E SSAY
DAS
EINGEBILDE T E
E SSE N
Caspar Battegay
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S
zene 1: Tief im schottischen Hochland betritt ein Alien, das aussieht wie
Scarlett Johansson, ein Café und bestellt ein Stück Schokoladenkuchen.
Dieser Kuchen liegt perfekt ausgeleuchtet auf dem Teller. Das Bild aus Jonathan
Glazers Film »Under the Skin« (2013) wirkt wie eine Aufnahme aus einem
Hochglanz-Kochbuch. Nach einigen Augenblicken trennt Scarlett mit der Gabel
vorsichtig ein Stück des Kuchens ab und führt es langsam zu ihrem rot geschminkten Mund, schluckt es – und spuckt es unter den perplexen Blicken
der anderen Cafégäste hustend wieder auf den Teller. Aliens können nicht essen.
Szene 2: Man sieht ein großes, rosa gebratenes Steak, ein Mann schneidet
sich ein Stück davon ab und spießt es auf die Gabel. Die Kamera fährt hoch,
und man sieht das Gesicht des Mannes, der das Fleisch nachdenklich betrachtet,
es schließlich seufzend in den Mund steckt, genüsslich zerkaut und mit einem
Schluck Rotwein nachspült. Das edle Restaurant aus »he Matrix« (1999) ist
jedoch nur ein virtuell-neuronales Konstrukt: »I know this steak doesn’t exist. I
know that when I put it in my mouth he Matrix is telling my brain that it is
juicy and delicious.«
Szene 3: In der amerikanischen Doku-Serie »he Mind of a Chef« (PBS seit
2012) bereitet der dänische Starkoch René Redzepi in seinem Kopenhagener
Kochlabor eine Art nordeuropäische Version einer japanischen Ramen-Suppe
zu. Aufmerksam verfolgt seine Arbeit David Chang, selbst ein erfolgreicher
Koch und Gründer der New Yorker Momofuku-Restaurant-Gruppe. Anstatt
japanischer Ramen-Nudeln nimmt Redzepi verschiedene Arten von Zwiebeln,
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ S . 130–151 ◆ © transcript
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
Blüten und Bärlauch, am Schluss fügt er ein gekochtes Fasanen-Ei und eine
komplex hergestellte Brühe hinzu. Chang meint: »his is a good looking dish,
man. his is beautiful … seriously beautiful. hat would be delicious.«
Diese drei Szenen zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven eine Struktur,
die ich das eingebildete Essen nennen möchte. Meine hese lautet: Das Essen
ist zu einem Pop-Essen geworden. Streetfood-Boom, Spitzengastronomie, Essen
im TV, veganer Ernährungshype, Koch-Apps und Apps für Food-Fotographie
– all diese Diskurse und Phänomene weisen auf eine Abstraktion des Essens hin,
die im Medium der Popkultur stattindet. Keineswegs nur weil mit »Snack
Of« seit 2014 auch MTV eine Essens-Show produziert und »Vice« mit
»Munchies« schon seit einigen Jahren im Geschät ist, sondern weil mittlerweile selbst herkömmliche Sender wissen, dass Gespräche früher »um neue
Platten, heute ums Essen« kreisen: »Das neue angesagte Restaurant, Trendessen,
die In Locations. Wer sich mit Essen auskennt, ist kein Spießer oder Snob mehr,
sondern ein Hipster.« (Funkhaus Europa, WDR)
Das »Kulturthema Essen« (Wierlacher u.a. 1993) ist in der akademischen
Relexion ebenfalls ein gern analysiertes »soziales Totalphänomen« (Wierlacher
1987: 13). Als »zentraler Imaginations-, Erinnerungs-, Bild- und Diskursgenerator« (Kimmich/Schahadat 2012: 8) bildet es den Gegenstand der sogenannten
»Food Studies«. Eine sehr diferenzierte Soziologie des Essens untersucht die
gesellschatlich-historische Konstruktion von Essgewohnheiten sowie das
Wechselspiel von Identitäten (Gender, Klasse, Ethnie etc.) und Essen (vgl. z.B.
Germov/Williams 2004). Zudem ist die ethisch-moralische Frage des Fleischverzehrs zu einem wichtigen Bestandteil einer sich akademisch formierenden
Philosophie der Tier-Mensch-Beziehung geworden.
Angesichts dieser forschungs- und gesellschatspolitischen Brisanz erstaunt es,
dass zwar einige kleinräumige Analysen zum Essen in der Popkultur vorliegen,
etwa zum TV-Kochen (Posch 2010) oder zur Fast Food-Industrie, aber keine
umfassende Studie zum Essen als Popkultur. Weder scheint Pop ein »key concept« des Essens zu sein (vgl. Belasco 2008) noch sind im Pop-Diskurs befriedigende Überlegungen zum Essen angestellt worden. Zwar beschätigt sich etwa
die neue spanische Ess-Zeitschrit »Fuet. Food and its Peripheries« in ihrer
zweiten Ausgabe (hema »Icons«) mit der symbolischen Bedeutung des Essens
in der Popkultur, doch bleibt der Ansatz unsystematisch und oberlächlich.
Auch der vorliegende Essay bietet keine umfassende heorie des Essens als Popkultur, aber er möchte zumindest eine Vorarbeit leisten, indem er Aspekte des
eingebildeten Essens skizziert: erstens (pop-)kulturhistorische, zweitens semiotische und drittens identitätspolitische Aspekte.
1. Essen und Kochen bilden »das derzeit avancierteste Unterscheidungsmerkmal der westlichen Gegenwart« (Rüther 2014). Essen wird nicht nur kennerhat zubereitet und verspeist, sondern fotograiert, geilmt, gepostet, geshared
und geliked. Natürlich wurden Speisen schon immer ästhetisch angerichtet.
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Neu ist spätestens seit Anfang der 2010er Jahre, dass nicht nur Köche, Hobbyköche und kulinarisch gebildete Individuen diese Inszenierungen mehr oder
minder professionell bewerten und beschreiben. Mit dem massenhat autretenden Foodie gibt es nun auch eine popkulturelle Figur, die die Einheit von
Zubereitung, Verzehr und medialer Relexion aus dem relativ spezialisierten
Diskurs der Gastronomie austrennt und daraus eine das ganze Leben umfassende Performance macht.
Parallel dazu geht die Verbreitung und Diferenzierung der sozialen Netzwerke voran, in denen das Posten von Food-Fotos ungeahnte Prominenz erlangt
hat. Im Unterschied zum klassischen Gourmet ist der Foodie kein Repräsentant
des Bildungsbürgertums. Wie etwa der Skater ist er eine Figur der Popkultur;
steht für den einen das Skateboard, steht für den anderen das Essen im Mittelpunkt des Lifestyles. Der Foodie-Lifestyle wird in Essen-Shows oder auch privat
ausagiert (wobei ein Merkmal des Essens als Popkultur ist, dass sich die Grenzen
zwischen öfentlich und privat in den sozialen Netzwerken verwischen). Das
Essen an sich stellt für den Foodie ein großes Imaginäres dar, das als universeller
Zusammenhang eine weit ausgespannte Folie für soziale Kontakte, Reisen, Mode
und sogar sexuelle Ausrichtungen und Familienmodelle bietet (Otte 2014).
Der Foodie ist auch eine Figur, an der die Konvergenz von Spitzengastronomie,
Fast Food und sozialen Medien ablesbar ist: So hat Eddie Huang (Jahrgang
1982, Absolvent einer Law School) zwar 2009 den taiwanesischen Sandwichladen
Baohouse in Manhattan eröfnet, wirklich bekannt geworden ist er jedoch als
Autor des Vice-Videoblogs »Fresh of the Boat« (später in »Huang’s World«
umbenannt) sowie mit Hip-Hop-Videos, Twitter-Updates und ständiger Interaktion auf Facebook und Co. Huang inszeniert sich in Stil und Sprache des
Hip-Hops als Teil einer multikulturellen Einwanderergeneration. Sein autobiograisches Buch trägt den Titel »Fresh of the Boat. A Memoir« (2013), es erzählt
am Leitmotiv des Essens die Geschichte seiner aus Taiwan emigrierten Familie.
Bezeichnend sind die Episoden seines Blogs, in denen Huang nach China und
Taiwan reist. Das Essen dient hier mehr als immer wiederkehrendes hema,
das eine Suche nach Identität zwischen Asien und den USA grundiert, aber
auch narrativ die verschiedenen Bemerkungen und Storys der Videos zusammenhält. In seinem Blog wie in seinem Buch und seinen Restaurant-Projekten
skizziert Huang eine ganz eigene Geograie des Essens, die sich vor allem zwischen verschiedenen urbanen Zentren der USA und China autut. Er tritt in der
Pose eines Hip-Hop-Künstlers auf, sein eigentlicher Act aber ist das Essen – und
besonders das Besprechen und Zeigen des Essens.
2. Die zu Beginn angeführten Filmbeispiele illustrieren die anthropologische Tatsache, dass Essen immer primär ein eingebildetes ist. In Glazers ScienceFiction-Meditation stellt der Kuchen ein Sinnbild des materiellen Menschseins
dar; das Alien stellt sich dieses vor und scheitert am physiologischen Vorgang des
Schluckens. Doch der andächtig inszenierte Kuchen verweist noch auf etwas
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
Bedeutenderes: Als Gebackenes mit Crèmeschichten und eingelegten Kirschen
stellt der Kuchen ein recht komplexes Gebilde dar, das einen hohen Zivilisationsgrad anzeigt. Das Bild zeigt gerade nicht die physiologische Not der Ernährung,
sondern den zwecklosen Genuss. Das Alien will eigentlich lernen zu genießen.
Dies heißt aber vor allem: Es möchte lernen, die menschliche Ordnung der
Zeichen zu lesen, eine Ordnung der Einbildung, die im Kuchen zum Ausdruck
kommt. Für Roland Barthes, der als einer der wenigen heoretiker des 20. Jahrhunderts dem Essen die nötige Aufmerksamkeit geschenkt hat, ist das Essen ein
Kommunikationssystem und ein Korpus verschiedener Zeichen, eine eigentliche Sprache, die es zu lesen gilt (Barthes 1971: 979). In einem legendären Text
hat er etwa das »Biteck« mit Pommes frites als »das alimentäre Zeichen des
französischen Wesens« interpretiert (Barthes 1961: 102).
Gerade das Steak scheint zunächst weniger artiiziell als der Kuchen. Als
blutiges Fleisch hat es vermeintlich direkten Anteil an der Authentizität des
Lebendigen. Doch die kleine Szene in »he Matrix« zeigt ein Steak, das ganz
wie der Kuchen ebenfalls nur ein richtig gelesener Code der Matrix ist. Dass
die Natürlichkeit des Steaks nur eingebildet ist, tut aber, wie »he Matrix« zeigt,
seinem wortreich zu beschreibenden Genuss keinen Abbruch, ja stellt gerade die
Voraussetzung des Genusses als kultureller Fähigkeit dar. Essen hat immer eine
materielle und eine semiotische Seite. Wie aber im Pop die Semiotik die Materialität obsolet werden lässt, möchte ich in diesem Essay später am Beispiel des
Animationsilms »Ratatouille« vorführen.
3. Jedes Essen wird von der Ahnung des Hungers begleitet. Hunger und
Unterernährung werden zwar gut verdrängt, sind aber real. Laut des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen leiden zurzeit 805 Millionen
Menschen an Unterernährung. Darum wirken die 1600 Dänischen Kronen
(rund 215 Euro), die ein Menu für eine Person in René Redzepis Kopenhagener
Restaurant Noma kostet, unwillkürlich obszön (das Noma wurde seit 2010
wiederholt zum »world’s best restaurant« gekürt.) Köche wie Redzepi, die sich
bewusst auf lokale Essens-Traditionen beziehen, würden auf eine solche Grundsatzkritik wohl entgegnen, dass gerade ihre Küche dazu beiträgt, sich der Bedingungen, Grenzen und Dimensionen der Ernährung bewusst zu werden. Nicht
umsonst lautet der Titel des ersten großen von Redzepi herausgegebenen Buches
»Zeit und Ort in der nordischen Küche«. Essen sei »niemals nur ›Essen‹«,
sondern Teil eines Systems von »Verantwortung, Nachhaltigkeit, Politik und
Kultur«, wie es im Vorwort des Buches heißt (Eliasson 2011: 9).
Jenseits dieser grundsätzlichen und wichtigen hematisierung einer Ethik des
Essens in der postindustriellen Welt, möchte ich der Frage nachgehen, warum
sich global ausgerichtete, westliche und urbane Menschen plötzlich in einer
Weise mit lokalen Ernährungstraditionen und vermeintlich natürlichen Produkten identiizieren, die weit über den traditionellen Begrif des ›terroir‹ oder
der Verbindung von Essen und Identität oder Essen und Ethik hinausgeht (vgl.
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Um besser zu verstehen, wie das System Gastronomie sich im Pop-Universum
transformiert, lohnt ein Blick auf die Karriere von Anthony Bourdain, den
1956 geborenen ehemaligen Küchenchef verschiedener berühmter Restaurants
in Manhattan. Seit seinem Besteller »Kitchen Conidential. Adventures in the
Culinary Underbelly« (2000) ist der exzentrische, mit seinem früheren exzessiven Drogenkonsum kokettierende Bourdain eine ikonische Medienigur, die
sich in verschiedenen weiteren Büchern und TV-Shows selbst produziert, was
ihm sogar schon eine Parodie in den »Simpsons« eingebracht hat (»he Food
Wife«, 5/23, 2011). In der CNN-Serie »Anthony Bourdain: Parts Unknown«
(seit 2013) tritt die Figur Bourdain vor allem als Reisejournalist für außergewöhnliche Destinationen auf; in »Mind of a Chef« – von Bourdain produziert –
ist sie gar nicht mehr zu sehen, sondern als ironisch-sonore Erzählstimme nur
noch zu hören. Im Unterschied etwa zum einiges jüngeren Briten Jamie Oliver, der
trotz vielfältiger medialer Formate immer noch irgendwie mit der Zubereitung
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
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etwa Campanini u.a. 2011). Seit einiger Zeit werden nationale, kulturelle und
religiöse Zuschreibungen des Essens und das damit verbundene bewusste ZeitNehmen digital und tendenziell ironisch inszeniert, auf privater und professioneller Ebene gleichermaßen in Events.
Ein Event stellt nicht nur Redzepis Inszenierung des Nordischen dar, etwa
durch die Nutzung bislang unbekannter Grassorten inklusive der darauf kriechenden Schnecken. Um ein Event handelt es sich auch, wenn das jährlich stattindende Londoner Geiltefest Kochkurse und Vorträge zur jüdischen Küche
organisiert, Preise für die beste Falafel oder das beste koschere Restaurant verteilt
und online ein Kochbuch vertreibt, um damit durch das Essen säkulare jüdische
Identität performativ zu bestätigen. Ebenso ist es ein Event, wenn ein paar Studenten auf einem Berliner Markt »biologische« Früchte einkaufen, diese einmachen und den ganzen Vorgang in sozialen Netzwerken abbilden, als ginge es
um eine angesagte Party.
Diese unterschiedlichen Events haben gemeinsam, dass die Inszenierung
des Essens im Medium der Popkultur nicht mehr vom eigentlichen Essen zu
trennen ist. Im Pop-Essen ist das Element des Pop ofensichtlich sogar wichtiger als das Element des Essens. Die Events beinhalten aber auch eine gewisse
Portion Ironie, der Vorgang der Authentiizierung durch Essen ist nie ganz
ernsthat gemeint, sondern umfasst immer eine spielerische Komponente.
Genau darin liegt der politische Gehalt des Pop-Essens. Die soziale Distinktionslinie der Ernährung kommt vor allem durch das Moment ihrer Inszenierung
zustande: Die Bewohner des sozialen Rands verschlingen mit bewusstlosem
Appetit, was die (Super-)Märkte anbieten. Die globalen Oberschichten dagegen
wissen nicht nur, worauf sie Appetit haben, sie machen dieses Wissen auch zu
einem Event, bei dem Ironie und Identiizierung in eins fallen.
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
von Essen in Verbindung bleibt, ist Bourdain weder nur ein besonders hipper
Koch noch ein Spezialist für gute Ernährung. Vielmehr führt er als allwissender
Erzähler das Essen an sich als großes Imaginäres vor. Vom Koch ist Bourdain zu
einer sinngebenden Instanz und universalen Identiikationsigur des Foodie geworden – in gewisser Weise zum David Bowie des Essens.
Noch augenfälliger wird diese Tendenz bei Casting-Shows wie »Top Chef«
(Bravo, seit 2006) oder bei der u.a. von Bourdain und Nigella Lawson entwickelten Show »he Taste« (in den USA auf ABC, in Deutschland auf Sat. 1 seit
2013). Ganz wie das Supermodel oder das talentierteste Gesangstalent wird in
diesen Formaten der Top-Koch ermittelt, wobei die Grenze zwischen Laien
und professionellen Gastronomen einerseits zementiert, andererseits als durchlässig gezeigt wird. »Koch« meint zumindest im TV längst nicht mehr den
Gastronom und auch nicht den Gastrosophen, der – um mit dem deutschen
Esskritiker Jürgen Dollase zu sprechen – in angestrengt geistvoller Weise eine
»kulinarische Intelligenz« einübt (Dollase 2006), sondern den Star, der das Essen und sich im Essen inszeniert und dafür den Foodie als seinen Bewunderer
im Publikum benötigt.
Das Prinzip von »he Taste« besteht darin, Gerichte als Mikro-Kompositionen auf einem Löfel anzurichten. Damit gleicht es oberlächlich betrachtet
Dollases Prinzip der »Geschmacksschule« (Dollase 2005). Aber im Fernsehen
zählt eben gerade nicht der Geschmack (Der Claim der Sendung lautet vollkommen irreführend: »Nur der Geschmack zählt!«). Zwar essen im Studio einige
Leute die Gerichte wohl wirklich, viel wichtiger für das Funktionieren der Sendung aber sind das Image der Köche, das pornograische Bild der Speisen und
die pointierten Beschreibungen der Juroren, den eigentlichen Chef-Foodies. In
»he Taste« geht es paradoxerweise nur um eine Vorstellung von Geschmack,
genauer um ein eingebildetes Essen. Das Bild auf dem Löfel ist letztlich nichts
anderes als das Steak aus »he Matrix«, ob es real oder nur eine Vorstellung ist,
bleibt unentschieden und spielt für das Publikum auch keine Rolle.
Diese Unbestimmbarkeit führt auch zum Image zurück, das ein ausgezeichneter Spitzenkoch wie Redzepi an den kulinarischen Kultstätten dieser Welt
durch tausend Medienberichte verstärkt erschat. Ob das Gericht im alltäglichumgangssprachlichen Sinn schmeckt, ist dort nicht die Frage. Viel eher muss
danach gefragt werden, welche Assoziationen und Emotionen es weckt und ob
die abstrakten Kontexte erkannt werden, in die es eingebettet ist, also wie es
beschrieben wird und für was es ein Bild sein soll. Erst wenn Koch und Foodie
in der ambivalenten Inszenierung von Authentizität und Ironie zusammenspielen, ist der Event des Essens geglückt.
Dieses Pop-Essen bleibt keineswegs auf die sogenannte Spitzengastronomie
beschränkt. Im Gegenteil fällt eine wechselseitige Durchlässigkeit verschiedener Preisklassen auf. Dies ist bereits am Raumdesign von Restaurants ersichtlich. Im Pariser L’Atelier de Joël Robuchon (aktuell mit zwei Michelin-Sternen
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POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
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bewertet, mit mehreren Klonen in London, Hongkong, Las Vegas etc.) sitzen
die mehrheitlich casual gekleideten Gäste teilweise an einer Bar. Das Room
Design gleicht eher einem Club als einem klassischen Sternerestaurant. Umgekehrt betreiben Schnellimbisse einen beträchtlichen Aufwand, als qualitativ
hochwertig wahrgenommen zu werden. Beim anhaltenden Trend zum ›GourmetBurger‹ z.B. wird die Herkunt des Fleisches gerne angegeben (was früher nur
die gehobene Gastronomie praktizierte). Man kann von einer Gastronomisierung des Fast Food sprechen, die sich in der ot sorgfältigen Gestaltung der
Räume oder in bewussten Nutzungskonzepten architektonisch wertvoller Gebäude spiegelt.
Die Markthalle Neun in Berlin Kreuzberg (ein historischer Bau von 1890)
etwa ist in dieser Hinsicht zum markanten In-Ort für Foodies geworden: Das
internationale, jugendliche und zahlreich aufmarschierende Publikum des
Streetfood hursday feiert dort das Essen und Trinken, indem es von Stand zu
Stand streit. Es handelt sich um Fast Food, doch der in der Markthalle Neun
stattindende, sehr spezialisierte Diskurs über das Essen wäre vor einigen Jahren
nur in Institutionen wie dem erwähnten L’Atelier de Robuchon möglich gewesen. So inden in der Markthalle Neun auch Events wie die Cheese Berlin statt,
gemäß Eigenmarketing »seit 2012 eine der bedeutendsten Veranstaltungen
rund um handwerklich hergestellten Käse in Deutschland«. Diese Events stellen
das Essen wie bei herkömmlichen Gastronomie-Fachmessen ins Zentrum, inszenieren es jedoch in der Art eines Popkonzertes.
Analog zur Pop-Musik – die nicht bloß Musik ist, sondern ein »Zusammenhang« von verschiedenen Medien, Life-Events, Moden, Posen, Geographie,
Politik und sozialen Praktiken (Diederichsen 2014: XI) – ist das Essen im globalen Medienkontext zum Pop-Essen geworden, zu einem eingebildeten Essen
im doppelten Sinn: zu einem viele Medien und Formate umfassenden Distinktionsdiskurs einerseits, andererseits zu einer nur in der Inszenierung bestehenden
Praxis. Das heißt auch: Vielleicht sind wir alle schon viel näher an der bulimischen Figur von Scarlett Johanssons Alien, als die omnipräsenten Inszenierungen
des Essens vermuten lassen.
Diese Feststellung soll nicht im banalen Sinn Ressentiments gegenüber der
gehobenen Küche ausdrücken – dass ›man da ja nicht satt‹ werde und ›alles
Chichi‹ sei. Stattdessen möchte ich damit die hese unterstreichen, dass die in
verschiedenen Medien und Formaten zu beobachtende Hyperbolisierung des
Essens keineswegs zu einer Verbesserung der realen Ernährungssituation, also
nicht breiten- und tiefenwirksam zu einer gesünderen, bewussteren und umweltfreundlicheren, kurz ethischeren Ernährung führt, sondern zu einer allgemeinen Verschlechterung. Auf allen Kanälen hat das eingebildete Essen das reale
vollkommen übernommen, und in der Folge verkehrt sich die propagierte gesellschatliche Verbesserung des Essens ins Gegenteil. Einerseits wird ein gesundes/
ethisches Essen, andererseits die Pathologie des Essens inszeniert.
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
Zu den Protagonisten eines bloß vermeintlich gesunden/ethischen Essens
zählt etwa der vegane Medienkoch Attila Hildmann. Hildmann benutzt als
kommerziell erfolgreiche Strategie seine Lebensgeschichte, die er als Konversion vom übergewichtigen Jugendlichen zum sexy durchtrainierten Veganer immer wieder neu erzählt. Seine Bücher tragen Titel wie »Vegan for Fun« (2011)
und »Vegan for Fit« (2012), sie verbinden ethisches Ernährungshandeln mit
einem popkulturellen Versprechen zur Selbstoptimierung qua veganer Ernährung. Dass es dem von Hildmann geforderten Essen natürlich weder um Ethik
noch um Essen, sondern um die ökonomisch verwertbare Inszenierung von
Ethik und eine möglichst funktionale Selbsteinfügung in die Ideologie von
»Fun« und »Fit« geht, muss nicht näher erläutert werden.
Für die pathologische Seite des eingebildeten Essens kann der Begrif
›Snackwave‹ stehen: »In brief: snackwave is a term we’ve coined to describe the
current Internet phenomenon of young women and teenage girls expressing an
obsession with snack foods«, resümieren Hazel Cills und Gabrielle Noone im
Online-Magazin he Hairpin. Wenn etwa Jennifer Lawrence öfentlich ihre
Liebe zu Pizza bekennt oder Miley Cyrus auf ihrer Bangerz Tour auf einem gigantischen Hotdog über die Bühne schwebt, vor allem aber wenn junge Frauen
Selies posten, wie sie gerade in einen Cheeseburger beißen, dann soll das
›Snackwave‹ heißen.
Das damit bezeichnete Verhalten ist ofensichtlich ambivalent. Einerseits
stellt die Selbstinszenierung mit Burger, Chips, Wurst etc. eine selbstbewusste,
pop-feministische Abwehrreaktion gegenüber gesellschatlichen Zwängen zu
vermeintlich gesunder Ernährung und dünnen Körpern dar. Andererseits entsprechen die Protagonistinnen von Snackwave ja gerade dem bestimmenden
Schönheitsideal (›skinny white women‹), weshalb Cills und Noone dieses Verhalten auch als »aesthetic ilter for self-deprecation« interpretieren, als nur
pseudo-selbstbewusstes Als-ob-Verhalten: als ob mit einem medial bestimmten
Selbstbild souverän umgegangen würde. Snackwave kann deshalb tendenziell
als magersüchtige Repräsentationsweise gedeutet werden. Bezeichnend ist
denn auch, dass Snackwave aus dem Bereich der Ernährung in den der Mode
durchgesickert ist. Vermehrt tauchen hippe Kleidungsstücke für schlanke junge Frauen auf, die mit Pizzastücken, Salami, Wafeln oder ähnlichem bedruckt
sind – ein prägnantes Beispiel für jenes eingebildete Essen der Popkultur, das
den maskulinen Ich-esse-weil-ich-es-kann-Gesten Hildmanns oder Bourdains
entgegengesetzt ist.
S E M I O T I K : G E DÄ C H T N I S U N D R ATAT O U I L L E
Die Popkultur verabsolutiert den Zeichencharakter des Essens. Im Medium des
Pop geht es immer mehr um die Einbildung als um das Essen. Das Paradigma
dafür bildet die sexuelle Auladung des Essens (wie bereits beim Phänomen
Snackwave zu sehen). Auch etliche Filme spielen – mal kitschig, mal komisch – die
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POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
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Kongruenz von Essen und Sex durch. Die meisten Filme über das Essen sind
eben nicht Filme über das Essen, sondern Filme, die den Verweischarakter von
Essbildern in Anspruch nehmen, sei es nun aus explizit erotischem oder psychoanalytischem Interesse heraus. Das gilt auch für die Popmusik: Jeder und
jedem muss sofort klar sein, dass das »Milkshake« aus dem gleichnamigen
Song von Kelis (2003) nicht eine Feier dieses nahrhaten und erfrischenden
Getränks bedeutet. Unterstützt wird dies vom Musikvideo, das mit sexuellironischen Anspielungen überladen ist.
Ein sehr gutes Beispiel für die totale Semiotik des Essens (und damit den
zweiten Aspekt des eingebildeten Essens) ist der von Pixar (Disney) produzierte
Animationsilm »Ratatouille« (2007). In ihm lernt man zunächst, dass jeder
ein Foodie sein kann (so wie jede und jeder überall ein David-Bowie-Fan sein
kann), sogar eine kleine Ratte. Die französische Wanderratte Rémy hat den absoluten Geruchs- und Geschmackssinn. Anders als seine Clanmitglieder mag er
keinen Müll in sich reinfuttern, sondern schlemmt gerne reifen Weichkäse und
andere auserlesene Speisen. Zufällig landet Rémy im legendären Pariser Restaurant Gusteau, dessen verstorbener Gründer, der Spitzenkulinariker Gusteau,
mit dem Motto »Jeder kann kochen!« vor Jahrzehnten zu einiger Prominenz
gelangte. Doch unterdessen ist das Gusteau zum Mythos erstarrt und genießt
kein hohes Ansehen mehr bei Gastronomen. Seit der spitzzüngige Starkritiker
Anton Ego den Nobelschuppen als »Touristenfalle« einstute und die Küche
zwei der fünf Sterne abgeben musste, kämpt das verbleibende Kochpersonal
einen aussichtslosen Zweifrontenkrieg gegen die Kritikermeinung einerseits
und den ruchlosen, nur auf den Proit blickenden Küchenchef Skinner andererseits. Der soziale Aufsteiger Rémy jedoch weiß nichts von den Distinktionsritualen der gastronomischen Elite und der Semiotik des Essens. Rémy will ganz
einfach nur kochen.
»Ratatouille« ist zunächst eine amüsante, milde Satire auf den französischen Feinschmecker-Kult im Zeitalter der amerikanisch geprägten, globalen
Popkultur. Essen bedeutet für Gusteau (französische) Kultur, Wissen und
Macht. »Jeder kann kochen« ist die gastronomische Version des Versprechens
auf Liberté, Égalité und Fraternité. Der windige Kapitalist Skinner dagegen
setzt auf Burritos und Burger, die er unter dem Label Gusteau und mit GusteauFigürchen in alle Welt vermarkten will. Er verwandelt Gusteau in eine globale
popkulturelle Marke und treibt so den Kult des originären Geschmacks und des
individuellen Geschmackserlebnisses ad absurdum.
Aber der Film zeigt mehr: Denn Rémy kann tatsächlich genial kochen, und
als Anton Ego im Finale endlich zu speisen wünscht, setzt die Ratte dem Kritiker ein simples Ratatouille vor, ein »Bauerngericht«, wie die ebenso hübsche
wie kluge Köchin Colette skeptisch meint. Doch es ist dieses Gericht, das den
Kritiker auf einen Schlag vom Gastronomen in einen Fan, einen Foodie (zurück-)verwandelt. Als Parodie der Proust’schen Madeleine-Episode wird Anton
Ego nämlich durch den Geschmack des gekochten Gemüses in seine Kindheit
zurückversetzt; er erinnert sich unmittelbar daran, wie seine Mutter ihm genau dieses Gericht zubereitet hat. Der Stit fällt ihm aus der Hand: Der Diskurs hört auf, der Geschmack beginnt. Dieses erlösende Erlebnis hat der Kritiker sein ganzes Leben lang gesucht, vielleicht ist es sogar der eigentliche Grund,
weshalb er überhaupt Kritiker geworden ist. Das Happy End zeigt Anton Ego
erlöst vom Kritikerdasein, wie er als Stammgast in Rémys neuem Restaurant
sitzt und genussvoll isst.
Das Essen im Animationsilm »Ratatouille« parodiert also erstens das
eingebildete Essen der national codierten, mythologisierten Haute Cuisine.
Zweitens aber wird das eingebildete Essen auf einer anthropologischen Ebene
gezeigt, nämlich als individualitätsstitende Verbindung von Aroma und Memoria. Das Essen meint nicht den Geschmack selbst, vielmehr entfaltet sich im
Geschmack das Gedächtnis. Das Ratatouille auf dem Teller korrespondiert mit
Erinnerungen, die erst im Moment des Essens überhaupt zum Bewusstsein
kommen. Diese Eigenschat des Essens ist natürlich von der Literatur otmals
bemerkt und beschworen worden. Dass ein massentauglicher Animationsilm
darauf zurückgreit und die Nostalgie des Essens ins Zentrum der Handlung
stellt, kann angesichts der Aktualität des Essens als Popkultur nicht überraschen.
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I D E N T I TÄT: L A S A U C E À C O T É
Das Essen zeigt kulturelle und religiöse Diferenzen auf. Ganze Systeme von
sinnstitenden Regelwerken bauen auf dem eingebildeten Essen auf. Die sogenannten Kaschrut zum Beispiel regeln im Judentum unter anderem die Trennung von »milchigen« und »leischigen« Speisen oder die Bestimmung von
zum Verzehr erlaubten und unerlaubten Tieren. Die Ernährung nach Religionsgesetz (und das Sich-darüber-Hinwegsetzen) ist ein wichtiger Bestandteil
jüdischer Identität.
Doch Essvorschriten kennen fast alle Religionen. Auch in säkularen Gesellschaten sind Ess-Normen und Ess-Tabus vorhanden und teilweise durch Nahrungsmittelgesetze juristisch festgeschrieben (in den meisten europäischen
Ländern ist es z.B. nicht erlaubt, Insekten zum Verzehr zu verkaufen). Genuss
und Ekel sind kulturell bedingt und historisch kontingent, wie man am unvergleichlichen Sushi-Boom bestens sehen kann; der durchschnittliche Amerikaner
oder Europäer hätte sich vor 50 Jahren vor rohem Fisch auf dem Teller geekelt.
Doch seit den 1990er Jahren ist Sushi zum Inbegrif des urbanen und gesunden Essens geworden. Wie Pizza ist Sushi heute allgegenwärtig, auch wenn die
Überischung der Meere seinem Image in den letzten Jahren erheblich geschadet
hat. An diesen allgemeinen Bemerkungen wird deutlich, dass man sich über
das Essen religiös, kulturell, sozial und politisch deiniert.
Abschließend möchte ich ein Beispiel präsentieren, das diese Deinitionsmacht des Essens und seine Instrumentalisierung als Identitätsmarker ausstellt
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
und gleichzeitig subversiv unterläut. Die von Jamie Elman und Elie Batalion geschriebene und produzierte, 2014 mit vier Folgen gestartete Webserie »YidLife
Crisis« zeigt in jeder Folge eine Diskussion der beiden etwa 40-jährigen Freunde
Chaimie (gespielt von Elman) und Leizer (Batalion). Der Film spielt in Montreal, meistens in einem Café oder einem Restaurant. Ein Element von Verfremdung liegt darin, dass die beiden Foodies auf Jiddisch miteinander reden, dem
heute kaum mehr gesprochenen Idiom der osteuropäischen Juden (in dem es
vor dem Holocaust freilich eine moderne Literatur, ein heaterleben, eine
reichhaltige Presse – und Esskritiken gab). Claim der Webserie: »Sex, Drugs
and Milk & Meat. In Yiddish«.
Die Serie ist Teil einer faszinierenden Neuverhandlung säkularer jüdischer
Identität in popkulturellen Medien, die man seit einigen Jahren beobachten
kann und die vor allem musikalisch zu außerordentlich gelungenen Experimenten geführt hat. Der ebenfalls aus Montreal stammende musikalische Tausendsassa SoCalled produzierte 2007 etwa eine fantastische Hip-Hop-Variante
des jiddischen Klassikers »Mein Schtetele Belz«, die auch als Titelsong von
»YidLife Crisis« dient. Dass in diesem Zusammenhang das Essen im Mittelpunkt steht, überrascht nicht: Die Obsession für das traditionelle Essen teilt
das Judentum mit den nach Nordamerika emigrierten Italienern – und auf vergleichbare Weise ging auch die Ikonisierung des als jüdisch empfundenen Essens
in der Popkultur voran: Der Deli mit seinem Pastrami-Sandwich und den Pickles
(paradigmatisch: Katz’s in New York) wurde zu einer Ikone säkularer jüdischer
Identität in Nordamerika (Merwin 2008), teilweise auch bewusst ironisch zelebriert und inszeniert, ausgesprochen amüsant etwa im Caplansky’s Delicatessen
in Toronto.
Die vierte und bis jetzt letzte Folge von »YidLife Crisis« mit dem Titel »Bastards« spielt in einem griechischen Restaurant. Fetttriefendes Gyros-Fleisch
dreht sich am Spieß, Tsatsiki wird auf Teller gehäut, mit Petersilie bestreut und
zusammen mit krossen Pommes, rot leuchtenden Tomaten, weiß-violett schimmernden Zwiebeln und Fetakäse serviert. Chaimie sitzt gerade am Tisch und
lässt es sich schmecken, als Leizer hereinkommt, sich zu ihm setzt und als Verräter
beschimpt. Wie könne Chaimie griechisch essen, wo doch die Hellenisierung der
Juden im 2. Jahrhundert n.u.Z. an der Entweihung des Zweiten Tempels und allgemein am Unglück der Diaspora schuldig gewesen sei! Im jüdischen Kontext
sind ›Griechen‹ ot gleichbedeutend mit Nichtjuden an sich. Deshalb bringt
Leizer eine Tüte mit Latkes (Kartofelpufer) mit, die er als authentisch jüdische
Speise gegen die griechische Versuchung setzt. Doch Chaimie meint, Latkes besäßen keinen jüdischen, sondern slawischen Ursprung. Auch andere typisch jüdische Gerichte seien nur adaptiert, die Challa (der jüdische Hefezopf) eigentlich
polnisch und Babka (eine Süßspeise) aus Dänemark. Daraus entwickelt sich
eine verworrene Debatte, was denn eigentlich authentisch jüdisch sei. Am Schluss
sind sich die beiden einig, weder die Beschneidung noch das Blut der jüdischen
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Mutter sei für die Selbst-Identiizierung als Jude verantwortlich. Auch handele
es sich keineswegs um eine Frage des Aussehens oder der Kleidung. Auf die tiefschürfende Frage »Wos sejnen mir, man?« gibt es schließlich nur die Antwort,
dass man immer ein »Mamser«, also ein Bastard sei. Juden seien eben nicht
nur Juden, aber auch nicht Nicht-Juden. Dass jede Kultur immer ein Gemisch
aus anderen Kulturen darstelle, erkenne man am besten in Montreal: Bagel,
Poutine (eine kanadische Spezialität mit Pommes Frites, Käse und Bratensauce)
und das berühmte Montreal Smoked Meat bilden unter anderem die hybride
Identität dieser Stadt im kanadischen Québec.
Anhand des Essens thematisiert »YidLife Crisis« pointiert die Fiktion geschlossener und authentischer Leitkulturen. Die Inszenierung des Essens dient
nicht nur der Bestätigung, sondern ebenso der Subversion fester Identitäten, ohne
jedoch das jeweils Eigene und Speziische aufzugeben. Die Folge »Bastards« endet
nicht zufällig damit, dass die beiden Freunde auf der Straße einem traditionell
gekleideten, religiösen Juden »Gut Shabbes« wünschen.
Die Rückbestände und Reste des Religiösen im säkularen Diskurs symbolisieren sich im eingebildeten Essen, wie auch die erste und sicherlich gelungenste
Folge von »YidLife Crisis« witzig zeigt. Die Folge »Breaking the Fast« spielt
am Jom Kippur, also am höchsten jüdischen Feiertag, an dem man von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang weder essen noch trinken darf, was selbst
von nicht besonders religiösen Juden ot eingehalten wird. Die erste Einstellung
zeigt – zum gesungenen Abendgebet – Leizer, wie er genüsslich eine Poutine in
sich hineinstopt, und Chaimie, der ihm wutentbrannt dabei zusieht. Nach einiger Diskussion ordert jedoch auch Chaimie mit sarkastischem Ton eine Poutine
bei der französischsprechenden Kellnerin. Um den Koscher-Vorschriten auf paradoxe Art gerecht zu werden, bestellt er »La sauce à coté« (»Die Sauce extra«),
worauf ein kurzer Streit entbrennt. Denn man beindet sich nicht irgendwo,
sondern im durchgehend geöfneten La Banquise, das berühmt für dutzende
Arten von Poutine ist und übrigens auch Anthony Bourdain in seiner Serie
»No Reservations« schon empfohlen hat.
Die Kellnerin ist ofensichtlich beleidigt von Chaimies Forderung (»C’est
n’est pas une poutine ça!«) und knallt ihm den Teller unsant und lediglich gegen
einen Aufpreis von 50 Cents auf den Tisch. Obwohl bereits das Essen am Jom
Kippur ein Brechen der religiösen Vorschriten darstellt und das gesamte Lokal
in unkoscheren Fetten förmlich schwimmt, besteht Chaimie auf seiner Trennung von »leischiger« Bratensauce einerseits und »milchigem« Käse andererseits. Im eingebildeten Essen stellen sich Identitäten performativ her. Chaimies
Festhalten an dieser religiös vollkommen entleerten und absurden Diferenz
stellt eine Subversion der identitätspolitischen Macht des Essens dar. Es ist eine
individuelle Geste, die mit den Koscher-Regeln kreativ-ironisch umgeht.
Natürlich gibt es Gemeinschaten mit ihren Traditionen, entscheidend ist
jedoch, was jede und jeder daraus macht. Zwar ist ›jüdisches Essen‹ bloß eine
Art Matrix, eine Konstruktion, doch als jüdisches Essen genießen kann man es
trotzdem, auch wenn es kein jüdisches Essen ist. Die Einbildung des Essens
wird damit nicht aufgehoben, aber es entsteht ein Spiel damit, eine Ironie.
Chaimies Poutine mit der separierten Sauce: Ein Bild für das Essen als Popkultur, in dem der Konstruktionscharakter des Essens erkannt und verhandelt
wird und damit die Kritik am eingebildeten Essen selbst enthalten ist.
◆
POP. Kultur und Kritik ◆ Heft 7 Herbst 2015 ◆ Caspar Battegay ◆ Das eingebildete Essen
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