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Gründe und Evidenz

Der Handbucheintrag führt in die wesentlichen Redeweisen und Theorien von Gründen für Überzeugungen ein und erläutert deren Zusammenhänge zu Evidenz.

Gründe und Evidenz Eintrag für das Handbuch „Erkenntnistheorie“ von Metzler, hersg. von Martin Grajner Susanne Mantel Einleitung Sarah möchte ihren Eltern einen Überraschungsbesuch abstatten und hofft, sie anzutreffen. Dass Licht in der elterlichen Wohnung brennt, spricht dafür zu glauben, dass jemand zu Hause ist. Dass es vormittags ist, spricht allerdings eher dagegen (um diese Zeit sind ihre Eltern meistens unterwegs). Sarahs Grund, zu glauben, dass sie ihre Eltern antreffen wird, ist jedoch, dass Sarahs Horoskop ihr für heute Glück verheißt. Im alltäglichen Nachdenken ziehen wir Gründe für Überzeugungen heran, wägen sie gegeneinander ab und folgen ihnen häufig, indem wir eine neue Überzeugung aus diesen Gründen ausbilden. Manche Überzeugungen haben wir jedoch aus „schlechten Gründen“ oder vielleicht sogar völlig grundlos. Wie wir auf Gründe reagieren gilt vielen Erkenntnistheoretikern als entscheidend dafür, ob unsere Überzeugungen gerechtfertigt sind. Doch der Verweise auf Gründe ist manchmal verwirrend: Sarahs Grund für ihre Überzeugung ist in den Augen vieler Erkenntnistheoretiker vielleicht einerseits ihr Grund für diese Überzeugung, aber andererseits ist er eigentlich kein Grund für ihre Überzeugung. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass wir es mit verschiedenen Redeweisen von Gründen zu tun haben. Sarahs Grund ist „kein Grund für ihre Überzeugung“, sofern er kein Beleg bzw. keine Evidenz dafür ist, dass ihre Eltern zu Hause sind. Er ist aber „ihr Grund für ihre Überzeugung“, sofern er in ihrer Deliberation dennoch eine entscheidende Rolle spielte, oder sofern sie ihn als Evidenz behandelt hat. In diesem Eintrag geht es in erster Linie um Gründe für Überzeugungen. Diese Art der Gründe soll in drei Hinsichten erläutert werden: erstens durch den Verweis auf verschiedene Verwendungsweisen des Wortes „Grund“, zweitens durch den Verweis auf verschiedene Theorien von normativen Gründen und drittens in ontologischer Hinsicht. Zusammenhänge zwischen Überzeugungsgründen und Evidenz werden durchweg aufgezeigt. Der Fokus liegt allerdings auf Gründen. Evidenz kommt im Folgenden ins Spiel, sofern sie für Gründe relevant ist oder mit Gründen gleichgesetzt wird. Manche Autoren sprechen lieber von „Belegen“ als von Evidenz, da diese Redeweise im Deutschen gebräuchlicher und oft eleganter ist. Ich werde jedoch einheitlich von Evidenz sprechen, da diese Terminologie dem vorgesehenen Beitragstitel entgegenkommt. Die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von Gründen für Überzeugungen entsprechen ähnlichen Unterscheidungen in der praktischen Philosophie in Bezug auf Handlungsgründe. Genau wie in der praktischen Philosophie legen die verschiedenen Redeweisen in der Erkenntnistheorie außerdem verschiedene ontologische Thesen zu Gründen nahe: Gründe werden mit mentalen Zuständen, wahren Propositionen oder Sachverhalten identifiziert. 1. Verschiedene Redeweisen von Gründen 1.1. Gründe des Subjekts als Ausgangspunkte seines Schließens (‚motivierende Gründe‘) Oft sprechen wir von Gründen, auf die Menschen ihre Überzeugungen tatsächlich stützen und die ihre Überzeugungen somit erklären (z.B. Turri 2009). Diese Gründe spielen eine entscheidende deliberative Rolle in den tatsächlichen Schlussfolgerungsprozessen, die Subjekte dazu bringen, eine neue Überzeugung auszubilden. Analog zu den Gründen, die Menschen in deliberativen Prozessen zu dem Entschluss bringen, eine Handlung auszuführen (oder wenigstens dazu motivieren, eine Handlung auszuführen), welche als motivierende Gründe für Handlungen bezeichnet werden, werden diese Gründe auch als motivierende Gründe für Überzeugungen bezeichnet. Dies soll jedoch nicht nahe legen, dass es sich bei den Gründen, aus denen wir etwas glauben, um konative Einstellungen wie Wünsche handelt oder handeln muss. Weniger irreführend ist es vielleicht, von den Gründen zu sprechen, ‚in deren Licht‘ man etwas glaubt – wenngleich dies selbstverständlich eine metaphorische Ausdrucksweise ist (Dancy 2000). Gründe, aus denen man etwas glaubt, können gute oder schlechte Gründe sein – je nachdem, ob es angemessen ist, diese Überzeugungen auf diese Gründe zu stützen. Gründe in diesem Sinne bilden eine besondere Unterart dessen, womit Überzeugungen erklärt werden können (z.B. Wedgwood 2015). Ob es sich bei dieser Erklärungsform um eine besondere Art der Kausalerklärung (Davidson 1980), zum Beispiel eine dispositionale kausale Erklärung (Turri 2011), oder eine rationale Erklärung sui generis (Dancy 2000) handelt, ist umstritten. In jedem Fall spielen motivierende Gründe für Überzeugungen eine Rolle dafür, ob eine Überzeugung doxastisch gerechtfertigt ist, und dafür, ob es sich um Wissen handelt. Eine Möglichkeit, um zu unterscheiden, ob jemand etwas aus einem guten oder aus einem schlechten Grund glaubt, besteht in dem Verweis auf eine evidenzielle Beziehung (für pragmatische Gründe, siehe hingegen Abschnitt 1.2.1). Da man etwas aus schlechten Gründen glauben kann, wird diese evidenzielle Beziehung nicht als notwendige Bedingung dafür betrachtet, dass etwas ein Grund ist, aus dem jemand etwas glaubt. Manche Autoren betonen, dass man den Grund, aus dem man etwas glaubt, zumindest als Evidenz beziehungsweise als normativen Grund für die betreffende Überzeugung behandelt (Wright 2014). Würde dies die zusätzliche Überzeugung aber erfordern, dass der Grund in einer evidenziellen Beziehung zu einem betreffenden Sachverhalt steht, ergäbe sich daraus ein kognitiv anspruchsvolles, möglicherweise unrealistisches Bild oder gar ein Regress. 1.2 Gründe, die für Überzeugungen sprechen (‚normative Gründe‘) Die häufigste Charakterisierung normativer Gründe lautet, dass sie „für eine Reaktion sprechen“, etwa dafür, etwas zu tun, etwas zu glauben oder etwas zu wünschen (z.B. Scanlon 1998, Dancy 2000, Parfit 2011). In der Erkenntnistheorie geht es vorrangig um Gründe, die für Überzeugungen sprechen. Diese Fürsprecherrelation wird von manchen Autoren grundsätzlich als primitiv betrachtet, d.h. als nicht weiter reduzierbar und eventuell nicht einmal weiter explizierbar (z.B. Scanlon 1998). Oft werden diese Ansätze unter dem Stichwort „reasons first“ zusammengefasst. Normative Gründe werden jedoch immer in einen engen Zusammenhang zu normativen Ausdrücken wie ‚Sollen‘ gestellt. Auf diesen Zusammenhang stützt sich eine Gegenposition zu „reasons first“ Ansätzen. Eine weitere Gegenposition versucht stattdessen, normative Gründe über ihre Rolle in einer idealen Deliberation zu definieren. Somit stehen den „reasons first“ Ansätzen im Wesentlichen zwei Arten von Gegenpositionen gegenüber (Wedgwood 2015). 1.2.1 Gründe als Beiträge zum Sollen Aus dem Zusammenhang zum Sollen entwickelt Broome eine Analyse normativer Gründe, der zufolge normative Gründe etwas sind, das zu einer Erklärung einer Sollens-Tatsache beiträgt. Genauer gesagt sind (pro tanto) normative Gründe für eine Reaktion etwas, das in einer abwägenden Erklärung erklärt, warum wir diese Reaktion zeigen sollen (Broome 2004, 2008). In diesem Abschnitt möchte ich diese Analyse kurz darstellen und anschließend weitergehende allgemeine Fragestellungen zum Zusammenhang zwischen Gründen und Sollen behandeln. Wenn man normative Gründe als etwas aufgefasst, das ein Sollen erklärt oder konstituiert, so ist klar, warum normative Gründe für Handlungen in ethischen Theorien eine prominente Rolle spielen. Ethische Theorien geben an, von welchen Umständen es abhängt, wie wir handeln sollen. Übertragen auf die Erkenntnistheorie ergibt sich aus diesem Bild, dass normative Gründe für Überzeugungen von der Ethik des Glaubens behandelt werden (Grundmann 2008, 239). Normative Gründe für Überzeugungen sind dieser Position zufolge das, wovon abhängt, was wir glauben sollen. Der Zusammenhang zum Sollen, der auch in der Bezeichnung ‚normativer Grund‘ mitschwingt, lässt eine Vielzahl von Interpretationen zu. In einem gewissen Sinne soll man vielleicht immer das Wahre glauben, in einem anderen Sinne vielleicht das, wofür am meisten Evidenz vorliegt, in einem weiteren Sinn vielleicht das, was einem guttut, und so weiter. Dies wirft gerade mit Blick auf die Erkenntnistheorie eine Reihe von Problemen auf, zum Beispiel die Frage, ob es pragmatische Gründe für Überzeugungen gibt. Der dritten Verwendungsweise des Wortes ‚sollen‘ zufolge kann ein normativer Grund für eine Überzeugung z.B. als ein Grund betrachtet werden, aus dem man etwas glauben soll, weil dies gut für den Glaubenden ist. Ein viel diskutiertes Beispiel ist die Tatsache, dass es die Heilungschancen verbessert, zu glauben, dass man den Krebs besiegen und genesen wird. Derartige Tatsachen werden daher von manchen als pragmatischer normativer Grund angeführt, der dafür spricht, diese Überzeugung zu haben bzw. sie auszubilden (z.B. McCormick 2015). In der Erkenntnistheorie stehen jedoch nicht derartige pragmatische Gründe für Überzeugungen, sondern epistemische Gründe für Überzeugungen im Vordergrund, da epistemische Gründe für epistemische Rechtfertigung und Wissen entscheidend sind. Einige Autoren bestreiten, dass es pragmatische Gründe für Überzeugungen überhaupt gibt. Tatsächlich handle es sich hier nur um verschleierte Gründe für Handlungen, nämlich um Gründe dafür, in sich eine entsprechende Überzeugung auszulösen (z. B. Parfit 2011, Skorupski 2010). Epistemische normative Gründe für Überzeugungen hingegen haben etwas mit der Wahrheit oder Wahrheitswahrscheinlichkeit einer Überzeugung zu tun. Epistemische Rechtfertigung scheint vielen Erkenntnistheoretikern daher Evidenz zu erfordern (Feldman und Conee 1985). Es liegt also nahe, epistemische Gründe als Evidenz zu betrachten, weil sie dasjenige sind, das epistemische Rechtfertigung liefert. Mit dieser Gleichsetzung von epistemischen Gründen und Evidenz sind nicht alle Erkenntnistheoretiker einverstanden. Sylvan und Sosa (MS) wenden ein, dass manche epistemischen Gründe für Enthaltungen nicht in dieses Bild passen. Die Tatsache, dass man nicht genügend Evidenz hat, sei ein epistemischer Grund für eine Enthaltung, aber nicht selbst Evidenz. Auch wenn man sich nicht darauf festlegen möchte, dass alle epistemischen Gründe in Evidenz bestehen, wird häufig davon ausgegangen, dass epistemische normative Gründe für Überzeugungen es mit einem genuin epistemischen Sollen zu tun haben, das mit Wahrheit zusammenhängt. Auch wenn praktische und epistemische Normativität es mit verschiedenen Arten des Sollens zu tun haben mag, werden in der Literatur viele Gemeinsamkeiten zwischen praktischen und epistemischen normativen Gründen hervorgehoben. Ihre normative Dimension scheint zum Beispiel strukturell große Ähnlichkeiten aufzuweisen. Dancy (MS) will die Fürsprecherrelation zwar nicht über ein Sollen analysieren, und auch er muss zwischen epistemischen und pragmatischen Gründen unterscheiden: Die Fürsprecherrelation praktischer Gründe sei wertebasiert, wohingegen die Fürsprecherrelation epistemischer Gründe wahrheits- oder evidenzbasiert sei. Doch wichtiger erscheinen ihm die Gemeinsamkeiten. Die Fürsprecherrelation sei in beiden Bereichen in einem strukturell gleichen Rahmen mit anderen Formen von Relevanz verankert. So könne sie zum Beispiel sowohl im praktischen als auch im epistemischen Bereich von anderen Faktoren angefochten werden (im Fall von sogenannten Anfechtungsgründen, engl. „defeaters“), verringert oder verstärkt werden und gehe (im praktischen und epistemischen Bereich gleichermaßen) stets eine vielfältige Interaktion mit kontextuellen Faktoren ein. 1.2.2 Gründe als Ausgangspunkte guten Schließens Einer anderen Auffassung zufolge können normative Gründe als die Prämissen guten Schließens betrachtet werden. Way (2015) erklärt, normative Gründe seien dazu da, unser Denken und Handeln anzuleiten: sie sind dasjenige, in dessen Licht wir denken und handeln, wenn wir auf gute Weise denken und handeln. Dass eine Tatsache, dass p, ein normativer Grund für eine Reaktion ist, ist Way zufolge dann und nur dann gegeben, wenn (und besteht in dem Faktum, dass) es ein gutes Schlussmuster gibt, welches von der Überzeugung, dass p (und möglicherweise von weiteren korrekten Einstellungen des Subjekts) zu der Reaktion führt. Einerseits verspreche dieser deliberative Ansatz ein einheitliches Bild von theoretischen und praktischen Gründen zu liefern - denn beide seien Prämissen in entsprechenden guten Schlüssen. Andererseits lasse dieser Ansatz wichtige Unterscheidungen zwischen diesen Bereichen zu. Möglicherweise bestehe etwa gutes Schließen im epistemischen Bereich nicht darin, auf die Nützlichkeit der Überzeugung, dass p, mit dem Ausbilden dieser Überzeugung zu reagieren, wohingegen gutes Schließen im praktischen Bereich von der Nützlichkeit einer Reaktion zu dieser Reaktion übergehen mag. Dieser deliberative Ansatz unterscheidet sich von der Definition normativer epistemischer Gründe als Bausteine des epistemischen Sollens, falls manche Tatsachen ein Sollen konstituieren oder mitbestimmen, ohne dass sie in einer guten Schlussfolgerung bzw. Deliberation auftreten würden und andersrum (Wedgewood 2015, Broome 2008, siehe auch Abschnitt 1.3). Dass normative Gründe in guten Schlussfolgerungen auftreten oder auftreten würden, ist allerdings ein weit verbreiteter Gedanke. Oft wird darauf verwiesen, dass normative Gründe derart sein müssen, dass sie unser Denken und Handeln anleiten können und dass sie, wenn wir aus normativen Gründen denken und handeln, mit unseren motivierenden Gründen identisch sind (Dancy 2000). Wer etwas „aus gutem Grund“ glaubt, der wird dieser Ansicht nach durch einen normativen Grund motiviert und stützt seine Überzeugung direkt auf diesen. Das ist zu erwarten, falls normative Gründe das sind, was in guten Schlussfolgerungen herangezogen wird. Wenn dies stimmt, ergeben sich ontologische Anforderungen an motivierende und normative Gründe. Sie müssen von derselben ontologischen Art sein, damit ihre Identität in guten Schlussfolgerungen überhaupt möglich ist. Die verschiedenen Merkmale motivierender und normativer Gründe speisen jedoch unterschiedliche ontologische Klassifikationsversuche, wie ich in Abschnitt 2 andeute. 1.3. Gründe als Evidenz für Sollenstatsachen Sind alle Gründe, auch Handlungsgründe, auf Evidenz zurückzuführen? Kearns und Star (2009) können beispielshaft als Vertreter für eine Gruppe von Autoren herangezogen werden, die praktische und theoretische Gründe zu vereinen versuchen, indem beide auf Evidenz zurückgeführt werden. Allen Gründen sei gemeinsam, dass sie Evidenz dafür sind, dass ein Subjekt die entsprechende Reaktion zeigen solle – wobei die Reaktion eine Handlung, eine Überzeugung oder eine andere mentale Einstellung sein könne. Diese Theorie weist epistemische Gründe gewissermaßen als fundamental aus: Alle Gründe, auch Handlungsgründe, fungieren wesentlich als Evidenz für die Wahrheit einer Sollensaussage. Handlungsgründe sprechen für Handlungen „nur“, indem sie Evidenz für eine handlungsbezogene Sollensaussage sind und somit als epistemische Gründe für eine normative Überzeugung sprechen. Epistemische Gründe lassen sich dennoch von anderen normativen Gründen abgrenzen. Ein epistemischer Grund F für die Überzeugung, dass p, besteht genau dann, wenn F Evidenz dafür ist, dass das Subjekt p glauben soll, weil F Evidenz ist, dass p (Kearns and Star 2009, 217). Doch in Bezug auf Handlungsgründe werden Gegenbeispiele diskutiert, die zeigen sollen, dass manche Evidenzen für Sollensaussagen keine normativen Gründe sind. Dass ein Buch die Aussage enthält, Kohl sei gesund, sei zwar Evidenz dafür, dass man Kohl essen soll, aber kein normativer Grund, der für die Handlung spricht (Broome 2008). Manche Sollenstatsachen sind selbst Evidenz für andere Sollenstatsachen, ohne entsprechende Gründe zu sein (Schmidt 2017). 2. Die Ontologie von Gründen und Evidenz 2.1. Mentale Zustände Gründe werden oft mit mentalen Zuständen des Subjekts identifiziert. Überzeugungen seien Gründe für andere Überzeugungen (Turri 2009). Conee und Feldman (2008) argumentieren, dass Wahrnehmungerlebnisse zu unserer Evidenz gehören. Im praktischen Bereich wurde eine mentalistische Position von Donald Davidson stark gemacht: Paare aus Wünschen und Überzeugungen seinen Gründe für Handlungen (Davidson 1980). Besonders, wenn wir nach motivierenden Gründen fragen und Gründe als die Ausgangspunkte des Schließens verstehen, liegt es nahe, auf mentale Einstellungen zu verweisen. Wir sagen etwa, dass Sarah glaubt, dass ihre Eltern zu Hause sind, weil sie die Überzeugung hat, dass ihr Horoskop ihr für heute Glück verheißt. Es liegt nahe, zu sagen, ihr Grund, zu glauben, dass ihre Eltern zu Hause sind, sei ihre Überzeugung über das Horoskop. Einige Autoren widersprechen dieser Ansicht, indem sie argumentieren, der Grund eines Subjekts sei etwas, das in einer Überlegung als Prämisse auftaucht. Eine Überzeugung steuere zwar ihren Inhalt als Prämisse bei, jedoch komme die Überzeugung selbst nicht als Prämisse vor. Wenn Sarah also denkt „Mein Horoskop verheißt mir für heute Glück. Glück habe ich doch nur, wenn meine Eltern zu Hause sind. Also sind sie zu Hause“, dann lautet ihr Grund, dass ihr Horoskop ihr Glück verheißt, nicht, dass sie glaubt, dass ihr Horoskop ihr für heute Glück verheißt. Ein psychologischer motivierender Grund sei höchstens in seltenen Fällen gegeben, etwa wenn Sarahs Gedankengang dermaßen verlaufen wäre, dass sie über ihre eigenen mentalen Zustände reflektiert hätte: „Ich habe die Überzeugung, dass mein Horoskop mir für heute Glück verheißt. Dass ich solchen Überzeugungen ausbilde, liegt nur daran, dass ich zu esoterische Bücher lese.“ Die Ansicht, dass Gründe mentale Einstellungen sind, wird somit auf eine Verwechslung zwischen dem Inhalt einer mentalen Einstellung (dem wahren motivierenden Grund) und der Einstellung selbst, d.h. dem psychischen Zustand, zurückgeführt (Dancy 2000, Alvarez 2010). Turri (2009) hingegen fokussiert auf den explanatorischen Charakter motivierender Gründe und leitet daraus ab, dass motivierende Gründe mentale Einstellungen sind: Motivierende Gründe für Überzeugungen helfen uns, diese Überzeugungen zu verstehen. Dafür sei es sowohl notwendig als auch hinreichend, andere mentale Einstellungen des Subjekts anzugeben (etwa Überzeugungen, Wahrnehmungen und Enthaltungen), die mit der zu erklärenden Überzeugung auf eine bestimmte Weise verbunden seien. Weitere Vorteile seien zudem, dass man nur so die Rolle von Enthaltungen als Gründe für weitere Enthaltungen verstehen könne und dass man so auch die erklärende Kraft falscher Überzeugungen einfange. 2.2. Propositionen Häufig werden normative Gründe als Propositionen klassifiziert. Sofern die Inhalte von Überzeugungen propositionalen Charakter haben, ermöglicht diese Position, dass normative Gründe (wenigstens manchmal) identisch mit den Inhalten unserer Überzeugungen und Überlegungen sind. Sie passt besonders zur deliberativen Theorie des normativen Grundes, welche den Grund als Prämisse in einem guten induktiven oder deduktiven Argument analysiert. Nach Williamson sind es Propositionen, welche diese Funktionen in Argumenten ausüben. Sie sind das, was in induktiven Argumenten Wahrscheinlichkeit hat, und was als Prämissen in deduktiven Argumenten logische Inkonsistenzen mit Hypothesen aufweist (Williamson 2000, 196). Logische Beziehungen bestehen zwischen Propositionen. Wenn evidenzielle Funktionen von Propositionen erfüllt werden, liegt es nahe, epistemische Gründe als Propositionen zu klassifizieren. Schließlich werden Evidenz und epistemische Gründe oft gleichgesetzt (z.B. Dougherty 2011). Um ihre evidenziellen Funktionen ausüben zu können, müssen Propositionen laut Williamson allerdings vom Subjekt erfasst werden und wahr sein – wir müssen sogar wissen, dass p, damit wir p als Evidenz besitzen. Zwar behandeln wir auch falsche Propositionen gelegentlich wie Evidenz, doch das bedeute nicht, dass es sich bei ihnen tatsächlich um Evidenz handle. Nur wenn wir Evidenz auf wahre Propositionen beschränken, macht es Sinn, unsere Überzeugungen unserer Evidenz anzupassen. Außerdem beuge die Beschränkung auf Wissen eine Kettenreaktion des unkontrollierten Wachstums unserer Evidenz vor. Es ergibt sich außerdem ein Zusammenhang zum sollensbasierten Verständnis des normativen epistemischen Grundes, falls man eine Wissensnorm für Überzeugungen ansetzt, und ein Zusammenhang zum Ziel von Überzeugungen, falls man annimmt, dass Überzeugungen auf Wissen zielen. Was aber sind Propositionen? Propositionen können auf verschiedene Weisen interpretiert werden. Wenn sie als Fregesche Propositionen verstanden werden, bestehen sie aus Gegebenheitsweisen von Eigenschaften, Relationen und Objekten. Unterschiedliche Gegebenheitsweisen resultieren in unterschiedlichen Propositionen, so dass wir zum Beispiel zwischen der Proposition „Samuel Clemens hat diesen Brief geschrieben“ und der Proposition „Mark Twain hat diesen Brief geschrieben“ unterscheiden. Diese ontologische Verortung von Gründen hebt den Zusammenhang zwischen den Gründen einer Person und ihren Überlegungen und Schlussfolgerungen besonders deutlich hervor. Die Überzeugung, der Brief sei interessant, weil ihn Mark Twain geschrieben hat, wird häufig ganz anders in das Überlegen und Schlussfolgern eingebettet als die Überzeugung, der Brief sei interessant, weil er von Samuel Clemens geschrieben wurde – besonders dann, wenn das Subjekt nicht glaubt, dass Samuel Clemens Mark Twain ist. Wer sich auf Mark Twain bezieht, wird es vielleicht für wahrscheinlich halten, in dem Brief literaturtheoretische Überlegungen zu finden, während jemand, der sich auf Samuel Clemens bezieht, sich vielleicht Rückschlüsse auf das Familienleben der Familie Clemens erhofft. Ob eine Prämisse sich unter der einen oder der anderen Gegebenheitsweise auf den Autor des Briefs bezieht, entscheidet darüber, mit welchen anderen Prämissen sie in Begründungszusammenhänge tritt. 2.3. Sachverhalte Eine andere Klassifizierung besagt, Gründe seien Sachverhalte. Dancy 2000 argumentiert etwa, dass nur etwas, das auch tatsächlich besteht, substantiell genug ist, um für eine Reaktion zu sprechen. Die Relevanz normativer Gründe komme typischer Weise weder Propositionen noch mentalen Zuständen zu. Selbst wenn diese wahr seien, hätten sie keine normative Kraft – schließlich sind sie nur Gegebenheitsweisen oder abstrakte Entitäten. Stattdessen sprechen bestehende Sachverhalte für oder gegen etwas. Sachverhalte werden hier verstanden als Komplexe aus Eigenschaften, Relationen und Objekten. Der Grund, dass Samuel Clemens den Brief geschrieben hat, ist der gleiche Grund wie derjenige, dass Mark Twain den Brief geschrieben hat, weil beide in dem Komplex aus der Beziehung der Autorschaft und dem gleichen Individuum und dem Brief bestehen. Gründe in diesem Sinn sind allenfalls Objekte von Überzeugungen, nicht deren propositionale Inhalte. Sofern motivierende Gründe jedoch von Gegebenheitsweisen abhängen, folgt aus dieser Klassifikation normativer Gründe, dass sie von prinzipiell anderer Art sind, als motivierende Gründe (Mantel 2015). Motivierende Gründe wären selbst in guten Schlussfolgerungen nicht mit normativen Gründen identisch. Sie würden normative Gründe in guten Überlegungen lediglich korrekt beschreiben. Schluss Wie in diesem Eintrag deutlich wurde, spielen Gründe in der Erkenntnistheorie viele Rollen. Motivierende epistemische Gründe erklären zum Beispiel, warum ein Subjekt eine Überzeugung hat. Normative epistemische Gründe sind die Prämissen guter Schlussmuster oder bestimmen, was wir glauben sollen oder dürfen. Diese verschiedenen Rollen legen unterschiedliche ontologische Klassifikationen nahe, etwa die Klassifikation als mentale Zustände, Propositionen oder Sachverhalte. Eine weitere ontologische Position, auf die ich hier nicht näher eingehen konnte, ist der Pluralismus, demzufolge Gründe ontologisch auf keine Kategorie festgelegt sind. Die Vertreter dieser Position akzeptieren die Vielfalt alltäglicher Gründezuschreibungen. Sie bilden somit den Gegenpol zu dem Versuch, alle Arten von Gründen einheitlich zu analysieren und in derselben ontologischen Kategorie zu verordnen. Ob eine einheitliche oder eine pluralistische Herangehensweise hilfreicher ist, wird in der Erkenntnistheorie weiter heiß diskutiert. Dass es nicht leicht ist, eine Position zu finden, welche den vielfältigen erkenntnistheoretischen Funktionen von Gründen gerecht wird, dürfte allerdings unstrittig sein. Literatur Alvarez, Maria: Kinds of reasons: An essay in the philosophy of action. Oxford 2010. Broome, John: Reasons. In: Jay Wallace, Philip Pettit, Samuel Scheffler u.a. (Hg.): Reason and value: Themes from the moral philosophy of Joseph Raz. New York 2004, 28–55. 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