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Massenkultur
Marx and Engels. On the Means of Communication, New Massenkultur
York-Bagnolet 1980, 9-55); A.Huet, J.Ion, A.Lefebvre,
B.Miège u. R.Péron, Capitalisme et industries culturelles, A: ṯaqāfat al-ǧamāhīr. – E: mass culture.
Grenoble 1978; J.Keane, Public Life and Late Capitalism, New York 1989; S.Latouche, L’occidentalisation du F: culture de masse. – R: massovaja kul’tura.
monde, Paris 2005; N.Luhmann, Die Realität der Massen- S: cultura de masas. – C: qúnzhòng wénhuà 群众文化
medien, Wiesbaden 1996; E.Mandel, Einführung in den
Marxismus (1975), a.d. Frz. v. W.Boepple, Frankfurt/M Ohne arbeitende Massen keine M. Der Ausdruck
1979; H.Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964), wird in der zweiten Hälfte des 20. Jh. gängig und
a.d. Engl. v. A.Schmidt, Frankfurt/M 1970; A.Mattelart,
bezeichnet die ›massenhafte‹ Nutzung von kommer»La communication des masses: 1. La nature de la pratique de la communication dans une société dépendante« ziell produzierten Möglichkeiten zur Unterhaltung
(1974), in: ders. 2015, I, 137-62; ders., »Introduction: For und Vergnügung der Vielen. Lange Zeit transportiert
a class analysis of communication«, in: ders. u. S.Siegelaub er bürgerliche Kritik an vermeintlich unzivilisierten,
(Hg.), Communication and Class Struggle, Bd. 1: Capita- rohen Massen. Alternative Bezeichnungen wie ›Populism, Imperialism, New York-Bagnolet 1979, 23-70; ders.,
lärkultur‹ und ›Popularkultur‹ stellen die Veranke»Pour une analyse des pratiques de communication des
classes et des groupes subalternes« (1983a), in: ders. 2015, rung in Traditionen, Lebensformen und WunschII, 51-134; ders., »Mémorandum pour une analyse de welten subalterner Bevölkerungsschichten in den
l’impact culturel des firmes transnationales« (1983b), in: Vordergrund, während ›Kulturindustrie‹ die Prägung
ders. 2015, III, 221-41; ders., »Oublier la communication« durch das monopolkapitalistische System und seine
(1983c), in: ders. 2015, III, 273-83; ders., L’Internationale Nivellierungsdynamik betont. Vereinfachend könnte
publicitaire, Paris 1989; ders., Une anthologie en trois
man Antonio Gramsci, Ernst Bloch und Walter
volumes (1970-1986), hgg. v. F.Granjon u. M.Sénécal, Bd.
I: Communication, idéologie et hégémonies culturelles, Bd. Benjamin als klassische Vordenker der ersten RichII: Communication, cultures populaires et emancipation, tung, Clara Zetkin und Theodor W. Adorno als
Bd. III: Communication transnationale et industries de la Exponenten der zweiten bezeichnen.
culture, Paris 2015; R.McChesney, Telecommunications.
Auseinandersetzung mit M bedeutet bis in die
Mass media and Democracy, Oxford 1995; O.Negt u.
1960er Jahre im Wesentlichen deren Ablehnung. Eine
A.Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffent- Unterscheidung zwischen rechts und links, ›bürlichkeit, Frankfurt/M 1972; M.Raboy, »La ›Global Infor- gerlich‹ und ›sozialistisch‹ greift dabei nur begrenzt.
mation Infrastructure‹ (GII): un projet impérial pour l’ère Eine fast uneingeschränkte Rekombination der
de la mondialisation«, in: Communications et stratégies, 25. Argumente und Wertmaßstäbe charakterisiert die
Jg., 1997, H. 1, 15-32; W.W.Rostow, Stadien wirtschaft- M-Kritik. Anhaltend sinkendes ästhetisches, moralilichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen
Entwicklungstheorie, a.d. Engl. v. E.Müller, Göttingen sches und intellektuelles Niveau gilt als strukturelles
1960; M.Sénécal, L’espace médiatique, Montréal 1995; Merkmal. Homogenisierung und Uniformität (im
D.W.Smythe, »On the audience commodity and its work«, globalen Maßstab) bedrohe die Vielfalt kultureller
in: ders., Dependency Road: Communications, Capitalism, Traditionen. Inhaltlich werden Verherrlichung von
Consciousness, and Canada, Norwood 1981, 22-51; I.de Gewalt und Unmenschlichkeit angeprangert. Hinzu
Sola Pool, »Le rôle de la communication dans le proceskommt Passivierung durch Konsum, die Fixierung
sus de la modernisation et du changement technologique«,
in: B.Hoselitz u. W.Moore (Hg.), Industrialisation et soci- von Erwartungen und Glücksvorstellungen auf Teilhabe an der Warenwelt. Aus dem Motiv heraus, die
été, Paris 1963, 275-92.
Michel Sénécal (PJ)
disponible Zeit, Distribution, Fernsehen, Freizeit,
Gegenkultur, Gegenöffentlichkeit, Globalisierung, Hegemonie, Ideologiekritik, Ideologietheorie, Information,
Informationsgesellschaft, Internet, Inwertsetzung, Kommunikation, Konsument, Konsumgesellschaft, Konsumnorm/Konsumweise, Kontrolle, Kosmopolitismus
(moderner), Kultur, Kulturarbeit, Kulturimperialismus,
Kulturindustrie, Kulturstudien (Cultural Studies), Manipulation, Masse, Massenkultur, Medienimperialismus,
Meinung, Meinungsfreiheit, Öffentlichkeit, privat/öffentlich, Privatisierung, Produktion, Produktivkraftentwicklung, Radio, Technikdeterminismus, Technikentwicklung/
technologische Revolutionen, technischer Fortschritt,
Technologie, Unterhaltung, Werbung, Zerstreuung, Zirkulation
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Subalternen sollten an den großen Leistungen der
Kultur teilhaben, finden sich alle diese Befürchtungen auch auf der Linken, doch strebt sie darüber hinaus Aktivierung und Selbstbestimmung an und will
das Sich-Herausarbeiten aus der Subalternität auch
auf dem Feld des Kulturellen organisieren.
1. M entfaltete sich entlang der industriekapitalistischen Entwicklung. Modern war sie durch ihren
dominant kommerziellen Charakter, als Teil zunehmend umfassender Vermarktlichung von Kunst und
Amüsement für Publika aller Klassen und Schichten mittels innovativer Produktionstechniken und
Medien. Modern war sie aber auch darin, dass die
Angebote seit Ende des 19. Jh. mehrheitlich von
Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten wahrgenommen wurden.
HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I
Massenkultur
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Zum Verständnis der Widersprüche der M ist Marx’
Konzept des »freien Arbeiters« hilfreich – »frei in
dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine
Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andrerseits
andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig,
frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen« (K I, 23/183). Mit dem Zwang,
seine Arbeitskraft zu verkaufen, korrespondiert die
Freiheit in der Gestaltung ihrer Reproduktion. Das
schließt die – politisch erkämpfte und ständig zu verteidigende – Freiheit ein, das zur Befriedigung der
Bedürfnisse nach Rekreation, Wissen, Unterhaltung,
ästhetischem Erleben und körperlich-sinnlichem
Genuss Nötige, wie alle anderen Bürger, im Rahmen
der eigenen Kaufkraft auf dem Markt zu erwerben.
Für die Unterschichten bedeutete die Einbeziehung
in den Kulturwarenmarkt einen großen Schritt heraus aus der Vormundschaft von Kirchen, Schulbehörden und Bildungsorganisationen. Sie erlangten
in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft so viel individuelle Freiheit zur Gestaltung ihres Lebens diesseits der Lohnarbeit wie keine abhängige und unterdrückte Klasse zuvor.
Die M ist bestimmt von den Widersprüchen in der
Entwicklung der lebendigen Arbeit. Wissen und
Kompetenzen, die in zunehmend verwissenschaftlichten Arbeitszusammenhängen nötig sind, werden
durch die herrschaftliche Teilung von geistig-leitender und körperlich-ausführender Arbeit beschränkt.
Dadurch geprägte Subjektformen begrenzen die formelle Freiheit in der Freizeit ebenso wie die Möglichkeiten, die konkreten Tätigkeiten der Reproduktion
als zunehmend selbstverantwortliche »Arbeitskraftunternehmer« (Pongratz/Voss 2003) zu organisieren. Schließlich findet die Wahlfreiheit ihre Grenzen
in der hegemonial regulierten Produktion von M; die
Angebote tendieren zur Verfestigung des herrschenden »Normalismus« (Link 2006), wenngleich sie auf
widerständige Verschiebungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Diskursformationen reagieren. In dieser Perspektive zeigt sich, dass
M kein Hebel antikapitalistischer Gegenmacht sein
kann. Welcher Maßstab ist aber dann aus emanzipatorischer Sicht sinnvoll und angemessen für Angebote, die die Wünsche hart arbeitender Massen nach
Unterhaltung, Vergnügung und ästhetischem Erleben befriedigen und entwickeln sollen?
Mit diesen Widersprüchen behaftet, ist M elementarer Bestandteil der Lebensführung in ›westlichen‹
Gesellschaften geworden, und zwar – schicht- und
generationsspezifisch differenziert – quer durch die
Bevölkerung. In den staatssozialistischen Gesellschaften des 20. Jh. zeigte sie bemerkenswert ähnliche Strukturen wie in kapitalistischen; das gilt bes.
im Blick auf die Präferenzen des Publikums (Hanke
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1979; Mühl-Benninghaus 2012). Für große Teile
der abhängig arbeitenden Bevölkerung ist M die
Haupt-, wenn nicht einzige Quelle (außerhalb institutionalisierter Lernzusammenhänge) für die Aneignung von Wissen und Künsten, sinnlich-körperlichen Genusses und Glückserfahrung. Damit dient
sie zugleich als Instrument für Selbstverständigung,
Kommunikation und kulturelle Vergemeinschaftung.
Im Alltag ist sie für viele unverzichtbarer Bestandteil
eines ›guten Lebens‹.
2. M war seit ihrer Entstehung Gegenstand von
Ausgrenzung, Repression und politischen Regulierungsversuchen. Der Widerstand der tonangebenden
Mächte richtete sich gegen befürchtete wie reale Folgen unkontrollierten Kunst- und Vergnügungskonsums der Lohnabhängigen, in dem sie v.a. den eigenen ›erzieherischen‹ Einfluss durch die Konkurrenz
kommerzieller Anbieter bedroht sahen. Die Massenliteratur der Kolportagehefte, so hieß es, zeichne
»nahezu immer ein negatives Bild unserer […]
sozialen Zustände« und führe ihre Leser »zu unbewusster Nachahmung auf den Weg des Bösen«; sie
mache »ihre Helden stets zu Vertretern des Kommunismus« und arbeite so dem Umsturz zu (Band 1888,
280f). Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze
1890 warnte der Schriftsteller Otto von Leixner
die »Mitglieder der gebildeteren und wohlhabenderen Schichten«, »dass wir in innerem Kriegszustande
leben. […] Eine Woge der Vernichtung, geschwellt
durch wilde Leidenschaften, braust heran« (1891, 29).
Befeuert würden die Leidenschaften durch Schundliteratur, die »Materialismus der untersten Gattung«
(23) verbreite; sie schüre »das Verlangen nach einer
Lage, die allen Genuss gestattet, der sich erkaufen
lässt« (24). Deswegen bilde »der Kampf gegen die
schlechte Literatur heute einen Teil der sozialen
Reform« – sprich: des Kampfes gegen die Sozialdemokratie (28).
Spätestens im Ersten Weltkrieg realisierten Vertreter der herrschenden Politik allerdings, dass und
wie sich populäre Künste zur massenhaften Beeinflussung einsetzen lassen; ein Instrumentarium systematischer Propaganda entstand (etwa der Filmkonzern UFA). Bewegungen gegen M machten sie
verantwortlich für angebliche Verdummung und
Geschmacksverrohung. Das Argument des kulturellen Niedergangs wurde v.a. im akademisch gebildeten
Bürgertum entwickelt – zur Aufwertung des eigenen
kulturellen Kapitals gegenüber dem ›ungebildeten
Volk‹ wie gegenüber dem Wirtschaftsbürgertum
und ›unkultivierten‹ Oberschichten. Bedeutenden
Einfluss gewannen Friedrich Nietzsche, Matthew
Arnold und andere, die eine Elite ›wahrhaft Gebildeter‹ der unsensiblen und pöbelhaften ›Masse‹ aus
HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I
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allen sozialen Schichten entgegenstellten. Diese Sicht
hatte einen wahren Kern: Der größte Teil der Oberund Mittelschichten bezog im letzten Drittel des 19.
Jh. seine ›Kultur‹ aus einem opulenten Unterhaltungsund Vergnügungsangebot. Dessen ästhetische wie
moralische Erfolgsrezepte unterschieden sich von der
Kultur ›fürs Volk‹ in Aufwand und Preis, sonst kaum.
Die sozialistische Bewegung musste ihre Positionen in diesem Kontext entwickeln. Ihre Theoretiker
teilten zumeist den etablierten Kanon ›großer (europäischer Hoch-)Kunst‹ und sahen im realen Leben
der arbeitenden Schichten v.a. kulturelles Elend. So
bestimmte die »Skandalisierung kultureller Ausgrenzung« (Mühlberg 2012, 318) den Blick. Man nahm
populäre Unterhaltung und Vergnügung als Konkurrenz wahr, die die Unterdrückten vom Erkennen
der eigenen Interessen abhielt. Darüber hinaus galten den männlich geprägten Organisationen Arbeiterfrauen als Einfallstor bürgerlicher Ideologie, was
mit der Auffassung vom »weiblichen Charakter« der
populären Künste zusammenpasste (Huyssen 1986).
Schließlich sahen sie Bündnischancen im »regressiven Antikapitalismus« (Bollenbeck 1994, 226) vieler bürgerlicher M-Kritiker, die das Zur-Ware-Werden von Kunst und Kommunikation für den Verlust
ihrer kulturellen Autorität verantwortlich machten.
Wilhelm Liebknecht verband in seinem Urteil
über populäre Lektüre ästhetische, moralische und
ideologische Aspekte: »Die billigsten Unterhaltungsblätter, welche hauptsächlich unter das Volk kommen – ich rechne die sogenannten Kolportage- oder
Lieferungsromane hier mit – sind […] ausnahmslos
der Form nach miserabler Schund und dem Inhalt
nach Opium für den Verstand und Gift für die Sinnlichkeit.« (1873, 24f) Seither wurde im Kampf gegen
›Schund‹ stets auch die Abgrenzung zwischen bildungsorientierten, respektablen Sozialdemokraten
und der noch unverständigen, aufklärungsbedürftigen Masse der Arbeiter in Szene gesetzt. Für Clara
Zetkin, kulturpolitische Autorität der SPD und
später der KPD, war es die Aufgabe der Arbeiterklasse, »Erbin der klassischen Kunst« (1911/1977,
195) zu werden. Unter den »kunstmörderischen«
(186) Lebensverhältnissen des Proletariats sei den
Massen indes allenfalls die »Afterkunst« zugänglich,
die ein ausgebeutetes »künstlerisches Lumpenproletariat« (190) dem Markt liefere.
gerlich-reaktionärer Kritik an ›Massengesellschaft‹,
›Massenzivilisation‹, ›Kitsch‹ und ›Amerikanisierung‹
entwickelten sich künstlerische Initiativen, die auf
eine zeitgemäße und breit verständliche gestalterische Sprache zielten (z.B. Bauhaus) und in der Neuen
Musik Rhythmen und Sounds der Populärmusik
aufgriffen (z.B. Dreigroschenoper). Die empirische
Sozialforschung wandte sich zunächst in den USA
Phänomenen der M zu; neben Marktforschung gab
es (etwa im Kontext des Pragmatismus) Bemühungen um Anerkennung und Verbesserung der neuen
Kulturphänomene. Es etablierte sich ein bis ins 21. Jh.
wirksames sozialwissenschaftliches Paradigma, das
die Anziehungskraft der M mit ihren Funktionen
Ausgleich, Trost und Problemflucht für hart arbeitende Durchschnittsbürger erklärte.
Während die sozialistische wie die kommunistische
Arbeiterbewegung den Hauptstrom der M als kapitalistische Ablenkung und Verdummung ablehnte
und dagegen auf eigene Medien, Agitprop und ›Russenfilme‹ setzte, suchten marxistische Intellektuelle
nach progressiven Nutzungsperspektiven. Gramsci,
Bloch und Benjamin wurde dies v.a. durch eine
Erweiterung des Blicks möglich, die gemeinhin erst
den Cultural Studies oder volkskundlichen Ansätzen
zugeschrieben wird: hin zu den Nutzungsweisen. Sie
betrachteten M als (nicht zuletzt ästhetische) Interaktion, bei der nicht vorab feststeht, wozu die (Um-)
Deutungsaktivität der Rezipierenden im Stande sein
wird.
3.1 Gramsci bleibt bei seiner intensiven Beschäftigung mit populärer Kunst nicht bei der Einschätzung verbreiteter Lesestoffe als »populare Droge«
oder des Melodramas als »am schädlichsten« stehen
(Gef, H. 5, §54, 619); er warnt vor Überheblichkeit
und weist darauf hin, dass es sich für »viele aus dem
Volk« um etwas »tief Gefühltes und Gelebtes« handele, um »eine Weise, dem zu entfliehen, was sie als
niedrig, beschränkt, verächtlich in ihrem Leben und
in ihrer Erziehung ansehen« (H. 8, §46, 972). Allgemeiner fragt er im Horizont seiner Überlegungen
zur Hegemonietheorie nach den Anteilen »proletarischer Ideologie« in Genres und Werken, die beim
Volk Anklang finden – bis hin zur Überlegung, ob
die Aufnahme solcher Elemente durch bürgerliche
Autoren »bedeutsam und wichtig« sein könne als
»eine Episode der indirekten ›Volkserziehung‹« (H.
6, §168, 832).
3.2 Mit Bloch verbindet Gramsci das Interesse an
Tagträumen, die von der Popularliteratur inspiriert
werden (H. 6, §134, 813f). Bloch verfolgt seit den
1920er Jahren, wie Träume »der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will« (GA 4, 172), sich
in bestimmten Segmenten der M artikulieren und
unter welchen Bedingungen sie zu politischem, gar
3. Soziale Entwicklungen (Arbeitszeitverkürzung,
Urlaubsvereinbarungen, wachsende Angestelltengruppen) und medientechnische (Film, Rundfunk,
preiswertere Grammophone und Schallplatten)
machten Freizeit und Unterhaltung wichtiger, sodass
in den frühen 1930er Jahren der neue Ausdruck »M«
aufkam (Hertel 1992, 121ff). Neben radikaler bür© INKRIT 2018
Massenkultur
HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I
Massenkultur
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revolutionärem Handeln führen können. Er unterscheidet zwei Grundrichtungen des phantasierenden
Überschreitens von Alltag und Status quo. Die eine
führe – tröstend, versöhnend, fatalistisch – zurück
in den beschränkten, subalternen Lebensrahmen;
daneben und dagegen stünden jene Erfahrungen
von Ausbruch, Verwandlung und Abenteuer, die
das Verlangen nach mehr Glück, Genuss und Glanz
im ›normalen‹ Leben wachsen und Veränderungen
aktiv (nicht durch Hoffen auf Wunder oder Schicksal) anzielen ließen. Provokativ schreibt er: »Jedem
sein Huhn im Topf und zwei Autos im Stall, das ist
auch ein revolutionärer Traum« (PH, 37). Systematisch wie empirisch hat diese Unterscheidung Gert
Ueding am Beispiel von Literatur zwischen »Kitsch«
und »Kolportage« ausgearbeitet und dargelegt, wie
»Kolportage« als »Schule des aufsässigen Denkens«
(1973, 137 u. 148) funktioniert.
3.3 Benjamins Bereitschaft, die mit Film und Fotografie verbundenen Veränderungen in der Rezeption
von Kunst durch ›Massen‹ auf ihre ästhetischen wie
politischen Möglichkeiten hin zu betrachten, ist
nicht zu trennen von seinem Engagement gegen den
Faschismus. Er gehört zu den ersten, die den Begriff
der »Massenkunst« ohne abfällige Wertung einsetzen, und formuliert bereits wichtige Bestimmungselemente – ausgehend von den Produktivkräften als
den grundlegenden Impulsgebern und den Massen
als den Opfern wie potenziellen Gestaltern dieser
Impulse. So charakterisiert Benjamin 1937 die mit
den avancierten Medien aufkommende »Kunst« als
eine, »in deren Schöpfungen die Produktivkräfte und
die Massen zu Bildern des geschichtlichen Menschen
zusammentreten« (GS II.2, 505).
Die neue Kunst, führt Benjamin bes. am Film aus,
entziehe sich dem Anspruch auf »kontemplative Versenkung« (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS I.2, 501f). Der Film
mit seinen ständig sich verändernden Bildern, die
keine Zeit zur »Sammlung und Stellungnahme« (502)
lassen, entfalte eine »Chockwirkung«, die durch
»gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will«
(503). Eben dadurch werde er zu der den »Heutigen […] entsprechenden Kunstform« (503, Fn. 29).
Indem die modernen Arbeits- und Lebenswelten die
Massen mit ständig wechselnden Anforderungen an
die sinnliche Wahrnehmung konfrontieren und körperliche wie geistige Reaktionen provozieren, macht
sich ein »Bedürfnis« geltend, »sich Chockwirkungen auszusetzen«, um angesichts der »gesteigerten
Lebensgefahr« handlungsfähiger zu werden (ebd.).
»Die Rezeption in der Zerstreuung […] hat am Film
ihr eigentliches Übungsinstrument.« (505; Hervorh.
getilgt) Damit wird die Masse zur »matrix, aus der
gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken
72
gegenüber neugeboren hervorgeht« (503). Die neue
Nutzerposition wird allerdings eher vage charakterisiert durch antikontemplative Begriffe wie »Lust
am Schauen und am Erleben«, die mit der »Haltung
des fachmännischen Beurteilers« (497) einhergehe,
sodass das Publikum »ein Examinator [ist], doch ein
zerstreuter« (505).
Benjamins Erwartungen an ein neues Publikum
mit postauratischen Praktiken distanzierter, prüfender M-Nutzung haben sich nur teilweise erfüllt.
Auch Adorno verwendet in den 1930er Jahren zeitweilig den Begriff der Massenkunst, allerdings deutlich skeptischer (Hertel 1992, 125f). In der Dialektik der Aufklärung wird dann selbst der Begriff der
M vermieden und durch »Kulturindustrie« ersetzt.
Rückblickend erklärt Adorno, man habe den Eindruck vermeiden wollen, »dass es sich um etwas wie
spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur
handele« (GS 10.I, 337).
4. Bis Mitte der 1960er Jahre dominierte in Europa
wie in den USA die pauschale Ablehnung der M.
Dann gerieten die Diskurslinien in Bewegung.
4.1 Ein kräftiger Impuls ging 1964 von Umberto
Eco aus. Vertraut mit historischer wie aktueller
Populärkultur und mit scharfem Blick für die Schwächen deduktiv vorgehender M-Theorien, fordert er
»Apokalyptiker« wie »Integrierte« gleichermaßen
heraus. Während erstere die kulturelle Bedrohung
derart dramatisierten, dass Differenzierung und
praktische Intervention sinnlos erschienen, ergingen sich letztere in unkritischen Einzelstudien und
bewerteten M teilweise als Symptom kultureller
Gleichheit.
Eco brachte die Fronten mit erfrischend pragmatischen Fragen durcheinander. Kann man populäre
Künste sinnvoll mit den Maßstäben einer »aristokratischen« Ästhetik beurteilen? »Ist denn wirklich
ausgemacht, dass eine Schreibweise, eine Darstellungsform, eine Kompositionsmethode nur dann
Gültigkeit beanspruchen dürfen, wenn sie mit der
Tradition brechen und deshalb bloß von wenigen
Auserwählten gewogen, erkannt, verstanden werden können? Und muss ein bedeutsames Stilelement,
sobald es […] ›popularisiert‹ wird, notwendig seine
Kraft und seine Funktion einbüßen?« (1964/1984, 41)
Statt zu fragen, ob M »gut oder schlecht« sei, laute
die Aufgabenstellung: »Wie kann man, nachdem die
Industriegesellschaft jenes kommunikative Verhältnis, das als Gesamtheit der Massenmedien bekannt
ist, unabwendbar gemacht hat, sicherstellen, dass die
Massenmedien kulturelle Werte übermitteln?« (48)
4.2 Weitere Differenzierungsanstöße kamen aus der
britischen Kulturforschung, deren Vertreter Richard
Hoggart, Raymond Williams und Edward P.
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Thompson sich seit den späten 1950er Jahren mit
dem Gebrauch massenmedial verbreiteter Künste
und kommerzieller Vergnügungen in der Arbeiterschaft auseinandersetzten. Die Maßstäbe dafür
bezogen sie aus sozialistischer Theorie und einer im
proletarischen Milieu gelebten Arbeiterkultur. Diese
Initiativen mündeten 1964 in die Gründung des
Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham und beförderten eine empirische Wende
der M-Debatte. An die Stelle der Globalkategorie
traten zunehmend Genres, die unter verschiedenen
Aspekten des Umgangs mit ihnen erörtert wurden.
Programmatisch sprachen Stuart Hall und Paddy
Whannel nicht von M, sondern von »Popular Arts«
(1964).
Die Cultural Studies rückten Praktiken und Bedingungen der Aneignung populärkulturellen Materials
in den Brennpunkt. Theoretische Grundlagen lieferte
Hall. Massenkulturelle Texte, Fernsehsendungen
eingeschlossen, seien unaufhebbar mehrdeutig; je
nach Erfahrung und Überzeugung der Rezipierenden sei nicht nur die Übernahme der »dominanthegemonialen« Lesart (1973/2004, 77), sondern auch
eine »ausgehandelte« (78) oder gar »oppositionelle«
Lektüre möglich (80). Williams’ Auffassung von
Gramscis Hegemonie-Konzept im Sinne von »etwas,
das durch und durch gelebt wird« (1973/1983, 189),
ließ die essenzialistische Frage, wie reaktionär oder
progressiv Produkte der kapitalistischen Unterhaltungs- und Vergnügungsbranchen seien, in den Hintergrund rücken. M wurde nun analysiert als Feld
des Kampfes um die Interpretation kultureller Texte
durch Massenpublika moderner Klassengesellschaften, als eine »Arena von Zustimmung und Widerstand« (Hall 1981, 237), in der »der Kampf für und
gegen die Kultur der Mächtigen ausgefochten wird«
(239).
4.3 Die Ergebnisse waren keineswegs eindeutig. Man fand Formen ›eigensinniger‹ Aneignung,
die Subalternität befestigten (Willis 1977), während andere Studien auf aktive und gewiefte Nutzer mit popularen Taktiken des Widerstehens und
Sich-Widersetzens stießen (Hebdige 1983; Winter
2001). Systematisch hat v.a. John Fiske solche Taktiken in ein Modell überdeterminierter Beziehungen zwischen »Machtblock« und »Volk« integriert
und daraus widersprüchliche »Allianzen« abgeleitet.
Die Rezipierenden seien stets auf der Suche nach
Vergnügen, und oft seien es gerade abweichende,
oppositionelle oder – unspezifischer – eigenwillige
Lesarten populärer Texte, die Vergnügen erzeugten.
Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Texte
selbst (durch Vorgaben, Widersprüche, Brüche usw.)
solche Bedeutungsproduktion ermöglichten oder
anregten. Daher seien M und Populärkultur keines-
wegs deckungsgleich. Letztere sei nur das Segment,
das gegen hegemoniale Machtstrukturen und Diskurse gerichtete Lesarten ermöglicht: »Wenn eine
bestimmte Ware Teil der Populärkultur werden soll,
muss sie Möglichkeiten für widerständige bzw. ausweichende Nutzungen oder Lesarten bieten, und
diese Möglichkeiten müssen angenommen werden«
(1989, 32). Eine Person könne in unterschiedlichen
Situationen mit der Herrschaftsmacht einverstanden
oder widerständig sein, je nachdem, welcher sozialen
Position sie sich gerade zuordne. »Populärkultur ist
in den Praktiken zu finden, nicht in den Texten oder
deren Nutzern« (45). Widerständige Praktiken richteten sich gegen Herrschaftsstrukturen im Alltag, die
Lebensführung und Vergnügen unmerklich auf aktive
Einpassung in die Dominanz des »Machtblocks« ausrichten, und könnten »(Mikro-)Machtverschiebungen« zugunsten Subalterner bewirken. Populärkultur in diesem Sinne könne mithin nur »progressiv«
sein, nicht »revolutionär« oder »radikal« (161). – Die
politische Qualität solch widerständiger Alltagspraktiken wurde als »Kulturpopulismus« (McGuigan
1992; Babe 2009) in Frage gestellt. Fiske spiele die
Macht der Konzerne und der von ihnen verbreiteten
Ideologie herunter und ignoriere die engen Grenzen,
die subalterne Lebensverhältnisse einer kritischen
Lektüre massenmedialer Texte ziehen; bes. die ökonomischen Grundlagen der ideologischen Apparate
und ihres Einflusses gerieten aus dem Blick.
Es fehlt an Studien, um Ermächtigungsprozesse
zwischen Alltag und Makropolitik realistisch einzuschätzen. David Hesmondhalgh (2013) erinnert daran, dass die Spielräume der ›Content‹Produzenten in den politischen Redaktionen
tendenziell strikter beschränkt werden als in den
Unterhaltungsabteilungen. Daher lasse sich fragen,
ob die Bedeutung der unterhaltend-fiktionalen M
nicht manchmal überschätzt wird. – Debatten über
Widerständigkeit führten zu der Frage, welche Position sozialistische Intellektuelle einnehmen, wenn sie
ein Massenpublikum kritisieren, das sich nicht ›von
oben‹ belehren lassen will. Andrew Ross (1989) und
John Frow (1996) weisen darauf hin, dass Subalterne
gute Gründe für solche Vorbehalte haben. Ohne den
Versuch, ›inkorrekte‹ Formen respektloser Auflehnung wie das Spielen mit Horror und Destruktion
für eine herrschaftskritische Strategie zu reartikulieren, werde die Linke, so Ross, dem Populismus von
rechts stets unterliegen.
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Massenkultur
5. Seit den 1960er Jahren wird in Studien aus staatssozialistischen Ländern von »imperialistischer M«
(Ziermann 1969), später von »imperialistischer
Massenkunst« (Ulle u.a. 1975) gesprochen. Angesichts zunehmender Rezeption westlicher Massen-
HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I
Massenkultur
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künste in diesen Staaten wurde der »sozialistischen
Volkskultur« die imperialistische M als Produkt
und Instrument einer zum Untergang verurteilten
Gesellschaftsformation gegenübergestellt. Inhaltlich
vereine sie reaktionäres politisches Bewusstsein und
moralische Verderbtheit; ästhetisch verurteilte man
sie nach dem Maßstab eines konservativen Klassizismus. M galt als Teil eines Systems geistiger »Manipulation« (Hausmann/Neumann 1972). Diese Sicht
näherte sich den Konzepten der »Kulturindustrie«
bzw. der »Bewusstseins-Industrie« an (Enzensberger 1970, 159), die in der außerparlamentarischen
Bewegung der BRD verbreitet waren.
Parallel dazu begann man in den 1970er Jahren,
unterhaltungsorientierte Freizeitmuster in Kapitalismus wie Staatssozialismus weniger normativ zu
betrachten und die Entwicklung des Arbeiterlebens
sozial- und kulturhistorisch mit marxschem Instrumentarium zu interpretieren. Der in der Ethnographie und einer Arbeitsgruppe um den Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg (Arbeiterleben,
1983; Mühlberg 1986) verfolgte Ansatz ging aus von
Studien zu Lebensweise und Kultur plebejischer und
proletarischer Schichten im Kapitalismus (Jacobeit/
Mohrmann 1973). Deren Lebensführung sollte nicht
nur als Produkt elender und verelendender Verhältnisse betrachtet werden. Proletarische Lebensformen
hätten Teil an der widersprüchlichen Entwicklung
der Produktivkraft lebendiger Arbeit im Kapitalismus, somit auch an der Ausbildung rationaler Kompetenzen und wachsender Bedürfnisse. Proletarische
Lebensweise nutze die mit der industriellen Entwicklung und den Erfolgen der Arbeiterbewegung
steigenden konsumtiven und kulturellen Wahlmöglichkeiten und bilde Selbstbewusstsein, eigene Wertorientierungen und kulturelle Praxismuster aus.
In Deutschland sei bereits um 1900 »ein Ensemble spezifisch proletarischer […] Freizeittätigkeiten« entwickelt worden (Arbeiterleben, 1983, 24),
das sich noch unter sozialistischen Bedingungen
als realitätsangemessen erweise. Dazu zählt Mühlberg (1992) auch die moderne M. Arbeiterinnen und
Arbeiter hätten sie (mit ihrer ganzen Widersprüchlichkeit) schnell und weitgehend angeeignet, weil
sie an Bedingungen und Gewohnheiten der Lebensweise anschloss und, aus ihrer Sicht, zunehmend
»angemessenere Lösungen« für die Reproduktion der
Arbeitskraft bot; schließlich seien »gerade die neuen
Freizeitformen als Vorboten eines besseren Lebens,
als seine kulturelle Vorwegnahme« wahrgenommen
worden. Über die Eignung für proletarische Lebensverhältnisse hinaus sei die moderne M »egalitär und
klassenübergreifend« gewesen und habe damit »auch
demokratisierend« gewirkt (57f).
Im Zentrum steht hier weder die Hegemoniefrage
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noch die nach einem ästhetischen Wert, sondern die
M als dynamisch ausgehandelter Kompromiss zwischen lebendiger Arbeit und Kapital, als Aneignung
jener formellen Freiheiten, die die Subalternen in
der bürgerlichen Gesellschaft erringen. Alltägliche
Freizeit- und Unterhaltungspraktiken der lohnarbeitenden Schichten werden als kreative Antwort
auf Zumutungen und Potenziale kapitalistischer Produktionsweise gelesen. Der Ansatz ist anschlussfähig
für das in den Cultural Studies entwickelte Verständnis von M als Arena hegemonierelevanter Auseinandersetzungen um Bedeutungen. Zugleich reicht er
über die Arbeiterschaft hinaus und öffnet den Blick
für klassen- und schichtübergreifende Züge von
Lebensformen, in denen M einen wesentlichen Platz
einnimmt. So ist im Anschluss an Williams’ (1968)
Überlegungen zur »Common Culture« gefragt worden, ob sich in westlichen Ländern eine »Gemeinkultur« entwickelt hat, in deren Zentrum der (in sich
freilich sozial differenzierte) Gebrauch von M stehe
(Maase 1997, 235-58, u. 2011).
6. Die Digitalisierung verändert das Feld der Unterhaltung grundlegend. Die Verbreitung von Inhalten
(Content) über soziale Netzwerke und personalisierte Endgeräte (Smartphones, Tablets usw.) führt
zur Entwicklung von Strategien, um alle diese Medien
zu beliefern, zu durchdringen und zu verknüpfen. Es
entsteht eine »Konvergenzkultur« (Jenkins 2008), in
der mit den neuen Gewohnheiten und Kompetenzen
auch die Bereitschaft steigt, sich aktiv als »produser«
(Bruns 2008) zu betätigen, d.h. eigene Inhalte und
Inhalte anderer in Umlauf zu bringen, zu bearbeiten
oder als »fan fiction« nach eigenen Vorstellungen
fortzuschreiben. Manuel Castells spricht treffend
von »Massen-Selbstkommunikation« (2009, 63-71).
Die aktive Beteiligung der Nutzenden wird unverzichtbar für die erfolgreiche kommerzielle Durchdringung der Märkte. Die Medienunternehmen sind
darauf angewiesen, dass die Nutzenden Neues im
Netz testen, kommentieren, empfehlen, weiterleiten,
parodieren, fortspinnen. Bisher gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dem Ende der Top-downEinbahnstraßenmedien die Angebotsdominanz der
großen Konzerne endet; noch bedeutet kommerziell gerahmte Digitalisierung, dass die Unternehmen
die Interaktion kontrollieren. Vorschläge und Voten
›von unten‹ werden nur in dem Maß akzeptiert, wie
sie Produkte erfolgreicher machen. Mit dem Internet
und den sozialen Medien werden massenkulturelle
Kommunikation und damit die Möglichkeiten oppositioneller Intervention tiefgreifend umstrukturiert.
7. Ein weiterer Ansatz betrachtet M und v.a. den zentralen Bereich der Massenkünste als wesentlich ästhe-
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tische Kommunikation. Das Vergnügen ästhetischen
Erlebens sei die Gratifikation, die M so anziehend, ja
unverzichtbar mache. Oft genannte Funktionen wie
Erholung, Kompensation, Trost, Evasion usw. seien
auch mittels Sport, Drogen oder religiöser Praktiken
zu erreichen; die Spezifik von M liege in der durch
nichts ersetzbaren Befriedigung ästhetischer Erfahrungen.
Ästhetisches Erleben hat seinen Zweck in sich, es
dient aus Sicht der Akteure keinem äußeren Ziel wie
etwa Bildung, Fitness, Karriere, Kreativität, Originalität. Mit ›ästhetisch‹ sind hier allerdings sinnliche Eindrücke oder Imaginationen gemeint, die aus
dem Strom des Wahrnehmens und der Befindlichkeit
herausgehoben sowie mit Emotionen, Bedeutungen
und Erkenntnis verbunden sind (vgl. Maase 2008b).
Die Betonung der Selbstzweckhaftigkeit ästhetischen
Vergnügens und deren Distanz zu Zweckrationalität
und Fremdbestimmung verbindet derartige Überlegungen mit Wolfgang Fritz Haugs Konzept der
»kulturellen Unterscheidung«, die Menschen treffen,
wenn sie sich, ihre freie Entwicklung, als »Selbstzweck« setzen (2011, 93).
Als ein grundlegender Modus der Wahrnehmung
bedeutet ästhetisches Erleben nicht automatisch
Schönes, Angenehmes oder Erstrebenswertes. Für
das Verständnis alltäglicher ästhetischer Praktiken ist
allerdings wesentlich, dass es um Erfahrungen geht,
die die Menschen selbst als befriedigend, bereichernd,
beglückend erleben. Die so nur allgemein bestimmten
Erfahrungen unterscheiden sich nach Gegenstandsbereichen, und die ästhetischen Qualitäten populärer Künste werden lebhaft diskutiert (exemplarisch
zur Popmusik Wicke 2001; Parzer 2011). HansOtto Hügel beschreibt Unterhaltung als ästhetische
Interaktion besonderer Art und bezeichnet »die Darstellung des gelingenden Lebens als Begriffskern des
populären Schönen« (2008, 93). Solche Konstellationen werden, folgt man Theorien der Ästhetisierung
des Alltags (Reckwitz 2012), häufiger und subjektiv
wichtiger werden. »Hunger nach Schönheit« (Maase
2011, 241ff) wird als Grundorientierung moderner
Lebensführung in allen Sozial- und Bildungsschichten und damit als Motor anhaltender Nachfrage nach
M diagnostiziert. Gernot Böhme zufolge handelt
es sich im Unterschied zu materiellen Bedürfnissen
um »Begehrnisse«, d.h. »Bedürfnisse, die durch ihre
Befriedigung nicht gestillt werden, sondern gesteigert« (2008, 30).
In einer Hinsicht ist der Begriff der M definitiv
überholt. Medial transportierte Unterhaltung und
Vergnügung ist ins Zentrum westlicher Gesellschaften gerückt; kaum noch jemand verweigert sich ihr
gänzlich, und die meisten Menschen verbringen
einen Großteil der Freizeit mit ihrer Nutzung. Im
Verlauf dieser Entwicklung hat sich M enorm ausdifferenziert. In ihrem Patchwork-Universum ist Raum
für praktisch alle Stimmungen, Strömungen, Szenen,
Bewegungen, Ängste und Hoffnungen. Alle Massenpublika sind heute Minderheitenpublika; selten
gelingt es, auch nur einige Prozent der Bevölkerung
zu erreichen. In dieser vielfarbigen M bewegen sich
auch jene, die sich für eine gerechtere und lebenswertere Welt einsetzen. Welche Vergnügungen und
Massenkünste sie nutzen, welche davon Widerspruch
auslösen und wie sie die Auseinandersetzung damit
als Teil ihrer Selbst-Bildung praktizieren, wäre eine
vielversprechende Fragestellung.
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Konsumismus, Kriminalroman, Kultur, Kulturarbeit,
Kulturimperialismus, Kulturindustrie, Kulturpolitik,
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Literaturverhältnisse, Lumpenproletariat, Masse, Massenkommunikation, Massenkunst, Mode, Musikindustrie,
Neue Musik, Nietzscheanismus, Opium, organische Intellektuelle, Plebejisches, politische Kunst, Popmusik, Popularkunst, Popularliteratur, Proletariat, Proletkult, Propaganda/Agitation, Radio, Roman, Subalternität, Tradition,
Unterhaltung, Verblendungszusammenhang, Volkskultur
im Kapitalismus, Werbung, Zerstreuung
HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 9/ I
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