Fischer, Tatjana
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Soziale Infrastrukturen und Multilokalität
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ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft
Suggested Citation: Fischer, Tatjana (2020) : Soziale Infrastrukturen und Multilokalität, In:
Danielzyk, Rainer Dittrich-Wesbuer, Andrea Hilti, Nicola Tippel, Cornelia (Ed.): Multilokale
Lebensführungen und räumliche Entwicklungen: ein Kompendium, ISBN 978-3-88838-097-6,
Verlag der ARL - Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft, Hannover, pp.
140-146,
https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0156-0976198
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http://hdl.handle.net/10419/218775
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Fischer, Tatjana:
Soziale Infrastrukturen und Multilokalität
URN: urn:nbn:de:0156-0976198
CC-Lizenz: BY-ND 3.0 Deutschland
S. 140 bis 146
In:
Danielzyk, Rainer; Dittrich-Wesbuer, Andrea; Hilti, Nicola;
Tippel, Cornelia (Hrsg.) (2020):
Multilokale Lebensführungen und räumliche Entwicklungen:
ein Kompendium.
Hannover = Forschungsberichte der ARL 13
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Tatjana Fischer
Soziale inFr aSTruk Turen und MulTilok aliTäT
Gliederung
1 Begriffsbestimmung
2 Soziale Infrastrukturen und Multilokalität
3 Stand der Auseinandersetzung in den Raum- und Planungswissenschaften
4 Fazit
Literatur
Kurzfassung
Dieser Beitrag erörtert die Wechselbeziehungen zwischen sozialer Infrastruktur und
multilokaler Lebensführung. Hierbei zeigt sich, dass neben den beiden Kriterien „Vorhandensein von sozialer Infrastruktur“ und „Zugänglichkeit zu sozialer Infrastruktur“
(vor allem in Bezug auf altersspezifische Angebote und Einrichtungen der Lebensphase) persönlichen Präferenzen eine große Bedeutung zukommt. An soziale Infrastrukturen gebundene Multilokalität kann somit Land-Stadt- wie auch Stadt-Land-gerichtet
sein und eine Verlegung des Hauptwohnsitzes, respektive Lebensmittelpunktes nach
sich ziehen. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Zusammenhänge muss die Raumplanung das Thema Multilokalität in die Diskussion um die Bedarfsplanung und Angebotsentwicklung sozialer Infrastrukturen einbringen.
Schlüsselwörter
Infrastrukturplanung – Zugang – Bedarf – Multilokalität – Zusammenhänge
Social infrastructure and multilocality
Abstract
This contribution discusses the relationships between social infrastructures and multilocal lifestyles. Besides the two criteria “existence” and “accessibility” of social infrastructures, it becomes clear that the life phase, personal preferences and free choice
are of great importance, especially with regard to age-specific social infrastructures.
Multilocality linked to social infrastructures can thus take a rural-urban orientation as
well as an urban-rural one, and moreover can entail a relocation of the main residence
or central point of life. Due to the complexity of the interrelationships, spatial planning
must bring the issue of multilocality into the discussion about demand planning and
service development.
Keywords
Infrastructure planning – Access – Demand – Multilocality – Interrelations
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1
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Begriffsbestimmung
Soziale Infrastruktur subsumiert als „unpräziser Sammelbegriff“ (Zapf 2005: 1025)
verschiedenste Einrichtungen, Leistungen und Dienste. Sie umfasst viele Einrichtungen, die die Befriedigung der Daseinsgrundfunktionen „Aus- und Weiterbilden“, „Versorgen“, „Erholen“ und „Kommunizieren“ (vgl. dazu auch Lienau 1995) adressieren.
Dazu zählen vor allem:
> Einrichtungen des Bildungswesens wie Kindertagesstätten, Grund- und Fachschulen, Universitäten, außeruniversitäre tertiäre Aus- und Weiterbildungsstätten,
> Einrichtungen des Gesundheitswesens, darunter v. a. Arztpraxen, Krankenhäuser,
Hospize und Kuranstalten,
> Einrichtungen zur teilstationären und stationären Betreuung und Pflege älterer
Menschen wie Alten- und Pflegeheime, Tageszentren,
> Kultureinrichtungen (u. a. Theater, Kino, Oper)
> Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung und Sicherheit, darunter Ämter,
Polizeistationen, Rettungsdienste,
> Beratungsstellen,
> Erholungs-, Sport- und Freizeiteinrichtungen wie beispielsweise Sportplätze und
Fitnessstudios, Schwimmbäder, Vereinshäuser, Jugendtreffs und Cafés sowie
> die Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs (vgl. dazu u. a. BMVI 2015;
Zapf 2005).
Somit umfasst soziale Infrastruktur wesentliche Angebote zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge (vgl. dazu Humer 2014), die unterschiedliche Kostenintensitäten in der Bereitstellung aufweist und auch deshalb durch unterschiedliche „Rangigkeiten“ bzw. räumliche Reichweiten (Basisversorgung, Zentrales Gut) und eine
vielfältige Trägerlandschaft gekennzeichnet ist. Soziale Infrastrukturen zeigen sich
unterschiedlich elastisch in Bezug auf Nachfrageschwankungen.
Der Bedarf an sozialer Infrastruktur und deren tatsächliche Inanspruchnahme sind,
abgesehen von alters- und gesundheitsbezogenen Einflussfaktoren, von den festgelegten Zugangskriterien (z. B. Hauptwohnsitzmeldung in der Standortgemeinde der
Infrastruktur), der Erreichbarkeit, dem Lebensstil, persönlichen Präferenzen und dem
Vorhandensein von Angebotsalternativen und den Kosten der Inanspruchnahme bestimmt.
Infolge der zunehmenden Institutionalisierung personen- und haushaltsnaher Dienste
(vgl. dazu Meier-Gräwe 2015) gewinnen soziale Infrastrukturen, die sensible Lebensbereiche adressieren (darunter vor allem die Betreuung von (Klein)kindern und pflegebedürftigen älteren Menschen), an Bedeutung. In diesem Zusammenhang werden
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– neben Aspekten der Versorgungsstruktur und -sicherheit (= Vorhandensein in Bezug
auf die Menge) – auch die Versorgungsqualität (= Eigenschaften des Angebots) diskutiert (vgl. dazu Prinz/Reithofer 2005; Piorkowsy 2010).
Die Bedarfs- und Planwerte für soziale Infrastrukturen werden nicht in den Raumordnungsgesetzen, sondern in anderen Materiengesetzen geregelt. Diese bestimmen somit die Angemessenheit der Versorgung und das Erfordernis für die Bereitstellung des
infrastrukturspezifischen Angebots. Raumbezogene Aspekte bleiben dabei unberücksichtigt. Dies legen Gerlinger und Küpper (2015) am Beispiel der ambulanten ärztlichen Versorgung offen. Sie zeigen, dass die Bedarfsplanung der ambulanten ärztlichen Versorgung auf der Definition von Verhältniszahlen beruht und nicht auf
Erreichbarkeitsmaßen wie Anfahrtszeiten und Entfernungen 1 (vgl. ebd.).
2
Soziale Infrastrukturen und Multilokalität
Soziale Infrastrukturen sind somit ein wichtiger Bestandteil der Standortqualität von
Kommunen und Städten. Wenn jedoch die subjektive Bewertung von (kommunalen)
Versorgungsstrukturen und -qualitäten nicht mit dem vor Ort vorhandenen infrastrukturellen Angebot übereinstimmt und eine Lebensphase eng mit einer bestimmten sozialen Infrastruktur verknüpft ist, kann dies zum Auslöser für (Binnen)wanderung einschließlich multilokaler Lebensführung werden.
Im Folgenden werden unter Berücksichtigung der Relevanz der sozialen Infrastruktur
für die Organisation bzw. Bewältigung einer bestimmten Lebensphase und -lebenslage die Zusammenhänge zwischen Infrastrukturangebot und Multilokalität skizziert.
Dabei wird deutlich, dass soziale Infrastrukturen sowohl Land-Stadt- wie auch
Stadt-Land-gerichtete Multilokalität bedingen können.
Konstellation 1: Die Versorgungsstruktur bzw. -qualität am Wohnstandort wird als Defizit erlebt. Das Fehlen einer bestimmten sozialen Infrastruktur am bisherigen Hauptwohnsitz mündet – möglicherweise auch aufgrund großer räumlicher Entfernungen
zwischen dem Wohnstandort und dem Standort der Infrastruktur bzw. schlechter
Erreichbarkeiten mit dem öffentlichen Personennahverkehr – in eine (temporäre)
Verlegung des Lebensmittelpunktes der direkt davon Betroffenen und induziert deren
multilokale Lebensführung. An die Verlegung des Lebensmittelpunktes kann die Umwandlung des bisherigen Hauptwohnsitzes in einen Nebenwohnsitz gebunden sein.
Studierende und Internatsschülerinnen und -schüler sind in diesem Zusammenhang
die quantitativ bedeutendsten Personengruppen (s. Fischer zu Familien in diesem
Band).
Konstellation 2: Das infrastrukturelle Angebot ist am Wohnstandort nicht verfügbar.
Wenngleich dies nicht als Defizit erlebt wird, kann es (für bestimmte Personengruppen) zum Auslöser für Multilokalität werden. Der Hauptwohnsitz wird nicht verlegt.
1 Gerlinger und Küpper empfehlen in ihren Schlussfolgerungen für die Bedarfsplanung in Österreich
die Berücksichtigung dieser beiden Aspekte im Zusammenhang mit einem „angemessenen Zugang
zu Versorgungseinrichtungen“ (ebd.: 86) im Zusammenhang mit dünn besiedelten Regionen.
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1 Naturraum- bzw. standortgebundene soziale Infrastruktureinrichtungen wie Heilbäder und Kuranstalten2 ziehen einkommensstarke Personen mit oder ohne entsprechender tatsächlicher Inanspruchnahme dieser Infrastrukturen an. Diese Personen begründen in der Standortgemeine einen weiteren Wohnsitz und leben
– entweder regelmäßig oder unregelmäßig – als wiederkehrende Mantelbevölkerung hier (vgl. dazu ARL 2016).3
2 Die räumlichen Entfernungen zwischen dem regelmäßig in Anspruch genommenen
Kulturangebot und dem (ländlichen) Wohnstandort begründen einen weiteren
(städtischen) Wohnsitz bzw. das Behalten der bereits in Familienbesitz befindlichen
Wohngelegenheit in der Stadt.
Konstellation 3: Ein Familienmitglied verlegt seinen Hauptwohnsitz in einen Anstaltshaushalt außerhalb der bisherigen Wohngemeinde. Dieser Wanderungsakt resultiert
in Abhängigkeit von der räumlichen Entfernung und der Erreichbarkeit der Einrichtung in der Multilokalität der Angehörigen. Ein Bespiel hierfür sind Angehörige von in
Alten- und Pflegeheimen lebenden älteren Menschen.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die oben ausgeführten Konstellationen
eine Auswahl der in der Realität existierenden Verbindungen zwischen sozialen Infrastrukturen und Multilokalität darstellen.
3
Stand der Auseinandersetzung in den Raum- und
Planungswissenschaften
Die Transformation vom Wohlfahrts- zum Gewährleistungsstaat, die sich in Wanderungsentscheidungen manifestierenden Anspruchsprofile und Lebensentwürfe einerseits und die andererseits anhaltende räumliche Polarisierung in Bezug auf die Bevölkerungsverteilung und -entwicklung sowie das wirtschaftliche und infrastrukturelle
(klein-)regionale Ausstattungsniveau haben bewirkt, dass das Thema „soziale Infrastruktur“ zum zentralen Gegenstand der raum- und planungswissenschaftlichen und
sozialpolitischen Auseinandersetzung auf nationaler und europäischer Ebene geworden ist (vgl. dazu BBSR 2011; Humer 2014). Im Zusammenhang mit der nachfrage(r)
bezogenen Auseinandersetzung von Infrastrukturplanung im Allgemeinen und sozialer Infrastruktur im Speziellen werden Fragen der Unter- und Überauslastungen altersspezifischer Infrastrukturen und – im Kontext ländlicher Regionen – die Folgen und
Reaktionen auf den infrastrukturellen Rückbau fokussiert; im Zusammenhang mit der
angebots- bzw. anbieterbezogenen Auseinandersetzung interessieren in Abhängigkeit
davon, ob (soziale) Infrastruktur auf- oder rückgebaut wird, die Möglichkeiten der
Entwicklung von Angebotsalternativen und neuen Trägerschaften (Steinführer/Küpper/Tautz 2014).
2 Eventuell können diese sozialen Infrastrukturen auch potenzielle Ankerpunkte für die Weiterentwicklung ansonsten strukturschwacher Räume sein.
3 Es ist nicht hinreichend geklärt, inwiefern soziale Infrastrukturen wie etwa Gesundheits- oder Kurzentren direkt oder indirekt die Schaffung eines weiteren Wohnsitzes begünstigen. Gebhardt (2008)
weist in diesem Zusammenhang auf die Schaffung von Altersruhesitzen ehemaliger Kurgäste in den
Kurorten selbst bzw. in deren räumlicher Nähe in Baden-Württemberg hin.
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Die Beiträge der Raum- und Planungswissenschaften im Zusammenhang mit der Planung von sozialen Infrastrukturen stehen im Kontext der Diskussion um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die Abmilderung regionaler Disparitäten. Konkret
beziehen sich die Beiträge zu sozialen Infrastrukturen der kommunalen Grundversorgung auf:
1 die Thematisierung der Herausforderungen der Aufrechterhaltung der Grundversorgung mit sozialer Infrastruktur in strukturschwachen und benachteiligten Räumen (vgl. dazu Tietz/Hühner 2011);
2 die Verteidigung des Zentralen-Orte-Konzepts im Sinne der Absicherung von
Standorten sozialer Infrastrukturen und die daran geknüpfte ausgewogene „regionale Verteilung von öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen … [in der
Hoffnung, dass diese] seitens der Gebietskörperschaften und anderer öffentlicher
Handlungsträger respektiert wird“ (ÖROK 2006: 29) sowie Vorschläge für Orientierungswerte für Bevölkerungszahlen in Zentralen Orten sowie ihren Verflechtungsbereichen (vgl. dazu Blotevogel 2002);
3 die Beurteilung der Versorgungssituation unter Zuhilfenahme von Kennzahlen der
Daseinsvorsorge (vgl. dazu BMVI 2015);
4 die Diskussion und Evaluierung von Alternativen zu herkömmlichen Angeboten sozialer Infrastrukturen v. a. im Bereich der Nahversorgung mit Gütern des täglichen
Bedarfs unter Berücksichtigung des Ehrenamts und unter Berücksichtigung unterschiedlicher kommunaler Größe und Strukturstärken (vgl. dazu Osterhage 2018).
Dabei wird jedoch das Phänomen Multilokalität und dessen (potenzielle) Relevanz für
die Bedarfs- und Standortplanung ebenso wenig mitberücksichtigt wie die Art und
Intensität der Zusammenhänge zwischen Multilokalität, Versorgungsstruktur mit und
Versorgungsqualitäten von sozialer Infrastruktur.
Somit steht die Fülle an empirischer fallbeispielbasierter Raumforschung
> zu den Ursachen des vor allem Land-Stadt-gerichteten Wanderungsverhaltens,
> der Identifikation multilokal lebender Personengruppen (darunter vor allem Kinder aus Trennungsfamilien und Studierende),
> der Begründung für die multilokale Lebensführung, der daraus entstehenden Herausforderungen4 und Chancen5 für die Betroffenen sowie
> zu den Orten bzw. Räumen, an denen sie sich wechselweise aufhalten,
zusammenhanglos neben den raumplanerischen Leitbildern und Postulaten in Hinblick auf eine angemessene räumliche Verteilung von und die Chancengleichheit im
Zugang zu (sozialer) Infrastruktur. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Forschungserkenntnisse über multilokal lebende Personengruppen nach wie vor den
4 Große Bedeutung kommt hier – in Abhängigkeit davon, ob städtische oder ländliche Räume analysiert werden – den Themen Wohnraumschaffung und den Folgen des Brain Drains zu.
5 Insbesondere im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung von multilokal lebenden Studierenden wird die (monetäre) Inwertsetzbarkeit der emotionalen Bindung an die (ländliche) Herkunftsgemeinden andiskutiert.
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Charakter eines wissenschaftlichen Nebenprodukts haben. Somit fehlt es an einer
umfassenden konzeptionellen Verbindung von lebensphasen- und lebenslagenbezogener Multilokalität und der (Weiter)entwicklung sozialer Infrastrukturen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen strukturellen Ausgangslagen der Wohnsitz- bzw.
Standortgemeinden.
4
Fazit
Die Bedarfs- und Angebotsplanung sozialer Infrastrukturen ist tendenziell anbieterorientiert, folgt in der Konzeption der Container-Logik und wird nicht in den Zusammenhang mit multilokaler Lebensführung gestellt. Aufgrund der quantitativen Relevanz der multilokalen Lebensführung an sich (Anzahl der multilokal Lebenden) und
der innerhalb der Bevölkerung bzw. Altersgruppen unterschiedlich verbreiteten multilokalen Lebensführung sind die klassischen Richt- und Orientierungswerte zur Standort-, Angebots- und Bedarfsplanung von Infrastruktur (vgl. dazu u. a. BMVI 2015,
BMVBS 2010) zu hinterfragen und soziokulturelle Kontexte stärker zu berücksichtigen
(vgl. dazu auch Zapf 2005: 1029). Dies würde dazu dienen, die Einzugsbereiche und
Nachfrage vor allem von altersspezifischer sozialer Infrastruktur genauer bestimmen
zu können. Die Raumplanung in Wissenschaft und Praxis ist – nicht zuletzt um ihrem
Koordinationsauftrag nachzukommen (vgl. dazu Gawron 2008) – dazu aufgerufen,
sich in die Diskussion rund um die Festlegung von Versorgungsstandards und -qualitäten sozialer Infrastrukturen sowie formale Zugangskriterien im Rahmen der sog. „Verwirklichungsplanung“ (vgl. dazu UBA 2017) und der Versorgungsforschung – vor allem im Kontext der kommunalen Grundversorgung strukturschwacher Gemeinden
und Regionen – einzubringen. Vor dem Hintergrund großer Wissenslücken über die
heterogen zusammengesetzte Personengruppe der multilokal Wohnenden und deren
infrastrukturbezogene Anforderungsprofile muss der Erörterung der Sinnhaftigkeit6
und Möglichkeit der Berücksichtigung von Multilokalität bei der Bedarfsplanung sozialer Infrastruktur einschließlich der Potenzialanalyse neu zu entwickelnder, ausschließlich auf die Personengruppe der multilokal Lebenden zugeschnittenen Infrastrukturangebote besondere Beachtung geschenkt werden.
Literatur
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Daseinsvorsorge. Berlin. = BMVI-Online-Publikation 01/2015.
6 In diesem Kontext ist es im Sinne der Erhaltung sozialer Infrastrukturen wichtig, infrastrukturspezifische Verhältniswerte der tatsächlichen Inanspruchnahme durch die ortsansässige Bevölkerung einerseits und die multilokal Wohnenden andererseits auseinanderzusetzen.
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Gawron, T. (2008): Zentrale-Orte-System und Sicherung der Daseinsvorsorge in schrumpfenden Regionen: Zum Koordinationsdilemma zwischen Raumordnung und Fachplanung. Leipzig. = UFZ Discussion
Paper 3/2008.
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Autorin
Tatjana Fischer (*1973), Mag. Dr., Diplomstudium der Geographie an der Universität
Wien, Doktoratsstudium an der Universität für Bodenkultur Wien. Wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Institut für Raumplanung, Umweltplanung und Bodenordnung der
Universität für Bodenkultur Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Raumentwicklung und Infrastrukturplanung vor dem Hintergrund des demographischen
Wandels.