoll und angemessen für Angebote, die die Wünsche hart arbeitender Massen nach Unterhaltung, Vergnügung und ästhetischem Erleben befriedigen und entwickeln sollen? Mit diesen Widersprüchen behaftet, ist M elementarer Bestandteil der Lebensführung in ›westlichen‹ Gesellschaften geworden, und zwar – schicht- und generationsspezifisch differenziert – quer durch die Bevölkerung. In den staatssozialistischen Gesellschaften des 20. Jh. zeigte sie bemerkenswert ähnliche Strukturen wie in kapitalistischen; das gilt bes. im Blick auf die Präferenzen des Publikums (Hanke 68 1979; Mühl-Benninghaus 2012). Für große Teile der abhängig arbeitenden Bevölkerung ist M die Haupt-, wenn nicht einzige Quelle (außerhalb institutionalisierter Lernzusammenhänge) für die Aneignung von Wissen und Künsten, sinnlich-körperlichen Genusses und Glückserfahrung. Damit dient sie zugleich als Instrument für Selbstverständigung, Kommunikation und kulturelle Vergemeinschaftung. Im Alltag ist sie für viele unverzichtbarer Bestandteil eines ›guten Lebens‹. 2. M war seit ihrer Entstehung Gegenstand von Ausgrenzung, Repression und politischen Regulierungsversuchen. Der Widerstand der tonangebenden Mächte richtete sich gegen befürchtete wie reale Folgen unkontrollierten Kunst- und Vergnügungskonsums der Lohnabhängigen, in dem sie v.a. den eigenen ›erzieherischen‹ Einfluss durch die Konkurrenz kommerzieller Anbieter bedroht sahen. Die Massenliteratur der Kolportagehefte, so hieß es, zeichne »nahezu immer ein negatives Bild unserer […] sozialen Zustände« und führe ihre Leser »zu unbewusster Nachahmung auf den Weg des Bösen«; sie mache »ihre Helden stets zu Vertretern des Kommunismus« und arbeite so dem Umsturz zu (Band 1888, 280f). Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 warnte der Schriftsteller Otto von Leixner die »Mitglieder der gebildeteren und wohlhabenderen Schichten«, »dass wir in innerem Kriegszustande leben. […] Eine Woge der Vernichtung, geschwellt durch wilde Leidenschaften, braust heran« (1891, 29). Befeuert würden die Leidenschaften durch Schundliteratur, die »Materialismus der untersten Gattung« (23) verbreite; sie schüre »das Verlangen nach einer Lage, die allen Genuss gestattet, der sich erkaufen lässt« (24). Deswegen bilde »der Kampf gegen die schlechte Literatur heute einen Teil der sozialen Reform« – sprich: des Kampfes gegen die Sozialdemokratie (28). Spätestens im Ersten Weltkrieg realisierten Vertreter der herrschenden Politik allerdings, dass und wie sich populäre Künste zur massenhaften Beeinflussung einsetzen lassen; ein Instrumentarium systematischer Propaganda entstand (etwa der Filmkonzern UFA). Bewegungen gegen M machten sie verantwortlich für angebliche Verdummung und Geschmacksverrohung. Das Argument des kulturellen Niedergangs wurde v.a. im akademisch gebildeten Bürgertum entwickelt – zur Aufwertung des eigenen kulturellen Kapitals gegenüber dem ›ungebildeten Volk‹ wie gegenüber dem Wirtschaftsbürgertum und ›unkultivierten‹ Oberschichten. Bedeutenden Einfluss gewannen Friedrich Nietzsche, Matthew Arnold und andere, die eine Elite ›wahrhaft Gebildeter‹ der unsensiblen und pöbelhaften ›Masse‹ aus HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I © INKRIT 2018 69 70 allen sozialen Schichten entgegenstellten. Diese Sicht hatte einen wahren Kern: Der größte Teil der Oberund Mittelschichten bezog im letzten Drittel des 19. Jh. seine ›Kultur‹ aus einem opulenten Unterhaltungsund Vergnügungsangebot. Dessen ästhetische wie moralische Erfolgsrezepte unterschieden sich von der Kultur ›fürs Volk‹ in Aufwand und Preis, sonst kaum. Die sozialistische Bewegung musste ihre Positionen in diesem Kontext entwickeln. Ihre Theoretiker teilten zumeist den etablierten Kanon ›großer (europäischer Hoch-)Kunst‹ und sahen im realen Leben der arbeitenden Schichten v.a. kulturelles Elend. So bestimmte die »Skandalisierung kultureller Ausgrenzung« (Mühlberg 2012, 318) den Blick. Man nahm populäre Unterhaltung und Vergnügung als Konkurrenz wahr, die die Unterdrückten vom Erkennen der eigenen Interessen abhielt. Darüber hinaus galten den männlich geprägten Organisationen Arbeiterfrauen als Einfallstor bürgerlicher Ideologie, was mit der Auffassung vom »weiblichen Charakter« der populären Künste zusammenpasste (Huyssen 1986). Schließlich sahen sie Bündnischancen im »regressiven Antikapitalismus« (Bollenbeck 1994, 226) vieler bürgerlicher M-Kritiker, die das Zur-Ware-Werden von Kunst und Kommunikation für den Verlust ihrer kulturellen Autorität verantwortlich machten. Wilhelm Liebknecht verband in seinem Urteil über populäre Lektüre ästhetische, moralische und ideologische Aspekte: »Die billigsten Unterhaltungsblätter, welche hauptsächlich unter das Volk kommen – ich rechne die sogenannten Kolportage- oder Lieferungsromane hier mit – sind […] ausnahmslos der Form nach miserabler Schund und dem Inhalt nach Opium für den Verstand und Gift für die Sinnlichkeit.« (1873, 24f) Seither wurde im Kampf gegen ›Schund‹ stets auch die Abgrenzung zwischen bildungsorientierten, respektablen Sozialdemokraten und der noch unverständigen, aufklärungsbedürftigen Masse der Arbeiter in Szene gesetzt. Für Clara Zetkin, kulturpolitische Autorität der SPD und später der KPD, war es die Aufgabe der Arbeiterklasse, »Erbin der klassischen Kunst« (1911/1977, 195) zu werden. Unter den »kunstmörderischen« (186) Lebensverhältnissen des Proletariats sei den Massen indes allenfalls die »Afterkunst« zugänglich, die ein ausgebeutetes »künstlerisches Lumpenproletariat« (190) dem Markt liefere. gerlich-reaktionärer Kritik an ›Massengesellschaft‹, ›Massenzivilisation‹, ›Kitsch‹ und ›Amerikanisierung‹ entwickelten sich künstlerische Initiativen, die auf eine zeitgemäße und breit verständliche gestalterische Sprache zielten (z.B. Bauhaus) und in der Neuen Musik Rhythmen und Sounds der Populärmusik aufgriffen (z.B. Dreigroschenoper). Die empirische Sozialforschung wandte sich zunächst in den USA Phänomenen der M zu; neben Marktforschung gab es (etwa im Kontext des Pragmatismus) Bemühungen um Anerkennung und Verbesserung der neuen Kulturphänomene. Es etablierte sich ein bis ins 21. Jh. wirksames sozialwissenschaftliches Paradigma, das die Anziehungskraft der M mit ihren Funktionen Ausgleich, Trost und Problemflucht für hart arbeitende Durchschnittsbürger erklärte. Während die sozialistische wie die kommunistische Arbeiterbewegung den Hauptstrom der M als kapitalistische Ablenkung und Verdummung ablehnte und dagegen auf eigene Medien, Agitprop und ›Russenfilme‹ setzte, suchten marxistische Intellektuelle nach progressiven Nutzungsperspektiven. Gramsci, Bloch und Benjamin wurde dies v.a. durch eine Erweiterung des Blicks möglich, die gemeinhin erst den Cultural Studies oder volkskundlichen Ansätzen zugeschrieben wird: hin zu den Nutzungsweisen. Sie betrachteten M als (nicht zuletzt ästhetische) Interaktion, bei der nicht vorab feststeht, wozu die (Um-) Deutungsaktivität der Rezipierenden im Stande sein wird. 3.1 Gramsci bleibt bei seiner intensiven Beschäftigung mit populärer Kunst nicht bei der Einschätzung verbreiteter Lesestoffe als »populare Droge« oder des Melodramas als »am schädlichsten« stehen (Gef, H. 5, §54, 619); er warnt vor Überheblichkeit und weist darauf hin, dass es sich für »viele aus dem Volk« um etwas »tief Gefühltes und Gelebtes« handele, um »eine Weise, dem zu entfliehen, was sie als niedrig, beschränkt, verächtlich in ihrem Leben und in ihrer Erziehung ansehen« (H. 8, §46, 972). Allgemeiner fragt er im Horizont seiner Überlegungen zur Hegemonietheorie nach den Anteilen »proletarischer Ideologie« in Genres und Werken, die beim Volk Anklang finden – bis hin zur Überlegung, ob die Aufnahme solcher Elemente durch bürgerliche Autoren »bedeutsam und wichtig« sein könne als »eine Episode der indirekten ›Volkserziehung‹« (H. 6, §168, 832). 3.2 Mit Bloch verbindet Gramsci das Interesse an Tagträumen, die von der Popularliteratur inspiriert werden (H. 6, §134, 813f). Bloch verfolgt seit den 1920er Jahren, wie Träume »der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will« (GA 4, 172), sich in bestimmten Segmenten der M artikulieren und unter welchen Bedingungen sie zu politischem, gar 3. Soziale Entwicklungen (Arbeitszeitverkürzung, Urlaubsvereinbarungen, wachsende Angestelltengruppen) und medientechnische (Film, Rundfunk, preiswertere Grammophone und Schallplatten) machten Freizeit und Unterhaltung wichtiger, sodass in den frühen 1930er Jahren der neue Ausdruck »M« aufkam (Hertel 1992, 121ff). Neben radikaler bür© INKRIT 2018 Massenkultur HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I Massenkultur 71 revolutionärem Handeln führen können. Er unterscheidet zwei Grundrichtungen des phantasierenden Überschreitens von Alltag und Status quo. Die eine führe – tröstend, versöhnend, fatalistisch – zurück in den beschränkten, subalternen Lebensrahmen; daneben und dagegen stünden jene Erfahrungen von Ausbruch, Verwandlung und Abenteuer, die das Verlangen nach mehr Glück, Genuss und Glanz im ›normalen‹ Leben wachsen und Veränderungen aktiv (nicht durch Hoffen auf Wunder oder Schicksal) anzielen ließen. Provokativ schreibt er: »Jedem sein Huhn im Topf und zwei Autos im Stall, das ist auch ein revolutionärer Traum« (PH, 37). Systematisch wie empirisch hat diese Unterscheidung Gert Ueding am Beispiel von Literatur zwischen »Kitsch« und »Kolportage« ausgearbeitet und dargelegt, wie »Kolportage« als »Schule des aufsässigen Denkens« (1973, 137 u. 148) funktioniert. 3.3 Benjamins Bereitschaft, die mit Film und Fotografie verbundenen Veränderungen in der Rezeption von Kunst durch ›Massen‹ auf ihre ästhetischen wie politischen Möglichkeiten hin zu betrachten, ist nicht zu trennen von seinem Engagement gegen den Faschismus. Er gehört zu den ersten, die den Begriff der »Massenkunst« ohne abfällige Wertung einsetzen, und formuliert bereits wichtige Bestimmungselemente – ausgehend von den Produktivkräften als den grundlegenden Impulsgebern und den Massen als den Opfern wie potenziellen Gestaltern dieser Impulse. So charakterisiert Benjamin 1937 die mit den avancierten Medien aufkommende »Kunst« als eine, »in deren Schöpfungen die Produktivkräfte und die Massen zu Bildern des geschichtlichen Menschen zusammentreten« (GS II.2, 505). Die neue Kunst, führt Benjamin bes. am Film aus, entziehe sich dem Anspruch auf »kontemplative Versenkung« (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS I.2, 501f). Der Film mit seinen ständig sich verändernden Bildern, die keine Zeit zur »Sammlung und Stellungnahme« (502) lassen, entfalte eine »Chockwirkung«, die durch »gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will« (503). Eben dadurch werde er zu der den »Heutigen […] entsprechenden Kunstform« (503, Fn. 29). Indem die modernen Arbeits- und Lebenswelten die Massen mit ständig wechselnden Anforderungen an die sinnliche Wahrnehmung konfrontieren und körperliche wie geistige Reaktionen provozieren, macht sich ein »Bedürfnis« geltend, »sich Chockwirkungen auszusetzen«, um angesichts der »gesteigerten Lebensgefahr« handlungsfähiger zu werden (ebd.). »Die Rezeption in der Zerstreuung […] hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument.« (505; Hervorh. getilgt) Damit wird die Masse zur »matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken 72 gegenüber neugeboren hervorgeht« (503). Die neue Nutzerposition wird allerdings eher vage charakterisiert durch antikontemplative Begriffe wie »Lust am Schauen und am Erleben«, die mit der »Haltung des fachmännischen Beurteilers« (497) einhergehe, sodass das Publikum »ein Examinator [ist], doch ein zerstreuter« (505). Benjamins Erwartungen an ein neues Publikum mit postauratischen Praktiken distanzierter, prüfender M-Nutzung haben sich nur teilweise erfüllt. Auch Adorno verwendet in den 1930er Jahren zeitweilig den Begriff der Massenkunst, allerdings deutlich skeptischer (Hertel 1992, 125f). In der Dialektik der Aufklärung wird dann selbst der Begriff der M vermieden und durch »Kulturindustrie« ersetzt. Rückblickend erklärt Adorno, man habe den Eindruck vermeiden wollen, »dass es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele« (GS 10.I, 337). 4. Bis Mitte der 1960er Jahre dominierte in Europa wie in den USA die pauschale Ablehnung der M. Dann gerieten die Diskurslinien in Bewegung. 4.1 Ein kräftiger Impuls ging 1964 von Umberto Eco aus. Vertraut mit historischer wie aktueller Populärkultur und mit scharfem Blick für die Schwächen deduktiv vorgehender M-Theorien, fordert er »Apokalyptiker« wie »Integrierte« gleichermaßen heraus. Während erstere die kulturelle Bedrohung derart dramatisierten, dass Differenzierung und praktische Intervention sinnlos erschienen, ergingen sich letztere in unkritischen Einzelstudien und bewerteten M teilweise als Symptom kultureller Gleichheit. Eco brachte die Fronten mit erfrischend pragmatischen Fragen durcheinander. Kann man populäre Künste sinnvoll mit den Maßstäben einer »aristokratischen« Ästhetik beurteilen? »Ist denn wirklich ausgemacht, dass eine Schreibweise, eine Darstellungsform, eine Kompositionsmethode nur dann Gültigkeit beanspruchen dürfen, wenn sie mit der Tradition brechen und deshalb bloß von wenigen Auserwählten gewogen, erkannt, verstanden werden können? Und muss ein bedeutsames Stilelement, sobald es […] ›popularisiert‹ wird, notwendig seine Kraft und seine Funktion einbüßen?« (1964/1984, 41) Statt zu fragen, ob M »gut oder schlecht« sei, laute die Aufgabenstellung: »Wie kann man, nachdem die Industriegesellschaft jenes kommunikative Verhältnis, das als Gesamtheit der Massenmedien bekannt ist, unabwendbar gemacht hat, sicherstellen, dass die Massenmedien kulturelle Werte übermitteln?« (48) 4.2 Weitere Differenzierungsanstöße kamen aus der britischen Kulturforschung, deren Vertreter Richard Hoggart, Raymond Williams und Edward P. HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I © INKRIT 2018 73 74 Thompson sich seit den späten 1950er Jahren mit dem Gebrauch massenmedial verbreiteter Künste und kommerzieller Vergnügungen in der Arbeiterschaft auseinandersetzten. Die Maßstäbe dafür bezogen sie aus sozialistischer Theorie und einer im proletarischen Milieu gelebten Arbeiterkultur. Diese Initiativen mündeten 1964 in die Gründung des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham und beförderten eine empirische Wende der M-Debatte. An die Stelle der Globalkategorie traten zunehmend Genres, die unter verschiedenen Aspekten des Umgangs mit ihnen erörtert wurden. Programmatisch sprachen Stuart Hall und Paddy Whannel nicht von M, sondern von »Popular Arts« (1964). Die Cultural Studies rückten Praktiken und Bedingungen der Aneignung populärkulturellen Materials in den Brennpunkt. Theoretische Grundlagen lieferte Hall. Massenkulturelle Texte, Fernsehsendungen eingeschlossen, seien unaufhebbar mehrdeutig; je nach Erfahrung und Überzeugung der Rezipierenden sei nicht nur die Übernahme der »dominanthegemonialen« Lesart (1973/2004, 77), sondern auch eine »ausgehandelte« (78) oder gar »oppositionelle« Lektüre möglich (80). Williams’ Auffassung von Gramscis Hegemonie-Konzept im Sinne von »etwas, das durch und durch gelebt wird« (1973/1983, 189), ließ die essenzialistische Frage, wie reaktionär oder progressiv Produkte der kapitalistischen Unterhaltungs- und Vergnügungsbranchen seien, in den Hintergrund rücken. M wurde nun analysiert als Feld des Kampfes um die Interpretation kultureller Texte durch Massenpublika moderner Klassengesellschaften, als eine »Arena von Zustimmung und Widerstand« (Hall 1981, 237), in der »der Kampf für und gegen die Kultur der Mächtigen ausgefochten wird« (239). 4.3 Die Ergebnisse waren keineswegs eindeutig. Man fand Formen ›eigensinniger‹ Aneignung, die Subalternität befestigten (Willis 1977), während andere Studien auf aktive und gewiefte Nutzer mit popularen Taktiken des Widerstehens und Sich-Widersetzens stießen (Hebdige 1983; Winter 2001). Systematisch hat v.a. John Fiske solche Taktiken in ein Modell überdeterminierter Beziehungen zwischen »Machtblock« und »Volk« integriert und daraus widersprüchliche »Allianzen« abgeleitet. Die Rezipierenden seien stets auf der Suche nach Vergnügen, und oft seien es gerade abweichende, oppositionelle oder – unspezifischer – eigenwillige Lesarten populärer Texte, die Vergnügen erzeugten. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Texte selbst (durch Vorgaben, Widersprüche, Brüche usw.) solche Bedeutungsproduktion ermöglichten oder anregten. Daher seien M und Populärkultur keines- wegs deckungsgleich. Letztere sei nur das Segment, das gegen hegemoniale Machtstrukturen und Diskurse gerichtete Lesarten ermöglicht: »Wenn eine bestimmte Ware Teil der Populärkultur werden soll, muss sie Möglichkeiten für widerständige bzw. ausweichende Nutzungen oder Lesarten bieten, und diese Möglichkeiten müssen angenommen werden« (1989, 32). Eine Person könne in unterschiedlichen Situationen mit der Herrschaftsmacht einverstanden oder widerständig sein, je nachdem, welcher sozialen Position sie sich gerade zuordne. »Populärkultur ist in den Praktiken zu finden, nicht in den Texten oder deren Nutzern« (45). Widerständige Praktiken richteten sich gegen Herrschaftsstrukturen im Alltag, die Lebensführung und Vergnügen unmerklich auf aktive Einpassung in die Dominanz des »Machtblocks« ausrichten, und könnten »(Mikro-)Machtverschiebungen« zugunsten Subalterner bewirken. Populärkultur in diesem Sinne könne mithin nur »progressiv« sein, nicht »revolutionär« oder »radikal« (161). – Die politische Qualität solch widerständiger Alltagspraktiken wurde als »Kulturpopulismus« (McGuigan 1992; Babe 2009) in Frage gestellt. Fiske spiele die Macht der Konzerne und der von ihnen verbreiteten Ideologie herunter und ignoriere die engen Grenzen, die subalterne Lebensverhältnisse einer kritischen Lektüre massenmedialer Texte ziehen; bes. die ökonomischen Grundlagen der ideologischen Apparate und ihres Einflusses gerieten aus dem Blick. Es fehlt an Studien, um Ermächtigungsprozesse zwischen Alltag und Makropolitik realistisch einzuschätzen. David Hesmondhalgh (2013) erinnert daran, dass die Spielräume der ›Content‹Produzenten in den politischen Redaktionen tendenziell strikter beschränkt werden als in den Unterhaltungsabteilungen. Daher lasse sich fragen, ob die Bedeutung der unterhaltend-fiktionalen M nicht manchmal überschätzt wird. – Debatten über Widerständigkeit führten zu der Frage, welche Position sozialistische Intellektuelle einnehmen, wenn sie ein Massenpublikum kritisieren, das sich nicht ›von oben‹ belehren lassen will. Andrew Ross (1989) und John Frow (1996) weisen darauf hin, dass Subalterne gute Gründe für solche Vorbehalte haben. Ohne den Versuch, ›inkorrekte‹ Formen respektloser Auflehnung wie das Spielen mit Horror und Destruktion für eine herrschaftskritische Strategie zu reartikulieren, werde die Linke, so Ross, dem Populismus von rechts stets unterliegen. © INKRIT 2018 Massenkultur 5. Seit den 1960er Jahren wird in Studien aus staatssozialistischen Ländern von »imperialistischer M« (Ziermann 1969), später von »imperialistischer Massenkunst« (Ulle u.a. 1975) gesprochen. Angesichts zunehmender Rezeption westlicher Massen- HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I Massenkultur 75 künste in diesen Staaten wurde der »sozialistischen Volkskultur« die imperialistische M als Produkt und Instrument einer zum Untergang verurteilten Gesellschaftsformation gegenübergestellt. Inhaltlich vereine sie reaktionäres politisches Bewusstsein und moralische Verderbtheit; ästhetisch verurteilte man sie nach dem Maßstab eines konservativen Klassizismus. M galt als Teil eines Systems geistiger »Manipulation« (Hausmann/Neumann 1972). Diese Sicht näherte sich den Konzepten der »Kulturindustrie« bzw. der »Bewusstseins-Industrie« an (Enzensberger 1970, 159), die in der außerparlamentarischen Bewegung der BRD verbreitet waren. Parallel dazu begann man in den 1970er Jahren, unterhaltungsorientierte Freizeitmuster in Kapitalismus wie Staatssozialismus weniger normativ zu betrachten und die Entwicklung des Arbeiterlebens sozial- und kulturhistorisch mit marxschem Instrumentarium zu interpretieren. Der in der Ethnographie und einer Arbeitsgruppe um den Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg (Arbeiterleben, 1983; Mühlberg 1986) verfolgte Ansatz ging aus von Studien zu Lebensweise und Kultur plebejischer und proletarischer Schichten im Kapitalismus (Jacobeit/ Mohrmann 1973). Deren Lebensführung sollte nicht nur als Produkt elender und verelendender Verhältnisse betrachtet werden. Proletarische Lebensformen hätten Teil an der widersprüchlichen Entwicklung der Produktivkraft lebendiger Arbeit im Kapitalismus, somit auch an der Ausbildung rationaler Kompetenzen und wachsender Bedürfnisse. Proletarische Lebensweise nutze die mit der industriellen Entwicklung und den Erfolgen der Arbeiterbewegung steigenden konsumtiven und kulturellen Wahlmöglichkeiten und bilde Selbstbewusstsein, eigene Wertorientierungen und kulturelle Praxismuster aus. In Deutschland sei bereits um 1900 »ein Ensemble spezifisch proletarischer […] Freizeittätigkeiten« entwickelt worden (Arbeiterleben, 1983, 24), das sich noch unter sozialistischen Bedingungen als realitätsangemessen erweise. Dazu zählt Mühlberg (1992) auch die moderne M. Arbeiterinnen und Arbeiter hätten sie (mit ihrer ganzen Widersprüchlichkeit) schnell und weitgehend angeeignet, weil sie an Bedingungen und Gewohnheiten der Lebensweise anschloss und, aus ihrer Sicht, zunehmend »angemessenere Lösungen« für die Reproduktion der Arbeitskraft bot; schließlich seien »gerade die neuen Freizeitformen als Vorboten eines besseren Lebens, als seine kulturelle Vorwegnahme« wahrgenommen worden. Über die Eignung für proletarische Lebensverhältnisse hinaus sei die moderne M »egalitär und klassenübergreifend« gewesen und habe damit »auch demokratisierend« gewirkt (57f). Im Zentrum steht hier weder die Hegemoniefrage 76 noch die nach einem ästhetischen Wert, sondern die M als dynamisch ausgehandelter Kompromiss zwischen lebendiger Arbeit und Kapital, als Aneignung jener formellen Freiheiten, die die Subalternen in der bürgerlichen Gesellschaft erringen. Alltägliche Freizeit- und Unterhaltungspraktiken der lohnarbeitenden Schichten werden als kreative Antwort auf Zumutungen und Potenziale kapitalistischer Produktionsweise gelesen. Der Ansatz ist anschlussfähig für das in den Cultural Studies entwickelte Verständnis von M als Arena hegemonierelevanter Auseinandersetzungen um Bedeutungen. Zugleich reicht er über die Arbeiterschaft hinaus und öffnet den Blick für klassen- und schichtübergreifende Züge von Lebensformen, in denen M einen wesentlichen Platz einnimmt. So ist im Anschluss an Williams’ (1968) Überlegungen zur »Common Culture« gefragt worden, ob sich in westlichen Ländern eine »Gemeinkultur« entwickelt hat, in deren Zentrum der (in sich freilich sozial differenzierte) Gebrauch von M stehe (Maase 1997, 235-58, u. 2011). 6. Die Digitalisierung verändert das Feld der Unterhaltung grundlegend. Die Verbreitung von Inhalten (Content) über soziale Netzwerke und personalisierte Endgeräte (Smartphones, Tablets usw.) führt zur Entwicklung von Strategien, um alle diese Medien zu beliefern, zu durchdringen und zu verknüpfen. Es entsteht eine »Konvergenzkultur« (Jenkins 2008), in der mit den neuen Gewohnheiten und Kompetenzen auch die Bereitschaft steigt, sich aktiv als »produser« (Bruns 2008) zu betätigen, d.h. eigene Inhalte und Inhalte anderer in Umlauf zu bringen, zu bearbeiten oder als »fan fiction« nach eigenen Vorstellungen fortzuschreiben. Manuel Castells spricht treffend von »Massen-Selbstkommunikation« (2009, 63-71). Die aktive Beteiligung der Nutzenden wird unverzichtbar für die erfolgreiche kommerzielle Durchdringung der Märkte. Die Medienunternehmen sind darauf angewiesen, dass die Nutzenden Neues im Netz testen, kommentieren, empfehlen, weiterleiten, parodieren, fortspinnen. Bisher gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dem Ende der Top-downEinbahnstraßenmedien die Angebotsdominanz der großen Konzerne endet; noch bedeutet kommerziell gerahmte Digitalisierung, dass die Unternehmen die Interaktion kontrollieren. Vorschläge und Voten ›von unten‹ werden nur in dem Maß akzeptiert, wie sie Produkte erfolgreicher machen. Mit dem Internet und den sozialen Medien werden massenkulturelle Kommunikation und damit die Möglichkeiten oppositioneller Intervention tiefgreifend umstrukturiert. 7. Ein weiterer Ansatz betrachtet M und v.a. den zentralen Bereich der Massenkünste als wesentlich ästhe- HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I © INKRIT 2018 77 78 tische Kommunikation. Das Vergnügen ästhetischen Erlebens sei die Gratifikation, die M so anziehend, ja unverzichtbar mache. Oft genannte Funktionen wie Erholung, Kompensation, Trost, Evasion usw. seien auch mittels Sport, Drogen oder religiöser Praktiken zu erreichen; die Spezifik von M liege in der durch nichts ersetzbaren Befriedigung ästhetischer Erfahrungen. Ästhetisches Erleben hat seinen Zweck in sich, es dient aus Sicht der Akteure keinem äußeren Ziel wie etwa Bildung, Fitness, Karriere, Kreativität, Originalität. Mit ›ästhetisch‹ sind hier allerdings sinnliche Eindrücke oder Imaginationen gemeint, die aus dem Strom des Wahrnehmens und der Befindlichkeit herausgehoben sowie mit Emotionen, Bedeutungen und Erkenntnis verbunden sind (vgl. Maase 2008b). Die Betonung der Selbstzweckhaftigkeit ästhetischen Vergnügens und deren Distanz zu Zweckrationalität und Fremdbestimmung verbindet derartige Überlegungen mit Wolfgang Fritz Haugs Konzept der »kulturellen Unterscheidung«, die Menschen treffen, wenn sie sich, ihre freie Entwicklung, als »Selbstzweck« setzen (2011, 93). Als ein grundlegender Modus der Wahrnehmung bedeutet ästhetisches Erleben nicht automatisch Schönes, Angenehmes oder Erstrebenswertes. Für das Verständnis alltäglicher ästhetischer Praktiken ist allerdings wesentlich, dass es um Erfahrungen geht, die die Menschen selbst als befriedigend, bereichernd, beglückend erleben. Die so nur allgemein bestimmten Erfahrungen unterscheiden sich nach Gegenstandsbereichen, und die ästhetischen Qualitäten populärer Künste werden lebhaft diskutiert (exemplarisch zur Popmusik Wicke 2001; Parzer 2011). HansOtto Hügel beschreibt Unterhaltung als ästhetische Interaktion besonderer Art und bezeichnet »die Darstellung des gelingenden Lebens als Begriffskern des populären Schönen« (2008, 93). Solche Konstellationen werden, folgt man Theorien der Ästhetisierung des Alltags (Reckwitz 2012), häufiger und subjektiv wichtiger werden. »Hunger nach Schönheit« (Maase 2011, 241ff) wird als Grundorientierung moderner Lebensführung in allen Sozial- und Bildungsschichten und damit als Motor anhaltender Nachfrage nach M diagnostiziert. Gernot Böhme zufolge handelt es sich im Unterschied zu materiellen Bedürfnissen um »Begehrnisse«, d.h. »Bedürfnisse, die durch ihre Befriedigung nicht gestillt werden, sondern gesteigert« (2008, 30). In einer Hinsicht ist der Begriff der M definitiv überholt. Medial transportierte Unterhaltung und Vergnügung ist ins Zentrum westlicher Gesellschaften gerückt; kaum noch jemand verweigert sich ihr gänzlich, und die meisten Menschen verbringen einen Großteil der Freizeit mit ihrer Nutzung. Im Verlauf dieser Entwicklung hat sich M enorm ausdifferenziert. In ihrem Patchwork-Universum ist Raum für praktisch alle Stimmungen, Strömungen, Szenen, Bewegungen, Ängste und Hoffnungen. Alle Massenpublika sind heute Minderheitenpublika; selten gelingt es, auch nur einige Prozent der Bevölkerung zu erreichen. In dieser vielfarbigen M bewegen sich auch jene, die sich für eine gerechtere und lebenswertere Welt einsetzen. Welche Vergnügungen und Massenkünste sie nutzen, welche davon Widerspruch auslösen und wie sie die Auseinandersetzung damit als Teil ihrer Selbst-Bildung praktizieren, wäre eine vielversprechende Fragestellung. © INKRIT 2018 Massenkultur Bibliographie: Arbeiterleben um 1900, Autorenkollektiv, Leitung D.Mühlberg, Berlin/DDR 1983; R.E.Babe, Cultural Studies and Political Economy. Toward a New Integration, Lanham/MD 2009; M.Band, »Unsere Volks-Literatur«, in: Deutsche Buchhändler-Akademie 5, 1888, 224-29 u. 274-81; E.Bloch, »Die Silberbüchse Winnetous« (1929), GA 4, 169-173; G.Böhme, »Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie«, in: Maase 2008a, 28-41; G.Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M-Leipzig 1994; A.Bruns, Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond. From Production to Produsage, New York 2008; M.Castells, Communication Power, Oxford 2009; U.Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur (1964), a.d. Ital. v. M.Looser, Frankfurt/M 1984; H.M.Enzensberger, »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch 20, 6. Jg., 1970, 159-86; J.Fiske, Understanding Popular Culture, Boston 1989; J.Frow, Cultural Studies and Cultural Value, Oxford 1996; S.Hall, »Kodieren/Dekodieren« (1973), Schr 4, 2004, 66-80; ders., »Notes on Deconstructing ›the Popular‹«, in: R.Samuel (Hg.), People’s History and Socialist Theory, London 1981, 227-40; ders. u. P.Whannel, The Popular Arts, London 1964; H.Hanke, Freizeit in der DDR, Berlin/DDR 1979; W.F.Haug, Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen, BB 12, Hamburg 2011; K.-P.Hausmann u. G.Neumann, Kulturanspruch und Manipulation. Zur Entwicklung geistig-kultureller Bedürfnisse der Arbeiterklasse in der BRD, Berlin/DDR 1972; D.Hebdige, »Subculture. Die Bedeutung von Stil«, in: D.Diederichsen, ders. u. O.-D.Marx, Schocker. Stile und Moden der Subkultur, Reinbek 1983, 8-120; Th.Hertel, »Von der ›Massenzivilisation‹ zur ›Kulturindustrie‹. Theodor W. Adornos Zuwendung zur ›Massenkultur‹-Thematik«, in: N.Krenzlin (Hg.), Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, Berlin 1992, 118-48; D.Hesmondhalgh, The Cultural Industries, 3., überarb. A., Los Angeles 2013; H.-O.Hügel, »Nachrichten aus dem gelingenden Leben. Die Schönheit des Populären«, in: Maase 2008a, 77-96; A.Huyssen, »Mass Culture as Woman: Modernism’s Other«, in: ders., After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Houndsmills 1986, 44-62; W.Jacobeit u. U.Mohrmann (Hg.), Kultur und Lebensweise des Proletariats. Kulturhistorisch-volkskundliche Studien und Materialien, Berlin/DDR 1973; H.Jenkins, Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, aktual. A., New York 2008; O.v.Leixner, Zur Reform unserer Volksliteratur, Berlin 1891; W.Liebknecht, Wissen ist Macht – Macht ist Wissen, HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I 79 Leipzig 1873; J.Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., überarb. A., Göttingen 2006; K.Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, 2.A., Frankfurt/M 1997; ders. (Hg.), Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt/M-New York 2008a, darin: ders., »Die Erforschung des Schönen im Alltag. 6 Thesen«, 2008b, 42-57; ders., Das Recht der Gewöhnlichkeit. Über populäre Kultur, Tübingen 2011; J.McGuigan, Cultural Populism, London 1992; W.Mühl-Benninghaus, Unterhaltung als Eigensinn. Eine ostdeutsche Mediengeschichte, Frankfurt/M-New York 2012; D.Mühlberg (Hg.), Proletariat. Kultur und Lebensweise im 19. Jahrhundert, Wien 1986; ders., »Modernisierungstendenzen in der proletarischen Lebensweise«, in: Arbeiter und Massenkultur. Wandlungen im Freizeitverhalten der Zwanziger Jahre, Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 30, 15. Jg., 1992, 34-64; ders., »Kultur II«, HKWM 8/I, 2012, 318-36; M.Parzer, Der gute Musikgeschmack. Zur sozialen Praxis ästhetischer Bewertung in der Popularkultur, Frankfurt/M 2011; H.J.Pongratz u. G.G.Voss, Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003; A.Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012; A.Ross, No Respect. Intellectuals & Popular Culture, New York 1989; G.Ueding, Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt/M 1973; D.Ulle u.a., Imperialismus und Kultur. Zur kulturellen Entwicklung in der BRD, Berlin/DDR 1975; P.Wicke, »›Move Your Body‹. Über den Zusammenhang von Klang und Körper«, in: C.Bullerjahn u. H.-J. Erwe (Hg.), Das Populäre in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wesenszüge und Erscheinungsformen, Hildesheim 2001, 61-83; R.Williams, Innovationen. Über den Prozesscharakter von Literatur und Kultur, hgg. u. übers. v. H.G.Klaus, Frankfurt/M 1983, darin: »Was heißt ›gemeinsame Kultur‹?« (1968), 74-81, »Zur Basis-Überbau-These in der marxistischen Kulturtheorie« (1973), 183-201; P.Willis, Spaß am Widerstand. Learning to Labour (1977), dt. Neuausg., Hamburg 2013; R.Winter, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001; C.Zetkin, »Kunst und Proletariat« (1911), in: dies., Kunst und Proletariat, hgg. v. H.Koch, Berlin/DDR 1977, 186-97; K.Ziermann, Romane vom Fließband. Die imperialistische Massenliteratur in Westdeutschland, Berlin/DDR 1969. Kaspar Maase  Alltag, Arbeiterkultur, Arbeiterkulturbewegung, Bedeutung, Elite, Erbe, Fernsehen, Film, Fordismus, Freizeit, Gegenkultur, Genuss, Globalisierung, Glück, Hegemonie, Hollywood, Jeans, Karikatur, Karneval, Kitsch, Konformismus/Nonkonformismus, Konsumgesellschaft, Konsumismus, Kriminalroman, Kultur, Kulturarbeit, Kulturimperialismus, Kulturindustrie, Kulturpolitik, Kulturstudien (Cultural Studies), Kunst, Kunstverhältnisse, lebendige Arbeit, Lebensführung, lesende Arbeiter, Literaturverhältnisse, Lumpenproletariat, Masse, Massenkommunikation, Massenkunst, Mode, Musikindustrie, Neue Musik, Nietzscheanismus, Opium, organische Intellektuelle, Plebejisches, politische Kunst, Popmusik, Popularkunst, Popularliteratur, Proletariat, Proletkult, Propaganda/Agitation, Radio, Roman, Subalternität, Tradition, Unterhaltung, Verblendungszusammenhang, Volkskultur im Kapitalismus, Werbung, Zerstreuung HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I © INKRIT 2018