Zwischen Wahn und Wundern. Eigenzeiten des Staunens
Nicola Gess
Mit der Frage nach einer »Psychopathologie der Zeit«1 beschäftigt sich der vorliegende
Essay aus einer affektpsychologischen und zugleich ästhetikgeschichtlichen Perspektive.
Dabei gehe ich von der Beobachtung aus, dass es wohl keine ›Basisemotion‹ gibt,2 die in
der Geschichte der Ästhetik so zuverlässig mit ›Eigenzeitlichkeit‹ verbunden wurde wie
das Staunen – eine Emotion, die in den zu untersuchenden Texten gewissermaßen als pars
pro toto für die ästhetische Erfahrung einsteht.3 Die Annahme dieser philosophischen und
literarischen Schriften lautet: Wer staunt, dem kommt die normale Zeitwahrnehmung
abhanden. In welche Richtung dies jedoch geht (z.B. Unterbrechung oder Dehnung von
Zeit, Zeitlosigkeit oder Verräumlichung von Zeit) und ob diese Abweichung von der Norm
pathologisiert oder als Ausweis eines überlegenen Denk- und Dichtungsvermögens oder
1
2
3
So der Titel des Heftes, in dem der vorliegende Essay erscheint.
Als ›Basisemotion‹ werden in der Psychologie Emotionen bezeichnet, die gewissermaßen zur emotionalen Grundausstattung eines Menschen gehören, ob sie nun als für das
Gattungswesen Mensch grundlegend und angeboren (Evolutionspsychologie), als für
eine bestimmte Kultur/Gesellschaft/soziale Gruppe grundlegend und Ergebnis sozialer
Prozesse (Sozialpsychologie) oder schlicht als Grundlage für andere Gefühle gedacht
werden, die sich selbst nicht auf andere grundlegendere Gefühle zurückführen lassen
(Individualpsychologie).
Im ästhetischen und poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts bildet sich ein Verständnis von Staunen als einer ästhetischen Praktik heraus, die kontemplativ, reflexiv
und zugleich anhaltend ist; vgl. dazu im Detail: Gess 2019, Kap. 3, 4, 8. Auch heute schlagen Philosoph*innen wie Jesse Prinz und Sophia Vasalou vor, die Rolle des Staunens in
der ästhetischen Erfahrung zu reflektieren. So markiert für Vasalou Staunen die »distinction between the practical and the aesthetic points of view, or between interested and disinterested perception« (Vasalou 2015: 141). Was im Folgenden über die Eigenzeitlichkeit
des Staunens zu sagen ist, resonniert zum Beispiel sehr deutlich – und ich danke Sandra
Janßen für diesen Hinweis – mit Michael Theunissens Ausführungen über die Eigenzeitlichkeit der ästhetischen Anschauung: »Sinnliche Wahrnehmung wird zur ästhetischen
Anschauung, indem das Subjekt vermöge seines gewaltsamen Sich-Losreißens von der
Zeit gewaltlos in den Gegenstand sich versenkt« (Theunissen 1991: 285–299, hier 288);
diese »Gegenwart des Verweilens […] [eignet] in keiner Weise dem Subjekt […]. Sie ist
die Gegenwart des Anderen« (ebd.: 295).
ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1|2021
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einer höheren Erkenntnis gewertet wird, soll im Folgenden anhand einer Reihe exemplarischer Positionen von der Frühaufklärung bis in die 1930er-Jahre untersucht werden. 4
Drei Vorbehalte seien vorausgeschickt. Erstens: Mit diesen Positionen, die sowohl
Grundlagentexte einer Ästhetik des Staunens wie auch weniger bekannte Fundstücke
berücksichtigen, soll ein Kaleidoskop zum Thema entworfen, d.h. ausdrücklich keine
Entwicklungsgeschichte geschrieben oder gar eine anthropologische Aussage über das
Staunen gemacht werden. Zweitens: Es wären auch andere Stationen möglich gewesen.
Ich konzentriere mich hier auf diese vier, um einerseits Positionen aus der Zeit der
Begründung der philosophischen Ästhetik und andererseits solche aus dem frühen 20.
Jahrhundert abbilden zu können, das für die Frage nach »Psychopathologien der Zeit«
von besonderem Interesse ist.5 Drittens: Da es sich um Positionen aus vier Jahrhunderten
und aus unterschiedlichen linguistischen Kontexten handelt, müssten die historische
Semantik des Wortes Staunen und seiner Verwandten (v.a. Verwunderung) und die
feinen Differenzen zwischen den entsprechenden Wörtern in den anderen Sprachen
(z.B. admiration, étonnement, astonishment, amazement, wonder) stärker berücksichtigt
werden, als es hier möglich ist. Ich bemühe mich daher um eine entsprechende sprachliche
Sensibilität und verweise darüber hinaus auf Ausführungen an anderer Stelle (vgl. Gess
2019: 18–23; Schnyder/Gess 2019: 1–10, hier 2).
»[U]nbeweglich wie eine Statue«
Grundlegend für die neuzeitliche Auseinandersetzung mit den Emotionen ist René Descartes’ Studie über die Leidenschaften der Seele, Les passions de l’âme von 1649. Dem
Staunen, der admiration, kommt in dieser Studie eine ganz besondere Stellung zu, erkennt
Descartes doch in ihm die erste aller Leidenschaften, insofern es diejenige Leidenschaft
sei, mit der der Mensch auf etwas Neues reagiere:
»Wenn ein Objekt uns beim ersten Entgegentreten überrascht und wir urteilen, daß es
neu ist und sehr verschieden von allem, was wir vorher kannten, […] bewirkt das,
daß wir uns über es wundern und erstaunt sind« (Descartes 1984 [1649]: 95).6
Descartes wertschätzt das Staunen einerseits, weil es die Seele dazu bringe, »mit Aufmerksamkeit die Objekte zu betrachten, die ihr als selten und außerordentlich erscheinen« (ebd.:
109) und darüber hinaus auch dazu diene, die Dinge, »die wir bis dahin nicht gewußt
haben, […] im Gedächtnis [zu] bewahren« (ebd.: 117). Wer keine »natürliche Neigung
zu dieser Leidenschaft« habe, sei und bleibe darum »gewöhnlich sehr unwissend« (ebd.).
Andererseits will Descartes das Staunen aber auch zügig wieder beendet wissen. So ist z.B.
Die Meteore (1637), Descartes naturphilosophische Schrift über die Himmelserscheinungen, von der Hoffnung getragen, dass die Leser*innen nach der Lektüre »in den Wolken
4
5
6
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In den Kapiteln zu Descartes und Benjamin greife ich zurück auf Gedanken und Passagen aus Gess 2019: 35/36, 115–17, 124.
Vgl. dazu die Einleitung zum vorliegenden Heft.
Vgl. zum Staunen bei Descartes grundlegend: Zittel 2017: 41–65.
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nur noch Dinge sehen werden, deren Ursache sie leicht verstehen können[,] und nichts
mehr, das ihnen Grund gibt zum Staunen« (Descartes 2006 [1637]: 305). Descartes geht
es hier also darum, vermeintliche »Wunder der Natur« (ebd.: 33) auf ihre natürlichen
Ursachen zurückzuführen, auf dass sich das Staunen der Betrachter*innen möglichst
vollständig in Verstehen bzw. in Wissen auflöse.
In Les passions de l’âme wird ersichtlich, warum das Descartes so wichtig ist. Der Grund
liegt in der Gefahr, sich »unmäßig zu verwundern« (Descartes 1984 [1649]: 119), und
das heißt, sowohl in der Betrachtung fremdartiger Dinge nicht mehr an der Auflösung
des Staunens interessiert zu sein als auch sich über ganz alltägliche Dinge zu wundern,
die eigentlich gar keine nähere Untersuchung verdienen:
»Das macht die Krankheit derjenigen aus, die von blinder Neugier besessen sind, d.h.
die Seltsamkeiten nur suchen, um sich über sie zu wundern, und nicht um sie zu
erkennen. Denn sie werden nach und nach so ›wunderlich‹, daß Dinge, die keinerlei
Bedeutung haben, sie nicht weniger fesseln als diejenigen, deren Erforschung äußerst
brauchbar ist« (ebd.: 121).
In der blinden Neugier liegt also die eine pathologische Abweichung des Staunens; die
andere liegt in einem zu heftigen Erstaunen, das Descartes als étonnement bezeichnet.
Descartes bestimmt das Staunen (admiration) als eine »plötzliche Überraschung der Seele«
(ebd.: 109) durch die Konfrontation mit einem neuen Objekt. In organischer Hinsicht hat
diese Überraschung zur Folge, dass »die Lebensgeister […] mit großer Kraft zu der Stelle
des Hirns […] streben, wo [der Eindruck des neuen Objekts im Gehirn, NG] stattfand«,
um ihn dort »zu verstärken und festzuhalten« (ebd.). Wenn die Überraschung durch das
neue Objekt aber zu stark ist, werden, so Descartes, zu viele Lebensgeister an dieser Stelle
blockiert, d.h. sie fließen von dort nicht mehr in die Muskeln, noch gelingt es ihnen, sich
von »den ersten Bahnen«, die der neue Eindruck geschaffen hat, wieder »abzuwenden«.
Und das bewirke, dass
»der ganze Körper unbeweglich wie eine Statue bleibt und daß man von dem Gegenstand
nur den ersten Eindruck wahrnimmt, der sich darbietet, ohne darauf von ihm eine
genauere Erkenntnis zu erhalten« (ebd.: 115).
Diese Arretierung durch ein zu heftiges Erstaunen (étonnement) hält Descartes für ebenso
schädlich wie die blinde Neugierde.
Man kann diese beiden Staunens-Pathologien auch als Konsequenz aus einer paradoxen Eigenzeitlichkeit des Staunens verstehen, die sich vielleicht am besten als ein
dauernder Moment beschreiben lässt. Descartes lässt gewissermaßen nur dessen eine Seite
gelten – das kognitive Staunen, das den Motor eines Erkenntnisprozesses darstellt und
sich als kurzer Zwischenmoment, als bloßer Übergang von einem Davor des Unwissens
zu einem Danach des Wissens präsentiert. Aber die andere, man könnte auch sagen, die
sinnliche Seite des Staunens, bei der es um ein Innehalten in der aisthesis, in der sinnlichen
Wahrnehmung des neuen Reizes geht, ist ihm suspekt. Descartes spricht z.B. davon, dass
»äußerst zart[e] und weniger verfestigt[e]« Partien des Gehirns überreizt werden könnten
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Nicola Gess
und vergleicht diese Überreizung auch mit dem »nahezu unerträglich[en]« Kitzeln zarter
Fußsohlen (ebd.: 113). Seine mit dem étonnement verbundene Befürchtung ist nun, dass
der neue Reiz so stark werden könnte, dass die Unterbrechung des Zeitkontinuums, die
das Staunen im Prozess der Wahrnehmung bedeutet, gleichsam auf Dauer gestellt wird.
Der Erkenntnisprozess bleibt dann beim ersten Eindruck stecken, es werden keine Bewegungen und weiterführenden Handlungen angestoßen, der Körper ist arretiert, weil
die sinnliche Wahrnehmung vollständig durch den inneren Reiz absorbiert ist.
Descartes beunruhigt dieser Zustand nicht zuletzt deswegen, weil er durchaus lustvoll
sein kann, wie die erste pathologische Abweichung des Staunens zeigt. Geht es der »blinden
Neugier« doch genau darum, diesen Zustand des Staunens-um-seiner-selbst-willen wieder
und wieder aufzusuchen, sich keine Gelegenheit zum Gebannt- und Gefesselt-Werden
entgehen zu lassen und diese sogar willkürlich herbeizuführen. Die Wundersucht, die
Descartes fürchtet, zielt auf einen Selbstgenuss ab, in dem sich ästhetische Erfahrung
und Kurzweil verbinden.
»[D]en Kopff voll Gedancken«
Knapp 100 Jahre nach Descartes’ Studie erschien Johann Jakob Breitingers Critische
Dichtkunst (1740). Auch Breitinger begegnet dem Staunen zunächst mit Skepsis. Einen
Hang zum Staunen zu haben ist bei ihm zwar nicht Symptom einer Krankheit, wohl aber
ein Anzeichen von großer Einfältigkeit und Dummheit. Es zeichnet Kinder ebenso wie
das ungebildete Volk aus:
»unerfahrne Kinder [gaffen] alle Sachen ohne Unterschied mit einer dummen Bewunderung [an], weil ihnen alles fremd, neu und seltzam vorkommen muß. […] In die
Classe der Kinder gehöret aller Pöbel des menschlichen Geschlechtes« (Breitinger
1966 [1740]: I, 124).
Bezogen auf die Frage nach den Eigenzeiten des Staunens steht hier vor allem der Verdacht
der Entwicklungslosigkeit im Raum; außerdem auch der des Zeit-Vertreibs.
Jedoch gibt es bei Breitinger auch ein kultiviertes Staunen, über das Philosoph und
Dichter verfügen, das aber über die Rezeption von Dichtung auch an ein breiteres Publikum vermittelt werden kann. Wie seine Zeitgenossen Baumgarten, Meier und Bodmer
beginnt Breitinger nämlich, Staunen als eine ästhetische Praktik zu denken, die geübt
und vervollkommnet werden kann. Die kognitive Dimension des Staunens wird hier
nicht mehr gegen seine sinnliche Dimension ausgespielt, sondern das Staunen wird
als Brücke zwischen aisthesis und cognitio gerade wertgeschätzt. Dies steht im Kontext
einer allgemeinen Kultivierung der sinnlichen Erkenntnis, wie sie die Begründung der
philosophischen Ästhetik auszeichnet, welche die sinnliche Erkenntnis als notwendige
Vorstufe aller rationalen Erkenntnis verstanden wissen will und ihr darüber hinaus auch
noch ganz eigene Qualitäten, z.B. eine besondere Anschaulichkeit, zuschreibt.
Staunen wird in diesem Zusammenhang nicht mehr nur reaktiv gedacht, als spontane
Reaktion auf einen neuen Reiz, die den Menschen in die Lage versetzt, diesen mit höchster Aufmerksamkeit zu untersuchen. Sondern Staunen wird nun auch aktiv gedacht, als
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eine Praktik, die kultiviert und gezielt eingesetzt werden kann, um beispielsweise selbst
im Altbekannten noch etwas Neues und Verwunderliches entdecken zu können.7 Diese
lässt sich als eine ästhetische Praktik bezeichnen, weil es zum einen um die Schulung der
aisthesis, also der sinnlichen Wahrnehmung geht, und weil dieses Staunen zum anderen,
so Breitingers Überzeugung, in der Rezeption von Kunst und insbesondere Literatur
geübt werden kann und nicht zuletzt auch den dichterischen Enthusiasmus befördert.
Ebenso wichtig sind aber auch die ethischen Implikationen dieser Praktik, insofern
sie die für das aufgeklärte Subjekt grundlegende Fähigkeit zur Introspektion, Selbstreflexion und Selbstregulation befördert.8 Breitinger versteht Staunen auch als eine geistige
Meditation und korrigiert entsprechend in den Discoursen der Mahlern (1721–1723)
Descartes’ negative Bewertung:
»Eine Passion für eine gewisse Sache ist alleine fähig einem Menschen die Sinne zu feßeln
und sein Gemüthe beschäfftiget zu halten, wenn diese Passion starck ist, so reisset
sie einen Menschen in ein Erstaunen, […] frieret sein Gemüthe so starck auf den
Gegenstand seiner Betrachtung, daß er diejenigen Sachen, welche ihm die aussern
Sinne vorstellen, verachten muß, aus Furcht, daß sie ihm an dem speculativen Genuß desjenigen Guten, welches ihm die Imagination so schön vormahlet, hinterlich
seyn möchten […]. Ich habe an einem Orte das Meditiren beschrieben [sic!] eine
Conversation der Seelen mit sich selbst, wenn nun die Seele in der Conversation mit
sich selbst begriffen ist, so ist unmöglich das sie zu gleicher Zeit den aussern Sinnen
Gehör geben könne« (Bodmer/Breitinger 1721–1723: 3, 118–119).
Breitinger hat also, anders als Descartes, nicht nur kein grundsätzliches Problem mit dem
arretierenden, hier »einfrierenden« Staunen, sondern hält es im Gegenteil sogar für sehr
sinnvoll für denjenigen, der »richtig und ungestört Nachdenken« (ebd.: 123) lernen will.
Staunen, das bedeutet für Breitinger hier so intensiv über einen Gegenstand (der Vorstellung) und die eigene Wahrnehmung und Beurteilung dieses Gegenstands zu »meditieren«,
dass man darüber den Bezug zur Außenwelt für einige Zeit ganz verliert. Dass Breitinger
Staunen dabei als einen meditativen Vorgang denkt, macht auch die Überarbeitung der
folgenden Passage deutlich. Er schreibt in den Discoursen der Mahler ursprünglich:
»Der Meditierende folget keine andre Gesetze, als solche die vernünfftig sind, die Reguln
der Wolständigkeit [also auch des gesellschaftlichen Umgangs; NG] können ihn nicht
beunruhigen; […] [weil; NG] er keinen andern Zweck hat, als sich selbst von der
Wahrheit zu versichern« (Bodmer/Breitinger 1721–1723: 2, 42).
In der späteren Neuauflage der Discourse als Der Mahler der Sitten (1746) heißt es dann
aber:
7
8
Zu meinem Praktik-Begriff vgl. Reckwitz 2003: 282–301.
Die folgenden Überlegungen zum Staunenskonzept im Kontext der Discourse der Mahlern werden im Zusammenhang mit meinen Überlegungen zu Bodmers Staunenspoetik
detaillierter ausgeführt in: Gess 2021 (Im Erscheinen).
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»Der Staunende folget keinen anderen Gesetzen, als der Vernunft; die Regeln des Wohlstandes binden ihn nicht […], [d]a es ihm allein um die Erforschung der Wahrheit
zu thun ist« (Bodmer/Breitinger 1746: 1, 95; Hervorhebung d. Verf.).
Zwar spricht auch Breitinger davon, dass das »Gemüt« des Staunenden »eingefroren« sei,
doch ist diese äußere Starre hier nur Ausdruck einer umso regeren geistigen Tätigkeit.
Das entspricht auch der in Grimms Wörterbuch vermerkten ursprünglichen Bedeutung
des Wortes Staunen, die im helvetischen Raum, so der Verfasser, noch gegenwärtig sei:
Staunen »bezeichnet ein gedankenvolles sinnen und träumen« und »den starren blick
des sinnenden; in diesem sinne gern mit allgemeinen richtungsangaben verbunden«
(Grimm 1854–1960: 2.1, Sp. 1178f.). Mit dem meditativen Staunen rückt auch eine andere
Eigenzeitlichkeit in den Fokus. Nicht um Stillstand, sondern um eine zeitliche Dehnung
geht es hier, die den Moment der Apperzeption gewissermaßen in die Länge zieht. Das
Leben läuft weiter, doch verweilt der Staunende in Gedanken noch immer bei dem neuen Eindruck und den durch ihn ausgelösten Vorstellungen, was ihn in Gesellschaft als
verträumt oder zerstreut erscheinen lässt. Dafür gibt Breitinger ein vortreffliches Beispiel:
»Als ich das letzte mahl mich an den Ort verfügen wolte, an welchem unsere Gesellschafft
sich wochentlich zwey mahle versamlet […], hatte ich den Kopff voll Gedancken
über einer wichtigen Materie, […] ich staunete auf dem Wege darüber und mein
Gemüth ware darmit so sehr beschäfftiget, daß meine außern Sine die aufstossenden
Objecte nicht so eigentlich unterscheiden konten; indem ich also den angenehmen
Gegenstand meiner Gedancken mit äusserster Application verfolgete, trate ich von
ungefehr in ein Hauß hinein, […] öffnete die Thüre von einem Zimmer, in welchem
etliche Jungfern um eine runde Taffel herum sassen […] Die feuerigen Blicke dieser
schönen Töchtern, ihr angenehmes Lachen, und die forchtsamen Bewegungen, welche
sie machten, wirckten so starck auf meine Sinen, daß ich plötzlich von meinem Staunen aufgewecket wiederum zu mir selbsten kame, und meinen Irrthum wahrnehmen
konnte« (Bodmer/Breitinger 1721–1723: 3, 113–114).
Distraktion und Schwärmerei – das sind in der Tat die beiden Gefahren, die Breitinger
mit dem meditativen Staunen verbindet. Zugleich relativiert er sie aber auch bereits.
Denn was in Gesellschaft deplatziert oder sogar bedrohlich erscheint, wird außerhalb
ihrer zum Merkmal eines »richtigen und ungestörten Denkens« oder eines »poetischen
Enthusiasmus«. So spricht Breitinger zum Beispiel über die
»Secte der Staunenden oder der Träumer, denen die blöde Imagination in währender
Entzückung allerley Gesichter vorstellet, und die dieses singular haben, daß sie in
ihren Distinctionen die wunderlichsten Bewegungen machen«.
Gegen das Ansinnen, solche »Traumbold[e]« könnten Wahnsinnige oder gar »Zauberer«
sein, wendet er ein, es handele sich vielmehr um »Inspirat[en]« (ebd.: 128). Denn, wie er in
»Von dem Einfluss und Gebrauche der Einbildungskraft« zusammen mit Bodmer festhält:
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»Der Poetische Enthustasmus ist nichts anders, als die äusserst starcke Leidenschafft, womit
das gantze Gemüth eines Authors für seine Materie eingenommen und angefüllet
ist, diese bindet die äussern Sinnen, daß sie von denen umstehenden Dingen nicht
gerührt werden; sie jaget die Einbildungs-Krafft in eine ausserordentliche Hitze, und
führet den Dichter gleichsam ausser sich selbst, daß er die Einbildungen von den
Empfindungen nicht unterscheiden kann« (Bodmer/Breitinger 1727: 238).
Im Staunen entfaltet sich die Zeit gleichsam zu einem Denk- oder Imaginationsraum, der
den Staunenden in Gesellschaft notwendig de-platziert erscheinen lässt.
»[O]hne Bewusstsein der Zeit«
Heinrich Manns Erzählung »Das Wunderbare« (1897) greift explizit auf die ästhetische
Kategorie des »Wunderbaren« zurück, die für die Poetiken des Staunens des 18. Jahrhunderts
kanonisch war. Zugleich interpretiert er sie aber auch in bezeichnender Weise um, und
zwar im Sinne einer impressionistischen »Mystik der Nerven«, wie sie der Wiener Kritiker
und Zeitdiagnostiker Hermann Bahr 1891 ausgerufen hatte (Bahr 2004 [1891]: 130).9
In Manns Erzählung berichtet ein Ich-Erzähler von der Begegnung mit einem alten
Freund, Siegmund Rohde. Dieser erzählt ihm in einer Binnenerzählung von einem lange vergangenen Erlebnis, das seine Haltung zum Leben für immer verändert habe: die
einen Sommer währende Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau in einem ebenso
geheimnisvollen Tal in den italienischen Alpen. Gleichzeitig handelt es sich bei dieser
Binnenerzählung um eine Krankengeschichte.10 Der junge Rohde leidet an zwei typischen
Künstlerkrankheiten der Jahrhundertwende: zum einen an der Schwindsucht – darauf deutet
ein »Blutsturz« (Mann 1978 [1897]: 208) hin –, die im 19. Jahrhundert als Auszeichnung
besonders sensibler Personen galt; und an Selbst- und Weltentfremdung (Depersonalisation), die mit Abstumpfung, Teilnahmslosigkeit und einer zynischen Distanz zu den
Dingen und Menschen um ihn herum einhergehen. Sein »Empfinden [ist] sehr stumpf«
geworden, er krankt an »tiefe[r] Ernüchterung« und glaubt der »ganzen Flachheit und der
Lüge des Lebens auf den Grund zu sehen« (ebd.). Diese allgemeine Entfremdung drückt
sich auch darin aus, dass Siegmund nicht mehr zu staunen in der Lage ist. Selbst was er
»zum ersten Male erlebt«, lässt ihn kalt; er bemerkt »[d]as Fremdartige der Umgebung«
gar nicht mehr; einst »ersehnte[] Meisterwerke[]« der Kunst ziehen »eindruckslos an [s]
einer Seele vorüber«, es fehlt Siegmund gänzlich »die Neugier, mehr zu sehen« (ebd.).
Aus diesem Zustand rettet ihn erst »[d]as Wunderbare« (ebd.: 207). Dabei wird in
der Erzählung ein durchaus zeittypischer Gegensatz zwischen Erleben und Begreifen des
Wunderbaren konstruiert, die einander wechselseitig ausschließen: Wer, wie Siegmund,
das Wunderbare erlebt, verliert seinen Begriff; wer es aber begreift, kann es nicht erleben.
Im Erleben des Wunderbaren fällt darum auch das Sich-Wundern über das Wunderbare
9 Zur umdeutenden »Neoromantik« Manns vgl. Stübe 2017: 27–48.
10 Zum Zusammenhang von Krankheit und Kunst beim frühen Heinrich Mann, sowie zu
Das Wunderbare als Seelen- und Traumdichtung vgl. Strohmann 2003: 278–297.
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aus, das immer schon eine gewisse Distanzierung von ihm bedeuten würde: »Waren ihre
Worte ungewöhnlich? Mich wunderten sie nicht« (ebd.: 215). »Ich hätte wohl über die
Frage erstaunen müssen, doch zuckte ich nur die Achseln« (ebd.: 220).
Und doch ist das Staunen in der Erzählung alles andere als abwesend.11 Nicht nur
reagiert der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung auf Siegmunds Andeutungen mit Staunen,
sondern auch Siegmund selbst öffnet sich erst im Staunen der impressionistische Imaginationsraum des wunderbaren Tals, in den er schließlich vollständig eingeht. Denn in
Rohdes Staunen gehen höchste Aufmerksamkeit – im Sinne einer gesteigerten sinnlichen
Wahrnehmung, wie sie z.B. im Reichtum visueller Wahrnehmungsmodi zum Ausdruck
kommt: er »sieht«, »bemerkt«, »lugt«, »meint zu sehen«, »späht« und »entdeckt« 12 – und
traumähnliche Zustände Hand in Hand. Diese paradox anmutende Verbindung ist ein
zentrales Thema der Sinnesphysiologie und Wahrnehmungstheorie der Jahrhundertwende,
wie Jonathan Crary herausgearbeitet hat: »Attention always contained within itself the
conditions for its own disintegration, it was haunted by the possibility of its own excess
[…]. In any number of ways, attention inevitably reaches a threshold at which it breaks
down. Usually it is the point at which the perceptual identity of its object begins to deteriorate […]. Or it can be a limit at which attention imperceptibly mutates into a state of
trance or even autohypnosis«.13 Bei den träumerischen Zuständen Rohdes handelt es sich
also gewissermaßen um die notwendige, aber von den zeitgenössischen Wissenschaften
häufig als pathologisch beurteilte Kehrseite seiner Aufmerksamkeit – die, wie Crary zeigt,
für die Kunst (z.B. des Impressionismus) aber gerade produktiv wird.14
Wenn Rohde zu Beginn, von der »Anziehung, die die unbekannte Ferne auf uns
ausübt« und einer unbestimmten »Sehnsucht« (ebd.: 209) getrieben, noch von außen auf
das Wunderbare blickt und das Tal als entsprechend erstaunlich und seltsam wahrnimmt,
den Weg dahin z.B. als »wie verzaubert« beschreibt, von der Sommerstille als einem
»Geheimnis« (ebd.: 210) spricht und sogar von dem »Gefühl« des »Unheimlichen« (ebd.:
212) angeweht wird, werden ihm seine durch dieses Staunen induzierten Tagträume bald
immer mehr zur Wirklichkeit: »Mitten in dem seltsamen Lande befand ich mich jetzt,
zu dem ich hinabgeträumt hatte« (ebd.). Erst jetzt, wenn auf das träumende Staunen die
Immersion in die imaginierte Wunderwelt folgt, setzt die Überraschung aus:
11 Vgl. auch Lea Ritter-Santini, die der Novelle Manns die bis dato wohl eingehendste Untersuchung gewidmet hat, auch zu Ludwig von Hoffmanns »Libelle«, der Abbildung, die
den Erstdruck der Novelle in der Zeitschrift »Pan« (1896) begleitet: »Die Zeichnung deutet in der Geste des Mädchens an, was die Novelle auch zuerst zu übermitteln versucht:
das Staunen über eine unerwartete Begebenheit, die doch vertraut erscheint, und das
Zögern vor dem Wagnis, die Hand zu strecken, um sie festzuhalten« (Ritter-Santini 1969:
134–174, hier 134).
12 Mann 1978: 209/210.
13 Crary 2000: 47.
14 Der ambivalente Status der Aufmerksamkeit wird auch in den zeitgenössischen Diskussionen um die Hypnose deutlich. Wie Crary bemerkt, bewiesen zahlreiche Experimente
die große Nähe von konzentrierter Aufmerksamkeit und hypnotischer Trance. So notierte z.B. Stanley Hall 1883, dass die meisten Phänomene, die man unter dem Begriff
der Hypnose fasse, zurückzuführen seien auf »an unusual degree of ›concentration of
Attention‹, variously directed by suggestions of many kinds« (Hall 1883: 170, zit. n. Crary
2000: 66).
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»Und ich war kaum überrascht. Hatte ich doch […], meinen Blütentraum fortgesponnen
und See und Garten und Haus belebt, mit allem, was ich wünschen mochte, mit allem,
was wir ahnen von Huld und Glück« (ebd.: 213).
Erst jetzt kann Siegmund »das Unmögliche zustoßen […], ohne daß es [ihn] in Verwunderung setzte« (ebd.: 218).15
Wer im Raum des Staunens aufgeht, staunt also nicht mehr.16 Zugleich befindet er sich
in einem Jenseits der Sprache, das der gleichwohl sprachlichen Beschreibung, die Siegmund
seinem staunenden Zuhörer zu geben versucht, einen eigentümlich impressionistischen
Charakter verleiht. Nicht der Begriff, sondern die Nervenreize, die unmittelbare sinnliche
Wahrnehmung stehen hier im Vordergrund, ihre Verschwommenheit und Flüchtigkeit,
ein irisierendes Spiel von Licht und Schatten, Farben und Wellen:
»Im Wasser die Blätterschatten waren hier und da von einem weißlichen Schein erhellt,
den von der Oberfläche des Baumgewölbes die Winde herabsandte. […] In dem goldenen Sonnenstreif, der die Grenze meines grünen Reiches bildete, blitzten die blauen
Lichter der Libellen und Falter hin und her. Wie lange war ich so geblieben? Da glitt
ein schlanker Schatten über jenen Sonnenstreif, zu mir herein. Hinter ihm tauchte der
schmale Bug eines hellgestrichenen Bootes auf, und dann langsam, langsam erschienen
die im Sonnenduft verschwimmenden Konturen einer Frauengestalt« (ebd.: 213).
Im aisthetischen Staunen über das verwunschene Alpental steigt Siegmund gleichsam
in ein impressionistisches Gemälde ein,17 das er mit der Frau seiner Träume bevölkert,
die sowohl als Naturgottheit als auch als Madonnen- und als Christusfigur gedeutet
werden kann.
Heinrich Mann versteht das Wunderbare also einerseits aus der Nachträglichkeit
heraus: Erlebt man das Wunderbare, weiß man nichts davon; weiß man aber davon und
kann davon sprechen, so hat man das Wunderbare bereits verloren. Deshalb spielen in
der Erzählung Erinnern und Vergessen eine zentrale Rolle. So bekennt Rohde, dass er
die Frau »vergessen«, nur einen undeutlichen »Widerschein« vor seinem inneren Auge
zurückbehalten habe (ebd.: 231). Und als »natürlich« (ebd.) kann Rohde dieses Vergessen
bezeichnen, weil er die Gestalt der Frau von Anfang an niemals deutlich wahrgenommen
hatte, sodass er sie nun auch nicht deutlich erinnern kann. Bei ihrer Begegnung ging es
gerade nicht darum, dass er sie identifiziert, sondern um ein Verschwimmen aller Grenzen
und um ein Verschmelzen mit ihr.
15 Vgl. auch in der älteren Fassung: »In nachdenklichem Staunen stieg ich vollends hinab. Auf die Terrasse hinaustretend, sah ich mich ihr gegenüber, unerwartet, doch ohne
Überraschung, obwohl ich ihrer soeben noch gedacht« (Mann 1978, Kommentar zu Seite 219: 665/655).
16 Und wie Ritter-Santini bemerkt: »wenn [das Wunderbare] erscheint, fällt das Staunen
vom Helden der Fabel, um auf den nicht teilhabenden Leser überzugehen« (Ritter-Santini
1969: 143).
17 Zu dieser Novelle als einem »Paradebeispiel visuellen Erzählens«, hier allerdings v.a. mit
Bezug auf den Symbolismus und einer Ekphrasis von Böcklins »Die Villa am Meer«:
Zilles 2015: 67–87, hier 80–85.
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Nicola Gess
Gegenläufig zum Vergessen bewegt sich die Erinnerung, die der Text ebenfalls thematisiert. In der Erinnerung verkehrt sich das Erlebte. Rohde bemerkt:
»heute erinnere ich mich ihrer kaum wie eines Menschen« (ebd.: 232); »Ich meine das
Ferne, Sinnlose, ganz Unmögliche, bloß Geträumte, dessen man sich, auch wenn
man es erlebt hat, nur wie an einen Traum erinnert« (ebd.: 207); »Ich habe […] das
Wunderbare [überlebt] […], dessen man später, auch wenn man es erfahren hat, nur
wie an etwas Unwirkliches denkt« (ebd.: 232).
Obwohl es sich um ein wirkliches Erlebnis handelt, wie Rohde mehrfach betont, erinnert
er seinen Aufenthalt im Reich des Wunderbaren nachträglich als etwas Unwirkliches,
Geträumtes. Diese Wandlung ist der Distanz geschuldet, in der er nun zu ihm steht,
sowie auch der Perspektive, von der er nun auf es blickt, nämlich die der »bürgerlichen
Gewöhnlichkeit« (ebd.: 207). Mit deren Begriffen lässt sich das Erlebte nicht fassen. Daher
auch der Griff zu Substantivreihungen wie »das Ferne, Sinnlose, ganz Unmögliche, bloß
Geträumte« (ebd.): Immer neue Begriffe werden aufgeboten, weil keiner trifft, und sie alle
laufen auf negative Bestimmungen hinaus (unwirklich, unmöglich, sinnlos), die sich an
der bürgerlichen Normalität orientieren, Rohdes Erlebnis im impressionistischen Reich
des Wunderbaren aber widersprechen. So verkehrt sich das Erlebte und wird erst in dieser
Verkehrung zu dem, was in der bürgerlichen Welt »wunderbar« heißt.
Dem Vergessen und Erinnern entgegen steht andererseits die Zeitlichkeit im Raum
des Staunens selbst. Wieder und wieder wird beschrieben, wie Siegmund in diesem
Raum das Bewusstsein von Raum und Zeit verliert. Dafür spielt u.a. der sinnierende
Blick, der in Grimms Wörterbuch als typische Haltung des Staunenden beschrieben wird,
eine wichtige Rolle:
»Wir schritten langsam dahin und blickten, stehenbleibend, in eine gemeinsame Ferne,
die wir kaum sahen. Ja, obwohl der Raum, in dem wir uns bewegten, im Grunde nur
klein war, schien es doch nicht anders, als wandelten wir, Seite an Seite, in unendliche
Weiten fort. Ich hatte das Gefühl für Raum und Zeit verloren in dem namenlosen
Zauber ihrer Gegenwart. Ich kannte nur das Licht und den Duft und die stille Schönheit, sehnsüchtig, in ihnen aufzugehen mit ihr« (ebd.: 222).
Der Zustand, in dem Siegmund hier lebt und der das Zeitkontinuum seines bürgerlichen Lebens unterbricht, ist ein zeitloser (»ohne das Bewußtsein der Zeit«; ebd.: 224)
und mystischer, insofern sich in ihm Augenblick und Ewigkeit berühren (vgl. ebd.:
232).18 Abermals kennzeichnet ihn eine Krankheit – Siegmund fühlt sich »schwächer
und kränker als seit langem« (ebd.: 221) –, eine Krankheit zum Tode sogar, in der sich
jedoch die Auferstehung und damit der endgültige Ausstieg aus der linearen Zeitlichkeit
ankündigen: Die Frau stirbt und bleibt doch stets gegenwärtig für Siegmund. Er lebt ihr
18 In der ersten Fassung markiert Mann die Anleihen bei der Mystik noch stärker; in der
Endfassung hingegen lässt er solche Markierungen weg oder ersetzt er das Adjektiv
»mystisch« z.B. durch »träumend« (vgl. dazu und zu den mystischen Anleihen in der
Novelle: Ritter-Santini 1969: 140–141, 155–159).
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Leben fortan ohne sie, und doch dauert es – aus Sicht der Ewigkeit – nur eine Minute,
bis er ihr nachfolgen wird. Siegmund zieht sich aus der rasenden Moderne in ein stilles
Leben auf dem Land zurück und hat doch stets den Finger am Puls der Zeit, wie der
Ich-Erzähler der Rahmenhandlung neidvoll bekennt.
»Dialektik im Stillstand«
Was Heinrich Manns Erzählung neuromantisch entwirft – Staunen als eine Praxis der
Wiederverzauberung, die den zum Bürger gewordenen Künstler vor dem Leiden an einer
um sich greifenden Entfremdung schützen soll –, wird wenig später von verschiedenen
Seiten der Kritik unterzogen. Ernüchterung greift zum Beispiel in Carl Einsteins Bebuquin
oder die Dilettanten des Wunders um sich. Nicht nur wird das Wunderbare hier seines
übernatürlichen Nimbus‘ beraubt, indem es als Produkt einer ästhetizistischen Konditionierung erscheint: »Das Wunder ist eine Frage des Trainings« (Einstein 1994 [1912]: 105),
sondern es wird zugleich auch vorgeführt, dass dieses Programm nicht mehr funktioniert:
»Seit Wochen starrte Bebuquin in einen Winkel seiner Stube, und er wollte den Winkel
seiner Stube aus sich heraus beleben. […] Aber sein erschöpfter Wille konnte nicht
ein Stäubchen erzeugen« (ebd.: 98)
– der Wille bleibt matt, das Staunen fällt aus, die Imagination springt nicht an, der Winkel
bleibt ein toter Winkel und die Wochen bleiben einfach Wochen.
Einsteins Kritik an einer mechanistischen Wiederverzauberung teilen auch Bertolt
Brecht und Walter Benjamin. Gleichwohl halten sie am Staunen fest, das sie allerdings nicht
mehr mit Traum und Immersion, sondern mit Kritik und Distanznahme verbinden und in
ihren Überlegungen zum epischen Theater an die Verfremdung koppeln. Brecht schreibt:
»Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang
oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen
und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen« (Brecht 1967 [1939]: 301).
In seinem Aufsatz zum epischen Theater von 1939 greift Benjamin diese Orientierung
auf das Staunen auf und ergänzt:
»Die Kunst des epischen Theaters ist vielmehr, an der Stelle der Einfühlung das Staunen
hervorzurufen. Formelhaft ausgedrückt: statt [sic!] in den Helden sich einzufühlen,
soll das Publikum vielmehr das Staunen über die Verhältnisse lernen, in denen er
sich bewegt« (Benjamin 1991b [1939]: 535).
Auch bei Benjamin tritt also das Staunen an die Stelle der Einfühlung, wird auf die
Verfremdung als ästhetisches Verfahren der Produktion von Staunen gesetzt, das ein
Nachdenken über die dargestellten Verhältnisse auslösen soll.
Benjamin fokussiert dabei jedoch auf ein anderes Verfahren der Verfremdung, das
nicht diskursiv kommentierend (wie bei Brecht), sondern temporal gedacht ist: die
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schockartige Unterbrechung des Zeitflusses, den Stillstand des Bühnengeschehens im
»Tableau« oder, mit Benjamin gesprochen, im »Zustand«. Er schreibt:
»Das epische Theater gibt also nicht Zustände wieder, es entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen« (ebd.).
Zugrunde liegt diesem Gedanken ein geschichtsphilosophisches Konzept, das hier nur
kurz angerissen werden kann. Benjamin versteht Geschichte nicht als linearen Verlauf;
vielmehr kristallisiert sich Geschichte für ihn in Momenten der Überblendung zweier zeitlich
weit auseinanderliegender Augenblicke, die aufgrund ihrer Distanz wenig miteinander
zu tun zu haben scheinen, sich aber plötzlich, schockartig, in ihrer Ähnlichkeit, in ihrer
Bezogenheit aufeinander offenbaren und so wechselseitig neu lesbar machen. Geschichte
vollzieht sich also sprunghaft, in Rupturen des Zeitkontinuums. Dementsprechend soll
auch das Theater keine linearen Geschichten erzählen, sondern mittels Unterbrechungen
für die Kristallisation von Zuständen sorgen, in denen sich weit Auseinanderliegendes,
seien dies widersprüchliche Handlungen und Aussagen, oder eben zwei Zeitebenen,
plötzlich miteinander verschränken, wenn zum Beispiel eine alltägliche Handlung der
Gegenwart eine historische Tiefendimension gewinnt, die sie de-naturalisiert und neu
verstehbar macht. Durch die Unterbrechung, schreibt Benjamin, wird eine »Dialektik
im Stillstand« freigelegt:
»Immanent dialektisches Verhalten ist es, was im Zustand […] blitzartig klargestellt
wird. Der Zustand, den das epische Theater aufdeckt, ist die Dialektik im Stillstand«
(Benjamin 1991a [1931]: 530)
– und auf diese Dialektik richtet sich, wie Benjamin postuliert, das Staunen. Er schreibt
in der früheren Fassung des Aufsatzes zum epischen Theater:
»Die Stauung im realen Lebensfluß, der Augenblick, da sein Ablauf zum Stehen kommt,
macht sich als Rückflut fühlbar: das Staunen ist diese Rückflut. Die Dialektik im
Stillstand ist sein eigentlicher Gegenstand. Es ist der Fels, von dem herab der Blick
in jenen Strom der Dinge sich senkt […]. [D]er Strom der Dinge [bricht sich] an
diesem Fels des Staunens« (ebd.: 531).
So explizit wie kein anderer der hier verhandelten Autoren bestimmt Benjamin hier das
Staunen als Stauung im Lebensfluss, als einen zum Stehen kommenden Augenblick, in
dem eine Dialektik im Stillstand plötzlich und zugleich andauernd sichtbar wird.
Diese Passage ist sehr voraussetzungsreich und kann hier nicht in Gänze erläutert
werden. Ich möchte nur erwähnen, dass sie für Benjamin u.a. im Kontext einer Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie steht, wie im obigen Zitat z.B. an den Motiven
des erfüllten Augenblicks und des Anhaltens des Stroms der Dinge ahnbar wird. Mit der
Dialektik im Stillstand schreibt Benjamin dem Staunen jedenfalls einen Gegenstand zu,
der die intrikate zeitliche Struktur des Staunens, die bereits in Descartes’ Traktat aufgefallen war, fruchtbar macht. Einerseits ist das Staunen bei Benjamin an die Plötzlichkeit
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der Unterbrechung gebunden und immer schon auf seine Transzendierung in Richtung
einer historischen Erkenntnis gerichtet, wie sie auch Brecht anstrebt. Andererseits ist
es bei ihm aber auch mit einer Retardierung verbunden, die nicht nur das dramatische
Geschehen fast zum Stillstand bringt: Benjamin beschreibt das Staunen als Rückflut, ja
sogar als den Felsen, der den Fluss des Geschehens ewig hemmt. Das Staunen erscheint
bei Benjamin gewissermaßen als eine andauernde Lähmung des die Geschichte konstituierenden Augenblicks. Bei Descartes war dieser Augenblick der Moment der ersten
Begegnung mit dem neuen Objekt, der im Erstaunen stillgestellt und in dem so der Reiz
perpetuiert wurde. Bei Benjamin ist es jedoch der Moment der Unterbrechung durch
die unvermutete Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart, der sich zu einer
andauernden Vergegenwärtigung dehnt. Wie Augenblick und Dauer sind im Übrigen
auch Ursache und Konsequenz in Benjamins Bildlichkeit des Staunens ineinander verschränkt: Das Staunen ist sowohl die Rückflut, also Konsequenz der Unterbrechung des
Flusses, als auch der Felsen selbst, der allererst die Unterbrechung verursacht. Angesichts
dieser mehrfachen Aussetzungen linearer Zeitlichkeit lässt sich das Staunen, analog zum
dialektischen Bild, womöglich als dialektische Emotion begreifen, als diejenige Emotion
also, in der sich das »Jetzt der Erkennbarkeit« (Benjamin 1991c [1927–1929]: 1038) des
Vergangenen realisiert.
Paradoxe Eigenzeitlichkeit des Staunens
Dem Staunen wird in den besprochenen Texten eine paradoxe Eigenzeitlichkeit zugeschrieben, die sich als eine Art dauernde Plötzlichkeit beschreiben lässt. Der Affekt des
Staunens setzt die normale/normierte Zeitwahrnehmung außer Kraft: Die Staunenden
frieren ein, oder ihnen dehnt sich der Moment zum (Zeit-)raum, oder sie erleben in
der gestauten Zeit die Überlappung zweier Zeitebenen, oder sie erfahren eine mystische Zeitlosigkeit, in der Ewigkeit und Augenblick in eins fallen. Offenkundig sind die
Eigenzeiten des Staunens, die die Texte entwerfen, sehr unterschiedlich. Descartes und
Benjamin interessieren sich zum Beispiel eher für das Moment der Plötzlichkeit und der
Unterbrechung des Zeitflusses, während Breitinger und Mann eher auf die zeitliche Dehnung und die Entfaltung des Moments zum Denk- oder Imaginationsraum fokussieren.
In fast allen besprochenen Texten werden diese Eigenzeiten des Staunens aber mit
Pathologien in Verbindung gebracht, ob als deren Ursache, Symptom oder Heilmittel. In
den Texten ist von krankhaften Zuständen die Rede, die z.B. von einem unangemessenen
(Breitinger) oder von einem zu häufigen oder zu heftigen Staunen (Descartes) herrühren
oder von einem zu seltenen oder zu schwachen Staunen (Mann) begleitet sind. Zugleich
wird mit dem das Zeitkontinuum störenden Staunen jedoch auch ein überlegenes
Denk- und Dichtungsvermögen (Breitinger) oder sogar eine höhere Erkenntnis (Mann,
Benjamin) verbunden oder die Definition von ›krank‹ und ›gesund‹ überhaupt in Frage
gestellt (Breitinger, Mann).
Aber ob Pathologisierung oder Idealisierung: In jedem Fall stehen mit den Eigenzeiten des Staunens epistemologische Fragen im Raum. Es geht in den verhandelten Texten
gewissermaßen um Krankheiten der Erkenntnis und zugleich um deren Möglichkeiten.
Damit verbunden ist immer schon die Frage, wie man die paradoxe Eigenzeitlichkeit des
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Staunens überhaupt sprachlich einfangen kann; mal explizit, wie in Manns Text, insofern
Rohde als Erzähler der Binnenhandlung um Worte ringt, mal implizit, wie man etwa an
der Metaphernfülle der Texte ablesen kann, beispielsweise an der Statue und den gekitzelten Fußsohlen bei Descartes oder an dem sich an einem Felsen brechenden Strom bei
Benjamin, oder auch an den Erlebnisberichten und Neologismen Breitingers (z.B. dem
»Traumbold«). Und nicht zuletzt geht es in den Texten auch darum, inwiefern Kunst
die Eigenzeiten des Staunens nicht nur darstellen, sondern durch ihre eigentümliche
Modellierung von Zeit (z.B. die Unterbrechung der Handlung auf dem epischen Theater,
die Dehnung des Augenblicks in der impressionistischen Beschreibung bei Mann) auch
allererst herbeiführen kann.
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