66. Jahrgang, 33–34/2016, 15. August 2016
AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Maghreb
Nora Lafi
Britta Frede
HISTORISCHE PERSPEKTIVEN
AUF DEN MAGHREB
MAURETANIEN –
DER SCHWIERIGE WEG
ZUR INTEGRATIVEN
NATIONALEN EINHEIT
Isabel Schäfer
DER MAGHREB VOR NEUEN
HERAUSFORDERUNGEN:
SICHERHEIT, ENTWICKLUNG,
MIGRATION
Julia Gerlach
DER KLEINE UNTERSCHIED.
TUNESIEN, DIE REVOLUTION
UND DIE FRAUEN
Wolfram Lacher
WAR LIBYENS ZERFALL
VORHERSEHBAR?
Jan C. Jansen
ALGERIEN UND FRANKREICH:
VOM KOLONIAL- ZUM
ERINNERUNGSKRIEG?
Martin Zillinger
„NAFRI“ ALS SYMBOL
FÜR DIE FLÜCHTLINGSKRISE?
MAROKKANISCHE
PERSPEKTIVEN AUF
MIGRATION
ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
FÜR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
Maghreb
APuZ 33–34/2016
NORA LAFI
HISTORISCHE PERSPEKTIVEN
AUF DEN MAGHREB
Der Beitrag skizziert die Entwicklungen und
epochenübergreifenden Kontinuitäten der
Gesellschaften des Maghreb von der Zeit des
Osmanischen Reichs über die europäische
Kolonisierung bis zum schwierigen Prozess der
Nationalstaatsbildung.
BRITTA FREDE
MAURETANIEN – DER SCHWIERIGE WEG
ZUR INTEGRATIVEN NATIONALEN EINHEIT
Mauretanien ist von Misswirtschaft und ökologischen Katastrophen schwer getroffen, bewegt
sich aber seit dem Militärputsch 2005 langsam in
Richtung Demokratie, wirtschaftliches Wachstum und bessere Integration marginalisierter
Bevölkerungsgruppen.
Seite 4–10
Seite 35–40
ISABEL SCHÄFER
DER MAGHREB VOR NEUEN
HERAUSFORDERUNGEN: SICHERHEIT,
ENTWICKLUNG, MIGRATION
Seit dem „Arabischen Frühling“ hat sich die
politische Lage der Maghreb-Staaten unterschiedlich entwickelt, doch sie teilen vergleichbare sozioökonomische Probleme, die das
Protestpotenzial aufrechterhalten. Die EU
möchte sie zu ihren Grenzwächtern machen.
JAN C. JANSEN
ALGERIEN UND FRANKREICH:
VOM KOLONIAL- ZUM ERINNERUNGSKRIEG?
Die französische Kolonialherrschaft über
Algerien endete in dem weltweit größten
Krieg der Dekolonisationszeit. Was waren
die Ursachen und Fronten des Kriegs und der
Erinnerungen an ihn, die in beiden Ländern bis
heute nachwirken?
Seite 11–18
Seite 41–46
JULIA GERLACH
DER KLEINE UNTERSCHIED. TUNESIEN,
DIE REVOLUTION UND DIE FRAUEN
Mehrere Faktoren haben dazu geführt, dass
Tunesien so deutlich besser dasteht als die
anderen Länder der Region: Das eigentliche
Geheimnis des tunesischen Erfolgs liegt in der
Zivilgesellschaft und in der starken Beteiligung
der Frauen.
MARTIN ZILLINGER
„NAFRI“ ALS SYMBOL FÜR DIE
FLÜCHTLINGSKRISE? MAROKKANISCHE
PERSPEKTIVEN AUF MIGRATION
Am Beispiel der marokkanischen Migration
werden unterschiedliche Migrationsstrategien
diskutiert. Um die Bewegung von Menschen
über das Mittelmeer zukunftsfähig zu gestalten,
bedarf es differenzierter Antworten seitens der
europäischen Gesellschaften.
Seite 19–24
Seite 47–54
WOLFRAM LACHER
WAR LIBYENS ZERFALL VORHERSEHBAR?
Das Scheitern des Übergangsprozesses nach der
Intervention von 2011 war nicht unausweichlich.
Vom Krieg herrührende Eigendynamiken,
Fehlentscheidungen der Interimsregierung und
beispiellose regionale Instabilität trugen zu
Libyens Zersplitterung bei.
Seite 25–34
EDITORIAL
Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Maghreb die Region Nordafrika
und die Staaten Mauretanien, Algerien, Tunesien, Libyen und Marokko mit dem
völkerrechtlich umstrittenen Gebiet der Westsahara. Der arabische Begriff leitet
sich ab vom „Ort des Sonnenuntergangs“ – in Abgrenzung zum „Maschrek“,
dem „Ort des Sonnenaufgangs“. Als arabische Geografen den Begriff erstmals
im 10. Jahrhundert verwendeten, gehörten aus ihrer Sicht neben der Region
Nordafrika ebenso Sizilien, die Iberische Halbinsel sowie die Balearischen und
Kanarischen Inseln zum Maghreb.
Auch wenn die fünf Staaten des Maghreb sprachlich und kulturell viel
gemeinsam haben, unterscheiden sie sich politisch und gesellschaftlich stark
voneinander. So besitzt jedes Land seine eigene komplexe Geschichte der
Nationalstaatsbildung, die geprägt ist von unterschiedlichen Erfahrungen der
osmanischen Herrschaft, der europäischen Kolonialzeit und des antikolonialen
Widerstands. Entsprechend verschieden verliefen die Umbrüche des „Arabischen Frühlings“.
Fünf Jahre nach dem „Arabischen Frühling“ ist die Region hierzulande
erneut ins öffentliche Interesse gerückt: mit den sexuellen Übergriffen in der
Kölner Silvesternacht 2015 und der sich anschließenden Diskussion um den
Umgang mit kriminellen Asylbewerbern einerseits und der Debatte um die Einstufung der Maghreb-Staaten als „sichere Herkunftsländer“ andererseits. Das
Kürzel „Nafri“ für „nordafrikanische Straftäter“ hat sich eingebürgert. Mediale
Schlagwörter wie „Nafri-Probleme“, „Nafri-Kriminalität“ und „Nafri-Alarm“
prägen das Bild des Maghreb und lenken von einer sachlichen Debatte über die
aktuellen Herausforderungen der Region ab.
Lorenz Abu Ayyash
03
Maghreb APuZ
„NAFRI“ ALS SYMBOL
FÜR DIE FLÜCHTLINGSKRISE?
Marokkanische Perspektiven
auf euro-mediterrane Migration
Martin Zillinger
„Auf einmal war es Deutschland.“ Mein Gesprächspartner, ein berühmter Schauspieler aus
Casablanca, den ich im Januar 2016 auf einer
marokkanischen Festveranstaltung in Paris traf,
zuckte die Schultern: „Alle meine Freunde, alle
jungen Männer aus der Altstadt – sie alle reden
nur noch davon, nach Deutschland zu gehen.“
Rund 10 000 Marokkanerinnen und Marokkaner kamen 2015 nach Deutschland und haben
sich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) registrieren lassen.01 Gemessen an
den Hunderttausenden, die im Zuge der Grenzöffnung ab dem Spätsommer 2015 in Deutschland Zuflucht oder einen Neuanfang gesucht
haben, ist die Zahl der eingereisten Marokkanerinnen und Marokkaner relativ überschaubar.
Seit den sexuellen Übergriffen und Diebstählen
auf der Kölner Domplatte Silvester 2015 und der
Eröffnung eines polizeilichen Analyseprojekts
„Nordafrikanische Straftäter“ fungiert das Kürzel „Nafri“ jedoch als Symbol für die sogenannte
Flüchtlingskrise und für schwer kontrollierbare
Banden junger Männer, die in Deutschland durch
Kleinkriminalität auf sich aufmerksam machen.02
Die Ereignisse in Köln waren ein Wendepunkt in der öffentlichen Diskussion der sogenannten Flüchtlingskrise, mit vermutlich noch
lang anhaltenden Auswirkungen auf die europäische Migrationspolitik. Nach dem doppelten Exzess, der Gewalt am Hauptbahnhof und den Vorwürfen und Schuldzuweisungen auf Parteitagen,
in den Parlamenten und den Medien, versuchten
Regierungsvertreter zunächst Handlungsfähigkeit zu beweisen, indem sie versuchten, Marokko zu einem sicheren Herkunftsstaat zu erklären.
Dadurch sollte der als problematisch wahrgenommene Zuzug von marokkanischen, aber auch
tunesischen und algerischen Migrantinnen und
Migranten gestoppt werden.03 Tatsächlich verzeichnet das BAMF im dritten Quartal 2015 einen
sprunghaften Anstieg in der Registrierung marokkanischer Flüchtlinge, an dem sich die Migrationsdebatte entzündete. Diese Debatte verkürzte
Migration – die Bewegung durch den Raum – jedoch auf Asyl und Asylmissbrauch, wodurch die
komplexen Migrationsdynamiken im euro-mediterranen Raum nur unzureichend erfasst wurden.
Die Menschen in Nordafrika, dem Maghreb und
Marokko bleiben auch in Zukunft in Bewegung.
So hoch auch die Europäische Union die Mauern zieht und dadurch immer mehr ertrinkende Männer, Frauen und Kinder im Mittelmeer in
Kauf nimmt, die Herausforderungen der Migration werden die Gesellschaften Europas weiter
beschäftigen. Um die Bewegung der Menschen
nach Deutschland und Europa angemessen einschätzen und gestalten zu können, ist es dringend
angezeigt, die Heterogenität der Motive, Verläufe und Ziele von Migration und Mobilität in
den Blick zu bekommen und dafür differenzierte
Antworten und Zugangsformate zu entwickeln.
ASYL, FLUCHT, MIGRATION:
ORDNUNGSVERSUCHE NACH ZAHLEN
Seit dem faktischen Aussetzen des Dublin-Abkommens04 und der Öffnung der deutschen
Grenzen für Hunderttausende Flüchtlinge der
Bürgerkriege in Irak und Syrien im September 2015 wurden in Deutschland mehr als 7000
Marokkanerinnen und Marokkaner in Erstaufnahmeeinrichtungen registriert, allein im Monat November waren es fast 3000 Personen.05 In
der öffentlichen Diskussion wurde die sogenannte EASY-Registrierung (Erstverteilung der Asylbegehrenden), die anonym erfolgt und Fehl- und
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APuZ 33–34/2016
Doppelerfassungen nicht ausschließt, häufig mit
dem eigentlichen Asylantrag verwechselt.06 Da
sich die meisten der nach Deutschland kommenden Migrantinnen und Migranten registrierten,
um ein Dach über dem Kopf und Verpflegung zu
erhalten, sind in dieser Zahl auch alle Personen
enthalten, die ohne Absicht auf einen Asylantrag
eingereist sind. Tatsächlich gab es im gesamten
Jahr 2015 rund 1700 und im ersten Quartal 2016
655 Asylanträge von marokkanischen Staatsbürgern und damit deutlich weniger als die 10 000
Registrierungen in Erstaufnahmeeinrichtungen
des Jahres 2015.07 Die Differenz zwischen der Registrierung als Asylsuchende und den tatsächlich
gestellten Asylanträgen zeigt nicht nur die instrumentelle Nutzung bürokratischer Prozeduren durch Migrierende. Sie lässt darüber hinaus
ahnen, dass sich viele Menschen gänzlich einer
Registrierung entziehen und es vorziehen, klandestin in Deutschland und Europa ihr Glück zu
suchen: Sie tauchen ab.
Durch die Erklärung Marokkos zu einem sicheren Herkunftsstaat würde eine Abschiebung
der marokkanischen Zuwanderer erleichtert und
die Beweislast politischer Verfolgung auf die
01 Vgl. BAMF, NRW: Schwerpunktaktion „Maghreb“, 13. 4. 2016,
www.bamf.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/201604
13-020-pm-schwerpunktaktion-maghreb.html?nn=3799586.
02 Vgl. Anant Agarwala, Kölns schwerer Kampf gegen die
„Nafri“-Kriminellen, 15. 1. 2016, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-01/koeln-nordafrikaner-kriminialitaet-polizei.
03 Vgl. u. a. Marcel Leubecher, Nordafrikanern droht schnellere
Abschiebung, 13. 5. 2016, www.welt.de/politik/deutschland/article155315700.
04 Das Dublin-Abkommen regelt unter anderem, dass ein Flüchtling in der Europäischen Union grundsätzlich in dem Land Asyl
beantragen muss, das er oder sie zuerst betreten hat.
05 Vgl. Bundesministerium des Innern, 2015: Mehr Asylanträge
in Deutschland als jemals zuvor, 6. 1. 2016, www.bmi.bund.de/
SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/01/asylantraegedezember-2015.html.
06 Im EASY-System werden ankommende Asylsuchende von
einer Software registriert und auf die Erstaufnahmeeinrichtungen
in den Bundesländern verteilt. Zwischen Januar und Dezember
2015 wurden so 1 091 894 Zugänge von Asylsuchenden erfasst;
zwischen Januar und Juni 2016 bislang 222 264. Siehe Bundeszentrale für politische Bildung, Zahlen zu Asyl in Deutschland,
13. 7. 2016, www.bpb.de/218788.
07 Dies ist angesichts einer beschleunigten Bearbeitung von Asylanträgen maghrebinischer Migranten seit Januar 2016 besonders
aufällig. Durch die schnelle und nach Herkunftsstaaten geordnete
Einbestellung der nordafrikanischen Asylsuchenden sollte eine
möglichst rasche Abschiebung dieser Menschen erfolgen, da ihnen
wenig Aussicht auf ein erfolgreiches Asylverfahren eingeräumt
wurde.
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Schutzsuchenden übertragen werden. Marokko
ist nach heutigem Wissensstand aber alles andere
als ein sicheres Herkunftsland:08 Menschen verschwinden, werden gefoltert und aufgrund ihrer
sexuellen Orientierung angefeindet und verfolgt –
Opposition ist nur in klar umrissenen Grenzen
möglich. So sind die studentischen Initiatoren
des „Arabischen Frühlings“ in Marokko und der
„Bewegung 20. Februar“ seit einigen Jahren in
Haft oder auf andere Art durch den marokkanischen Geheimdienst mundtot gemacht worden.09
Marokko ist kein Rechtsstaat. Auch wenn regelmäßig stattfindende Parlamentswahlen, Gesetzesvorhaben wie die Reform des Familienrechts
oder die Einrichtung einer Wahrheitskommission
zur Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen
zwischen 1956 und 1999 den Eindruck einer fortschreitenden Demokratisierung machen, bleibt
das Fundament Marokkos bestehen: Im Zentrum
steht noch heute ein Machtapparat, der mit all
seinen Verflechtungen in internationale Warenketten und Finanzströme an den Grenzen Europas im Stile eines „Medici-Fürsten“ 10 gelenkt und
kontrolliert wird.11
Die Migrationszahlen des statistischen Bundesamts verraten wenig über Fluchtursachen und
-dynamiken aus dem Maghreb, und auch ein Zahlenvergleich über die vergangenen drei Jahrzehnte lässt viele Fragen offen. Auffällig ist, dass die
Zahl der tatsächlich gestellten Asylanträge seit
Januar 2015 noch immer nicht das Niveau der
1990er Jahre erreicht hat, als viele Marokkanerinnen und Marokkaner vor den „bleiernen Jahren“ der brutalen Herrschaft von Hassan II. nach
Europa flüchteten.12 Doch während die Zahl von
2565 Erstanträgen 1992 auf 161 Anträge 2008 sanken, schnellte ihre Zahl im Zuge des „Arabischen
Frühlings“, der Verhaftungswellen in Marokko,
aber auch der ersten Auswirkungen des Syrien08 Vgl. die Stellungnahme von Amnesty International, Warum
die Maghreb-Staaten keine sicheren Herkunftsstaaten sind,
20. 6. 2016, www.amnesty.de/2016/6/21/warum-die-maghrebstaaten-keine-sicheren-herkunftsstaaten-sind.
09 Persönliche Kommunikation mit marokkanischen Menschenrechtsaktivisten.
10 Cliford Geertz, Die Dritte Welt. Vom Fanal der Revolution
zur postkolonialen Realitätsbewältigung, in: Lettre International
69/2005, S. 46–53, hier S. 50.
11 Vgl. Jörg Gertel/Ingo Breuer, Alltagsmobilitäten. Aufbruch
marokkanischer Lebenswelten, Bielefeld 2012.
12 Siehe BAMF, Migrationsbericht 2014, Januar 2016, www.
bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2014.pdf?__blob=publicationFile.
Maghreb APuZ
kriegs und der unübersichtlichen Bewegungen
über das Mittelmeer auf 496 (2012), 1191 (2013)
und dann auf 1537 (2014) Anträge hoch – also bereits vor der „Flüchtlingswelle“, die im Zuge des
erleichterten Grenzübertritts Deutschland erreichte. Nachdem sich das Gelegenheitsfenster
für Migranten in Deutschland wieder geschlossen
hatte, haben sich die Zahlen der ankommenden
Menschen erheblich reduziert. Im März 2016 waren es noch etwas über 200 Menschen, die als marokkanische Asylsuchende durch das EASY-System registriert wurden.
Migration lässt sich nicht auf Flucht, Migranten nicht auf Asylsuchende reduzieren. Ein Problem für die Migrierenden ist nicht zuletzt, dass
sie durch das Grenzregime Europas wortwörtlich in ein Boot gezwängt werden und die unterschiedlichen Migrationshintergründe und Dynamiken keine differenzierten Antworten auf Seiten
der Aufnahmegesellschaften und ihrer Migrationspolitik finden. Gerade für Marokko ist sich
die Forschung weitgehend einig, dass nicht nur
der ökonomische Bedarf, sondern auch der Anreiz nach einem besseren Leben junge Menschen
zur Migration motiviert – ein Leben, das sich, wie
der Anthropologe Ernest Gellner bereits betonte, durch die Aussicht auf volle Staatsbürgerrechte auszeichnet, auf Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung und zu alldem,
was eine erfolgreiche Selbstentfaltung möglich
macht.13 Nicht zuletzt ist der Weg in die Migration auch eine Bewährungsprobe auf dem Weg
zum Erwachsenwerden.
MIGRATIONSDYNAMIKEN
Migrantinnen und Migranten versuchen aus einer Vielzahl an Gründen sowie mit unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und für unterschiedliche Zeitspannen an
unterschiedlichen Orten in Europa Fuß zu fassen. Aus europäischer Sicht wurde die marokkanische Migration traditionell als Angelegenheit
der ehemaligen französischen Protektoratsmacht
angesehen. Tatsächlich war die Bewegung entlang
der Küsten und über das Mittelmeer aber immer
schon ein Charakteristikum der mediterranen
Lebensweise: Die Bewegung von Menschen und
Ressourcen durch den Raum und die Verknüpfung von unterschiedlichen Subsistenzstrategi13 Vgl. Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.
en kennzeichnen die Sozialgeschichte des ökologisch fragilen Mittelmeerraums.14
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Pendelmigration nach Algerien, wo sich viele Menschen aus Nordmarokko bei französischen Kolonialunternehmern anstellen ließen, durch die
Migration nach Europa ersetzt. Die neu entstandene algerisch-marokkanische Grenze trennte ökonomische und familiäre Netzwerke: ausdrücklich
die Gegenden um Algier und Oran, wo französische Agrarunternehmen marokkanische Wanderarbeiter beschäftigten, vom marokkanischen Norden.
Insbesondere die Berber aus dem marokkanischen
Rif-Gebirge, die spätestens seit den 1960er Jahren im Zuge von Anwerbeabkommen nach Belgien, Deutschland und Holland migrierten, waren besonders betroffen. Anders als ursprünglich
vorgesehen, konnte sich ein Rotationsprinzip im
Rahmen der Anwerbeabkommen nicht durchsetzen, nach dem „Gastarbeiter“ nach einem Aufenthalt von etwa zwei Jahren als „gemachte Männer“
in ihre Heimat zurückkehren und durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden sollten. Zum einen begünstigten Haushaltsstrategien und marokkanische
Patronagestrukturen Pendel- und Kettenmigration, zum anderen zogen es die europäischen Firmen vor, angelernte Arbeiter vorerst zu halten oder
über die Empfehlung bewährter Migranten neue
Arbeiter aus ihren Herkunftsorten einzustellen.
Während sich in der ersten Phase der anonymen
Rekrutierung Patronagenetzwerke zwischen staatlichen Stellen und sozialen Gruppen herausbildeten, waren es später eher personale Mittler, die Zwischenhändlerfunktionen bei der Rekrutierung von
Arbeitern übernahmen und die Emigration über
Touristenvisa und illegale Grenzübertritte organisierten. Auch Heiratsbeziehungen zwischen und in
Familien sowie mariages blancs (Scheinehen) wurden von Maklern gestiftet und halfen Netzwerkbeziehungen zwischen Herkunfts- und Zielländern
der Migration aufzubauen und zu erhalten.
Anders als in Frankreich stellen die Berber aus
dem Rif bis heute die Mehrheit der marokkanischen
Diaspora in Frankfurt, Düsseldorf, Dortmund und
Köln. Während in den frühen 2000er Jahren Spanien und Italien als Zielländer der Migration immer
wichtiger wurden, da hier leicht Geld im Agrarund Dienstleistungssektor verdient werden konnte, lässt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund
14 Siehe dazu Peregrine Horden/Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A History of the Mediterranean, London 2000.
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APuZ 33–34/2016
der Finanzkrise 2008 zunehmend eine grenzüberschreitende, undokumentierte Mobilität von Migrantinnen und Migranten beobachten. In ihren
Versuchen, Anschluss zu finden, reisen die Menschen aus Marokko und Nordafrika durch Europa,
bis sich ihnen temporär ein Auskommen bietet.
Heute leben rund zehn Prozent der marokkanischen Bevölkerung im Ausland, die meisten von
ihnen in Europa. Die Rücküberweisungen marokkanischer Migranten liegen seit Jahren bei über
fünf Milliarden Euro im Jahr und machen mehr als
sieben Prozent des marokkanischen Bruttosozialprodukts aus.15 Finanzielle Rückflüsse gestalten
die transnational aufgespannten Familienstrukturen der allermeisten Migrantinnen und Migranten.
Bei einem einfachen Handwerkergehalt von umgerechnet 150 bis 200 Euro im Monat sind bereits
kleine Geldsummen eine unverzichtbare Einnahmequelle. Geschickt hat es das Königshaus verstanden, diese Rückflüsse institutionell zu kontrollieren und Investitionen im Heimatland durch
den Aufbau eines transnationalen Bankenwesens
zu befördern. Nach einer langen Phase repressiver
Kontrollpolitik hat sich der Staat auf die politische
Vereinnahmung der Diasporagemeinschaften konzentriert und nicht zuletzt durch das Wahlrecht
für Auslandsmarokkaner und andere institutionelle Formen von Interessenvertretung eine Politik der Anbindung an das Heimatland betrieben.
MAROKKANISCHE PERSPEKTIVEN
AUF MIGRATION
Jedes Jahr verbringen Millionen Auslandsmarokkaner ihren Sommerurlaub in Marokko. Die
Straßen von Nador, Meknès und Casablanca sind
im Sommer voll von Menschen, die Stolz die Insignien einer gelungenen Migration präsentieren:
hochwertige, europäische Kleidung, teure digitale Medien, große Autos. Viele Auslandsmarokkaner fühlen sich verpflichtet, über das ganze Jahr
Geld für ihren Urlaub beiseite zu legen, um großzügig Geschenke für die Daheimgebliebenen mitzubringen und sich selbst und ihren Angehörigen
unbeschwerte Ferienwochen zu ermöglichen.
Diese Darstellung eines erfolgreichen Lebens in
der Migration macht Europa zum Sehnsuchtsort vieler Marokkanerinnen und Marokkaner, die
15 Siehe KNOMAD, Migration and Remittances. Recent Developments and Outlook, April 2016, http://pubdocs.worldbank.org/en/
661301460400427908/MigrationandDevelopmentBrief26.pdf.
50
über wenige Ressourcen für ein selbstbestimmtes Leben verfügen. Über Erfolg und Misserfolg
entscheidet in Marokko in vielen Fällen weiterhin
nicht das Können, sondern die soziale Verortung
in den hierarchischen Strukturen und Beziehungen, die in konzentrischen Kreisen um das Königshaus angeordnet sind. Der Weg nach Europa
erscheint vor diesem Hintergrund vielen als Ausweg, sich ein besseres Leben zu erarbeiten.
Allerdings ist dieser Weg mit legalen Mitteln und einer regulären Ausreise nur für die Wenigsten gangbar – gerade für Berufsanfänger und
Niedrigqualifizierte sind die Hürden für ein Arbeitsvisum schier unüberwindbar. Mit gegenwärtig rund 8000 marokkanischen Studierenden, die
insgesamt an deutschen Hochschulen studieren,
ist auch die Bewerbung um einen Studienplatz in
Deutschland nur wenig erfolgversprechend. Noch
schwerer ist es, nach dem Abschluss des Studiums über die Aufnahme einer Arbeit dauerhaft in
der Bundesrepublik bleiben zu können. Erreichbar ist dagegen für viele ein Visum für Besuchsaufenthalte, um etwa mit Folkloregruppen in Europa aufzutreten oder schlicht um als Tourist nach
Deutschland und Frankreich zu reisen. Die Möglichkeiten, die Grenzen Europas zu überschreiten,
werden selbst zu einer Gabe in sozialen Beziehungen. Verbunden damit ist nämlich die Möglichkeit
zu bleiben – in der Sprache der europäischen Bürokraten werden diese Besucher zu over-stayers,
die sich „illegal“ in Europa aufhalten.
Heirat ist für viele die wichtigste Strategie, um
nach Europa zu kommen oder in Europa bleiben zu
können. Die Kategorie der Ehe wird auf diese Art
transnational neu ausgehandelt. Unter Berberinnen
und Berbern ist die Kusinenheirat die traditionell
bevorzugte Form der Eheschließung, mit der materieller Erfolg, sozialer Schutz und familiäre Bindungen abgesichert werden. Doch über neue Medientechniken des Flirtens und Chattens im Internet
oder in Begegnungen während der Sommerferien
wird die Ehe zunehmend als Ressource eingesetzt,
mit der junge Frauen und Männer Handlungsinitiative gewinnen und ihr eigenes Leben gestalten
können, in Deutschland wie in Marokko: Indem sie
über eine Eheanbahnung die entsprechenden Papiere für die Auswanderung erhalten, oder indem
sich Auslandsmarokkanerinnen einen Heiratspartner in Marokko aussuchen und nach Europa holen,
der sie aufgrund geringer Erfahrung vor Ort nicht
auf traditionelle Geschlechterrollen festlegen kann.
Die Ethnologin Christine Ostermann hat in ihren
Maghreb APuZ
Forschungsorten Frankfurt am Main und Nador
unterschiedliche Medien gesammelt, in denen diese Sozialtechnik in all ihrer Ambivalenz aufbereitet
wird.16 So besingt der Sänger Brahim Wassim aus
dem Rif-Gebirge in dem Lied „Yedjesse O’ Alimane“ (Deutschlands Tochter) Auslandsmarokkanerinnen mit deutschen Papieren als Hoffnungsträger
der Daheimgebliebenen:
Ich weiß, heiratete ich Deutschlands Tochter, würde ich mein Leben mit ihr verbringen. Sie würde mich verjüngen, mir all das geben, über das
sie verfügt. Sie würde mir ein Visum geben, mit
dem ich das Wasser überqueren kann. Frankfurts
Tochter, mit Dir werden meine Träume wahr. Ich
werde meine Sorgen verlieren. 17
Für Verantwortliche in der EU-Bürokratie sind
die Preise für Scheinehen deshalb ein Indikator
für Erfolg oder Misserfolg ihrer Grenzpolitik.
15 000 Euro für einen Heiratsvertrag zeigen nach
dieser Logik an, dass die Grenzsicherung funktioniert. Allerdings treten die Betroffenen damit zum
Teil in jahrelang währende Abhängigkeitsverhältnisse. Nicht selten kommt es vor, dass Vereinbarungen nicht eingehalten werden und die Menschen verschuldet in Europa abtauchen oder um
ihre Ersparnisse gebracht in Marokko zurückbleiben. Billiger ist die Überfahrt der Harraga in kleinen Schmugglerbooten. Al-ḥarg meint wörtlich
„das Verbrennen“ und bezieht sich nicht nur auf
das Verbrennen des Reisepasses, mit dem klandestine Migranten einer Abschiebung vorbeugen
wollen, es meint auch das verbrannte, versehrte
Leben derjenigen, die ohne Legitimität und mit
fragilem Rechtsstatus in Europa abtauchen.18
MIGRATIONSWEGE
Während einige junge Menschen klare Vorstellungen vom „neuen“ Leben haben und gezielt versuchen, für eine bessere Ausbildung nach Europa zu
kommen, ziehen viele andere einfach los. Sie besorgen sich Telefonnummern von Mittelsmännern,
16 Vgl. Christine Ostermann, Germany – Morocco. An Ethnography about Migration, Networks and Experienced Discrimination,
Dissertation, Universität Bielefeld 2011, S. 52.
17 Ebd. Übersetzung aus dem Tamazight ins Englische von Christine Ostermann, Übersetzung ins Deutsche vom Autor.
18 Vgl. Stefania Pandolfo, The Burning. Finitude and the PoliticoTheological Imagination of Illegal Migration, in: Anthropological
Theory 7/2007, S. 329–363.
die für Geld die Passage nach Libyen und von dort
nach Italien vorbereiten. Andere Maghrebiner gehen in die Golfstaaten. Beide Migrationswege
sind teuer und werden angesichts der sich aktuell
schließenden Grenzen in Europa noch kostspieliger. Die eingeschlagenen Wege werden von sozialen Beziehungen bestimmt: Über nachbarschaftliche Netzwerke werden Telefonnummern von
Zwischenhändlern verteilt oder verkauft, bereits
erprobte Wege nach Europa abgelaufen und erste Stationen angesteuert, an denen Hilfe von anderen Migranten erwartet werden kann. Zu lange
dürfen die Neuankömmlinge aber nicht auf den
Taschen der bereits verorteten Migranten liegen.
Deshalb machen sich die Neuankömmlinge in der
Regel rasch wieder auf den Weg in die nächste europäische Stadt. Häufig werden dafür Zentren der
marokkanischen Migration angesteuert: So sind
etwa Turin und Mailand, Montpellier und Paris,
Brüssel und Antwerpen Städte mit großen marokkanischen Communitys. Entscheidend für den
Aufbruch sind aber immer die Chancen, die sich
die Menschen aufgrund sozialer Netzwerke auf
ein temporäres Auskommen vor Ort ausrechnen.
Nachbarschaftsnetzwerke spielen hier eine große Rolle, aber auch religiöse Bruderschaften, die
in der sozialen und religiösen Praxis wichtig sind,
um sich gegenseitig zu unterstützen.19
Für den Erfolg der Migration ist es wichtig,
sich an allen Orten der Migration als ein vertrauenswürdiges Mitglied der marokkanischen Netzwerke zu bewähren. Wer kriminell wird, gilt als
non-capable, als unfähig, mit den Herausforderungen eines Lebens in der Diaspora umzugehen, und
wird tendenziell gemieden: wenn es etwa darum
geht, Hilfsarbeiten aller Art für den Neuankömmling zu besorgen – zum Beispiel in Putzkolonnen.
Entscheidend für die gelungene Migrationsbiografie sind „Papiere“, arabisch wuraq. Sie garantieren
in Form von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen
oder gar der Einbürgerung nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch Arbeits- und Bewegungsfreiheit
zwischen Europa und Marokko. Arbeitsverträge,
durch die ein ausreichender Verdienst für eine Aufenthaltserlaubnis nachgewiesen werden kann, werden in den marokkanischen Netzwerken hoch ge19 Vgl. Martin Zillinger, Möglichkeits(t)räume der Migration.
Kooperationsstrategien marokkanischer Migranten auf dem
Weg nach Europa, in: Bettina Severin-Barboutie (Hrsg.), Stadt in
Bewegung. Wanderungsprozesse in pluridisziplinärer Perspektive,
in: Francia 41/2014, S. 489–502.
51
APuZ 33–34/2016
handelt. Zugleich werden Ärzte und Staatsbürger
der Zufluchtsgesellschaft gesucht, die bereit sind,
langjährige Behandlungen oder Kontakte im Land
zu dokumentieren, wodurch ein ausreichend langer Aufenthalt vor Ort vorgegeben wird und damit
das Gesuch um eine Aufenthaltserlaubnis erleichtert werden soll. Häufig beendet jedoch erst die
Heirat mit einem einheimischen oder zugereisten
Staatsbürger die Wanderung durch Europa – erst
jetzt kann das Leben in der Migration aufgebaut
werden. Oftmals benötigen die klandestin Migrierenden bis zu zehn Jahre, um dieses Ziel zu erreichen.20 Bis zu diesem Zeitpunkt durchleben sie
entbehrungsreiche Jahre, in denen Eltern oder Geschwister in der Heimat sterben und sie sich von
ihren Familien entfremden.
Doch auch wenn staatliche Grenzziehungen
die transnationalen, sozialen Räume der Migration durchschneiden und begrenzen, ist ein methodologischer Nationalismus in der Migrationsforschung fehl am Platz. Ein dyadisches Modell
der Migration, nach der Menschen aufgrund von
Push-Pull-Faktoren ein Land verlassen, um in einem anderen zu leben, wird den komplexen Verhältnissen der Migration nicht gerecht. Digitale Medien helfen den Menschen, ihre Reisewege
und Aktivitäten an den unterschiedlichen Orten
der Migration zu organisieren. Sie sind der „billige, soziale Klebstoff des Transnationalismus“ 21 –
so hat es der Ethnologe Steven Vertovec auf den
Punkt gebracht. Telefone, aber auch andere technische Medien wie Digitalkameras und das Internet, verknüpfen den Alltag von Menschen an unterschiedlichen Orten. Der transnationale Raum
ihrer Aktivitäten ist auch nach einer dauerhaften
Wohnsitznahme triadisch charakterisiert: aufgespannt zwischen weltweit zerstreut lebenden Individuen, den Kontexten der Herkunftsländer und
den Kontexten der jeweiligen Aufenthaltsorte.
UNTERSCHIEDLICHE
SOZIALE MILIEUS IM AUFBRUCH
Nach der geordneten Arbeitsmigration in den
1960er und 1970er Jahren und der daraus folgenden Kettenmigration haben sich die Wege der Migrantinnen und Migranten sowie die Motive und
20 Persönliche Schätzung aufgrund stationärer Feldforschung in
Brüssel zwischen 2008 und 2011.
21 Steven Vertovec, Cheap Calls: The Social Glue of Migrant
Transnationalism, in: Global Networks 4/2004, S. 219–224.
52
Kontexte der Migration fortlaufend verändert.
Auch wenn sich zunehmend eine Mittelschicht
herausbildet, die ihr Leben bewusst in Marokko
gestaltet, ergreifen viele Menschen aus allen sozialen Milieus auch heute noch die Gelegenheit
zur Migration, wenn sie sich bietet. Die Grenzöffnung im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 war
so eine Gelegenheit, die insbesondere junge Männer nutzten, um in kleinen Gruppen nach Europa aufzubrechen. Schnell stiegen die Preise für
Flugtickets in die Türkei, die durch die visafreie
Einreise für marokkanische Staatsbürger als gutes Sprungbrett nach Europa taugte. Die jüngsten
Reisen von jungen Männern mit Hoffnungen auf
das schnelle Geld besingt etwa Soufian Bousaidi
in seinem Lied „Arif ino wadaya traja“:
Meine Heimat Rif, in dir kann nur der Reiche leben
(…). Kommt! Lasst uns Hand in Hand, in die Türkei reisen, das Ticket kostet nur 700 (…). Hey, Guten
Morgen Frankfurt! Ich bin der Sohn aus Sghenghen
bei Nador, bin mit dem Boot über die Türkei hierhergekommen, um „Business“ zu machen – aber sicher nicht, um Arbeitsschuhe zu tragen (…). Keine
Freunde, keine Verwandten habe ich hier als Unterstützung. Ich bin nicht dumm, ich komme klar im
Leben – wir Berber sind nicht wegen Arbeit gekommen, sondern wegen etwas Anderem.22
Das „Andere“, weswegen der Sohn aus Sghenghen bei Nador nach Deutschland gekommen
ist, steht nicht für schlecht bezahlte Arbeit, sondern für den schnellen Erfolg – für „Business“.
Gleichzeitig schwingt hier auch die Möglichkeit
mit, über kriminelle Netzwerke, die vom Rif aus
operieren, den Schmuggel von Marihuana zu organisieren. Dies wird von den bestehenden Gemeinschaften in Deutschland jedoch mit Argwohn betrachtet.
Folgen wir den Recherchen des Reporters
Mohamed Amjahid vom „Zeit-Magazin“, waren es junge Männer aus kriminellen Milieus, die
aus Zentralmarokko und insbesondere Casablanca den Weg über die Türkei gesucht haben und
sich nun in Deutschland und Europa durch Kleinkriminalität über Wasser halten. 23 Mit den vielen
22 Ethnograische Recherche und Übersetzung von Mahmoud
el-Qamch.
23 Vgl. Mohamed Amjahid et al., Was geschah wirklich?,
28. 6. 2016, www.zeit.de/zeit-magazin/2016/27/silvesternachtkoeln-luechtlingsdebatte-aufklaerung.
Maghreb APuZ
Kriegsflüchtlingen kamen in kleiner Zahl auch
Gruppen, die nicht unbedingt ein Leben in der
Migration aufbauen wollten, sondern hier geübt
auf Strategien der systematischen Verunsicherung
im öffentlichen Raum wie Schnorren und Stehlen
zurückgriffen, um über die Runden zu kommen.
Darüber hinaus reisten offensichtlich viele illegal
durch Europa wandernde Migranten gezielt nach
Deutschland ein, als sie von der „Willkommenskultur“ hörten und sich durch eine Registrierung
in den Notaufnahmeeinrichtungen ein Dach über
dem Kopf, Verpflegung und vielleicht sogar Asyl
versprachen. Gerade von Brüssel, dem Zentrum
der marokkanischen Migration in Europa, ist es
kein großer Weg nach Köln und Nordrhein-Westfalen, wo zudem auch staatlicherseits Menschen
aus dem Maghreb zusammengezogen wurden,
da die Behörden hier bereits Erfahrungen mit der
Migration aus Nordafrika gesammelt haben. Alteingesessene Migrationsgemeinschaften aus dem
Rif wurden so in Nordrhein-Westfalen und Hessen mit vagabundierenden jungen Männer aus allen Teilen Marokkos konfrontiert, mit denen sie
wenig gemein haben und mit denen sie nicht auf
gemeinsame soziale Netzwerke rekurrieren können, um ihre Beziehung zueinander zu regeln.
EUROPÄISCHE GESELLSCHAFTEN
AM SCHEIDEWEG
Der Gründer der Organisation Cap Anamur Rupert Neudeck hat kurz vor seinem Tod daran erinnert, dass die Integration der vietnamesischen
Bootsflüchtlinge in der Bundesrepublik so reibungslos geschehen ist, weil die Menschen unverzüglich Zugang zur Gesellschaft bekommen haben
und die Möglichkeit erhielten, eine Arbeit aufnehmen und ihr Leben gestalten zu können. Migrantinnen und Migranten wollen nichts geschenkt
haben – aber sie wollen eine Chance bekommen.
Wenn die Kinder von Einwanderern wieder „auswandern“ ist die Integrationspolitik der europäischen Gesellschaften gescheitert. Nicht nur der
Dschihadist Denis Cuspert, besser bekannt unter seinem Rappernamen Deso Dogg, hat nach der
Konversion zum fundamentalistischen Islam Tod
und Zerstörung in den Gesellschaften an der Südund Ostküste des Mittelmeers verbreitet. Nach
seinem Aufbruch in die Kriegsregionen Nordafrikas und des Nahen Ostens veröffentlichte Cuspert das dschihadistische Kampflied „Wir sind
ausgewandert“ und vermischte religiöse Preisun-
gen des Dschihadismus mit dem Klang des Krieges, um als Teil der Propaganda-Strategie des sogenannten Islamischen Staates Nachwuchs aus
Europa zu rekrutieren. Es ist auffällig, dass Cuspert den jugendlichen Männlichkeitskult der Straße, den er als Berliner Rapper inszeniert hat, gegen den Männlichkeitskult des dschihadistischen
Islam eingetauscht hat. Werner Schiffauer gehört
zu den wenigen Migrationsexperten, die kreative
Wege aufzuzeigen wissen, um diesem Männlichkeitskult über „problemorientierte Kooperation
ohne Konsens“ etwas entgegenzusetzen und dafür verschiedene Akteursgruppen zu integrieren.24
Denis Cuspert und die jungen Männer und Frauen, die zu Hunderten in den Krieg nach Syrien gezogen sind oder in Europa zu Attentätern werden,
sind Kinder unserer europäischen Gesellschaften
und müssen als solche angesprochen und herausgefordert werden.
Das Problem besteht weniger in der Tatsache,
dass Menschen aus den Gesellschaften Nordafrikas und des Mittleren Ostens nach Europa kommen wollen, um hier zu leben, zu arbeiten und
Schutz zu suchen. Tödliche Probleme entstehen
erst, wenn die zunehmende Verflechtung euromediterraner Lebenswelten geleugnet und die Bewegung der Menschen nicht gestaltet und dadurch
kontrollierbar gemacht wird. Die Fluchtbewegungen der vergangenen Monate und ihre Verquickung mit unterschiedlichen Arten der Migration
und Wanderung verlangen nach angemessenen
Antworten seitens der Aufnahmegesellschaften,
die der Vielschichtigkeit und Pluralität der Migrationsstrategien Rechnung tragen müssen. Versuche der Abschottung in einer „Ära der totalen Mobilität“ – so der Hohe Flüchtlingskommissar der
Vereinten Nationen Filippo Grandi – sind dabei
zum Scheitern verurteilt. Die jüngsten Gewaltexzesse und Terroranschläge im euro-mediterranen
Raum machen vor allem eines deutlich: Ein weiteres Scheitern in der Migrationspolitik können sich
die europäischen Gesellschaften nicht leisten.
MARTIN ZILLINGER
ist Juniorprofessur für Ethnologie an der Universität
zu Köln.
[email protected]
24 Vgl. Werner Schifauer, Schule, Moschee, Elternhaus. Eine
ethnologische Intervention, Frankfurt/M. 2015.
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