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In: Achim Stephan/Sven Walter (Hg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. Stuttgart: Metzler, 2013.
186
7.
III. Strukturen kognitiver Systeme
Verkörperlichung und
situative Einbettung
(embodied/embedded
cognition)
Historisch findet die Idee der Verkörperlichung ihre
Vorläufer in der phänomenologischen Tradition
bei Edmund Husserl, Martin Heidegger, Maurice
Merleau-Ponty und Hubert Dreyfus sowie in der
entwicklungspsychologischen Tradition bei Lev
Vygotski, Alexander Luria und Jean Piaget. Für Merleau-Ponty (1945) z. B. spielte der Leib als Bedingung der Möglichkeit von Welt- und Selbstwahrnehmung eine zentrale Rolle. Systematisch gewann
diese Idee an Bedeutung, als in den1990er Jahren das
Roboter-Fußballspiel (s. Kap. II.B.2) nach und nach
den Turm von Hanoi als klassische Herausforderung
an maschinelle Intelligenz abzulösen begann. Hierin
drückt sich ein erheblicher Paradigmenwechsel aus,
der sich während der letzten beiden Dekaden innerhalb der Künstliche-Intelligenz-Forschung (KI) vollzogen hat. In der klassischen KI (s. Kap. II.B.1)
wurde Kognition im Wesentlichen als das regelgeleitete Abarbeiten von Symbollisten aufgefasst – und
Problemstellungen wie der Turm von Hanoi, das
Schachspiel oder die Entwicklung von Expertensystemen waren gut verträglich mit dieser Doktrin
(s. Kap. III.1). Demgegenüber stellt die Fähigkeit natürlicher kognitiver Systeme, aktiv ihre Umwelt zu
explorieren und auf unerwartete Umweltbedingungen angemessen zu reagieren, eine große Herausforderung dar, die mittlerweile als entscheidend für
ein vertieftes Verständnis von Kognition angesehen
wird. ›Angemessen‹ bezieht sich dabei auf wenigstens dreierlei:
• zeitliche Angemessenheit: das System muss auf
einer der Problemstellung angepassten Zeitskala
reagieren;
• energetische Angemessenheit: der energetische
Aufwand muss in einem angemessenen Verhältnis zur Problemstellung stehen;
• computationale Angemessenheit: der interne Informationsverarbeitungsaufwand muss in einem
angemessenen Verhältnis zur Problemstellung
stehen.
Vor allem im Hinblick auf den energetischen und
computationalen Aufwand ergeben sich mit der
Umorientierung zu aktiv ihre Umwelt explorierenden kognitiven Systemen Forderungen nach Schlankheit und Ressourcenschonung, die in der klassischen
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KI nicht in den Blick genommen wurden, denen
durch die Ausnutzung der spezifischen körperlichen
Verfasstheit kognitiver Systeme und ihrer spezifischen situativen Einbettung in die Umwelt aber gerade Rechnung getragen werden kann. Ein lehrreiches Beispiel bieten passiv-dynamische Laufmaschinen. Dabei handelt es sich um rein mechanische
Konstruktionen, die ihre natürlichen Bewegungsfreiheitsgrade in selbststabilisierender Weise nutzen,
um z. B. eine schiefe Ebene hinabzulaufen. Die Energie stammt dabei im Idealfall gänzlich aus der Gravitation oder aus kleinen, energieeffizienten Aktoren.
Zwar können derartige Systeme bisher nur wenige
einfache Bewegungen ausführen, ihre Energieeffizienz ist aber durchaus vergleichbar mit derjenigen
von Lebewesen. Ein weiteres Beispiel sind Rodney
Brooks ’ Arbeiten Anfang der 1990er Jahre, die u. a.
provokante Titel wie ›Intelligence without representation‹ oder ›Intelligence without reason‹ tragen
(vgl. Brooks 1999). Die von Brooks entworfene Subsumptionsarchitektur (subsumption architecture) gestattet die Konstruktion einfacher Roboter, die sich
in dynamischen Umgebungen flexibel bewegen können, statt einer aufwendigen internen Repräsentation der Umgebung jedoch auf ein breites Angebot von Verhaltensroutinen zurückgreifen (s. Kap.
IV.24), die je nach Sensorinput adäquat ausgewählt
werden und für eine bestimmte Zeit die Steuerungsoberhand behalten, was eine computational schlanke
und gleichzeitig flexible Navigation in Echtzeit erlaubt.
Konzepte von Verkörperlichung und situativer
Einbettung erfreuen sich in der Robotik (s. Kap.
II.B.2) mittlerweile eines hohen heuristischen Werts.
Rolf Pfeifer z. B. listet Designprinzipien auf, denen
die Entwicklung autonomer Roboter genügen sollte
(Pfeifer/Bongard 2007; Pfeifer/Scheier 1999). An
oberster Stelle steht für Pfeifer dabei zunächst das
Drei-Konstituenten-Prinzip, ein Metaprinzip, das
den Kontext bestimmt, in den das Roboterdesign
eingebettet ist: Man benötigt demnach die Definition einer ökologischen Nische, der gewünschten
Verhaltensweisen und Aufgabenstellung sowie das
eigentliche Agentendesign. Zu den weiteren Prinzipien zählen das Vollständige-Agenten-Prinzip (Agentensysteme müssen autonom, verkörperlicht und situativ in ihre Umwelt eingebettet sein) und das Prinzip des sparsamen Designs (Agentensysteme sollten
die physikalischen Randbedingungen der ökologischen Nische nutzen). Eines von zahlreichen Beispielen von Systemen, die diesen Prinzipien genügen, ist Puppy, ein vierbeiniger Roboter, bei dem die
äußere Konstruktion und Morphologie in besonders
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7. Verkörperlichung und situative Einbettung (embodied/embedded cognition)
eleganter Weise auf die innere dynamizistische Antriebsmaschinerie und die Umwelt abgestimmt sind
(Pfeifer/Bongard 2007). Anthropomimetische Systeme wie ECCEROBOT sind darauf angelegt, die
menschliche Muskel-, Skelett- und Gelenkstruktur
so nachzuahmen, dass sich die Materialeigenschaften biologieähnlicher Komponenten für die Motorik, Dynamik und Energetik des Roboters ausnutzen
lassen (Holland/Knight 2006; s. Kap. III.5).
Andere Beispiele ergeben sich im Rahmen von
Schwarmintelligenz, Simulationen und künstlichen
Multiagentensystemen. Zu den Herausforderungen
dabei zählt es, eine Kollektion von mit elementaren
Verhaltensroutinen ausgestatteten Einzelsystemen
zu neuartigem und komplexem Verhalten auf der
Ebene der Gruppe zu bringen, ohne dabei auf zentrale Planungs- und Organisationseinheiten zurückzugreifen. Ein einfaches Beispiel bietet das System
Nerd Herd (Matarić 2007), dessen mit nur fünf elementaren Bewegungsroutinen (z. B. Folgen und Abstandhalten) ausgestatteten mobilen Roboter ein
komplexes Schwarmverhalten ausbilden können.
Eine weitere zentrale Fragestellung gehört in den
Gegenstandsbereich der evolutionären Robotik
(s. Kap. III.5). Dort geht es u. a. darum, die Morphologie und das Kontrollsystem von Robotern selbst
zum Gegenstand einer dynamischen Entwicklung
zu machen. Ambitioniertere Systeme dieser Art
existieren allerdings bislang vornehmlich als Simulationen.
Mentale Repräsentationen
Nach traditioneller Auffassung kommt dem Konzept
der Repräsentation für das Wesen von Kognition
entscheidende Bedeutung zu (s. Kap. IV.16). Hurley
(1998) nennt dies die Sandwich-Konzeption des
Geistes: Kognitive Systeme agieren auf der einen
Seite mit perzeptuellem Input und reagieren auf der
anderen Seite mit motorischem Output, und zwischen beiden Seiten vermitteln Repräsentationen.
Ansätze von Verkörperlichung und situativer Einbettung führen zu Abschwächungen dieser Konzeption. Die zentrale Frage dabei ist, ob kognitive
Prozesse und Aktivitäten sowie die mit ihnen einhergehenden repräsentationalen Fähigkeiten eines
kognitiven Akteurs rein intern sind oder bis zu welchem Grade sie durch externe Körper- oder Umgebungsbedingungen mit geprägt oder mit konstituiert werden. Es lassen sich verschiedene Formen von
Verkörperlichung bzw. situativer Einbettung unterscheiden (s. u.):
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Schwache Verkörperlichung: Kognitive Systeme
verfügen über interne Repräsentationen, deren
Gehalt, Struktur und Datenformat durch körperliche bzw. situative Bedingungen geprägt sind.
Starke Verkörperlichung: Kognitive Systeme verfügen über Repräsentationen, deren Gehalt, Struktur
und Datenformat durch körperliche bzw. situative
Bedingungen konstituiert sind.
Radikale Verkörperlichung: Kognitive Systeme
verfügen über keinerlei Repräsentationen. Fähigkeiten und Leistungen kognitiver Systeme beruhen sämtlich auf körperlichen bzw. situativen Gegebenheiten sowie Körper-Umgebungs-Interaktionen.
Von der Frage nach der Bedeutung des Konzepts von
Repräsentationen für das Wesen von Kognition ist
die Frage zu unterscheiden, wie mentale Repräsentationen ihren semantischen Gehalt erlangen, wie also
der Schritt von einer rein syntaktischen Ebene zur
Ebene der Symbolbedeutungen vollzogen werden
kann (s. Kap. III.1). In diesem Zusammenhang
wurde verschiedentlich die These vertreten, dass
Verkörperlichung und situative Einbettung zur Lösung des symbol grounding problem (Harnad 1990)
beitragen können. Die Grundidee ist, dass Repräsentationen über verkörperlichtes Verhalten und Handeln bzw. die situative Einbettung kognitiver Systeme direkt in der Welt verankert sind. Wie z. B.
Steels (2010) behauptet, lässt sich die Entstehung rudimentärer grammatischer und semantischer Strukturen auf der Basis von Sprachspielen erklären, an
denen Populationen von Robotern beteiligt sind, deren Verkörperlichung sich bereits auf einfache Sensoren und Aktoren beschränkt. Rowlands (2006)
versucht zu zeigen, dass sich der normative Charakter repräsentationalen Gehalts dadurch begründen
lässt, dass er im Rahmen verkörperlichter und situativ eingebetteter Systeme direkt in Handlungen verankert ist, denen genuine Normativität zugesprochen wird.
Schwache Verkörperlichung
Im Rahmen von schwacher Verkörperlichung bzw.
schwacher situativer Einbettung geht man von der
Vorstellung aus, dass Gehalt, Struktur und Datenformat mentaler Repräsentationen durch körperliche
bzw. situative Bedingungen geprägt sind. Beispielsweise kann man sich ein Passwort oder eine Geheimnummer merken, indem man das entsprechende
Eingabemuster auf der Tastatur lernt, also eine mo-
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torische anstelle einer propositionalen Repräsentation nutzt (s. Kap. IV.16). Diese Form von Verkörperlichung ist im Sinne von Ryles (1949) klassischer
Unterscheidung typischerweise eine Form von Wissen-wie anstelle von Wissen-dass (s. Kap. IV.25).
Ein bedeutsamer Vorläufer der modernen Verkörperlichungsidee ist Gibsons (1979) ökologischer
Ansatz in der Wahrnehmungspsychologie, wonach
Aspekte der Umgebung Handlungsangebote (affordances) bieten und Wahrnehmungsrepräsentationen durch situative Handlungsmöglichkeiten bestimmt werden (s. Kap. IV.24). Clark (1997) spricht
in diesem Zusammenhang von kontextabhängigen
und handlungsbezogenen Repräsentationen (actionoriented representations). Die Handlungsbezogenheit verkörperlichter oder situativ eingebetteter Repräsentationen führt typischerweise dazu, dass mentale Repräsentationen Modelle des Körpers (oder
von Teilen des Körpers) einbeziehen (s. u.). Auch
Formen geteilter Intentionalität lassen sich als Beispiele handlungsbezogener und situierter Repräsentationen auffassen: Hierbei teilen verschiedene kognitive Akteure Handlungspläne und Handlungsziele, wobei jeder Akteur wechselseitig die Beiträge
der Kooperationspartner zur Handlungsdurchführung sowie das gemeinsame Ziel repräsentiert (Tomasello et al. 2005). Die mentalen Zustände Anderer
tragen in diesem Sinne zur situativen Einbettung bei.
Starke Verkörperlichung
Der starken These zufolge sind körperliche bzw. situative Bedingungen nicht nur mit prägend, sondern
konstitutiv für Gehalt, Struktur und Datenformat
mentaler Repräsentationen. Der Körper oder Teile
des Körpers werden dabei typischerweise selbst zum
Medium der Repräsentation. Thelen/Smith (1994)
z. B. geben eine verkörperlichte Erklärung der Entwicklung des Laufverhaltens bei Babys, indem sie
experimentell und theoretisch zeigen, dass eine wesentliche Kenngröße bei der Entwicklung des Laufreflexes das Gewicht der Beine, nicht aber die Modifikation interner Planungsroutinen ist.
Die Bedeutung aktiv-sensomotorischer Rückkoppelungsschleifen bei der Bewegungssteuerung, etwa
einem Greifprozess, wurde schon früh durch das
sog. Reafferenzprinzip hervorgehoben (von Holst/
Mittelstaedt 1950): Durch einen efferenten motorischen Reiz wird eine Körperbewegung ausgelöst,
und die Steuerung des Greifprozesses besteht darin,
die interne Reizspeicherung (die sog. Efferenzkopie)
abzugleichen mit der reafferenten Rückmeldung,
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III. Strukturen kognitiver Systeme
also der sensorischen Information über die vom System selbst veranlasste aktive Motorik (im Falle des
Greifens etwa die visuelle Kontrolle der Arm-,
Hand- und Fingerbewegung). Dass es dabei wesentlich auf selbstgenerierte Bewegung ankommt, findet
seine eindrucksvolle experimentelle Bestätigung in
Zielbewegungsexperimenten mit Prismenbrillen:
Eine effektive Adaptation an die durch das Prisma
veränderten Wahrnehmungsinputs zeigen Probanden nur dann, wenn ihnen in der Trainingsphase die
Möglichkeit zu aktiv durchgeführten Körpereigenbewegungen gegeben wird (Taylor 1963; für kritische Anmerkungen vgl. Klein 2007). Analog benötigt ein Musiker aktive Rückkoppelungen mit seinem Musikinstrument: Ein Tauber z. B. kann noch
ein Tasteninstrument spielen, ein Mensch ohne Sensibilität in den Fingerspitzen jedoch sehr viel weniger. Die aktive Einbeziehung des Körpers v. a. in
Form selbstgenerierter Eigenbewegungen machen
diese Anwendungen des Reafferenzprinzips zu Fällen von starker Verkörperlichung.
Ein weiteres Beispiel aus der kognitiven Entwicklungspsychologie basiert auf dem durch Piaget bekannt gewordenen ›A-nicht-B‹-Fehler, dem Kinder
im Alter von etwa sieben bis zwölf Monaten unterliegen: Man zeigt zwei Behältnisse A und B und versteckt vor den Augen des Babys ein Spielzeug oder
eine Süßigkeit unter A. Das Baby greift nach A und
wird fündig. Der Vorgang wird einige Male wiederholt, dann legt der Experimentator das Spielzeug oder
die Süßigkeit unter B. Obwohl das Baby dies sehen
konnte, greift es nach A, um dort zu suchen. Es liegt
zunächst nahe, diesen Effekt als repräsentationale
Fehlleistung, sei es bezüglich der Repräsentation des
Außenraumes, des Objekts oder der Körper-RaumBeziehung oder als Fehlleistung der Handlungsplanung zu interpretieren. Interessanterweise kann der
Fehler durch die Variation eines Parameters, z. B. der
Ausgangshaltung, aber verringert oder vermieden
werden. Thelen und Kollegen bieten daher eine dynamizistische Analyse des ›A-nicht-B‹-Fehlers an (Thelen et al. 2001; Thelen/Smith 1994): Sie sehen das Verhalten des Babys als eine Folge des Ineinandergreifens
mehrerer Komponenten der körperlichen Aktivität,
wie Reproduktion des Bewegungsmusters, Körperstellung der Effektoren, Salienz des Reizes oder Reaktionszeiten. Das Baby vollführt seine Handlung also
nicht unter Zuhilfenahme interner repräsentationaler
Daten, sondern auf direkt motorisch-verkörperlichtem Wege. Der Körper bzw. körperliche Bewegungsmuster dienen mithin als direktes Medium der Repräsentation, so dass aufwendige explizite Repräsentationen der Außenwelt überflüssig sind.
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7. Verkörperlichung und situative Einbettung (embodied/embedded cognition)
Lyre (2008) diskutiert die Frage, ob und in welcher
Form Bedeutungen existieren, die ausschließlich
einem verkörperlichten System zugänglich sind. Indexikalische Bedeutungen sind naheliegende Kandidaten. Aus der nachrichtentechnischen Kommunikationstheorie ist speziell bekannt, dass sich der
Unterschied von rechts und links (im starken, ›intrinsischen‹ Bedeutungssinne und nicht nur im Sinne einer bloß relationalen Unterscheidung) nicht über einen seriellen Nachrichtenkanal übertragen lässt. Dies
stellt die wesentlich indexikalische Natur der Ausdrücke ›rechts‹ und ›links‹ unter Beweis, die ostensiv definiert sind und sich auf keinerlei deskriptive Definition reduzieren lassen. Daraus lässt sich folgern, dass
nur ein kognitives System mit einem nicht spiegelsymmetrischen Körper über die Bedeutung von
rechts und links (im starken Sinne) verfügen kann.
Radikale Verkörperlichung
Die radikalen Formen von Verkörperlichung und situativer Einbettung sind Formen eines Anti-Repräsentationalismus bzw. repräsentationalen Eliminativismus (s. Kap. IV.16). Ein einfaches Beispiel für
radikale Verkörperlichung bieten die oben bereits
erwähnten passiv-dynamischen Laufmaschinen. In
diesen Fällen ist ersichtlich kein Repräsentationsmedium zur Erbringung der motorischen Fähigkeit
vorhanden, nicht einmal eine simple Regelungsmechanik.
Ein Beispiel nächsthöherer Stufe bietet der
Watt ’ sche Fliehkraftregler – eine mechanische Realisation eines Regelkreises mit negativer Rückkopplung, der auf elegante Weise eine Steuerungsaufgabe
erfüllt: Dreht sich der Fliehkraftregler aufgrund des
Dampfmaschinendrucks, werden zwei Gewichte gegen die Schwerkraft nach oben gehoben, wobei
gleichzeitig über einen Hebelmechanismus die
Dampfzufuhr der Maschine gedrosselt wird. Dies
führt zu einer verminderten Drehung des Reglers
und infolgedessen wieder zu einer erhöhten Dampfzufuhr, so dass die Maschine sich schließlich auf eine
konstante Drehzahl einreguliert. Anstelle einer Steuerung, bei der zunächst alle relevanten Maschinenparameter durch Messfühler erfasst und danach in
einem Programm verarbeitet werden, vollführt der
Fliehkraftregler seine Steuerungsaufgabe ohne inneren computationalen Aufwand und in deutlichem
Kontrast zu klassischen KI-Strategien, wie van Gelder (1995) hervorhebt.
Der Fliehkraftregler arbeitet zweifellos nichtcomputational. Aber arbeitet er auch nicht-reprä-
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sentational? Es ließe sich einwenden, dass sich die
verschiedenen physikalischen Zustände des Reglergestänges durchaus als repräsentationale Zustände
auffassen lassen; in ähnlicher Weise lassen sich die
Zustandsbeschreibungen im Phasenraum eines dynamischen Systems repräsentational interpretieren
(Schöner/Reimann 2008; s. Kap. III.4). Eine weitere
problematische Frage ist, inwieweit sich ein radikaler Anti-Repräsentationalismus auch für höherstufige Formen von Kognition behaupten lässt (s. u.).
Obwohl Brooks sich in seinen Pionierarbeiten einer starken anti-repräsentationalistischen Rhetorik
bediente und z. B. von der Welt als ›its own best model‹ sprach und interne Repräsentationen für überflüssig erklärte (vgl. Brooks 1999; verwandte Thesen
finden sich auch bei Elman et al. 1996 oder Thelen/
Smith 1994), war seine Subsumptionsarchitektur de
facto nicht frei von internen Repräsentationen, sondern lediglich besonders sparsam. Faktisch stellen
radikale Verkörperlichung und radikale situative
Einbettung – v. a. in der Robotik – oftmals eher eine
Art Forschungsheuristik dar. Clark (1997, 148) charakterisiert die radikale Position in diesem Sinne wie
folgt: »Structured, symbolic, representational, and
computational views of cognition are mistaken. Embodied cognition is best studied using noncomputational and nonrepresentational ideas and explanatory
schemes, and especially the tools of dynamic systems
theory« (Hervorhebung H.L.).
Vertreter radikal anti-repräsentationalistischer
Positionen finden sich auch im Rahmen philosophischer Debatten (z. B. Chemero 2009; Garzón 2008;
van Gelder 1995), die dortige Thematik überschneidet und vermischt sich aber häufig mit der bereits erwähnten Frage nach der Verankerung mentaler Repräsentationen in der Welt. Eine naheliegende Kritik
an der radikalen Position besteht darin, dass Formen
von Verkörperlichung und situativer Einbettung allenfalls zur Erklärung niedriger, vorzugsweise mit
Motorik verbundener Formen von Kognition beitragen können, sich aber nicht sämtliche höherstufige
kognitive Leistungen, z. B. die Fähigkeit, Mathematik
zu treiben, Schach zu spielen oder eine natürliche
Sprache zu sprechen, auf körper- oder handlungsbezogene, nicht-propositionale Repräsentationen reduzieren lassen (s. Kap. IV.16). Clark/Toribio (1994)
sprechen in diesem Zusammenhang von representation-hungry problems, d. h. von Problemen, die v. a.
Fälle des Nachdenkens über abstrakte und/oder kontrafaktische Entitäten beinhalten. Für diese Art von
Problemen, so argumentieren sie, sei nicht zu erwarten, dass sie sich ohne Rückgriff auf den Repräsentationalismus der älteren KI bewältigen lassen.
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Verkörperlichung und Bewusstsein
Ein Großteil der bisherigen Darstellung war auf Intentionalität bezogen. Verkörperlichung und situative Einbettung lassen sich aber auch auf Phänomenalität beziehen. Dabei geht es zum einen um die Bedeutung beider Motive für qualitatives Erleben
(s. Kap. IV.4), zum anderen um das Verständnis von
Selbstbewusstsein (s. Kap. IV.18). Wiederum lässt
sich dabei zwischen schwachen und starken bis radikalen Thesen unterscheiden. Einer schwachen These
zufolge ist qualitatives Erleben abhängig von der
Verkörperlichung und situativen Einbettung, einer
stärkeren These zufolge wird qualitatives Erleben
wesentlich durch den direkten Kontakt mit perzeptuellen Stimuli konstituiert (s. Kap. IV.19, Kap.
IV.24). Für letztere These besteht insofern eine gewisse prima facie Plausibilität, als rein interne Repräsentationen eines Stimulus phänomenal weniger
reichhaltig und bei weitem undifferenzierter sind als
das unmittelbare Erleben eines Stimulus (aus diesem
Grund wirken Menschen mit fotografischem Gedächtnis auf uns so faszinierend). Eine radikale
These, wonach Wahrnehmungserleben überhaupt
nur auf der Basis bestimmter motorischer Interaktionen mit der Welt möglich ist, wird vom Enaktivismus (s. Kap III.9) vertreten (z. B. Hurley 1998;
Noë 2009). Maiese (2011) ist der Meinung, dass
Emotionen eine fundamentale Manifestation unserer Verkörperlichung sind, der insofern eine zentrale
Rolle bei moralischen Bewertungen zukommt. Allerdings scheint keine der Thesen über die Verkörperlichung und situative Einbettung qualitativen Erlebens einen Anhaltspunkt dafür zu liefern, wie qualitatives Erleben als solches zustande kommt und
wie somit das eigentliche sog. schwierige Problem
des Bewusstseins zu lösen ist (s. Kap. IV.4), das darin
besteht, eine adäquate physikalistische Erklärung
von Qualia zu geben (s. Kap. II.F.1).
Auch Selbstbewusstsein scheint wesentlich an einen Körper und an ein Körperbewusstsein gebunden zu sein (Bermúdez et al. 1995). Die Vorstellung,
dass sich Gehirn und Körper aufgrund einer chirurgischen Trennung an verschiedenen Orten befinden
könnten, wirkt verstörend und untergräbt alle Intuitionen über das Selbst (Dennett 1978). Nach gängiger Auffassung ist zwischen dem Körper und einer
internen Repräsentation des Körpers, dem Körpermodell, zu unterscheiden. Zahlreiche Fehlrepräsentationen und illusionäre Körperwahrnehmungen
(bzw. Körperwahrnehmungsstörungen) zeigen, dass
das Körpermodell ein mentales Konstrukt ist, dessen
Grenzen nicht mit der Körpergrenze zusammenfal-
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III. Strukturen kognitiver Systeme
len müssen. Schon Merleau-Ponty (1945/1965, 182)
z. B. wies darauf hin, dass der taktile Reiz eines Blinden nicht an der Haut beginnt, sondern am Ende des
Blindenstockes: »[…] der Stock ist kein Gegenstand
mehr, den der Blinde wahrnähme, sondern ein Instrument, mit dem er wahrnimmt. Er ist ein Anhang
des Leibes, eine Erweiterung der Leibessynthese«.
Ein bekanntes Beispiel des Auseinanderfallens von
Körper und Körpermodell ist die sog. Gummihandillusion: Die synchrone, taktile Reizung einer verdeckten Hand und einer sichtbaren Gummihand
führt zu der fehlerhaften Wahrnehmung der Gummihand als körperzugehörig. Drastischere Beispiele
sind neuropsychologische Störungen wie die Apraxie (Störung der Ausführung von Willkürbewegungen; s. Kap. IV.15), der neurologische Neglect (kontraläsionaler Ausfall der Körper- und Umgebungswahrnehmung), Phantomglieder oder die body
integrity identity disorder (z. B. der krankhafte
Wunsch nach Veränderung des Körpers durch Amputation).
Anbindend an die phänomenologische Tradition
greift Shaun Gallagher (2005) die ältere Unterscheidung von zwei Arten von Körpermodellen, das
Körperbild (body image) einerseits und das Körperschema (body schema) andererseits, auf. Das Körperbild ist ein System von (typischerweise bewussten) Wahrnehmungen, emotionalen Einstellungen
und Überzeugungen über den eigenen Körper. Das
Körperschema ist demgegenüber ein unbewusstes,
automatisches System von sensomotorischen Prozessen zur konstanten Regulierung von Körperhaltung und Körperbewegung. Es umfasst auch die präreflexive und propriozeptive Wahrnehmung des
Körpers. Nach Gallagher wird diese Unterscheidung
durch neurologische Dissoziationsphänomene bestätigt: Deafferenzierte Patienten, die keine taktilen
oder propriozeptiven Reize empfangen, sind nur unter großer mentaler Anstrengung und höchster Konzentration in der Lage, koordinierte Körperbewegungen auszuführen. Bei ihnen ist das Körperschema geschädigt und muss durch die Leistungen
des Körperbildes ersetzt werden. Umgekehrt zeigen
Neglectpatienten Ausfallerscheinungen, die als Schädigung des Körperbildes zu verstehen sind (sie rasieren z. B. nur eine Gesichtshälfte).
Thomas Metzinger (2006) unterscheidet drei Arten von Verkörperlichung. Verkörperlichung erster
Ordnung bezieht sich auf die Anwendung von Verkörperlichung im Rahmen der Robotik (s. Kap.
II.B.2) zur Herausbildung kognitiver Systeme unter
weitgehendem Verzicht auf interne Repräsentationen (s. Kap. IV.16). Verkörperlichung zweiter Ord-
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7. Verkörperlichung und situative Einbettung (embodied/embedded cognition)
nung betrifft die Herausbildung einer einheitlichen
Körperrepräsentation, eines Körpermodells, als kohärentem internen Selbstmodell der eigenen Verkörperlichung. Nach Metzinger fallen einige hoch
entwickelte Roboter und einfache Lebewesen oder
auch Schlafwandler in diese Kategorie. Auf der dritten Stufe wird dieses Körpermodell auf die Ebene
bewussten Erlebens gehoben, d. h. zur virtuellen
kommt eine phänomenale Ebene hinzu (s. Kap.
IV.4). Hierzu zählen Systeme, die wie wir bewusst erleben können, dass sie einen eigenen Körper, Gefühle und eigene kognitive Prozesse haben. Derartige Systeme besitzen ein phänomenales Selbstmodell (s. Kap. IV.18). Im Falle von Phantomgliedern,
im Traum oder bei außerkörperlichen Erfahrungen
kann sich dieses phänomenale Selbstmodell von der
Verkörperlichung erster Ordnung abkoppeln und
könnte daher im Prinzip auch einem ›Gehirn im
Tank‹ zukommen (Metzinger 2009).
Kommunikation, Sprache, Lernen,
Mathematik
Bei der Entwicklung virtueller Agentensysteme liegt
es nahe, zum Zwecke der nichtverbalen Kommunikation Stilprinzipien von Verkörperlichung zu berücksichtigen, da nichtverbale Kommunikationskanäle wie Gestik, Mimik und Körperhaltung, aber
auch Blickverfolgung und Mechanismen gemeinsamer Aufmerksamkeit und geteilter Intentionalität,
offensichtlich eines verkörperlichten Akteurs bedürfen (vgl. Wachsmuth et al. 2008; s. Kap. IV.10). Hierbei spielen auch Fähigkeiten sozialer Kognition,
etwa das sog. mindreading (s. Kap. IV.21), eine zentrale Rolle. Gallese (2005) etwa vertritt die Ansicht,
dass mentale Simulation durch Spiegelneuronensysteme im (wenigstens schwachen) Sinne verkörperlicht ist, während Goldman/de Vignemont (2009) in
Zweifel ziehen, dass höherstufige Formen des mindreading auf mentalen Repräsentationen beruhen, die
durch Verkörperlichung strukturiert oder gar konstituiert sind.
Lawrence Barsalou (2008) weist in seinen Arbeiten auf die situative Einbettung von Kategorienlernen und begrifflichem Wissen hin. Begriffe sind
demnach keine starren und passiven Eigenschaftskategorien, sondern situativ und kontextabhängig:
Der Begriff ›Piano‹ z. B. wird im Kontext ›Umzug‹
stärker mit der Eigenschaft ›schwer‹ als mit der Eigenschaft ›klangvoll‹ assoziiert. Begriffe sind Barsalou zufolge in Situationen verankerte modalitätsspezifische und distribuierte Simulationen. Dies hat
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entsprechend auch Implikationen für die situative
Einbettung von Begriffslernen (s. Kap. IV.9) und Gedächtnis (Kap. IV.7).
In einer klassischen Arbeit zeigen Kirsh/Maglio
(1994) die Situiertheit menschlichen Problemlösens
auf der Basis sog. epistemischer Handlungen: Kognitive Akteure manipulieren beständig ihre Umgebung, um epistemische Zwecke effektiv zu erreichen.
Einfache Beispiele dafür sind z. B. der Gebrauch von
Notizzetteln oder Gedächtnisstützen. Sterelny (2003)
eröffnet eine evolutionäre Perspektive auf dieses
Phänomen, indem er dafür argumentiert, dass
menschliche Kognition wesentlich geprägt und geformt ist durch die evolutionär vorteilhafte Konstruktion kognitiver Nischen (v. a. die Herstellung
kognitiver Werkzeuge auf der Basis von Umgebungsangeboten; s. Kap. II. A.1).
Lakoff/Núñez (2000) versuchen, Ideen von Verkörperlichung für das Grundlagenverständnis der
Mathematik fruchtbar zu machen: Mathematisches
Denken beginnt in ihren Augen mit einem angeborenen Zahlensinn im Bereich kleiner Zahlen, der
seine Verankerung in unserer Verkörperlichung,
etwa dem Zählen mit Fingern, hat. Durch die Anwendung konzeptueller Metaphern kreiert unsere
kognitive Maschinerie den Übergang von konkreten, in sensomotorischen Prozessen verankerten
Vorstellungen zu abstrakten Begriffen wie etwa der
in der Mathematik zentralen konzeptuellen Metapher der Unendlichkeit. Höhere Stufen mathematischer Begriffsbildung sollen dann durch Iteration
entsprechender Metaphern erreicht werden.
Literatur
Barsalou, Lawrence (2008): Grounded cognition. In: Annual Review of Psychology 59, 617–645.
Bermúdez, Jose/Marcel, Anthony/Eilan, Naomi (1995):
The Body and the Self. Cambridge (Mass.).
Brooks, Rodney (1999): Cambrian Intelligence. Cambridge
(Mass.).
Chemero, Anthony (2009): Radical Embodied Cognitive
Science. Cambridge (Mass.).
Clark, Andy (1997): Being There. Cambridge (Mass.).
Clark, Andy/Toribio, Josefa (1994): Doing without representing? In: Synthese 101, 401–431.
Dennett, Daniel (1978): Where am I? In: ders., Brainstorms.
Cambridge (Mass.), 310–323.
Elman, Jeffrey/Bates, Elizabeth/Johnson, Mark/KarmiloffSmith, Annette/Parisi, Domenico/Plunkett, Kim (1996):
Rethinking Innateness. Cambridge (Mass.).
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Holger Lyre
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