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Das eingebildete Essen

Pop. Kultur und Kritik 8 (Herbst 2015), 130-151.

E SSAY DAS EINGEBILDE T E E SSE N Caspar Battegay 130 S zene 1: Tief im schottischen Hochland betritt ein Alien, das aussieht wie Scarlett Johansson, ein Café und bestellt ein Stück Schokoladenkuchen. Dieser Kuchen liegt perfekt ausgeleuchtet auf dem Teller. Das Bild aus Jonathan Glazers Film »Under the Skin« (2013) wirkt wie eine Aufnahme aus einem Hochglanz-Kochbuch. Nach einigen Augenblicken trennt Scarlett mit der Gabel vorsichtig ein Stück des Kuchens ab und führt es langsam zu ihrem rot geschminkten Mund, schluckt es – und spuckt es unter den perplexen Blicken der anderen Cafégäste hustend wieder auf den Teller. Aliens können nicht essen. Szene 2: Man sieht ein großes, rosa gebratenes Steak, ein Mann schneidet sich ein Stück davon ab und spießt es auf die Gabel. Die Kamera fährt hoch, und man sieht das Gesicht des Mannes, der das Fleisch nachdenklich betrachtet, es schließlich seufzend in den Mund steckt, genüsslich zerkaut und mit einem Schluck Rotwein nachspült. Das edle Restaurant aus »he Matrix« (1999) ist jedoch nur ein virtuell-neuronales Konstrukt: »I know this steak doesn’t exist. I know that when I put it in my mouth he Matrix is telling my brain that it is juicy and delicious.« Szene 3: In der amerikanischen Doku-Serie »he Mind of a Chef« (PBS seit 2012) bereitet der dänische Starkoch René Redzepi in seinem Kopenhagener Kochlabor eine Art nordeuropäische Version einer japanischen Ramen-Suppe zu. Aufmerksam verfolgt seine Arbeit David Chang, selbst ein erfolgreicher Koch und Gründer der New Yorker Momofuku-Restaurant-Gruppe. Anstatt japanischer Ramen-Nudeln nimmt Redzepi verschiedene Arten von Zwiebeln, POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ S . 130–151 ◆ © transcript POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen Blüten und Bärlauch, am Schluss fügt er ein gekochtes Fasanen-Ei und eine komplex hergestellte Brühe hinzu. Chang meint: »his is a good looking dish, man. his is beautiful … seriously beautiful. hat would be delicious.« Diese drei Szenen zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven eine Struktur, die ich das eingebildete Essen nennen möchte. Meine hese lautet: Das Essen ist zu einem Pop-Essen geworden. Streetfood-Boom, Spitzengastronomie, Essen im TV, veganer Ernährungshype, Koch-Apps und Apps für Food-Fotographie – all diese Diskurse und Phänomene weisen auf eine Abstraktion des Essens hin, die im Medium der Popkultur stattindet. Keineswegs nur weil mit »Snack Of« seit 2014 auch MTV eine Essens-Show produziert und »Vice« mit »Munchies« schon seit einigen Jahren im Geschät ist, sondern weil mittlerweile selbst herkömmliche Sender wissen, dass Gespräche früher »um neue Platten, heute ums Essen« kreisen: »Das neue angesagte Restaurant, Trendessen, die In Locations. Wer sich mit Essen auskennt, ist kein Spießer oder Snob mehr, sondern ein Hipster.« (Funkhaus Europa, WDR) Das »Kulturthema Essen« (Wierlacher u.a. 1993) ist in der akademischen Relexion ebenfalls ein gern analysiertes »soziales Totalphänomen« (Wierlacher 1987: 13). Als »zentraler Imaginations-, Erinnerungs-, Bild- und Diskursgenerator« (Kimmich/Schahadat 2012: 8) bildet es den Gegenstand der sogenannten »Food Studies«. Eine sehr diferenzierte Soziologie des Essens untersucht die gesellschatlich-historische Konstruktion von Essgewohnheiten sowie das Wechselspiel von Identitäten (Gender, Klasse, Ethnie etc.) und Essen (vgl. z.B. Germov/Williams 2004). Zudem ist die ethisch-moralische Frage des Fleischverzehrs zu einem wichtigen Bestandteil einer sich akademisch formierenden Philosophie der Tier-Mensch-Beziehung geworden. Angesichts dieser forschungs- und gesellschatspolitischen Brisanz erstaunt es, dass zwar einige kleinräumige Analysen zum Essen in der Popkultur vorliegen, etwa zum TV-Kochen (Posch 2010) oder zur Fast Food-Industrie, aber keine umfassende Studie zum Essen als Popkultur. Weder scheint Pop ein »key concept« des Essens zu sein (vgl. Belasco 2008) noch sind im Pop-Diskurs befriedigende Überlegungen zum Essen angestellt worden. Zwar beschätigt sich etwa die neue spanische Ess-Zeitschrit »Fuet. Food and its Peripheries« in ihrer zweiten Ausgabe (hema »Icons«) mit der symbolischen Bedeutung des Essens in der Popkultur, doch bleibt der Ansatz unsystematisch und oberlächlich. Auch der vorliegende Essay bietet keine umfassende heorie des Essens als Popkultur, aber er möchte zumindest eine Vorarbeit leisten, indem er Aspekte des eingebildeten Essens skizziert: erstens (pop-)kulturhistorische, zweitens semiotische und drittens identitätspolitische Aspekte. 1. Essen und Kochen bilden »das derzeit avancierteste Unterscheidungsmerkmal der westlichen Gegenwart« (Rüther 2014). Essen wird nicht nur kennerhat zubereitet und verspeist, sondern fotograiert, geilmt, gepostet, geshared und geliked. Natürlich wurden Speisen schon immer ästhetisch angerichtet. 133 POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen 134 Neu ist spätestens seit Anfang der 2010er Jahre, dass nicht nur Köche, Hobbyköche und kulinarisch gebildete Individuen diese Inszenierungen mehr oder minder professionell bewerten und beschreiben. Mit dem massenhat autretenden Foodie gibt es nun auch eine popkulturelle Figur, die die Einheit von Zubereitung, Verzehr und medialer Relexion aus dem relativ spezialisierten Diskurs der Gastronomie austrennt und daraus eine das ganze Leben umfassende Performance macht. Parallel dazu geht die Verbreitung und Diferenzierung der sozialen Netzwerke voran, in denen das Posten von Food-Fotos ungeahnte Prominenz erlangt hat. Im Unterschied zum klassischen Gourmet ist der Foodie kein Repräsentant des Bildungsbürgertums. Wie etwa der Skater ist er eine Figur der Popkultur; steht für den einen das Skateboard, steht für den anderen das Essen im Mittelpunkt des Lifestyles. Der Foodie-Lifestyle wird in Essen-Shows oder auch privat ausagiert (wobei ein Merkmal des Essens als Popkultur ist, dass sich die Grenzen zwischen öfentlich und privat in den sozialen Netzwerken verwischen). Das Essen an sich stellt für den Foodie ein großes Imaginäres dar, das als universeller Zusammenhang eine weit ausgespannte Folie für soziale Kontakte, Reisen, Mode und sogar sexuelle Ausrichtungen und Familienmodelle bietet (Otte 2014). Der Foodie ist auch eine Figur, an der die Konvergenz von Spitzengastronomie, Fast Food und sozialen Medien ablesbar ist: So hat Eddie Huang (Jahrgang 1982, Absolvent einer Law School) zwar 2009 den taiwanesischen Sandwichladen Baohouse in Manhattan eröfnet, wirklich bekannt geworden ist er jedoch als Autor des Vice-Videoblogs »Fresh of the Boat« (später in »Huang’s World« umbenannt) sowie mit Hip-Hop-Videos, Twitter-Updates und ständiger Interaktion auf Facebook und Co. Huang inszeniert sich in Stil und Sprache des Hip-Hops als Teil einer multikulturellen Einwanderergeneration. Sein autobiograisches Buch trägt den Titel »Fresh of the Boat. A Memoir« (2013), es erzählt am Leitmotiv des Essens die Geschichte seiner aus Taiwan emigrierten Familie. Bezeichnend sind die Episoden seines Blogs, in denen Huang nach China und Taiwan reist. Das Essen dient hier mehr als immer wiederkehrendes hema, das eine Suche nach Identität zwischen Asien und den USA grundiert, aber auch narrativ die verschiedenen Bemerkungen und Storys der Videos zusammenhält. In seinem Blog wie in seinem Buch und seinen Restaurant-Projekten skizziert Huang eine ganz eigene Geograie des Essens, die sich vor allem zwischen verschiedenen urbanen Zentren der USA und China autut. Er tritt in der Pose eines Hip-Hop-Künstlers auf, sein eigentlicher Act aber ist das Essen – und besonders das Besprechen und Zeigen des Essens. 2. Die zu Beginn angeführten Filmbeispiele illustrieren die anthropologische Tatsache, dass Essen immer primär ein eingebildetes ist. In Glazers ScienceFiction-Meditation stellt der Kuchen ein Sinnbild des materiellen Menschseins dar; das Alien stellt sich dieses vor und scheitert am physiologischen Vorgang des Schluckens. Doch der andächtig inszenierte Kuchen verweist noch auf etwas POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen Bedeutenderes: Als Gebackenes mit Crèmeschichten und eingelegten Kirschen stellt der Kuchen ein recht komplexes Gebilde dar, das einen hohen Zivilisationsgrad anzeigt. Das Bild zeigt gerade nicht die physiologische Not der Ernährung, sondern den zwecklosen Genuss. Das Alien will eigentlich lernen zu genießen. Dies heißt aber vor allem: Es möchte lernen, die menschliche Ordnung der Zeichen zu lesen, eine Ordnung der Einbildung, die im Kuchen zum Ausdruck kommt. Für Roland Barthes, der als einer der wenigen heoretiker des 20. Jahrhunderts dem Essen die nötige Aufmerksamkeit geschenkt hat, ist das Essen ein Kommunikationssystem und ein Korpus verschiedener Zeichen, eine eigentliche Sprache, die es zu lesen gilt (Barthes 1971: 979). In einem legendären Text hat er etwa das »Biteck« mit Pommes frites als »das alimentäre Zeichen des französischen Wesens« interpretiert (Barthes 1961: 102). Gerade das Steak scheint zunächst weniger artiiziell als der Kuchen. Als blutiges Fleisch hat es vermeintlich direkten Anteil an der Authentizität des Lebendigen. Doch die kleine Szene in »he Matrix« zeigt ein Steak, das ganz wie der Kuchen ebenfalls nur ein richtig gelesener Code der Matrix ist. Dass die Natürlichkeit des Steaks nur eingebildet ist, tut aber, wie »he Matrix« zeigt, seinem wortreich zu beschreibenden Genuss keinen Abbruch, ja stellt gerade die Voraussetzung des Genusses als kultureller Fähigkeit dar. Essen hat immer eine materielle und eine semiotische Seite. Wie aber im Pop die Semiotik die Materialität obsolet werden lässt, möchte ich in diesem Essay später am Beispiel des Animationsilms »Ratatouille« vorführen. 3. Jedes Essen wird von der Ahnung des Hungers begleitet. Hunger und Unterernährung werden zwar gut verdrängt, sind aber real. Laut des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen leiden zurzeit 805 Millionen Menschen an Unterernährung. Darum wirken die 1600 Dänischen Kronen (rund 215 Euro), die ein Menu für eine Person in René Redzepis Kopenhagener Restaurant Noma kostet, unwillkürlich obszön (das Noma wurde seit 2010 wiederholt zum »world’s best restaurant« gekürt.) Köche wie Redzepi, die sich bewusst auf lokale Essens-Traditionen beziehen, würden auf eine solche Grundsatzkritik wohl entgegnen, dass gerade ihre Küche dazu beiträgt, sich der Bedingungen, Grenzen und Dimensionen der Ernährung bewusst zu werden. Nicht umsonst lautet der Titel des ersten großen von Redzepi herausgegebenen Buches »Zeit und Ort in der nordischen Küche«. Essen sei »niemals nur ›Essen‹«, sondern Teil eines Systems von »Verantwortung, Nachhaltigkeit, Politik und Kultur«, wie es im Vorwort des Buches heißt (Eliasson 2011: 9). Jenseits dieser grundsätzlichen und wichtigen hematisierung einer Ethik des Essens in der postindustriellen Welt, möchte ich der Frage nachgehen, warum sich global ausgerichtete, westliche und urbane Menschen plötzlich in einer Weise mit lokalen Ernährungstraditionen und vermeintlich natürlichen Produkten identiizieren, die weit über den traditionellen Begrif des ›terroir‹ oder der Verbindung von Essen und Identität oder Essen und Ethik hinausgeht (vgl. 137 K U LT U R : F O O D I E / S N A C K W A V E Um besser zu verstehen, wie das System Gastronomie sich im Pop-Universum transformiert, lohnt ein Blick auf die Karriere von Anthony Bourdain, den 1956 geborenen ehemaligen Küchenchef verschiedener berühmter Restaurants in Manhattan. Seit seinem Besteller »Kitchen Conidential. Adventures in the Culinary Underbelly« (2000) ist der exzentrische, mit seinem früheren exzessiven Drogenkonsum kokettierende Bourdain eine ikonische Medienigur, die sich in verschiedenen weiteren Büchern und TV-Shows selbst produziert, was ihm sogar schon eine Parodie in den »Simpsons« eingebracht hat (»he Food Wife«, 5/23, 2011). In der CNN-Serie »Anthony Bourdain: Parts Unknown« (seit 2013) tritt die Figur Bourdain vor allem als Reisejournalist für außergewöhnliche Destinationen auf; in »Mind of a Chef« – von Bourdain produziert – ist sie gar nicht mehr zu sehen, sondern als ironisch-sonore Erzählstimme nur noch zu hören. Im Unterschied etwa zum einiges jüngeren Briten Jamie Oliver, der trotz vielfältiger medialer Formate immer noch irgendwie mit der Zubereitung POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen 138 etwa Campanini u.a. 2011). Seit einiger Zeit werden nationale, kulturelle und religiöse Zuschreibungen des Essens und das damit verbundene bewusste ZeitNehmen digital und tendenziell ironisch inszeniert, auf privater und professioneller Ebene gleichermaßen in Events. Ein Event stellt nicht nur Redzepis Inszenierung des Nordischen dar, etwa durch die Nutzung bislang unbekannter Grassorten inklusive der darauf kriechenden Schnecken. Um ein Event handelt es sich auch, wenn das jährlich stattindende Londoner Geiltefest Kochkurse und Vorträge zur jüdischen Küche organisiert, Preise für die beste Falafel oder das beste koschere Restaurant verteilt und online ein Kochbuch vertreibt, um damit durch das Essen säkulare jüdische Identität performativ zu bestätigen. Ebenso ist es ein Event, wenn ein paar Studenten auf einem Berliner Markt »biologische« Früchte einkaufen, diese einmachen und den ganzen Vorgang in sozialen Netzwerken abbilden, als ginge es um eine angesagte Party. Diese unterschiedlichen Events haben gemeinsam, dass die Inszenierung des Essens im Medium der Popkultur nicht mehr vom eigentlichen Essen zu trennen ist. Im Pop-Essen ist das Element des Pop ofensichtlich sogar wichtiger als das Element des Essens. Die Events beinhalten aber auch eine gewisse Portion Ironie, der Vorgang der Authentiizierung durch Essen ist nie ganz ernsthat gemeint, sondern umfasst immer eine spielerische Komponente. Genau darin liegt der politische Gehalt des Pop-Essens. Die soziale Distinktionslinie der Ernährung kommt vor allem durch das Moment ihrer Inszenierung zustande: Die Bewohner des sozialen Rands verschlingen mit bewusstlosem Appetit, was die (Super-)Märkte anbieten. Die globalen Oberschichten dagegen wissen nicht nur, worauf sie Appetit haben, sie machen dieses Wissen auch zu einem Event, bei dem Ironie und Identiizierung in eins fallen. POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen von Essen in Verbindung bleibt, ist Bourdain weder nur ein besonders hipper Koch noch ein Spezialist für gute Ernährung. Vielmehr führt er als allwissender Erzähler das Essen an sich als großes Imaginäres vor. Vom Koch ist Bourdain zu einer sinngebenden Instanz und universalen Identiikationsigur des Foodie geworden – in gewisser Weise zum David Bowie des Essens. Noch augenfälliger wird diese Tendenz bei Casting-Shows wie »Top Chef« (Bravo, seit 2006) oder bei der u.a. von Bourdain und Nigella Lawson entwickelten Show »he Taste« (in den USA auf ABC, in Deutschland auf Sat. 1 seit 2013). Ganz wie das Supermodel oder das talentierteste Gesangstalent wird in diesen Formaten der Top-Koch ermittelt, wobei die Grenze zwischen Laien und professionellen Gastronomen einerseits zementiert, andererseits als durchlässig gezeigt wird. »Koch« meint zumindest im TV längst nicht mehr den Gastronom und auch nicht den Gastrosophen, der – um mit dem deutschen Esskritiker Jürgen Dollase zu sprechen – in angestrengt geistvoller Weise eine »kulinarische Intelligenz« einübt (Dollase 2006), sondern den Star, der das Essen und sich im Essen inszeniert und dafür den Foodie als seinen Bewunderer im Publikum benötigt. Das Prinzip von »he Taste« besteht darin, Gerichte als Mikro-Kompositionen auf einem Löfel anzurichten. Damit gleicht es oberlächlich betrachtet Dollases Prinzip der »Geschmacksschule« (Dollase 2005). Aber im Fernsehen zählt eben gerade nicht der Geschmack (Der Claim der Sendung lautet vollkommen irreführend: »Nur der Geschmack zählt!«). Zwar essen im Studio einige Leute die Gerichte wohl wirklich, viel wichtiger für das Funktionieren der Sendung aber sind das Image der Köche, das pornograische Bild der Speisen und die pointierten Beschreibungen der Juroren, den eigentlichen Chef-Foodies. In »he Taste« geht es paradoxerweise nur um eine Vorstellung von Geschmack, genauer um ein eingebildetes Essen. Das Bild auf dem Löfel ist letztlich nichts anderes als das Steak aus »he Matrix«, ob es real oder nur eine Vorstellung ist, bleibt unentschieden und spielt für das Publikum auch keine Rolle. Diese Unbestimmbarkeit führt auch zum Image zurück, das ein ausgezeichneter Spitzenkoch wie Redzepi an den kulinarischen Kultstätten dieser Welt durch tausend Medienberichte verstärkt erschat. Ob das Gericht im alltäglichumgangssprachlichen Sinn schmeckt, ist dort nicht die Frage. Viel eher muss danach gefragt werden, welche Assoziationen und Emotionen es weckt und ob die abstrakten Kontexte erkannt werden, in die es eingebettet ist, also wie es beschrieben wird und für was es ein Bild sein soll. Erst wenn Koch und Foodie in der ambivalenten Inszenierung von Authentizität und Ironie zusammenspielen, ist der Event des Essens geglückt. Dieses Pop-Essen bleibt keineswegs auf die sogenannte Spitzengastronomie beschränkt. Im Gegenteil fällt eine wechselseitige Durchlässigkeit verschiedener Preisklassen auf. Dies ist bereits am Raumdesign von Restaurants ersichtlich. Im Pariser L’Atelier de Joël Robuchon (aktuell mit zwei Michelin-Sternen 141 POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen 142 bewertet, mit mehreren Klonen in London, Hongkong, Las Vegas etc.) sitzen die mehrheitlich casual gekleideten Gäste teilweise an einer Bar. Das Room Design gleicht eher einem Club als einem klassischen Sternerestaurant. Umgekehrt betreiben Schnellimbisse einen beträchtlichen Aufwand, als qualitativ hochwertig wahrgenommen zu werden. Beim anhaltenden Trend zum ›GourmetBurger‹ z.B. wird die Herkunt des Fleisches gerne angegeben (was früher nur die gehobene Gastronomie praktizierte). Man kann von einer Gastronomisierung des Fast Food sprechen, die sich in der ot sorgfältigen Gestaltung der Räume oder in bewussten Nutzungskonzepten architektonisch wertvoller Gebäude spiegelt. Die Markthalle Neun in Berlin Kreuzberg (ein historischer Bau von 1890) etwa ist in dieser Hinsicht zum markanten In-Ort für Foodies geworden: Das internationale, jugendliche und zahlreich aufmarschierende Publikum des Streetfood hursday feiert dort das Essen und Trinken, indem es von Stand zu Stand streit. Es handelt sich um Fast Food, doch der in der Markthalle Neun stattindende, sehr spezialisierte Diskurs über das Essen wäre vor einigen Jahren nur in Institutionen wie dem erwähnten L’Atelier de Robuchon möglich gewesen. So inden in der Markthalle Neun auch Events wie die Cheese Berlin statt, gemäß Eigenmarketing »seit 2012 eine der bedeutendsten Veranstaltungen rund um handwerklich hergestellten Käse in Deutschland«. Diese Events stellen das Essen wie bei herkömmlichen Gastronomie-Fachmessen ins Zentrum, inszenieren es jedoch in der Art eines Popkonzertes. Analog zur Pop-Musik – die nicht bloß Musik ist, sondern ein »Zusammenhang« von verschiedenen Medien, Life-Events, Moden, Posen, Geographie, Politik und sozialen Praktiken (Diederichsen 2014: XI) – ist das Essen im globalen Medienkontext zum Pop-Essen geworden, zu einem eingebildeten Essen im doppelten Sinn: zu einem viele Medien und Formate umfassenden Distinktionsdiskurs einerseits, andererseits zu einer nur in der Inszenierung bestehenden Praxis. Das heißt auch: Vielleicht sind wir alle schon viel näher an der bulimischen Figur von Scarlett Johanssons Alien, als die omnipräsenten Inszenierungen des Essens vermuten lassen. Diese Feststellung soll nicht im banalen Sinn Ressentiments gegenüber der gehobenen Küche ausdrücken – dass ›man da ja nicht satt‹ werde und ›alles Chichi‹ sei. Stattdessen möchte ich damit die hese unterstreichen, dass die in verschiedenen Medien und Formaten zu beobachtende Hyperbolisierung des Essens keineswegs zu einer Verbesserung der realen Ernährungssituation, also nicht breiten- und tiefenwirksam zu einer gesünderen, bewussteren und umweltfreundlicheren, kurz ethischeren Ernährung führt, sondern zu einer allgemeinen Verschlechterung. Auf allen Kanälen hat das eingebildete Essen das reale vollkommen übernommen, und in der Folge verkehrt sich die propagierte gesellschatliche Verbesserung des Essens ins Gegenteil. Einerseits wird ein gesundes/ ethisches Essen, andererseits die Pathologie des Essens inszeniert. POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen Zu den Protagonisten eines bloß vermeintlich gesunden/ethischen Essens zählt etwa der vegane Medienkoch Attila Hildmann. Hildmann benutzt als kommerziell erfolgreiche Strategie seine Lebensgeschichte, die er als Konversion vom übergewichtigen Jugendlichen zum sexy durchtrainierten Veganer immer wieder neu erzählt. Seine Bücher tragen Titel wie »Vegan for Fun« (2011) und »Vegan for Fit« (2012), sie verbinden ethisches Ernährungshandeln mit einem popkulturellen Versprechen zur Selbstoptimierung qua veganer Ernährung. Dass es dem von Hildmann geforderten Essen natürlich weder um Ethik noch um Essen, sondern um die ökonomisch verwertbare Inszenierung von Ethik und eine möglichst funktionale Selbsteinfügung in die Ideologie von »Fun« und »Fit« geht, muss nicht näher erläutert werden. Für die pathologische Seite des eingebildeten Essens kann der Begrif ›Snackwave‹ stehen: »In brief: snackwave is a term we’ve coined to describe the current Internet phenomenon of young women and teenage girls expressing an obsession with snack foods«, resümieren Hazel Cills und Gabrielle Noone im Online-Magazin he Hairpin. Wenn etwa Jennifer Lawrence öfentlich ihre Liebe zu Pizza bekennt oder Miley Cyrus auf ihrer Bangerz Tour auf einem gigantischen Hotdog über die Bühne schwebt, vor allem aber wenn junge Frauen Selies posten, wie sie gerade in einen Cheeseburger beißen, dann soll das ›Snackwave‹ heißen. Das damit bezeichnete Verhalten ist ofensichtlich ambivalent. Einerseits stellt die Selbstinszenierung mit Burger, Chips, Wurst etc. eine selbstbewusste, pop-feministische Abwehrreaktion gegenüber gesellschatlichen Zwängen zu vermeintlich gesunder Ernährung und dünnen Körpern dar. Andererseits entsprechen die Protagonistinnen von Snackwave ja gerade dem bestimmenden Schönheitsideal (›skinny white women‹), weshalb Cills und Noone dieses Verhalten auch als »aesthetic ilter for self-deprecation« interpretieren, als nur pseudo-selbstbewusstes Als-ob-Verhalten: als ob mit einem medial bestimmten Selbstbild souverän umgegangen würde. Snackwave kann deshalb tendenziell als magersüchtige Repräsentationsweise gedeutet werden. Bezeichnend ist denn auch, dass Snackwave aus dem Bereich der Ernährung in den der Mode durchgesickert ist. Vermehrt tauchen hippe Kleidungsstücke für schlanke junge Frauen auf, die mit Pizzastücken, Salami, Wafeln oder ähnlichem bedruckt sind – ein prägnantes Beispiel für jenes eingebildete Essen der Popkultur, das den maskulinen Ich-esse-weil-ich-es-kann-Gesten Hildmanns oder Bourdains entgegengesetzt ist. S E M I O T I K : G E DÄ C H T N I S U N D R ATAT O U I L L E Die Popkultur verabsolutiert den Zeichencharakter des Essens. Im Medium des Pop geht es immer mehr um die Einbildung als um das Essen. Das Paradigma dafür bildet die sexuelle Auladung des Essens (wie bereits beim Phänomen Snackwave zu sehen). Auch etliche Filme spielen – mal kitschig, mal komisch – die 145 POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen 146 Kongruenz von Essen und Sex durch. Die meisten Filme über das Essen sind eben nicht Filme über das Essen, sondern Filme, die den Verweischarakter von Essbildern in Anspruch nehmen, sei es nun aus explizit erotischem oder psychoanalytischem Interesse heraus. Das gilt auch für die Popmusik: Jeder und jedem muss sofort klar sein, dass das »Milkshake« aus dem gleichnamigen Song von Kelis (2003) nicht eine Feier dieses nahrhaten und erfrischenden Getränks bedeutet. Unterstützt wird dies vom Musikvideo, das mit sexuellironischen Anspielungen überladen ist. Ein sehr gutes Beispiel für die totale Semiotik des Essens (und damit den zweiten Aspekt des eingebildeten Essens) ist der von Pixar (Disney) produzierte Animationsilm »Ratatouille« (2007). In ihm lernt man zunächst, dass jeder ein Foodie sein kann (so wie jede und jeder überall ein David-Bowie-Fan sein kann), sogar eine kleine Ratte. Die französische Wanderratte Rémy hat den absoluten Geruchs- und Geschmackssinn. Anders als seine Clanmitglieder mag er keinen Müll in sich reinfuttern, sondern schlemmt gerne reifen Weichkäse und andere auserlesene Speisen. Zufällig landet Rémy im legendären Pariser Restaurant Gusteau, dessen verstorbener Gründer, der Spitzenkulinariker Gusteau, mit dem Motto »Jeder kann kochen!« vor Jahrzehnten zu einiger Prominenz gelangte. Doch unterdessen ist das Gusteau zum Mythos erstarrt und genießt kein hohes Ansehen mehr bei Gastronomen. Seit der spitzzüngige Starkritiker Anton Ego den Nobelschuppen als »Touristenfalle« einstute und die Küche zwei der fünf Sterne abgeben musste, kämpt das verbleibende Kochpersonal einen aussichtslosen Zweifrontenkrieg gegen die Kritikermeinung einerseits und den ruchlosen, nur auf den Proit blickenden Küchenchef Skinner andererseits. Der soziale Aufsteiger Rémy jedoch weiß nichts von den Distinktionsritualen der gastronomischen Elite und der Semiotik des Essens. Rémy will ganz einfach nur kochen. »Ratatouille« ist zunächst eine amüsante, milde Satire auf den französischen Feinschmecker-Kult im Zeitalter der amerikanisch geprägten, globalen Popkultur. Essen bedeutet für Gusteau (französische) Kultur, Wissen und Macht. »Jeder kann kochen« ist die gastronomische Version des Versprechens auf Liberté, Égalité und Fraternité. Der windige Kapitalist Skinner dagegen setzt auf Burritos und Burger, die er unter dem Label Gusteau und mit GusteauFigürchen in alle Welt vermarkten will. Er verwandelt Gusteau in eine globale popkulturelle Marke und treibt so den Kult des originären Geschmacks und des individuellen Geschmackserlebnisses ad absurdum. Aber der Film zeigt mehr: Denn Rémy kann tatsächlich genial kochen, und als Anton Ego im Finale endlich zu speisen wünscht, setzt die Ratte dem Kritiker ein simples Ratatouille vor, ein »Bauerngericht«, wie die ebenso hübsche wie kluge Köchin Colette skeptisch meint. Doch es ist dieses Gericht, das den Kritiker auf einen Schlag vom Gastronomen in einen Fan, einen Foodie (zurück-)verwandelt. Als Parodie der Proust’schen Madeleine-Episode wird Anton Ego nämlich durch den Geschmack des gekochten Gemüses in seine Kindheit zurückversetzt; er erinnert sich unmittelbar daran, wie seine Mutter ihm genau dieses Gericht zubereitet hat. Der Stit fällt ihm aus der Hand: Der Diskurs hört auf, der Geschmack beginnt. Dieses erlösende Erlebnis hat der Kritiker sein ganzes Leben lang gesucht, vielleicht ist es sogar der eigentliche Grund, weshalb er überhaupt Kritiker geworden ist. Das Happy End zeigt Anton Ego erlöst vom Kritikerdasein, wie er als Stammgast in Rémys neuem Restaurant sitzt und genussvoll isst. Das Essen im Animationsilm »Ratatouille« parodiert also erstens das eingebildete Essen der national codierten, mythologisierten Haute Cuisine. Zweitens aber wird das eingebildete Essen auf einer anthropologischen Ebene gezeigt, nämlich als individualitätsstitende Verbindung von Aroma und Memoria. Das Essen meint nicht den Geschmack selbst, vielmehr entfaltet sich im Geschmack das Gedächtnis. Das Ratatouille auf dem Teller korrespondiert mit Erinnerungen, die erst im Moment des Essens überhaupt zum Bewusstsein kommen. Diese Eigenschat des Essens ist natürlich von der Literatur otmals bemerkt und beschworen worden. Dass ein massentauglicher Animationsilm darauf zurückgreit und die Nostalgie des Essens ins Zentrum der Handlung stellt, kann angesichts der Aktualität des Essens als Popkultur nicht überraschen. 148 I D E N T I TÄT: L A S A U C E À C O T É Das Essen zeigt kulturelle und religiöse Diferenzen auf. Ganze Systeme von sinnstitenden Regelwerken bauen auf dem eingebildeten Essen auf. Die sogenannten Kaschrut zum Beispiel regeln im Judentum unter anderem die Trennung von »milchigen« und »leischigen« Speisen oder die Bestimmung von zum Verzehr erlaubten und unerlaubten Tieren. Die Ernährung nach Religionsgesetz (und das Sich-darüber-Hinwegsetzen) ist ein wichtiger Bestandteil jüdischer Identität. Doch Essvorschriten kennen fast alle Religionen. Auch in säkularen Gesellschaten sind Ess-Normen und Ess-Tabus vorhanden und teilweise durch Nahrungsmittelgesetze juristisch festgeschrieben (in den meisten europäischen Ländern ist es z.B. nicht erlaubt, Insekten zum Verzehr zu verkaufen). Genuss und Ekel sind kulturell bedingt und historisch kontingent, wie man am unvergleichlichen Sushi-Boom bestens sehen kann; der durchschnittliche Amerikaner oder Europäer hätte sich vor 50 Jahren vor rohem Fisch auf dem Teller geekelt. Doch seit den 1990er Jahren ist Sushi zum Inbegrif des urbanen und gesunden Essens geworden. Wie Pizza ist Sushi heute allgegenwärtig, auch wenn die Überischung der Meere seinem Image in den letzten Jahren erheblich geschadet hat. An diesen allgemeinen Bemerkungen wird deutlich, dass man sich über das Essen religiös, kulturell, sozial und politisch deiniert. Abschließend möchte ich ein Beispiel präsentieren, das diese Deinitionsmacht des Essens und seine Instrumentalisierung als Identitätsmarker ausstellt POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen und gleichzeitig subversiv unterläut. Die von Jamie Elman und Elie Batalion geschriebene und produzierte, 2014 mit vier Folgen gestartete Webserie »YidLife Crisis« zeigt in jeder Folge eine Diskussion der beiden etwa 40-jährigen Freunde Chaimie (gespielt von Elman) und Leizer (Batalion). Der Film spielt in Montreal, meistens in einem Café oder einem Restaurant. Ein Element von Verfremdung liegt darin, dass die beiden Foodies auf Jiddisch miteinander reden, dem heute kaum mehr gesprochenen Idiom der osteuropäischen Juden (in dem es vor dem Holocaust freilich eine moderne Literatur, ein heaterleben, eine reichhaltige Presse – und Esskritiken gab). Claim der Webserie: »Sex, Drugs and Milk & Meat. In Yiddish«. Die Serie ist Teil einer faszinierenden Neuverhandlung säkularer jüdischer Identität in popkulturellen Medien, die man seit einigen Jahren beobachten kann und die vor allem musikalisch zu außerordentlich gelungenen Experimenten geführt hat. Der ebenfalls aus Montreal stammende musikalische Tausendsassa SoCalled produzierte 2007 etwa eine fantastische Hip-Hop-Variante des jiddischen Klassikers »Mein Schtetele Belz«, die auch als Titelsong von »YidLife Crisis« dient. Dass in diesem Zusammenhang das Essen im Mittelpunkt steht, überrascht nicht: Die Obsession für das traditionelle Essen teilt das Judentum mit den nach Nordamerika emigrierten Italienern – und auf vergleichbare Weise ging auch die Ikonisierung des als jüdisch empfundenen Essens in der Popkultur voran: Der Deli mit seinem Pastrami-Sandwich und den Pickles (paradigmatisch: Katz’s in New York) wurde zu einer Ikone säkularer jüdischer Identität in Nordamerika (Merwin 2008), teilweise auch bewusst ironisch zelebriert und inszeniert, ausgesprochen amüsant etwa im Caplansky’s Delicatessen in Toronto. Die vierte und bis jetzt letzte Folge von »YidLife Crisis« mit dem Titel »Bastards« spielt in einem griechischen Restaurant. Fetttriefendes Gyros-Fleisch dreht sich am Spieß, Tsatsiki wird auf Teller gehäut, mit Petersilie bestreut und zusammen mit krossen Pommes, rot leuchtenden Tomaten, weiß-violett schimmernden Zwiebeln und Fetakäse serviert. Chaimie sitzt gerade am Tisch und lässt es sich schmecken, als Leizer hereinkommt, sich zu ihm setzt und als Verräter beschimpt. Wie könne Chaimie griechisch essen, wo doch die Hellenisierung der Juden im 2. Jahrhundert n.u.Z. an der Entweihung des Zweiten Tempels und allgemein am Unglück der Diaspora schuldig gewesen sei! Im jüdischen Kontext sind ›Griechen‹ ot gleichbedeutend mit Nichtjuden an sich. Deshalb bringt Leizer eine Tüte mit Latkes (Kartofelpufer) mit, die er als authentisch jüdische Speise gegen die griechische Versuchung setzt. Doch Chaimie meint, Latkes besäßen keinen jüdischen, sondern slawischen Ursprung. Auch andere typisch jüdische Gerichte seien nur adaptiert, die Challa (der jüdische Hefezopf) eigentlich polnisch und Babka (eine Süßspeise) aus Dänemark. Daraus entwickelt sich eine verworrene Debatte, was denn eigentlich authentisch jüdisch sei. Am Schluss sind sich die beiden einig, weder die Beschneidung noch das Blut der jüdischen 149 150 Mutter sei für die Selbst-Identiizierung als Jude verantwortlich. Auch handele es sich keineswegs um eine Frage des Aussehens oder der Kleidung. Auf die tiefschürfende Frage »Wos sejnen mir, man?« gibt es schließlich nur die Antwort, dass man immer ein »Mamser«, also ein Bastard sei. Juden seien eben nicht nur Juden, aber auch nicht Nicht-Juden. Dass jede Kultur immer ein Gemisch aus anderen Kulturen darstelle, erkenne man am besten in Montreal: Bagel, Poutine (eine kanadische Spezialität mit Pommes Frites, Käse und Bratensauce) und das berühmte Montreal Smoked Meat bilden unter anderem die hybride Identität dieser Stadt im kanadischen Québec. Anhand des Essens thematisiert »YidLife Crisis« pointiert die Fiktion geschlossener und authentischer Leitkulturen. Die Inszenierung des Essens dient nicht nur der Bestätigung, sondern ebenso der Subversion fester Identitäten, ohne jedoch das jeweils Eigene und Speziische aufzugeben. Die Folge »Bastards« endet nicht zufällig damit, dass die beiden Freunde auf der Straße einem traditionell gekleideten, religiösen Juden »Gut Shabbes« wünschen. Die Rückbestände und Reste des Religiösen im säkularen Diskurs symbolisieren sich im eingebildeten Essen, wie auch die erste und sicherlich gelungenste Folge von »YidLife Crisis« witzig zeigt. Die Folge »Breaking the Fast« spielt am Jom Kippur, also am höchsten jüdischen Feiertag, an dem man von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang weder essen noch trinken darf, was selbst von nicht besonders religiösen Juden ot eingehalten wird. Die erste Einstellung zeigt – zum gesungenen Abendgebet – Leizer, wie er genüsslich eine Poutine in sich hineinstopt, und Chaimie, der ihm wutentbrannt dabei zusieht. Nach einiger Diskussion ordert jedoch auch Chaimie mit sarkastischem Ton eine Poutine bei der französischsprechenden Kellnerin. Um den Koscher-Vorschriten auf paradoxe Art gerecht zu werden, bestellt er »La sauce à coté« (»Die Sauce extra«), worauf ein kurzer Streit entbrennt. Denn man beindet sich nicht irgendwo, sondern im durchgehend geöfneten La Banquise, das berühmt für dutzende Arten von Poutine ist und übrigens auch Anthony Bourdain in seiner Serie »No Reservations« schon empfohlen hat. Die Kellnerin ist ofensichtlich beleidigt von Chaimies Forderung (»C’est n’est pas une poutine ça!«) und knallt ihm den Teller unsant und lediglich gegen einen Aufpreis von 50 Cents auf den Tisch. Obwohl bereits das Essen am Jom Kippur ein Brechen der religiösen Vorschriten darstellt und das gesamte Lokal in unkoscheren Fetten förmlich schwimmt, besteht Chaimie auf seiner Trennung von »leischiger« Bratensauce einerseits und »milchigem« Käse andererseits. Im eingebildeten Essen stellen sich Identitäten performativ her. Chaimies Festhalten an dieser religiös vollkommen entleerten und absurden Diferenz stellt eine Subversion der identitätspolitischen Macht des Essens dar. Es ist eine individuelle Geste, die mit den Koscher-Regeln kreativ-ironisch umgeht. Natürlich gibt es Gemeinschaten mit ihren Traditionen, entscheidend ist jedoch, was jede und jeder daraus macht. Zwar ist ›jüdisches Essen‹ bloß eine Art Matrix, eine Konstruktion, doch als jüdisches Essen genießen kann man es trotzdem, auch wenn es kein jüdisches Essen ist. Die Einbildung des Essens wird damit nicht aufgehoben, aber es entsteht ein Spiel damit, eine Ironie. Chaimies Poutine mit der separierten Sauce: Ein Bild für das Essen als Popkultur, in dem der Konstruktionscharakter des Essens erkannt und verhandelt wird und damit die Kritik am eingebildeten Essen selbst enthalten ist. ◆ POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen L I T E R AT U R BARTHES, ROLAND (2010): Beefsteak und Pommes frites 1951, in: Ders.: Mythen des Alltags, vollständige Ausgabe, aus dem Französischen von Horst Brühmann. Berlin, S. 100-102. ◆ BARTHES, ROLAND (1961): Pour une psycho-sociologie de l’alimentaire contemporaine, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 16/5, S. 977-986. ◆ BARTSCH, SILKE (2010): Jugendesskultur – Von der Tischgemeinschat zum »Dauersnacken«?, in: Nicole M. Wilk (Hg.): Esswelten. Über den Funktionswandel der täglichen Kost. Frankfurt a. M., S. 159-174. ◆ BELASCO, WARREN (Hg.) (2008): Food. he Key Concepts. Oxford u.a. ◆ CAMPANINI, ANTONELLA/SCHOLLIERS, PETER/WILLI- (Hg.) (2011): Manger en Europe. 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