Hauptbeiträge
Sportwiss 2009 · 39:318–329
DOI 10.1007/s12662-009-0076-5
Online publiziert: 27. November 2009
© Springer Medizin Verlag 2009
Volker Lippens · Volker Nagel
Fachbereich Bewegungswissenschaft, Fakultät für Erziehungswissenschaft,
Psychologie und Bewegungswissenschaft, Universität Hamburg, Hamburg
Gleichgewichtsleistungen
im Handlungsbezug
Entwurf einer Forschungsmethodik zur
Bestimmung der Gleichgewichtsleistung
Geschickte Gleichgewichtsleistungen
beim Bewegen in Sport und Alltag wer
den auch im Motoriklabor nicht zum
Selbstzweck erbracht, sondern sind im
mer in den aktuellen Handlungsbezug
eingebunden. Sie sind weder das Ziel be
wusster, zielgerichteter Handlungen noch
das Ergebnis ungewussten, quasiautoma
tisierten Verhaltens (Groeben & Scheele,
1993, S. 141–145; vgl. Lippens, 2002, S. 167)1.
Auch eine Standwaage, z. B. auf dem
Schwebebalken in einem olympischen
Wettkampf oder als isolierte Gymnastik
übung im täglichen Fitnessprogramm,
wird aus einer handlungstheoretischen
Sichtweise nur sinnvoll sein, wenn der je
weilige Bedeutungszusammenhang mit
gedacht wird. Derartige Bewegungsor
ganisationen lassen sich angemessener
als Affordanzextraktion konzeptionie
ren (Riccio & Stoffregen, 1988; vgl. auch
Nitsch & Munzert, 1997, S. 50–172) und un
terliegen im jeweiligen Koordinationsmo
dus den spezifischen Zwängen von Per
son, Aufgaben und Umgebungsbedin
gungen (Newell, 1984, 1996; Newell & Jor
dan, 2007; vgl auch Nitsch, 1985; Hossner,
1995, S. 230). Innerhalb der funktionalen
Bedingungen spielt die Regulation des dynamischen Systemgleichgewichts (vgl. auch
1
Die von Groeben und Scheele 1992 vorgeschlagene Strukturierung der Bewusstseinsstufen in motorischen Lernprozessen halten wir
gerade für diese – in der sportwissenschaftlichen Umgangssprache oft als automatisch
bezeichneten – Kontrollprozesse für hilfreich
(vgl. Lippens, 1997, S. 62–64).
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Trousil & Dvir, 1983; Smart & Smith, 2004,
S. 342) in gerätegebundenen Sportarten
wie Roll, Eisund Schnee oder Wasser
sport, aber auch in situativen Sportarten
wie Ballsportarten oder im bewegten All
tag eine besondere Rolle (vgl. Jendrusch &
Brach, 2003, S. 184–189).
1 Grundannahmen eines
modernen Konzepts der
Gleichgewichtsleistung
Derartige Bewegungsauf und anforde
rungen2 hat Nitsch (2004, S. 15 f.) auf der
Ebene der Handlung als situativen Prozess beschrieben und den Bewertungsas
pekt der „jeweiligen Konstellationen von
Person, Umwelt und Aufgabenfaktoren“
als Handlungskompetenz bezeichnet (ebd.,
S. 16). Unter Verweis auf Olivier (1997)
verstehen wir Gleichgewichtsleistungen
nicht als Ausdruck einer koordinativen
Fähigkeit (vgl. auch Bachman, 1961; Sin
ger, 1968; Hasenberg, 1997; Büsch et al.,
2003; Yaggie & Campbell, 2006; Olivier et
al., 2008, S. 168–170; Lippens et al., 2008;
2
Mit dieser Umschreibung wollen wir der Komplexität des Konzeptes „affordances“ gerecht
werden: „The affordances of the environment
are what it offers the animal, what it provides or
furnishes, either for good or ill“ (Gibson, 1979,
S. 127). Die in der Literatur übliche Übersetzung
von „affordance“ mit Handlungsangebot (z. B.
Zimmer, 1991) soll hier angesichts der neueren
„constraint-led“-Konzepte (Davids et al., 2008)
modifiziert werden. Anforderungen sind die
einschränkenden und Aufforderungen sind die
erweiternden Angebote zum Bewegen.
Mersmann et al., 2009; VoelckerRehage
& Lippens, 2009). Stattdessen bevorzu
gen wir das Konzept einer Strategie-Adaptation (Mechling, 2003; vgl. Mulder, 2005,
S. 172–174). Dabei verfolgen wir weniger
einen informationsverarbeitenden An
satz wie Ackerman (1992) sowie Schunn
und Reder (2001), die sich u. E. zu sehr
auf eher kognitiv orientierte Experimente
zur simulierten Luftverkehrskontrolle be
schränken. Gut gelernte motorische Adap
tationen sind als funktionale Teilsyste
me in eine (aufgaben)spezifische Infor
mationsBewegungsKopplung integriert
(Bootsma, 1998; vgl. auch Mitra, 2004,
S. 28 f.). So kann die Gleichgewichts
kontrolle das Lösen von wahrnehmungs
abhängigen, übergeordneten Aufgaben in
der aktuellen Handlungssituation erleich
tern (vgl. Stoffregen et al., 2000, 2007;
Smart & Smith, 2001, S. 341 f.). Die Über
legungen von Riccio und Stoffregen (1988)
unter einem systemdynamischen Ansatz
zu den Grenzen eines Bewegungsmög
lichkeitsraumes bei unterschiedlichen In
tentionen erscheinen für unseren Gegen
standsbereich angemessener (vgl. auch
Mitra & Fraizer, 2004, S. 5). Die Arbeits
gruppe konnte damit spezielle Toleranz
und Grenzregionen von synergetischen
Fußgelenks und Hüftgelenksstrategien
je nach übergeordneten Handlungszie
len aufzeigen (z. B. Vogel in der Luft be
obachten bzw. über den Zaun gucken).
Dies trifft sich mit den eher methodisch
orientierten Überlegungen von Nagel
(1997, S. 50–58) zu vermaschten Rekon
struktionen von Wahrnehmungs-, Interaktions-, Denk-, Gefühls- und Bewegungsmustern im SituationsIntentionsKon
text beim Bewegen in Sport und All
tag (vgl. auch Maki & MacIlroy, 2007,
S. 1279: „central set“). Geschickte Gleich
gewichtsleistungen als Indikator für an
gemessene Bewegungskompetenz ver
weisen dann auf Passungen zwischen
mehr intern orientierten (PersonUmge
bung; PersonAufgabe) und mehr extern
orientierten (AufgabeUmgebung) Bedin
gungsfaktoren des Bewegens. Derartige
Überlegungen sind unter Bezug auf Ne
well (1984, 1996) auch in neueren Arbei
ten zur ökologischen Analyse von Aufga
ben und Bewegungen (vgl. Burton & Da
vis, 1996; Davis & Broadhead, 2007) oder
zur Dynamik des Fertigkeitserwerbs zu
finden (vgl. Araújo et al., 2004; Davids et
al., 2005, 2008).
Aufgabe einer Vermittlung, die sich um
eine motorische Schlagfertigkeit im Hand
lungsbezug bemüht (Nagel, 1997, S. 6; Hir
tz, 2007, S. 212; vgl. Handford et al., 1997),
wäre dann das dialogische Provozieren
von bedeutsamen Gleichgewichtserleb
nissen im lernrelevanten, fehlerfreund
lichen Grenzbereich der Stabilität (vgl.
Adolph et al., 2000; Riach & Starkes, 1993;
McCollum & Leen, 1989). Dazu gehen
wir von einem aktiven, produktiv Reali
tät verarbeitenden Subjekt im Sinne von
Hurrelmann aus (1983, 2006; vgl. auch
Lippens, 1992, S. 5–10). Dessen erlangte
Bewegungskompetenz manifestiert sich
auch in der Gleichgewichtsleistung. Das
nachsinnende Aufarbeiten dieser Erleb
nisse zu Erfahrungen (Nagel & Wulkop,
1992, S. 61; vgl. auch Lippens, 2002) soll
te sich im entsprechenden Bewegungs
gefühl3 beim gelungenen Bewegen, wenn
alles im Lot ist, in der subjektiven Eigen
sicht niederschlagen (z. B. Schnee, Gleit,
Kantengefühl oder Wasser und Bootsge
fühl; vgl. Roth, 1996; Lippens, 1995, 2004,
2009). Das manifeste Bewegungsverhal
ten des realitätserzeugenden Subjektes
(vgl. auch Beer, 2002, 2007, S. 93 ff.) kann
nur aus einer Fremdsicht gemessen wer
3 Unter Bewegungsgefühl soll hier keine koordinative (Supra-)Fähigkeit, sondern ein übergeordnetes Konzept in der Eigensicht von Sportlern verstanden werden, das aus den Inhalten
ihrer subjektiven Theorien, wenn alles stimmt,
abgeleitet werden kann (Lippens, 1995, 2009).
den. Dazu sind ökologische Versuchsan
ordnungen notwendig, die die Vielfalt des
jeweiligen Alltags und Handlungsbezugs
angemessen berücksichtigen sollten (vgl.
Geurts et al., 1991, S. 10 „multivarious na
ture of daily life performance“; de Vreede
et al., 2005, 2006; Taube et al., 2008a).
2 Traditionelle Untersuchungen
der Gleichgewichtskontrolle
Die Bedeutung einer gekonnten Gleichge
wichtsleistung für das motorische Lernen
und die motorische Kontrolle ist unbe
stritten. Ayres (1984) vermutet sogar, dass
die Schwerkraftsicherheit in der Kindesent
wicklung mehr Bedeutung als die Mutter
KindBeziehung hat: „Die Schwerkraftsi
cherheit ist das Fundament, auf welchem
wir unsere zwischenmenschlichen Bezie
hungen aufbauen“ (S. 108). So bewirkt die
Gleichgewichtsregulation keine posturale
Kontrolle als Selbstzweck (vgl. Stoffregen
et al., 2007, S. 135). Sie ist immer in ent
sprechenden Handlungsmustern für das
spezifische Bewältigen von Situationen
eingebunden und interagiert mit über
geordneten Aufgaben (vgl. Geurts et al.,
1991). Auch innerhalb des Paradigmas
einer traditionellen Gleichgewichtsfor
schung (s. unten: „quietstance“) wäre das
SichNichtBewegen demnach schon ein
übergeordnetes Ziel.
Im Unterschied zum Ressourcen
konzept (Woollacott & ShumwayCook,
2002; vgl. auch Mitra & Fraizer, 2004,
S. 17) müssen Zusatzaufgaben nach die
ser Sichtweise die Gleichgewichtsleistung
nicht zwangsläufig negativ beeinflussen,
sondern können sie sogar positiv anregen
(u. a. visuell: Stoffregen et al., 1999, 2000;
akustisch: Deviterne et al., 2005; taktil: Ri
ley et al., 1999; präzise: Balasubramaniam
et al., 2000; vgl. auch Oullier et al., 2004,
S. 176 f.). So lassen sich zu Recht Beden
ken am QuietstanceParadigma vorbrin
gen, in dem die untersuchten Versuchs
personen während der Messung mög
lichst wenig schwanken sollen (vgl. Fea
ring, 1925; Riley et al., 1999; Stoffregen
et al., 2007, S. 135). Wir gehen davon aus,
dass die Gleichgewichtsleistung nicht au
tonom produziert, sondern als Teil eines
spezifischen BewegungsWahrnehmungs
Systems aktuell modifiziert werden kann
(vgl. auch Mitra, 2004, S. 28 f.). Unter die
sem Gesichtspunkt wollen wir in der Lite
ratur vorherrschende Forschungsansätze
(Abschn. 2.1 „moving room“; 2.2 „moving
platform“; 2.3 „multitasking“; 2.4 „mul
tijoint“ resp. „-link“) vorstellen und an
schließend darauf aufbauend eine eigene
Forschungsstrategie entwickeln (Kap. 3
Ökologische Untersuchung der Gleichge
wichtsleistung).
2.1 Ruhiger Stand im
bewegten Raum?
Lee hat in den siebziger Jahren mit sei
nen Untersuchungen eines sich bewe
genden Raums („swinging“ resp. „moving
room“) den dominierenden Einfluss der
visuellen Informationen auf die Gleichge
wichtsleistung im ruhigen Stand nachge
wiesen (Lishman & Lee, 1973; Lee & Aron
son, 1974; Lee & Lishman, 1975; vgl. auch
Bertenthal & Bai, 1989; Schöner, 1991).
Versetzt man die Wände und Decke eines
Raums in bewusst nicht wahrnehmbare
Schwingungen, dann synchronisieren
die Personen ihre Körperschwankungen
mit der visuellen Umhüllung („swinging
room“). Kinder (ab 9–14 Monaten). Auch
Erwachsene werden in ihrer Wahrneh
mung empfindlich gestört, wenn die vi
suellen Informationen einen gewissen
Schwellenwert überschreiten (vgl. auch
Paulus et al., 1989). Vor allem Verände
rungen in der Peripherie (Wände und
Decke) interpretieren die Versuchsteil
nehmer leicht als Eigenbewegung („mo
ving room“), wie z. B. beim Stolpern, und
beantworten sie mit einer gegenläufigen
Ausgleichsbewegung, die zum erhöhten
Schwanken bzw. zum Fallen führen kann.
Die Abweichung von der vertikalen Kör
perachse des ruhigen Stands wird als Feh
ler bewertet, der den Einfluss der visu
ellen Information auf die Gleichgewichts
leistung eindrucksvoll demonstriert.
Das in diesem Ansatz vorherrschende
Prinzip des ruhigen Stands („quiet
stance“) kritisieren u. a. Ehrenfried et al.
(2003) und interpretieren die Befunde
unter dem Konzept der Raum und Be
wegungsdiskrepanz neu („space and mo
tion discomfort“; vgl. auch Gatev et al,
1999, S. 926; van Emmerik & van Wegen,
2000; Schieppati et al., 2002; van Emme
rick, 2007). Die Arbeitsgruppe bewer
tet das Schwanken nicht als Fehler, son
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dern als exploratives Verhalten (vgl. auch
Krishnamoorthy et al., 2005; Oullier et al.,
2006, S. 35), das den aktuellen Zustand
z. B. der Unterstützungsfläche prüfen soll
(vgl. Fraizer & Mitra, 2008a, S. 439: „per
formatory“ resp. „exploratory elements of
sway“). Stimmen visuelle und vestibuläre
bzw. somatosensorische Informationen4
nicht überein, wenn sich die Wände bewe
gen, kann erhöhte Bewegung um die Ver
tikale helfen, die Relevanz der jeweiligen
Informationen innerhalb einer transmo
dalen oder multisensorischen Integration
zu evaluieren (vgl. Ivanenko et al., 1999;
Blümle et al., 2006; Meredith, 2002; Clark
& Riley, 2007). So konnten schon Larish
und Andersen (1995) nachweisen, dass
aktive Bewegung bei der räumlichen Ori
entierung vorteilhaft ist (vgl. Clark et al.,
1989).
Die Arbeitsgruppe um Mergner (ders.
et al., 1997, 2003; Maurer et al., 2001, 2006)
postuliert mit Hilfe ihrer Simulationen
und Modellrechnungen anhand eines
einfachen inversen Pendels (vgl. Hsu et
al., 2007, S. 3034) eine rückgekoppelte,
doppelte Koordinationstransformation,
die es ermöglicht, den Anteil der eigenen
Bewegungen herauszufiltern. In einem
abwärtsgerichteten Prozess wird anhand
der vestibulären Informationen die Stel
lung des Kopfes im Raum, der proprio
zeptiven Informationen die Stellung des
Kopfes zum Rumpf sowie die Stellung des
Rumpfes zu den Extremitäten und letzt
lich der taktilen Informationen die Stel
lung der Füße zur Unterstützungsfläche
verrechnet und ein entsprechendes Refe
renzsystem aufgebaut („kinematic down
channeling: body in space“). Umgekehrt
erfolgt in einem aufwärtsgerichteten Pro
zess anhand der exterozeptiven und pro
priozeptiven Informationen über die Bo
denreaktionskräfte die Berechnung der
Körperbewegungen auf der Unterstüt
zungsfläche („kinetic upchanneling: bo
dy on support“). Mittels dieser Transfor
mationen können „der kinematische Zu
stand der visuellen Szene“ geprüft (vgl.
auch Blümle, 2003, S. 4f.) und die geeig
nete posturale Kontrollstrategie ausge
4
Wie diese unterschiedlichen sensorischen
Informationen systematisch experimentell im
Labor untersucht werden können, zeigen Rieman et al. (2003, S. 93–94).
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wählt werden (Maurer et al., 2006). Die
visuomotorische Perzeption im Sinne
von Lee (vgl. Lee & Lishman, 1975) und
die klassische vestibuläre Gravizeption
nach Mittelstädt (1998) müssen um eine
somatosensorische Gravizeption (Mau
rer et al., 2000, 2001, 2006) erweitert wer
den. Mit dem Konzept der Koordinaten
transformation lassen sich auch unter
schiedliche Befunde zur Gleichgewichts
messung mit Berührungsaufgaben, die
aufgrund der geringen Kräfte keine zu
sätzliche mechanische Unterstützung er
möglichen können, umfassender neu in
terpretieren („light touch“: z. B. Holden et
al., 1987; Jeka et al., 1997; Riley et al., 1999;
Kiemel et al., 2002; Oie et al., 2002; Na
gano et al., 2006): Die aufwärtsgerichte
ten Prozesse der Informationen aus den
Fußsohlen können mit taktilen Informa
tionen aufgrund einer zusätzlichen Kon
taktaufnahme mit der Umgebung, z. B.
aus den Fingerspitzen, sinnvoll erweitert
werden (vgl. Jeka, 1998; Hsu et al., 2007,
S. 3034; Schieppati et al., 2002, S. 209).
Dabei spielen die verschiedenen Angriffs
punkte (Kopf, Rumpf, Extremitäten) für
die taktilen Informationen eine besonde
re Rolle (Jeka, 1997; Slijper & Latash, 2000;
Nagano et al., 2006). Krishnamoorthy et
al. (2002, S. 72) erklären die unterschied
liche Wirksamkeit zusätzlicher taktiler
Information an den unterschiedlichen
Körperpunkten mit direktem (Kopf, Na
cken) vs. indirektem (Finger) Bezug zur
vertikalen Körperachse: Der sensorische
Referenzpunkt der Fingerspitzen muss
mit der Stellung der Hand im Verhältnis
zum Rumpf abgeglichen werden (eben
da, S. 77).
Das „movingroom“Paradigma er
fährt in neueren Untersuchungen mit
vom Computer generierten visuellen
Displays eine Renaissance, um den spe
zifischen Einfluss der unterschiedlichen
Anteile an den sensorischen Informatio
nen experimentell zu bestimmen. Auf
der Grundlage von KalmanFiltern ent
wickeln u. a. Jeka, Oie und Kiemel (2008)
adaptive Neugewichtungsmodelle („re
weighting“) der multisensorischen Infor
mationen, um internale und externale Stö
rungen funktional kompensieren zu kön
nen (vgl. auch Allison et al., 2006; Carver
et al., 2005, 2006). Die Modelle haben auf
der Ebene der posturalen Kontrolle eine
starke Affinität zum Modell der antizipa
tiven Verhaltenssteuerung von Hoffmann
(1993; vgl. Kuo, 2005, S. S237: „direct feed
back vs. indirect forward resp. Estimati
on“). Die unterschiedlichen posturalen
Rückmeldungen werden grundsätzlich
in einem Vorwärts und einem inversen
Modell verarbeitet (vgl. Hossner & Kün
zell, 2003).
2.2 Externe Störungen auf einer
bewegbaren Kraftmessplattform
In den achtziger Jahren unternahm Nash
ner in seiner Arbeitsgruppe mit dem Kon
zept der bewegten Plattform („moving
platform“) eine systematische experimen
telle Untersuchung der posturalen Reak
tionen auf unterschiedliche Bedingungen.
Die Versuchsanordnung wurde geräte
technisch zu einer computergestützten
dynamischen Posturographie (SMART
Balance Master; ® NeuroCom) weiterent
wickelt. Sie erlaubt dann mit dem senso
rischen Organisationstest (SOT; Shum
wayCook und Horak, 1986) die Anteile
der jeweils an der Gleichgewichtsleistung
beteiligten Sinnesinformationen (extero
und interozeptiv) isoliert und in ihrer In
teraktion sowie in ihrer Funktion für die
posturale Kontrolle zu überprüfen (MCT:
„motor control test“ bzw. ADT: „adapta
tion test“). Zusammen mit Horak konn
te Nashner auf der beweglichen Kraft
messplatte (KMP) unterschiedliche Mus
kelsynergien als Antwort auf externe Stö
rungen nachweisen (Horak & Nashner,
1986). Dazu wurde einerseits die Unter
stützungsfläche translatorisch bzw. rota
torisch für die Versuchspersonen unvor
hersehbar bewegt, andererseits die beglei
tenden sensorischen Informationen durch
die sich mitbewegende visuelle Einhül
lung manipuliert. Anhand von Aufzeich
nungen der Muskelpotenziale ließen sich
so in EMGStudien unterschiedliche Ak
tivitätsmuster nachweisen, die die Auto
ren aufgrund der zeitlichen Verhältnisse
weder als einfache posturale Reflexe (>50–
60 ms) noch als komplexe bewusste Kor
rekturen (<200 ms) interpretieren konn
ten. In der Folge werden sie als posturale
(reaktive) Synergien bzw. Strategien be
zeichnet (vgl. Turvey & Carello, 1996).
Bei kleinen Störungen bzw. ausreichend
großen Unterstützungsflächen zeigen sich
Zusammenfassung · Abstract
Fußgelenksynergien, bei kleineren Un
terstützungsflächen bzw. größeren Stö
rungen Hüftgelenksynergien (vgl. Park
et al., 2004). Zu Beginn der Anpassungs
prozesse an die externen Störungen auf
der bewegten Plattform konnten Ho
rak und Nashner (1986) auch suspenso
rische Synergien im Kniegelenk nachwei
sen (vgl. Nijhuis et al., 2007; Alexandrov
et al., 2005). Überschreiten die Störungen
einen Schwellenwert, der das Halten des
Körperschwerpunkts über der aktuellen
Unterstützungsfläche („limits of stabili
ty“) unmöglich macht, lassen sich kom
plexere Strategien wie Schrittsynergien
(Nashner, 1993; Maki & McIlroy, 1999; Ho
rak & Kuo, 2000) beobachten. Diese ge
hen letztlich in Abstützsynergien mit der
Hand über, um die Unterstützungs bzw.
Abstützfläche angemessen zu vergrößern
(Maki & McIlroy, 2007). Barela, Jeka und
Clark (1999) haben eindrucksvoll nachge
wiesen, dass schon Kleinkinder diese In
formation beim Einüben des aufrechten
beidbeinigen Stands nutzen und im Laufe
des Entwicklungsprozesses von einer Stra
tegie der mechanischen Unterstützung zu
der einer erweiterten sensorischen Inte
gration in ihrem internen posturalen Mo
dell wechseln (vgl. auch Metcalfe & Clark,
2000).
Nashner und McCollum (1985) kon
struieren aus den Bewegungsmöglich
keiten im Fuß, Hüft und Kniegelenk ei
nen dreidimensionalen Möglichkeitsraum,
der die potenziellen Kombinationen der
Synergien beschreibt. Riccio und Stoffre
gen (1988) erweitern diese Modellierung
um die Dimension der individuellen In
tention von Handlungszielen (z. B. Vo
gel in der Luft beobachten bzw. über den
Zaun gucken) und konnten damit spe
zielle Toleranz und Grenzregionen der
Gleichgewichtsleistung aufzeigen. Das
Konzept der Synergien wurde in der Fol
ge von Bardy für experimentelle Studien
in seiner Arbeitsgruppe aufgenommen,
um unterschiedliche Koordinationsmodi
als emergente Phänomene bei der Gleich
gewichtskontrolle unter sich ändernden
Umgebungsbedingungen nachzuweisen
(2004; vgl. Bardy et al., 1999, 2002, 2007).
In neueren Arbeiten wird das Konzept
der Gleichgewichtssynergien auch auf ru
higes Stehen ohne Störungen erweitert
(vgl. Gatev et al., 1999; Creath et al., 2005).
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Volker Lippens · Volker Nagel
Gleichgewichtsleistungen im Handlungsbezug. Entwurf einer
Forschungsmethodik zur Bestimmung der Gleichgewichtsleistung
Zusammenfassung
Dynamische Gleichgewichtsleistungen sind
weder das Ziel bewusster Handlungen noch
das Ergebnis ungewussten Verhaltens (vgl.
Groeben & Scheele, 1993). Sie lassen sich angemessener als Affordanzextraktion konzeptionieren und unterliegen im jeweiligen Koordinationsmodus den spezifischen Zwängen
von Person-, Aufgaben- und Umgebungsbedingungen (Newell, 1984, 1996; Nitsch, 1995).
Eine geschickte Gleichgewichtsleistung wird
so nie nur für sich erbracht, sondern ist in
den funktionalen Zusammenhang der jeweiligen übergeordneten Ziele eingebunden. Im
Unterschied zum Ressourcenkonzept müssen Zusatzaufgaben in dieser Sichtweise die
Gleichgewichtsleistung nicht zwangsläufig
negativ beeinflussen, sondern können diese
sogar positiv anregen (Stoffregen et al., 1999–
2007). So lassen sich zu Recht Bedenken an
einem Paradigma vorbringen, in dem die untersuchten Versuchspersonen während der
Messung möglichst wenig schwanken sollen.
Wir gehen davon aus, dass die posturale Kontrolle nicht autonom, sondern als Teil eines
spezifischen Informations-Bewegungs-Systems integriert funktioniert (Bootsma, 1998).
Vor diesen theoretischen Annahmen werden
einige in der Literatur vorherrschende Forschungsansätze vorgestellt und eine eigene,
ökologischere Forschungsstrategie entworfen.
Schlüsselwörter
Gleichgewichtsleistung · Supraposturale
Aufgabe · Handlungsbezug · Strategie-Adaptation · Langevin-Modell
Balance performance related to activity. Proposed research
method to determine balance performance
Abstract
Dynamic balance performance is neither the
objective of conscious actions nor the result
of unwitting behavior (cf. Groeben & Scheele,
1993). It is more appropriately conceptualized as an affordance extraction and in each
mode of coordination is subject to the specific demands of personal, task-related, and environmental conditions (Newell, 1984, 1996;
Nitsch, 1995). Skilled balance performance
is thus never achieved for its own sake but
is rather integrated in the functional interrelationship of activity goals. Unlike the concept of resources, additional tasks as viewed
from this perspective do not necessarily decrease balance performance, but can even
serve as positive motivation. Therefore, it is
justifiable to raise doubts about a paradigm
where the test subjects are required to sway
as little as possible during measurement. We
assume that postural control is not autonomous, but rather functional as an integrated part of a specific system of motion information (Bootsma, 1998). With these theoretical assumptions in mind, some of the research approaches that abound in the literature are presented and our own research
strategy that is intended to be more ecological is outlined.
Keywords
Balance performance · Suprapostural task ·
Activity-related · Strategy adaptation ·
Langevin model
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Zudem lassen sich komplexere Kontroll
strategien („multijoint“ bzw. „multilink
strategies“) als nur Fußgelenk bzw. Hüft
gelenksynergien beobachten (Schieppati
et al., 2002, S. 209; Hsu et al., 2007, S. 3033;
Nijhuis et al., 2007; DannaDosSantos et
al., 2008; vgl. auch Latash, 2008, S. 170–
174). Park et al. (2004) thematisieren he
terogene Rückkopplungsschleifen, die vi
suelle, vestibuläre und propriozeptive In
formationen enthalten und komplexere
Kontrollstrategien aufgrund supraspinaler
Anteile ermöglichen (S. 424; vgl. auch Ja
cobs & Horak, 2007; Lockhart & Ting,
2007). Gatev et al. (1999) untersuchen
„feedforward“Strategien beim ungestör
ten Stehen und schlagen ein zweistufiges
Modell der adaptiven gleichzeitigen pos
turalen Kontrolle vor (S. 926): Ein konti
nuierlicher Prozessor hält Möglichkeiten
zur Kompensation von Feedbackprozes
sen (reaktive Synergien) vor. SRProzes
sor („stimulus response“) stellt aufgrund
von sensorischen Anhaltspunkten und/
oder internen motorischen Befehlen vor
programmierte Antworten (antizipative
Synergien: „postural adjustments“) be
reit (vgl. Jeka & Kiemel, 2004, S. 123–139;
Krishnamoorthy & Latash, 2005).
2.3 Doppel- und
Mehrfachaufgaben im
komplexen Alltag
Im Rahmen des Doppelaufgabenansatzes
wurde in den 1990er Jahren eine Vielzahl
von Experimenten durchgeführt, die das
Phänomen der kognitiven Ressourcen bei
der Lösung von Gleichgewichtsproble
men thematisierten (vgl. Woollacott &
ShumwayCook, 2002; Barra et al., 2006;
Fraizer & Mitra, 2008). Die Autoren ge
hen davon aus, dass Mehrfachtätigkeiten
insgesamt um einen begrenzten zentra
len Ressourcenpool konkurrieren müssen
(Kahneman, 1973; vgl. auch Navon & Go
pher, 1979; Wickens, 2005) und daher die
jeweiligen Einzelaufgaben nur schlechter
gelöst werden können (Norman & Borow,
1975; Glass et al., 2000).5 LundinOlsson
5
Zu fragen bliebe, ob bei dieser Diskussion des
Doppelaufgabenparadigmas nicht ein veraltetes Konzept zugrunde liegt, das in der Nachfolge von Allport (1980) eine wesentliche Erweiterung gefunden hat (vgl. z. B. Neumann, 1993;
Manzey, 1993; Pellecchia, 2003, 2005).
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et al. (1997) demonstrierten das Phäno
men in einer einfachen Versuchsanord
nung eindrucksvoll, indem sie Patienten
auf dem Weg ins Behandlungszimmer in
ein Gespräch verwickelten und feststell
ten, wer beide Aufgaben nicht gleichzei
tig lösen konnte („Stops walking when
talking!“). Unterbrechungen der Gehtä
tigkeit interpretieren sie als Indikator für
ein erhöhtes Sturzrisiko (vgl. Alexander
& Goldberg,, 2006, S. 24 f.; de Hoon et al.,
2003; Snijders et al., 2007, S. 1318). Die Va
lidität dieses einfachen ScreeningVerfah
rens wird allerdings in Folgestudien ange
zweifelt (Bloem et al., 2000; Bootsmavan
der Wiel et al., 2003).
Stoffregen stellt das Doppelaufga
benkonzept mit seinen Studien zu über
geordneten Aufgaben („suprapostural
tasks“) bei der Gleichgewichtsleistung
erstmals 1999 in Frage und zeigt mit sei
ner Arbeitsgruppe, dass sich nicht alle
Zusatzaufgaben störend auf die Gleich
gewichtsleistung auswirken müssen
(ders. et al., 1999, 2000, 2007; vgl. auch
Bloem et al., 2001, 2006). Erfordert der
Handlungszusammenhang eine gewisse
Gleichgewichtsleistung, um die überge
ordnete Aufgabe besser lösen zu können,
wird die Gleichgewichtsleistung funktio
nal integriert und kann trotz Zusatzaufgabe besser werden. Dies wurde v. a. in
den Arbeiten um Stoffregen u. a. für vi
suelle (Stoffregen et al., 1999, 2000, 2007;
Smart et al., 2004), akustische (Maylor et
al., 2001; Stoffregen et al., 2006), taktile
(„motorperception task“: Holden, Ven
tura, & Lackner, 1987; Riley et al., 1999)
und motorische Präzisionsaufgaben
(Balasubramaniam, Riley & Turvey, 2000;
vgl. auch Fraizer & Mitra, 2008, S. 275)
nachgewiesen. In den ersten Untersu
chungen der Auswirkungen von über
geordneten Aufgaben auf die Gleichge
wichtsleistung benutzte Stoffregen (1999,
2000) eine Versuchsanordnung, die zwei
unterschiedliche Aufgaben (frontal po
sitioniertes, unbeschriebenes Papier be
trachten bzw. Buchstaben im Text su
chen) in zwei verschiedenen Zielbedin
gungen (nahe Entfernung: 40 cm bzw.
weite Entfernung: 3 m) vorsah. Die Ver
suchspersonen hatten entweder die Auf
gabe, das jeweilige Ziel lediglich zu in
spizieren oder verschiedene Buchstaben
im Text zu suchen. Die Gleichgewichts
leistung wurde mit dem Schwankungs
maß verschiedener Körperpunkte (u. a.
Kopf) in anteriorposteriorer und late
ralmedialer Richtung mittels eines op
toelektronischen Bewegungsanalysesys
tems („flock of birds“) gemessen. Die un
terschiedlichen Aufgaben und Ziele füh
ren zu einer Verbesserung der Gleichge
wichtsleistung in lateralmedialer Rich
tung beim Suchen von Buchstaben im
nahen Text. Als funktionale Erklärung
führt Stoffregen an, dass die suchende
Person v. a. am nah positionierten Text
vorbeischwanken würde, wenn sie nicht
ruhig stehen könnte: Die verbesserte
Gleichgewichtsleistung erleichtert also
die supraposturale Aufgabe des Buchsta
bensuchens! Stoffregen et al. bezeichnen
dies als funktionale Integration der
Gleichgewichtsleistung in den überge
ordneten Handlungszusammenhang
(z. B. 2007, S. 127). In einem Folgeexpe
riment wird das Ziel seitlich orthogo
nal positioniert, so dass die Versuchs
personen ihren Kopf um 90 Grad dre
hen müssen, um das Ziel über die Schul
ter ansehen zu können. In den Daten der
Gleichgewichtsleistung verringert sich
nun folgerichtig die Bewegung in ante
riorposteriorer Richtung. Bei der Un
tersuchung einer Präzisionsaufgabe von
Balasubramaniam et al. (2000) ist das
Phänomen der funktionalen Integration
der Gleichgewichtsleistung entsprechend
zu finden. Sollen die Versuchspersonen
auf ein frontal positioniertes Ziel mit
einem Laserpointer zeigen, dann verrin
gern sich die Schwankungen in medial
lateraler Richtung. Wird das Ziel ortho
gonal positioniert, schwanken die Per
sonen weniger in anteriorposteriorer
Richtung, um die Zielaufgabe präzise lö
sen zu können.
In einer neueren Arbeit schlugen
Stoffregen et al. (2007) als Konsequenz
vor, bei supraposturalen Aufgaben zwi
schen vorrangig wahrnehmungsbezo
genen motorischen und nichtwahrneh
mungsbezogenen kognitiven Anforde
rungen zu unterscheiden. In einer Re
Analyse unterschiedlicher Experimente
u. a. zum Doppelaufgabenkonzept konn
te die Arbeitsgruppe indifferente Ergeb
nisse neu interpretieren. Bei wahrneh
mungsbezogenen (visuell, auditiv, kinäs
thetisch, taktil) supraposturalen Aufga
ben kann eine Verbesserung der Gleich
gewichtsleistung beobachtet werden,
um den übergeordneten Handlungszu
sammenhang (Fixier, Such, oder Prä
zisionsaufgabe) zu erleichtern. Bei aus
schließlich kognitiven Aufgaben (z. B.
Rückwärtszählen in unterschiedlichen
Schritten) ist der Handlungszusammen
hang nicht in dem Maße auf eine opti
mierte Gleichgewichtsleistung angewie
sen. Geschickte Gleichgewichtsleistun
gen wären so Teil eines adaptierten Infor
mationsBewegungsSystems (Bootsma,
1998), das die Interaktionen zwischen
Akteur, Umwelt und Aufgabe im aktu
ellen Koordinationsmodus widerspie
gelt (vgl. Newell, 1984, 1996). Vor diesem
Hintergrund müssen viele empirische
Befunde, die im Rahmen des Doppelauf
gabenparadigmas gefunden wurden und
nicht zur Verschlechterung der Gleich
gewichtsleistung geführt haben, neu in
terpretiert werden (vgl. Übersichten bei
Barra et al., 2006, S. 734–736; Swan et
al., 2007, S. 470; Fraizer & Mitra, 2008,
S. 272; Stoffregen et al., 2007, S. 126–127).
Sieht man sich die jeweiligen Versuchs
bedingungen an, dann lässt sich feststel
len, dass die zusätzliche (zweite) Aufgabe
im Sinne von Stoffregen einen perzeptiv
motorischen Kontakt mit der Umgebung
voraussetzt, indem insbesondere visuelle
oder auditive Informationen verarbeitet
werden müssen. Diese übergeordneten,
aus dem Handlungsbezug abzuleitenden
Wahrnehmungsaufgaben gelingen dann
besser, wenn das Schwanken minimiert
wird (z. B. Stoffregen et al., 2000, 2007;
Smart et al., 2004).
Unabhängig von der Frage, welche su
praposturalen Aufgaben von der Gleich
gewichtsleistung abhängig sind, kritisie
ren Geurts et al. (1991) und auch Bloem et
al. (2001) den geringen Alltagshandlungs
bezug des Doppelaufgabenkonzeptes. Sie
propagieren dagegen einen Mehrfachauf
gabentest (MTT, „multiple task test“) für
die Gleichgewichtskontrolle, in dem per
zeptive (reduzierte Lichtverhältnisse), ko
gnitive (Fragen beantworten), motorische
(Hindernissen ausweichen) und mecha
nische (rutschige Schuhe) Manipulati
onen beim Überprüfen vorgesehen sind
(Geurts et al., 1991, S. 10). Damit kann
der Bezug zu den normalen Anforde
rungen im Alltag besser hergestellt wer
2.4 Komplexere Koordinationsstrategien („multijoint/multilink
coordination“)
& Sternard, 2009, S. 450–452). Dazu ana
lysieren die verschiedenen Autoren eine
möglichst hohe Anzahl der daran beteili
gten Körperglieder, um die zu starke Ver
einfachung in einem Modell des inversen
Pendels zu vermeiden (vgl. auch Kesh
ner & Allum, 1990). Krishnamoorthy et
al. (2005) und Hsu et al. (2007) untersu
chen den Einfluss visueller Informationen
auf den ungestörten, ruhigen Stand in der
sagittalen Ebene. Für die Gleichgewichts
regulation auf verkleinerter bzw. normaler
Standfläche können sie eine Kontrollstra
tegie nachweisen, die zwischen funktio
naler, zielgerichteter („goalequivalent“)
und nichtfunktionaler („nongoalequi
valent“) Variabilität in den Gelenkstel
lungen unterscheidet (vgl. auch Desmur
get et al., 1995; Tseng et al., 2003). Unter
den Bedingungen fehlender visueller In
formationen, wenn die Versuchspersonen
ihre Augen schließen, interpretieren sie
die Zunahme funktionaler Variabilität als
exploratives Schwanken (vgl. Ehrenfried
et al., 2003; Haehl et al., 2000; Ko et al.,
2003).6 So können die fehlenden visuellen
Informationen mit erhöhter somatosenso
rischer Information aufgrund der zusätz
lichen Gelenkbewegungen kompensiert
werden (vgl. Clark et al., 1989). Hsu et al.
(2007) betonen für ihre Kontrollstrategie
die grundsätzliche Bedeutung der doppel
ten Koordinatentransformation von Mau
rer et al. (2006), obwohl diese nur auf dem
einfachen Modell eines inversen Pendels
aufbaut (S. 3034). Mit einer UCMAnaly
se der 6 Körpergelenke, Fuß, Knie, Hüft
sowie 3 Wirbelgelenke (lumbosakral, zer
vikal und atlantookzipital), können Hsu
und Mitarbeiter eine Strategie der auf
rechten Körperhaltung im ruhigen, unge
störten Stand belegen. Um die räumliche
Stabilität von Körperschwerpunkt (CM)
und Kopfposition zu gewährleisten, wer
den alle Gelenkbewegungen kompensato
risch in einer Gesamtsynergie koordiniert.
Dabei können einzelne Gelenke entlang
der vertikalen Körperachse gleichzei
tig relativ hoch variieren, ohne dass sich
In neueren Ansätzen unter der Hypothese
der unkontrollierten Vielfalt („uncontrol
led manifold“) wird die Stabilität des Kör
perschwerpunktes bzw. des Kopfes über
der Unterstützungsfläche thematisiert
(Scholz & Schöner, 1999; vgl. auch Müller
6 In diesem Zusammenhang sei auch auf die
explorative Instanz in Neissers (1976) Wahrnehmungskreislauf verwiesen (Perzepte→modifizieren→Schemata→leiten an→Exploration→
sammelt→Perzepte→etc.; vgl. auch Dewey’s
frühe Kritik (1896) am Konzept des ReflexBogens!).
den. In einem Testverfahren für tägliche
Aktivitäten (ADAP, „assessment of dai
ly activities performance“) standardisiert
de Vreede (2006) Aufgaben wie „gefüllte
Einkaufstasche eine Busplattform hinauf
und hinuntertragen“, „Treppensteigen“,
„Wäsche aus der Waschmaschine in den
Trockner umfüllen“, „Staubsaugen“ etc.
aus dem Alltag. In derartigen Versuchsan
ordnungen lässt sich die höhere Wirksam
keit von Interventionsmaßnahmen, die
das Üben funktionaler Alltagsaufgaben
beinhalten, im Vergleich z. B. mit einem
herkömmlichen Krafttraining nachwei
sen (vgl. de Vreede et al., 2005).
Die Arbeitsgruppe Gollhofer kann
in ihren neurophysiologischen Unter
suchungen des sensomotorischen Trai
nings aufgabenspezifische Adaptationen
auf der spinalen (HReflex) und supraspi
nalen Ebene (kortikospinale Erregbarkeit)
nachweisen (Taube et al., 2007, 2008a, b;
Schubert et al., 2008). Die Autoren beto
nen, dass die Effekte nur bei der Ausfüh
rung der trainierten Aufgabe zu beobach
ten sind (vgl. auch Beck et al., 2007). Sie
postulieren daher eine Kongruenz von In
terventions und Messsituationen (Taube
et al., 2008a, S. 110). Mit einer geschick
ten Versuchsanordnung werden diese auf
gabenspezifischen Effekte im Vergleich
von motorischen und perzeptiven Auf
gaben („finger tapping“ bzw. „laser poin
ting“) auf stabiler (KPM) und instabiler
Unterstützungsfläche (KMP mit Thera
piekreisel) eindrucksvoll belegt (Taube et
al., 2008b). Diese Befunde bestätigen auf
der neurophysiologischen Ebene die In
teraktion von Eigenschaften des Organis
mus, der Umgebungs und Aufgabenbe
dingungen (Newell, 1984, 1996; vgl. auch
Nitsch, 1985) und lassen sich auf der psy
chologischen Ebene gut mit dem Konzept
der funktionalen Integration im Sinne von
Stoffregen et al. (1999, 2007) erklären.
Sportwissenschaft 4 · 2009
| 323
Hauptbeiträge
dies negativ auf den Körperschwerpunkt
oder die Kopfposition auswirken muss
(vgl. Latash, 2008, S. 171: „good vs. bad
variables“).
3 Ökologische Untersuchung
der Gleichgewichtsleistungen
Mulder beschreibt die Kontrolle des
Gleichgewichts als „eine Art Basisfertig
keit“7, die „die Grundlage für viele ‚rich
tige‘ Fertigkeiten bildet“ (2007, S. 174). Er
empfiehlt in der Nachfolge von Geurts
et al. (1991) und Bloem et al. (2001) ne
ben einer Basismessung motorische, per
zeptive und kognitive Manipulationen
bei der Messung des Standgleichgewichts
um „der Funktion des motorischen Sys
tems gerecht (zu) werden“. Diese Vor
schläge würden eine systematische For
schungsstrategie konvergierender Evidenzen, die Hossner8 1995 vorgeschlagen
hat, auf der methodischen Ebene erwei
tern (S. 226–228; vgl. auch Roth & Hoss
ner, 1999, S. 221). Unter Berücksichti
gung der Überlegungen von Stoffregen
et al. (2007) ließe sich dann eine ökolo
gischere Untersuchungsanordnung ent
werfen, die unter Berücksichtigung der
unterschiedlichen Anforderungen ver
sucht, die Gleichgewichtsleistung im all
täglichen Handlungsbezug zu thematisie
ren (Nagel & Lippens, 2009).
3.1 Motorische Manipulationen
der Gleichgewichtsleistung
Eine grundsätzliche motorische Manipu
lation wäre z. B. schon das Balancieren
auf einem kippeligen Turnkreisel (Pa
schen, 1980, S. 86–87). Im Unterschied
zur gewohnten Gleichgewichtskontrolle
auf stabiler Unterstützungsfläche ohne
Störungen, z. B. unter quasistatischen
Bedingungen auf einer Kraftmessplatt
7
Hier soll aus Platzgründen nicht diskutiert
werden, ob Mulder nicht eher eine Basisfähigkeit meinen könnte. Es sei aber auch auf die Einteilung von Nagel und Wulkop verwiesen, die
Gleichgewichts- und Differenzierungsfähigkeit
als zentrale Fähigkeiten (in der Sportart Hockey)
klassifizieren (1992, S. 35).
8 Dass Hossner (1995) seine Forschungsperspektive zur Identifizierung von Motorikmodulen am Beispiel der Gleichgewichtsfähigkeit
erläutert, sei der damaligen Zeit geschuldet (vgl.
auch Neumeier & Mechling, 1994).
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Sportwissenschaft 4 · 2009
form, ist das Halten des dynamischen
Systemgleichgewichts auf dem Mess
kreisel (z. B. Lippens, Nagel & Wagner,
1999; Lippens et al., 2003) auch für ge
übte Sportler nicht trivial. Das Verrin
gern der Unterstützungsfläche beim Ste
hen durch den Wechsel vom normalen
parallelen zum Tandemstand entspricht
einer speziellen motorischen Manipulati
on (z. B. Dault et al., 2001). Jede Störung,
die von einer Rotation bzw. Translation
der Kraftmessplatte ausgeht, würde den
motorischen Schwierigkeitsgrad des Ba
lancierens erhöhen (z. B. Horak & Nash
ner, 1986). Eine zusätzliche motorische
Manipulation beim Balancieren könnte
das Standgleichgewicht auch beeinträch
tigen, wenn beispielsweise beim mono
pedalen Stehen die Freiheitsgrade ein
geschränkt werden, indem die Arme vor
der Brust verschränkt und das freie Ba
lancierbein festgelegt werden (z. B. Lip
pens et al., 2009). Einfachere Handbe
wegungen wie das Drücken einer Taste
oder das Bewegen des Daumens über die
Finger derselben Hand (z. B. Weeks et al.,
2003; Marchese et al., 2003) oder kom
plexere wie das Halten einer Kaffeetasse
(z. B. Guardiera, Bock & Allmer, 2002)
wären weitere motorische Manipulatio
nen, die sich auf das Balancieren auswir
ken können.
3.2 Kognitive Manipulationen
der Gleichgewichtsleistung
Ein Rückwärtszählen im Stehen ist ei
ne ausschließlich kognitive Manipulation
(z. B. Schäfer et al., 2008). Das Lösen von
akustisch oder visuell dargebotenen Kopf
rechenaufgaben wäre eine vorwiegend kognitive Aufgabe, die allerdings mit perzeptiven Anteilen bei der Informations
aufnahme behaftet ist (vgl. z. B. Lippens,
2005). Um konfundierende Effekte der vi
suellen Fixierung und auch der Artikula
tion ausschließen zu können (vgl. S. 191),
benutzen Riley et al. (2003) eine Kurzzeit
gedächtnisaufgabe (S. 194: „shortterm or
working memory task“).
3.3 Perzeptive Manipulationen
der Gleichgewichtsleistung
Das Suchen von Buchstaben in einem
Text während des Stehens auf stabilem
Untergrund oder des Balancierens auf
dem lagelabilen Turnkreisel muss als ei
ne perzeptiv-orientierte kognitive Aufga
be eingeschätzt werden (Stoffregen et al.,
2000, 2007). Dies kann als Versuch ver
standen werden, einen standardisierten
alltäglichen Handlungszusammenhang
bei der Messung der Gleichgewichtsleis
tung einzubeziehen. Zusätzlich zur motorischen Leistung sollte dann auch die perzeptiv-kognitive Leistung in der suprapos
turalen Aufgabe während der Gleichge
wichtsmessungen geprüft werden (z. B.
Lippens & Nagel, 2009).
3.4 Motorische Anforderungen
und Buchstabensuchaufgaben: ein Beispiel
Welchen Einfluss unterschiedliche su
praposturale Aufgaben auf die Gleichge
wichtsleistungen haben können, soll an
einem Beispiel gezeigt werden (Lippens
et al., 2009). Die Daten stammen aus ei
ner Studie, die wir 2008 mit Hambur
ger Sportstudierenden im Rahmen ei
ner Lehrveranstaltung durchgeführt ha
ben. Die Teilnehmer (n=12) wurden zu
3 Zeitpunkten (t1–3) in insgesamt 5 qua
sirandomisierten Versuchen, mit und
ohne supraposturale Aufgaben, auf dem
Messkreisel untersucht. Am ersten Mess
termin (t1) haben wir ohne Zusatzaufga
be, am zweiten (t2) ohne und mit einer
motorischen Aufgabe (Arme und Aus
gleichsbein festgelegt) und am dritten (t3)
ohne und mit einer visuellorientierten
Zusatzaufgabe (Buchstaben im Text su
chen) gemessen. Als abhängige Variab
le für die monopedale Gleichgewichts
leistung dienten einerseits die traditio
nelle Standardabweichung (SD), ande
rerseits die Parameter von Drift und Dif
fusion nach dem stochastischen Ansatz
des LangevinProzesses (Gottschall et al.,
2009a) für die Winkelgeschwindigkeit in
beiden Richtungen (ωx: lateral, ωy: ante
riorposterior). Um beide Ansätze ver
gleichen zu können, haben wir den Drift
(D(1)(x)=a0+a1×x) und den Diffusionsko
effizienten (D(2)(x)=b0+b1×x+b2×x2) di
rekt aus den Messdaten mit der Metho
de der kleinsten Quadrate rekonstruiert
(Gottschall et al., 2009a, b). Die Para
meter beider Ansätze wurden in Varianz
analysen mit Messwiederholung auf dem
lat.-med.
lat.-med.
ant-post.
12
p< .000
8
a1 (linearer Part des Drift-Koeffizient)
-1.0
p< .000
10
SDemp.
ant.-post.
0.0
14
-2.0
-3.0
6
-4.0
4
2
t2 motor. Aufg.
t2 ohne Aufg.
-5.0
0
t1 ohne Aufg.
t2 ohne Aufg.
t2 motor. Aufg.
t3 ohne Ein..
t3 Buchst. suchen
t1 ohne Aufg.
-6.0
t3 ohne Aufg.
t3 Buchst. Suchen
p< .016
Zeit / Versuche
Zeit / Versuche
Abb. 1 8 Ergebnisse der Varianzanalyse für die Standardabweichung (links SD) und den linearen Part des Driftparameters
nach dem Langevin-Prozess (rechts a1) in den Winkelgeschwindigkeiten (ωx, ωy)
Faktor Bein geprüft (vgl. auch Lippens
et al., 2009). Zusammenfassend zeigen
die Ergebnisse einen hochsignifikanten
Haupteffekt für die visuellorientierte, su
praposturale Aufgabe des Buchstabensu
chens (t3) in der Standardabweichung der
Winkelgeschwindigkeit (. Abb. 1; links
SD). Die Sportstudierenden schwanken
deutlich weniger in beiden Richtungen,
wenn sie Buchstaben in einem Text su
chen. Dieses Resultat kann zusätzlich mit
dem konstanten Teil des Diffusionspara
meters (D(2): b0) belegt werden (vgl. Lip
pens et al., 2008, 2009). Im Vergleich zur
Messung mit der motorischen Aufgabe
(t2) fällt die Gleichgewichtsleistung der
Sportstudierenden in dieser Messung (t3)
besser aus.
Diese Ergebnisse bestätigen frühere
Studien unter quasistatischen Bedin
gungen (Stehen auf stabilem Untergrund)
aus der Arbeitsgruppe von Stoffregen et
al. (u. a. 1999, 2000, 2007) und unter dy
namischen Bedingungen (Balancieren auf
dem instabilen Messkreisel) aus unserer
Arbeitsgruppe (u. a. Lippens, 2005; Lip
pens & Nagel, 2006, 2008, 2009; Lippens
et al., 2006, 2007, 2008, 2009). Die zusätz
liche Einschränkung der Freiheitsgrade
durch die motorische Aufgaben (t2) führt
zu keiner signifikanten Veränderung der
Standardabweichung (SD), aber zu einer
Verringerung des deterministischen An
teils in der Winkelgeschwindigkeit der la
teralen Richtung (ωx) nach dem Lange
vinModell (. Abb. 1; rechts a1). Werden
die Bewegungsmöglichkeiten der Sport
studierenden reduziert, kann mit dem li
nearen Part des Driftkoeffizienten (D(1))
so eine Veränderung in der Struktur der
Gleichgewichtsdaten nachgewiesen wer
den,9 die allein mit der traditionellen Mit
telwertstatistik in Form der Standardab
weichung nicht zu erkennen wäre (Gott
schall et al. 2009 b; vgl. auch Witte, 2002,
S. 111–121).
4 Gleichgewichtsleistungen
im Handlungsbezug
Vergleicht man nun die unterschiedlichen
motorischen, kognitiven und perzeptiven
Einflüsse auf die Gleichgewichtsleistun
gen, werden Rückschlüsse auf Affordanz
extraktionen in den spezifischen Situatio
nen der posturalen Kontrolle möglich
(vgl. Nagel & Lippens, 2009). Die Verbes
serung der Gleichgewichtsleistung durch
ein transferorientiertes, gleichgewichtsre
levantes Ergänzungstraining, z. B. beim
Inlineskaten oder Skilanglaufen, ließe sich
durch eine Strategieadaptation im Sinne
von Mechling (2003) erklären (vgl. Lip
pens & Nagel, 2008, S. 374). Offensicht
lich können die untersuchten Sportler
neu erworbene oder aktualisierte Bewe
gungsmuster beim einbeinigen Gleiten
auf dem Inlineskate oder Langlaufski auf
die Bewegungsanforderungen des Turn
kreisels übertragen. Auf den üblicher
weise benutzten Gleichgewichtsmessplät
9
Im physikalischen Sprachspiel würde es heißen (vgl. Gottschall et al., 2009a, S. 811): Ein
linearer Part des Driftkoeffizienten mit
a1=–4,65 (t2: ohne Aufgabe) verursacht im
Potenzialmodell eine stärkere Steigung als einer
mit a1=–4,05 (t2: mit motorischer Aufgabe); d. h.
die Bewegung einer Kugel in diesem Potenzial, die veranschaulichen soll, wie lange es dauert, bis ein stabiler Fixpunkt erreicht wäre, würde unter der Bedingung der motorischen Aufgabe mehr Zeit bis zur Relaxation benötigen.
zen werden u. a. die Anpassungsleistun
gen des posturalen Systems an artifizielle
Störungen (z. B. Horak & Nashner, 1986:
„moving platform“) gemessen (vgl. auch
Maki et al., 1987). Dagegen erfordert die
Bauweise des Messkreisels an sich schon
eine geschickte Gleichgewichtsleistung
als Bewältigung der relativ anspruchs
vollen Balanceanforderungen. In Kombi
nation mit einer supraposturalen Aufga
be, z. B. Buchstabensuchen, kann dann so
das dynamische Systemgleichgewicht im
(vereinfachten) Handlungsbezug als Af
fordanzextraktion unter den jeweiligen
Einflüssen von Person, Aufgaben und
Umgebungsbedingungen im Sinne von
Newell (1984, 1996) untersucht werden.
Damit lassen sich Interventionseffekte im
Rahmen von Trainingsmaßnahmen an
gemessener in ökologischeren Versuchs
anordnungen überprüfen, bei denen das
Ziel einer motorischen Schlagfertigkeit
als Strategieadaption im sportlichen Be
wegen im Mittelpunkt steht (vgl. Lippens
et al., 2009). Der besondere Einfluss der
unterschiedlichen Bedingungen auf die
Gleichgewichtsleistung kann mit neue
ren Auswertemethoden zuverlässig nach
gewiesen werden, wenn die Analyse, z. B.
das stochastische Verfahren des Lange
vinProzesses, in der Lage ist, die Anteile
von deterministischer und stochastischer
Variabilität in den Gleichgewichtsdaten
auszudifferenzieren (vgl. Gottschall et
al., 2009a, 2009b; Kutznesov, Riley, Gott
schall & Lippens, 2009). So kann in derar
tigen ökologischen Untersuchungsanord
nungen die geschickte Gleichgewichts
leistung als funktionaler Bestandteil ei
ner InformationsBewegungsKopplung
(Bootsma, 1998, S. 58) im Alltag erforscht
Sportwissenschaft 4 · 2009
| 325
Hauptbeiträge
werden. Die Ergebnisse sollten Rück
schlüsse auf das Bewältigen von vielfäl
tigen Koordinationsanforderungen ver
sprechen, wie eine allgemeine Adapti
on im bewegten Straßenverkehr (Geurts
et al., 1991, S. 10) oder eine spezifische in
situativen Sportarten (vgl. Jendrusch &
Brach, 2003, S. 184–189).
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Volker Lippens
Fachbereich Bewegungswissenschaft, Fakultät
für Erziehungswissenschaft, Psychologie und
Bewegungswissenschaft, Universität Hamburg
Mollerstr. 2, 20148 Hamburg
[email protected]
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor
gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Czwalina.
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Sportwissenschaft 4 · 2009
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